Sonische Schlieren aus dem Unterbewussten

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Sonische Schlieren aus dem Unterbewussten
Sonische Schlieren aus dem Unterbewussten | norient.com   30 Oct 2021 09:40:59

    Sonische Schlieren aus dem
    Unterbewussten
    by Heinrich Deisl

    Die Serie Sonische Symptome macht sich auf in die Welt des
    Surrealismus. Ausflüge in musikalische und filmische Gefilde
    zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen psychologischen
    und medialen Experimenten, garniert mit krudem Humor.
    Frage: Gibt es sinnlose Musik, und wenn ja, was muss man
    dafür tun?

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Sonische Schlieren aus dem Unterbewussten
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    Während sich Noise und Ambient vorwiegend aus einem Technologie-
    geerdeten Korrelativ ableiten lassen, setzen surrealistische Strategien bei
    psychologischen Überlegungen an. Mittels Audio-Jokes, Palindromen,
    Montagen und einem gehörigen Prankstertum wird an jene Meta-Ebenen
    unbewusster Wahrnehmung aka weissen Flecken in den Soundlandkarten
    angedockt, die zwischen Traum- und Wachzuständen herumgeistern und
    Träume als Referenzsystem nutzen. Dafür eignen sich komödiantische,
    burleske und gar abstruse Taktiken besser als eine (offensichtliche)
    Katharsis; man denke nur an die von Freud recht breit diskutierte
    psychologische Funktion des Witzes. Indem der Surrealismus Zufall,
    Überraschung und Gleichzeitigkeit propagierte, wurde er über diverse
    Umwege einer der Wegbereiter aktueller Musikproduktion, wenn es darum
    geht, plausibel zu machen, welche unterschwelligen Logiken beim Drücken
    der «Random»-Taste von CD-Player, Sampler oder Synthesizer von statten
    gehen.

    1) Surrealismus, [m.], der -. Kunstrichtung. Fatales
    psychoanalytisches Objekt künstlerischer Begierde. The «-
    ism» we love to hate.
    2) «Das Unterbewusste ist wie eine Sprache.» J. Lacan.
    3) Nieder mit der Rationalität, es lebe die Imagination!
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen sich zwei welterschütternde
    Innovationen gegenüber: das Fliessband und die Psychoanalyse. Der
    Surrealismus kann als recht direkter Nachfahre des Dadaismus gelten, der
    diesen von seinen destruktiven Konnotationen «säuberte» und an dessen
    Stelle die «reine Poesie» setzte. Der Vorstellungskraft («Imagination») sollte
    – in diversen Manifesten teils recht revolutionär formuliert – jener
    gesellschaftliche Platz eingeräumt werden, der bisher der Rationalität
    vorbehalten gewesen war: Bilder, Musik oder Handlungen sollten bewusst
    «unerklärbar» bleiben. Während Freud mit seiner wissenschaftlichen
    Methode des «freien Assoziierens» eine «Rationalisierung des Irrationalen»
    verfolgte, favorisierten die Surrealisten die bewusste Abkehr von der
    Rationalität.

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    Technologies imaginaires

    Paris war von Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte der 1930er Jahre das
    geografische Epizentrum für derartige Avancen. Das Theaterstück Ubu Roi
    kann als eine der Initialzündungen gelten. Der 23jährige Verfasser Alfred
    Jarry kassierte 1896 dafür Tumulte, die bis in die späten 1920er nachhallten.
    Wenig Wunder, denn gleich zu Beginn begrüsst Ubu das Publikum mit einem
    saftigen «MerdRe!» 1948 wurde Jarry zu Ehren und in Anlehnung an die von
    ihm erfundene «Wissenschaft» der «'Pataphysique» das Collège de
    'Pataphysique gegründet, Mitglieder waren unter anderem: M. C. Escher,

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    Marcel Duchamp und die Marx-Brothers. Dabei folgte die Collège-
    Zugehörigkeit wohl dem bekannten Ausspruch von Groucho Marx, der
    meinte: «Ich möchte nicht zu einem Club gehören, der mich als Mitglied
    hätte.» Und Jean Baudrillard, ebenfalls beim Collège, schrieb 2002: «Die
    'Pataphysik ist die höchste Versuchung des Geistes. Der Schrecken des
    Lächerlichen und der Notwendigkeit führt zur enormen Selbstgefälligkeit,
    zum enormen Gefurze von Ubu.»

