Österreichische Gesellschaft für Meteorologie 2016/2
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Zum Titelbild: Schäden durch den Tornado am 10. Juli 1916 in Wiener Neustadt. Quelle: Fotomaterial des Stadtmuseums Wiener Neustadt.
ÖGM bulletin 2016/2 1 Ekkehard Dreiseitl . . . . . . . . . . . . . . 4 Impressum Von der Antarktis zum Sonnblick Herausgeber und Medieninhaber: Elke Ludewig . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Österreichische Gesellschaft für Meteorologie Der verheerende Wiener-Neustadt-Tornado 1190 Wien, Hohe Warte 38 vom 10. Juli 1916 http://www.meteorologie.at/ Alois M. Holzer . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Redaktion: ÖKS15- Klimaszenarien für Österreich Fritz Neuwirth Barbara Chimani, Michael Hofstätter, Mar- Österreichische Gesellschaft für kus Kerschbaumer, Stefan Kienberger, Mar- Meteorologie kus Kottek, Heimo Truhetz, Armin Leuprecht, 1190 Wien, Hohe Warte 38 Annemarie Lexer, Stefanie Peßenteiner . . . 34 fritz.neuwirth@gmx.at 16th EMS Annual Meeting & 11th European Michael Kuhn Conference on Applied Climatology (ECAC) Institut für Atmosphären- und Ingeborg Auer, Barbara Chimani, Brigitta Kryosphärenwissenschaften, Hollosi, Elisabeth Koch, Martin Piringer, Ire- Universität Innsbruck ne Schicker, Markus Ungersböck . . . . . . . 39 6020 Innsbruck, Innrain 52 Fachtagung „Das Klima der Alpen“ Gerhard Wotawa Ingeborg Auer, Barbara Chimani, Alexander Zentralanstalt für Meteorologie und Orlik, Susanne Drechsel, Harald Schellander, Geodynamik Bernd Niedermoser, Claudia Riedl . . . . . . 41 1190 Wien, Hohe Warte 38 Technische Umsetzung: DUST 2016 – 2nd International Conference Christian Maurer, Florian Geyer1 On Atmospheric Dust Marion Greilinger (ehem. Rothmüller) . . 42 Redaktionsschluss für das ÖGM Bulletin Institut für Meteorologie der BOKU 2017/1 ist der 30. April 2017. Um Beiträge in neuen Räumen wird gebeten. Wenn möglich, verwenden Sie Petra Seibert . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 bitte LATEX! Eine Vorlage samt Style-File ist auf der ÖGM-Website verfügbar. Grundkurs Klima von Michael Hantel und Leopold Haimberger Fritz Neuwirth . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Inhalt Rezension: Das Wetter-Experiment. Von Himmelsbeobachtern und den Pionieren der Vorwort Meteorologie Fritz Neuwirth . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fritz Neuwirth . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Nachruf auf Elmar R. Reiter Wien, im Dezember 2016 1 Wir danken Petra Seibert für LATEX-Style Verbesserungen.
2 ÖGM bulletin 2016/2 Ausschussmitglieder der ÖGM Vorstand 1. Vorsitzender Fritz NEUWIRTH (ehemals ZAMGa ) 2. Vorsitzender Michael KUHN (ACINNb ) Generalsekretär Gerhard WOTAWA (ZAMG) Kassier Markus KOTTEK (KIKSc ) Schriftführer Andrea STEINER (Wegener Centerd , Graz) Sonstige Ausschussmitglieder Michael ABLEIDINGER (ACGe ) Ingeborg AUER (ZAMG) Gottfried KIRCHENGAST (Wegener Center, Graz) Helga KROMP-KOLB (BOKU-Metf ) Manfred SPATZIERER (UBIMETg ) Reinhold STEINACKER (IMGWh ) Leopold HAIMBERGER (IMGW) Viktor WEILGUNI (HZBi ) Mathias ROTACH (ACINN) Franz RUBEL (VetMedj ) Michael STAUDINGER (ZAMG) a Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik b Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck c Kärnter Institut für Klimaschutz d Wegener Center for Climate and Global Change, Universität Graz e Austro Control f Institut für Meteorologie, Universität für Bodenkultur Wien g UBIMET GmbH h Institut für Meteorologie und Geophysik, Universität Wien i Hydrographisches Zentralbüro j Institut für Öffentliches Veterinärwesen,Veterinärmedizinische Universität Wien
ÖGM bulletin 2016/2 3 Vorwort Fritz Neuwirth Fritz Neuwirth 1. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie (ÖGM) S ehr geehrte Mitglieder der Österreichi- schen Gesellschaft für Meteorologie! ihren monatelangen Aufenthalt mit Über- winterung in der Antarktis und über Aktivi- Bedauerlicherweise beginnt mein Vorwort täten in ihrem neuen Tätigkeitsfeld als Lei- wieder mit der Nachricht, dass ein interna- terin des Sonnblick-Observatoriums. Ich fin- tional sehr bekannter Meteorologe, Prof. El- de es sehr positiv, dass die ZAMG durch Elke mar Reiter, im Juni verstorben ist. Er war Ludewig erstmals in der langen Geschichte nach Anfangsjahren in Österreich in den des Observatoriums jemand anstellen konn- USA sehr erfolgreich und hat sich insbeson- te, der sich ausschließlich um das Observa- dere um die Entdeckung des Jet Streams ver- torium kümmern kann. dient gemacht, sodass man ihn auch als Mis- In dem vorliegenden Bulletin finden Sie ter Jet Stream bezeichnete. Einen Nachruf einige Berichte von Tagungen. Darunter auf Prof. Elmar Reiter finden Sie in diesem einen Bericht von Marion Greilinger über ih- Bulletin. re Teilnahme an der DUST 2016-Tagung, die Vor 100 Jahren im Juli 1916 fand im Ge- von der ÖGM durch Gewährung eines Reise- biet von Wr. Neustadt ein verhängnisvol- kostenzuschusses unterstützt wurde. Es sei ler Tornado statt, der mehr als 30 Tote und erinnert, dass die ÖGM für studierende Mit- großen Sachschaden bewirkte. In einem Bei- glieder derartige Zuschüsse für den Besuch trag von Alois Holzer wird dieses, in dieser von Fortbildungsveranstaltungen bzw. zum Auswirkung zweifelsohne seltene Ereignis, Besuch von Tagungen, bei denen eigene Ar- mit beeindruckendem Bildmaterial umfas- beiten präsentiert werden, gewährt. Damit send dargestellt. Dass solche Ereignisse auch ist die Bedingung verbunden, dass über die in unserem Land auftreten können, sollte besuchte Tagung ein Bericht geliefert wird, nicht vergessen werden. der auch im Bulletin erscheint. In einem weiteren, interessanten Beitrag Einige Buchbesprechungen beschließen berichtet Elke Ludewig von der ZAMG über dieses Bulletin, von dem ich hoffe, dass es für Sie von Interesse ist.