    Zufall oder nicht, Jarrys Stück erschien im selben Jahr, als das Kino das Licht
    der Welt erblickte. Da mag es fast nicht wundern, dass Jarrys Frühwerk
    eigenen Aussagen zufolge von Henri Bergson beeinflusst war. Das Kino hat
    sich im Laufe der Jahrzehnte als eines der probatesten Transportmedien des
    Surrealismus entwickelt, wohl besonders deshalb, weil der Film in ziemlicher
    Eindringlichkeit genau jene Regionen psychologischer Vorgänge, Zeitsprünge
    und falscher Anschlüsse abbilden konnte, die den vergleichsweise
    «abstrakteren» Medien Text und Theater verborgen blieben. Die vielleicht
    überzeugendste Zusammenführung eines interdisziplinären Ansatzes wurde
    mit «Reláche» geliefert. Für das 1924 aufgeführte Theaterstück hatte Erik
    Satie die Musik übernommen, Duchamp und Man Ray waren ebenso mit von
    der Partie. Dieses burleske Ballett verdankte seine Bekanntheit nicht zuletzt
    dem in der Pause projizierten Kurzfilm «Entr'act» vom jungen René Clair, in
    dem sich albtraumhafte Farce, Tanzszenen à la Busby Berkeley und Ballett
    gekonnt ineinander verzahnen.

    Einigen gingen diese «Kunstexperimente» nicht weit genug, man wollte viel
    tiefer in die menschliche Psyche eindringen. Weshalb das ausgeprägte
    Interesse des Surrealismus für alles Mystische und Metaphysische wenig
    später beispiellos umgesetzt wurde: Wie viele Bücher mag es geben, die sich
    mit der psychologischen Aufschlüsselung der beiden surrealistischen
    Hauptwerke Le Chien Andalou (1929) von Luis Bunuel/Salvador Dali und Jean
    Cocteaus Le Sang d'un Poéte ein Jahr später beschäftigen und dabei zur
    Überinterpretation neigen, da die Surrealisten genau das erreichen wollten,
    eben dass das alles keinen Sinn machte. Aber wie hört sich Musik an oder
    sehen Filme aus, die «sinnlos» sind? Dabei steht eine musikalische Verortung
    des Surrealismus unter einem vergleichsweise schlechten Stern. So war die
    Ablehnung von André Breton, selbsternannter «Thinktank» des Surrealismus,
    praktisch jeder Musik gegenüber hinlänglich bekannt: Ein 1944 publiziertes
    Essay trug den vielsagenden Titel Stille ist golden.

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    Surrealistische Musik!?
    Interessanterweise wird man Compilations über «sinnlose» Musik umsonst
    suchen. Lobende Ausnahme: «Surrealism Reviewed» (LTM, 2002), das aber
    auch nur die Periode 1929-63 abdeckt. Diese Lücke wird von der schön

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    aufgemachten und mit reichlich Stoff für die Diskursbirne versehenen
    Compilation «'Pataphysics» (Sonic Arts Network, 2005) aufgefüllt. Die vom
    Collège-Mitglied Andrew Hugill zusammengestellten Aufnahmen reichen
    dabei von Jarry und Boris Vian über «Palindromes Phonétiques» von Luc
    Etienne bis 2005. Mit darauf auch «Marche Funèbre» von Alphonse Allais,
    «komponiert» 86 Jahre vor Cages «4'33''» von 1952, eine Partitur, auf der
    zwar einige Notenzeilen aber keine einzige Note aufgezeichnet sind. Und
    schliesslich verortet Andrew Jones in seinem Buch Plunderphonics,
    'Pataphysics and Pop Mechanics (SAF, 1995) die musikalische 'Pataphysik in
    «TV, Pop-Tunes, Film Noir, Free Jazz, moderner Kunst, kulturellen Ikonen,
    Folk Songs, das klassische Repertoire und die Sprache der Strasse werden zu
    einem neuen, surrealistischen Ganzen zusammengefügt, es ist Musik über
    Musik, eine Metamusik.»

    Backflash: Die Cut-Up-Experimente von Brion Gysin/W.S. Burroughs leisteten
    ein technologisch-mediales Update surrealistischer Montagetaktiken; Nach
    den Pariser Studentenunruhen 1968 – wo eine Mischung aus Surrealismus
    und Karl Marx zu Parolen wie «Alle Macht der Imagination» geführt hatte -
    und den Soundeskapaden auf «Revolver» (1966) von den Beatles oder
    «Surrealistic Pillow» (1967) von Jefferson Airplane sowie den
    psychedelischen Blues-Collagen von Captain Beefhearts «Trout Mask
    Replica» (1969) und dem Jazzkrach von Henry Cow oder Soft Machine war
    die Zeit reif für eine Verschmelzung aus aktualisierter Psychoanalyse und
    postindustrieller Musik mit den Film- und Theatercodes des historischen
    Surrealismus als Bindemittel.