4 ÖGM bulletin 2016/2 ACINN Nachruf auf Elmar R. Reiter 22.2.1928 – 17.7.2016 Ekkehard Dreiseitl E s wird hier versucht das gewaltige Le- benswerk von Elmar R. Reiter, gebo- ren am 22.2.1928 in Wels, Oberösterreich, sphärenforschung umfasst, geprägt durch sein vorausschauendes Erkennen und um- fassendes Umsetzen der jeweiligen aktuellen gestorben am 17.7.2016 in Peoria, Arizona, Schwerpunkte der Meteorologie. nicht durch eine Auflistung von Publikatio- Seine ersten wissenschaftlichen Sporen nen, Ämtern und Auszeichnungen nachzu- erwarb Elmar R. Reiter am Department of zeichnen, sondern durch die Beschreibung Meteorology in Chicago zwischen 1954 und einzelner Szenarien, wissend dass dies die- 1956, wo er thematisch eine neue Betrach- sem großen Meteorologen auch nicht annä- tungsweise des indischen Monsuns vertrat hernd gerecht werden kann. und eine aktuelle Zusammenfassung der da- Seinen fortgeschrittenen Lebensabend ver- mals noch spärlichen Kenntnisse über die brachte der über 80-Jährige als Maler und Strahlströme verfasste. Die Rolle der großen gefeierter Solotenor in Arizona und nicht in Hochgebirge unserer Erde und damit die seiner ursprünglichen Wahlheimat Colora- Rolle planetarischer Wellen ließen ihn die do. allgemeine Zirkulation in diesem oberen Die vorangehenden Szenarien haben eines Stockwerk der Atmosphäre neu definieren gemeinsam: Sie stellen den Verstorbenen als und bildeten die Basis seiner Habilitations- großen Wissenschaftler in einem Lebens- schrift: „Meteorologie der Strahlströme“ die raum dar, der alle Dimensionen der Atmo-
ÖGM bulletin 2016/2 5 er im Herbst 1959 am Institut für Meteorolo- ten als Direktor der ZAMG in Wien. gie und Geophysik in Innsbruck vorlegte. Sein Forschungsschwerpunkt war in die- Von 1957 bis 1958 vertrat er als Insti- sem und den kommenden 12 Jahren die kri- tutsvorstand in Innsbruck den Gletscherfor- tische und kreative Arbeit an vier umfang- scher Herfried Hoinkes, der als Gast wäh- reichen Bänden über „Atmospheric Trans- rend des Internationalen Geophysikalischen port Processes“ mit insgesamt über 1500 Sei- Jahres an der US-Antarktik-Expedition teil- ten im Auftrag der US Atomic Energy Com- nahm. Die Erkenntnisse seiner Habilitati- mission. Zeitgleich mit der ersten Ölkrise im onsschrift sind in dem Buch „Meteorolo- Jahre 1973, dem Zeitgeist vorauseilend, star- gie der Strahlenströme (Jet Streams)“ so- tete er die Publikationsreihe: “Environmen- wohl auf Englisch als auch auf Deutsch 1961 tal Research Papers“ mit dem Schwerpunkt erschienen und machten ihn zum „Mister „Energy Utilization and Conservation“. Sein Jetstream“. Die darin definierten Algorith- Arbeitsplatz war damals schon in einem der men konnten die zivilen und militärischen drei Sonnenhäuser des Departments of At- Luftfahrtgesellschaften zur Bestimmung der mospheric Sciences der Colorado State Uni- Größe und Richtung der CAT, der Clear Air versity. Als Nachfolger von Herb Riehl war er Turbulence und damit zur Erhöhung der von 1968 bis 1976 Head des Departments. Sicherheit im Luftverkehr notwendig brau- Die Kombination der Schwerpunkte chen. Energie, Computer Sciences und Artificial In seinen Jahren in Chicago hatte er die Intelligence verband er in einer exakten Be- Gelegenheit gehabt, Bekanntschaft mit zwei rechnung des behördlichen Energieverbrau- großen Persönlichkeiten der damaligen Me- ches in unterschiedlich großen amerikani- teorologie, Bernhard Haurwitz und Herb schen Städten wie Greely und Minneapolis- Riehl, zu machen. Diese holten ihn mit Frau St. Pauls im Teamwork von Meteorologen, und Kindern (3) im Frühjahr 1961 nach Co- Statistikern und Soziologen. lorado, um mit ihm in den folgenden Jah- Nach seiner Pensionierung gründete er ren in Fort Collins, circa 50 Kilometer nörd- die Firmen WELS Research Corporation und lich von Boulder, am Rande der Prärie und Alden Electronics, wo er in der Folge auch am Fuße der Rocky Mountains, eine neue mit Wissenschaftlern in Österreich zusam- meteorologische Arbeitsgruppe zu bilden. menarbeitete. Kernstück dieser Arbeiten war Neben dieser organisatorischen Schwerar- die Entwicklung eines auf PC laufenden beit im „Indian territory“ von Colorado wa- Vorhersagemodels, des Portable Weather ren seine wissenschaftlichen Interessen wei- Prediction Systems (PWPS), mit dem Ziel, terhin auf die hohe Atmosphäre fokussiert: verschiedene meteorologische und geogra- Bis zum Jahre 1963, dem Jahr des parti- phische Informationssysteme zu koordinie- ellen globalen Kernwaffenteststopps, bear- ren. beitete er einzelne Fallstudien des radioak- tiven Fallouts. Die zweite Hälfte der 60er- Elmar R. Reiters Leben mit der herausra- genden Mehrfachbegabung und dem treff- Jahre standen im Zeichen des Baubeginns sicheren Weitblick im großen Feld der At- des „Department of Atmospheric Science“ mosphärenforschung kann man nur mit Be- an der Colorado State University in Fort Col- wunderung zur Kenntnis nehmen. Und auch lins, Colorado. Sein „Sabbatical Year“ ver- mit Dankbarkeit für all das, was er uns jun- brachte er 1968 je zur Hälfte in Innsbruck bei gen Meteorologen großzügig und humorvoll H. Hoinkes und in Bonn bei H. Flohn. Da- beigebracht hat. mals liebäugelte er auch kurz mit dem Pos-
6 ÖGM bulletin 2016/2 ZAMG Von der Antarktis zum Sonnblick Elke Ludewig E s ist schon faszinierend, welche An- strengungen die Menschheit auf sich nimmt, um an exponierten Orten rund um der Antarktis und die Reaktionen darauf auf- zählen. Dank wissenschaftlicher Ausführun- gen, die in politischen Maßnahmen ende- die Uhr Daten zu sammeln und Forschung ten, konnte die Weltmeteorologische Orga- zu betreiben: Ein Observatorium in der Eis- nisation (WMO) sich 2015 positiv über die wüste, das neun Monate vom Rest der Welt Entwicklung der Ozonschicht – zu Guns- abgeschnitten ist oder auf einem Berg in ten der menschlichen Gesundheit – äußern 3106 m Höhe, das man zu Fuß nur durch (Secretary-General’s Message for 2015). einen 5 Stunden Marsch durch hochalpi- Es ist ein Privileg an solchen Orten zu ar- nes Gelände erreicht. Gerade solche Ob- beiten, im Dienste der Menschheit sozusa- servatorien sind für uns von unschätzba- gen. Ich hatte die Ehre an der Neumayer- rem Wert. Die dort gewonnenen Informa- Station III in der Antarktis zu arbeiten und tionen und Erkenntnisse in Zusammenar- zu leben und nun – von der Antarktis zum beit mit vielen anderen Forschungseinrich- Sonnblick – wurde ich mit der Leitung des tungen weltweit helfen über Generationen Sonnblick Observatoriums betraut. Hier darf hinweg Maßnahmen zu ergreifen, um unser ich nun von meinen Erfahrungen berichten Dasein auf einem lebenswerten Standard zu und einen Einblick in zwei spannende For- erhalten. Als einfaches Beispiel dafür kann schungsstätten geben. man hier die Entdeckung des Ozonlochs in Links: Neumayer-Station III, Antarktis. Rechts: (1) Fundament, (2) Fahrzeughalle/Schneegarage, (3) Energieversorgung, (4) Ballonfüllhalle für Wetterballone, (5) Eingang/Treppenhaus, (6) Wohn- u. Ar- beitsräume, (7) Schneeschmelze, (8) Zufahrt/Rampe. Copyright: E. Ludewig, AWI.