    Wenig Überschneidung mit aussereuropäischer Kulturpraxis

    Die frühen Platten des britischen Einmannprojekts Steven Stapleton aka
    Nurse With Wound (NWW) stellen einige der diesbezüglich eindringlichsten
    Versuche dar. Die auf seinem eigenen Label United Diaries veröffentlichten
    Platten «Merzbildschwet» (1980) und «Homotopy to Marie» (1982) sind
    Hörspielartige Soundtracks für Wachtraumzustände, die mit teils recht
    kruden Krautrock-Referenzen daherkommen. Das NWW-Debüt «Chance
    Meeting On A Dissecting Table Of A Sewing Machine and Umbrella» (1979)
    zitierte einen Slogan aus dem Buch Die Gesänge des Maldoror (1869) des
    Dichters Lautréamont, das die Surrealisten als einen ihrer «heiligen Texte»
    eingemeindet hatten. NWW erntete bei der Plattenbesprechung im
    renommierten englischen Magazin Sounds anstatt der üblichen Sterne-
    Bewertung fünf «?», was ja nicht unbedingt gegen die Platte spricht. Dagegen
    drehte NWW auf «The Sylvie and Babs High-Fi Companion» (1985)
    schmalzigen 60s Rock und Jazz derart durch den Reisswolf, dass nach der
    Zusammenführung von Psychedelic und einer Art Anti-Muzak praktisch nur
    noch eine Ahnung von Pop übrig blieb.

    Video nicht mehr verfügbar.

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    Die deutsche Collagenband Hirsche Nicht aufs Sofa (HNAS) brachte Platten
    wie «Im Schatten der Möhre» (1987, DOM) heraus und nannte ihre Stücke
    «Speck des Jahres» oder «Motorbiene (Du geiles Luder)». In diesem
    Fahrwasser finden sich zahlreiche Überschneidungen zur experimentellen
    Tondichtung bei frühen Werken von Asmus Tietchens, P16.D4 oder
    Rowenta/Khan; In Richtung Pop lassen sich The Tape-Beatles und People
    Like Us nennen, wobei diese durch exzessives «Cut'n'Paste» Raubbau an der
    tradierten Musikhistorie betreiben und eine «Musik über Musik» produzieren.
    Klar gibt es starke Überschneidungen zum Ambient: Coil etwa, die auf einigen
    Alben – zum Beispiel «Horse Rotorvator» (Some Bizarre, 1986) – recht
    deutlich surrealistische Bezüge anklingen liessen, welche sich aus einer
    psychologisch aufgeladenen Metaphysik speisten. Nicht umsonst kann
    «Coil» als «Spirale» übersetzt werden, ein Symbol, das bereits den
    'Pataphysikern als emblematische Denkfigur diente.

    Trotz anderslautender Intentionen lassen sich nur wenige wirkliche
    Überschneidungspunkte zwischen surrealistischer und aussereuropäischer
    Kulturpraxis ausmachen. So hat sich die surrealistische Musik praktisch gar
    nicht zum Beipsiel mit den trancehaften Zwischenzuständen afrikanischer
    oder afro-karibischer Percussion-Rhythmen auseinandergesetzt. Ähnlich wie
    bei Noise und Ambient bleibt das Transportmedium zum Unterbewussten auf
    der Soundebene haften.

    Dreams Are my Reality ...

    Klar sollten derartige Eruptionen nicht nur in das Avantgarde- sondern auch
    ins Mainstreamkino à la «Hollywood Surrealism» Eingang finden, wobei die
    Palette von H. C. Potters «Hellzapoppin'» (1941) über Kenneth Angers
    ziemlich direkt an Cocteaus Bildsprache anknüpfenden Film «Fireworks»
    (1947) bis etwa «Mulholland Drive» (2001) von David Lynch reicht. Um von
    den Filmen von Maya Deren, der Komikergruppe Monty Python und den
    Cartoons von Tex Avery oder Max Fleischer erst gar nicht zu reden. Wie nicht
    anders zu erwarten, würden sich für diese Künstler genauso viele Argumente
    dafür wie dagegen finden, dass sie surrealistische Strategien verwendeten:
    Auffällig ist, dass sich heutzutage die wenigsten Künstler oder Musiker als
    Surrealisten bezeichnen würden.

    Surrealismus, ein weiterer, historischer, überbewerteter «-ismus»? Nicht
    ganz. So hatte etwa das «Surrealist Movement in the United States» seine
    Stossrichtung seit den 1970ern in Richtung Anti-Diskriminierung und Anti-
    Rassismus erweitert, eingedenk dessen, dass Jarry und später die
    Surrealisten als eigentlichen ideologischen Kern zum gesellschaftlichen
    Ungehorsam aufgerufen hatten. Weshalb Hugill in den Linernotes zu
    «'Pataphysics» schreibt: «Es ist angeraten, während die Musik läuft, alles
    andere zu tun, als diese Texte zu lesen. Aber wie schon Jarrys ‹Armee der
    Freien Menschen› jede Regel systematisch missachtete, besteht kein Zweifel,
    dass Sie diesen Ratschlag ignorieren werden.»

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    Ressourcen
    www.kunstwissen.de | www.surrealistmovement-usa.org | www.college-de-
    pataphysique.org | www.mti.dmu.ac.uk

    Der Text ist erstmalig erschienen im Journal für Musik Skug 2006/07.

    → Published on October 08, 2013

    → Last updated on October 08, 2020

    Heinrich Deisl is a Viennese music journalist and pop culture theoretician. He is
    editor in chief of skug – Journal für Musik, produces broadcasts for Radio Ö1, and is
    writing his PhD thesis on sound topographies of Viennese popular culture.

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