ÖGM bulletin 2016/2 7 Die Neumayer-Station III einem Elektriker/In und einer IT-Fachkraft für EDV und Funk zusammen. Zusätzlich Die Neumayer-Station III ist eine deutsche stellt das AWI noch einen Koch/In und einen Polarforschungsstation des Alfred-Wegener- Arzt/In ein. Die Bewerbung verläuft klas- Instituts (AWI), welche auf dem Ekström- sisch schriftlich mit Einladung zu einem In- Schelfeis, nahe der Atka-Bucht gelegen ist. terview, gefolgt von einem medizinischen Seit 2009 ist diese Station in Betrieb und lös- Check. Ist man nach diesem Auswahlverfah- te die nahe gelegene Station Georg von Neu- ren der oder die Erstgereihte wird man auf mayer ab. Die Station ist ein langer Kasten, Probe eingestellt. Daraufhin trifft sich das der auf 16 hydraulischen Stützen steht, 30 Team zum ersten Mal Anfang August und Meter hoch, 68 m lang und 24 m breit ist durchlebt eine spannende und lehrreiche sowie 8 m in die Tiefe geht. Die Neumayer- Vorbereitungszeit. Station III ist eine Forschungsstation und Die Vorbereitungszeit beherbergt drei Observatorien: das geophy- sikalische, luftchemische und meteorologi- sche Observatorium. Die Station ist Aus- Wichtige Stationen während der Vorberei- tungszeit sind der sogenannte „Bergkurs“ gangspunkt für zahlreiche Forschungspro- und der „Brandschutzkurs“. Hier trainiert jekte und logistischer Drehpunkt in der Ant- das Team den Umgang mit Eis und Schnee, arktis. Die Observatorien werden das ganze die Bergung von Personen aus Gletscher- Jahr rund um die Uhr betrieben. spalten und wird bei der Marine zu einem Ein Team, bestehend aus neun Personen, Löschtrupp ausgebildet, um im Ernstfall wird jedes Jahr erneut ausgewählt, um 14 schnell reagieren zu können. Daneben gibt Monate die Neumayer-Station III, kurz NM- es zahlreiche spezifische Trainingseinheiten III, zu betreiben. Diese Personen nennt man und Lehrgänge mit den Themen Technik, Überwinterer. Der wissenschaftliche Teil des Messgeräte, EDV, Medizin, Sicherheit, etc. Teams besteht aus vier Personen, spezifiziert Mit diesen Kursen versucht man die Über- für die Fachbereiche Meteorologie, Luftche- winterer auf die Gegebenheiten vor Ort gut mie und Geophysik. Der technische Teil des vorzubereiten. Teams setzt sich aus einem Ingenieur/In, Links: Gletscher-Bergungstraining nahe Hochwildehaus, Ötztal. Copyright: E. Ludewig. Rechts: Brandschutzkurs in Neustadt, Deutschland. Copyright: A. Leonhardt, AWI.
8 ÖGM bulletin 2016/2 Auswahl an Polarkleidung. Copyright: A. Sticher, AWI. Während dieser Zeit werden auch Zarges- Schelfeis anlegt und die Station mit Gütern Kisten mit Habseligkeiten gepackt, die per (Proviant, Ersatzteile, neue Geräte) versorgt. Schiff zur Neumayer-Station III transportiert Da auf der Polarstern die Plätze aber für For- werden. Zusätzlich verfügt das AWI über das scher benötigt werden, die aktiv während größte Polarkleidungslager in Europa. Jeder der Überfahrt Projekte verfolgen, fliegt man Überwinterer wird hier mit dicken Daunen- heute die neun Überwinterer per Flugzeug jacken, speziellen Schuhen, Handschuhen, in die Antarktis ein. In Kapstadt checkt man Masken, Brillen, Skianzügen und Hosen aus- ganz normal am Flughafen für den Über- gestattet. Kleidung, die einen bei Tempera- flug in die Antarktis ein. Jeder Passagier hat turen unter -30 °C warm hält. ein extra Handreisegepäck, indem dicke Po- larkleidung verstaut ist, die man im Flug- Die Anreise in die Antarktis zeug vor der Landung anzieht. Von Kapstadt Wie erreicht man die Neumayer-Station III? aus geht es mit einer Transportmaschine des Der klassische Weg ist die Nutzung der Po- Typs Illusion zur russischen Station Nowo- larstern, die einmal im Jahr am Ekström- lasarewskaja. Dort kann das Transportflug- zeug auf einer präparierten Eispiste landen. Transportflieger Illusion in Kapstadt, kurz vor dem Start in die Antarktis, Dez. 2014. Copyright: E. Ludewig, AWI.
ÖGM bulletin 2016/2 9 Da die meisten Stationen nicht über ei- zusätzlich sind Forschungsgruppen vor Ort. ne solche Eislandebahn verfügen, setzt man Taucher nehmen Proben unter dem Meereis, von hier seine Reise in einer kleinen Propel- ROVs (Remotely Operated Vehicles) sind im lermaschine, meist vom Typ DC3 oder Twin- Wasser im Einsatz, Robben und Vögel wer- otter, fort. Diese Maschinen können auch in den untersucht, aber auch Equipments wer- der antarktischen Wildnis landen. den getestet, wie z. B. neue Eisbohrer. Und Der Anflug auf die Neumayer-Station die Messflugzeuge Polar 5 und Polar 6 führen III wirkt surreal. Eine weite weiße Eisland- Messkampagnen durch. Dementsprechend schaft in der ein Bauwerk mit rot-blauen herrscht im Sommer ein regelrechter Trubel Farbelementen steht und den einzigen Kon- auf der Station und man hilft und packt an trast bildet. Mein Überwinterungsteam lan- wo man kann, um einen reibungslosen Ab- dete am Morgen des 19. Dezembers 2014 lauf zu gewährleisten. Im Sommer bestehen an der Neumayer-Station, im Polarsommer, auch die Möglichkeiten Außenstationen zu eine Zeit in der die Sonne nicht unter- warten bzw. zu errichten. Dies betrifft vor al- geht. Schnell wird man in den Arbeits- lem seismische Stationen oder Wetterstatio- alltag mit einbezogen. Wer gerne mehr dar- nen. Im antarktischen Sommer 2015 durfte über wissen möchte, was im Alltag auf ich am Olymp, eine Erhebung, die ca. 150 km der Neumayer-Station III passiert, kann südwestlich der Neumayer-Station III auf über den Helmholtz Gemeinschafts Blog dem antarktischen Festland steht, eine au- „AtkaXpress“ (https://blogs.helmholtz. tomatische Wetterstation errichten, die den de/atkaxpress/) mehr Details erfahren. Winter über an NM-III getestet, program- miert und für die „Auswilderung“ vorberei- In der Sommersaison, die meist von En- tet wurde. de November bis Mitte Februar andauert, herrscht ein reges Treiben auf der Station. Die Überwinterungszeit Die Überwinterer weisen ihre Nachfolger an, ein sogenanntes „Bauteam“ überprüft die Im Gegensatz zur Sommersaison ist die Technik, die Maschinen werden alle gewar- Winterzeit weniger hektisch, weil mit Mitte tet, die Güter, die mit der Polarstern oder Februar die letzten Sommergäste die Station den Fliegern ankommen müssen verteilt und das neunköpfige Überwinterungsteam und deren eventueller Weitertransport zu zurück lassen. Ab da ist das Team für neun anderen Stationen organisiert werden und Monate auf sich allein gestellt. Automatische Wetterstation. Aufbau am Olymp, Antarktis, WMO# 89011. Copyright: E. Ludewig, AWI.
10 ÖGM bulletin 2016/2 Die Tage werden schnell immer kürzer, die antwortung, das Team über Wetteränderun- Kaiserpinguine in der nahegelegenen At- gen zu informieren, um bei Schlechtwetter kabucht rutschen immer näher zusammen Außenaktivitäten einzuschränken und mit und mit der Polarnacht werden die Polar- dem Team auch den Wasservorrat zu kalku- lichter sichtbar und wunderschöne Sternen- lieren. Bei stürmischen Perioden von über himmel laden zum Staunen ein. Doch wir vier Tagen, wenn man nicht die Schnee- hatten auch sehr stürmische Tage mit Wind- schmelze für die Wasserversorgung füllen spitzen bis zu 92 Knoten (170 km/h), an kann, muss man sich schon einmal ein- denen ein Vorankommen im Schneesturm schränken. Hierfür wird täglich eine Sta- kaum noch möglich war und man bange tionsvorhersage erstellt. Im Sommer sind auf die Datenerfassung starrt und hofft, dass die Wetterinformationen und Analysen auch das Messfeld nicht davon fliegt. Die Tiefst- für die Flugmeteorologie essentiell. Täglich temperatur 2015 lag bei -49,8°C, die maxi- wird neben den Wetterbeobachtungen eine male Temperatur bei 0,1°C. Als Meteorologe Radiosonde (Wetterballon) gestartet, sowie war ich bei jedem Wetter draußen. Alle drei einmal wöchentlich eine Ozonsonde. Ozon- Stunden von 05:00 Uhr früh bis kurz nach sondenaufstiege können während der Ozon- Mitternacht führte ich eine Wetterbeobach- lochzeit von August bis Dezember fast alle tung durch. Da hierzu auch die Schneedrift zwei Tage gestartet werden. Daneben war- gemessen wurde, musste man sich von der tet und repariert man Geräte, wertet Daten Station entfernen um den Einfluss dieser aus und validiert diese, sorgt dafür, dass die nicht in die Beobachtung mit aufzunehmen. Informationen in die Welt gelangen und in- Verlässt man die Station, trägt man immer terpretiert die Satellitenbilder, die vor Ort Handfunk- und GPS-Gerät am Körper. So empfangen werden können. kann man im Notfall immer Kontakt zur Sta- Zusätzlich hilft man im Spurenstoffob- tion aufnehmen, denn in der Antarktis kann servatorium (SPUSO), wie auch im geophy- es schnell passieren, dass der „Whiteout- sikalischen Observatorium und beim restli- Effekt“ eintritt. In diesem Fall erkennt man chen Stationsbetrieb. Eine gute Aufgabentei- vor lauter Weiß keine Kontraste mehr und lung (Putzdienste, Küchendienste) ist wich- verliert schnell die Orientierung. Erstaunlich tig. Arbeiten im Spurenstoffobservatorium, war wie schnell sich der eigene Körper an die welches 1,5 km südlich der Station liegt, er- neuen Bedingungen gewöhnte, sich der Käl- fordert einen Hörschutz. Hier saugen Pum- te anpasste. Im Sturm hörte ich neben dem pen die Luft in die Messgeräte und Filter. Die Toben des Windes schnell das Flattern der Entfernung ist nötig, um Verschmutzungen Flaggen und Handleine sowie das Surren des der Luft durch den Stationsbetrieb (Fahrzeu- Wettermastes heraus, was der Orientierung ge) zu vermeiden. An der Neumayer-Station half. ist sehr reine Luft vorhanden, weshalb die Das meteorologische Observatorium Daten als Referenz betrachtet werden. Da ist ist eine bedeutende Einrichtung auf der es dann umso spannender wenn das Meer- Neumayer-Station. Ein Messfeld mit einem eis aufbricht und man erhöhtes Bodenozon ca. 15 m hohen Wettermast und der BSRN- messen kann. Nahe des SPUSOs gibt es ei- Strahlungsstation (BSRN = Basic Surface Ra- ne Luke mit einer Treppe, die derzeit ca. 16 diation Network) muss mehrmals täglich m in die Tiefe führt. Hier, geschützt unter ei- kontrolliert werden. Hier werden die wich- ner dicken Schneedecke, befindet sich das tigsten meteorologischen Parameter erfasst. „Magnetische Observatorium“ der Geopyh- Als Meteorologe hat man auf NM-III die Ver- sik. Neben seismischen Stationen in der Ge-
ÖGM bulletin 2016/2 11 gend überwacht das Geophysikalische Ob- ten der Neumayer-Station installierten In- servatorium auch die Funktion des im Wes- fraschall Arrays I27DE. Meteorologisches Messfeld in der Polarnacht und am Polartag. Check der Messinstrumente. Copy- right: E. Ludewig, AWI. Spurenstoffobservatorium (SPUSO) 1,5km südlich der Neumayer-Station. Copyright: E. Ludewig, AWI. E. Ludewig auf dem Meereis während einer Meereismessung für das Projekt AFIN. Copyright: A. Leon- hardt, AWI. Diese Station der deutschen BGR (Bun- Kernwaffentest-Stopp-Abkommens (CTBT) desanstalt für Geowissenschaften und und nimmt über Druckschwankungen Ex- Rohstoffe) dient der Überwachung des plosionen in der Luft war.
12 ÖGM bulletin 2016/2 Zum Bereich Meteorologie zählen auch die nahme und Erfrierungen sowie bei Fahrten Überwachung von Schneehöhenmessungen über das Meereis auf Risse und Eisbewegun- und die Durchführung von Meereismessun- gen zu achten. gen. In regelmäßigen Abständen (mindes- Oft werden Überwinterer gefragt, ob ei- tens einmal pro Monat) geht es mit Eisbohr- nem vor Ort nicht langweilig wird, so ab- Equipment und Skidoo in einem Team von geschnitten vom Rest der Welt. Dies kann drei bis vier Personen raus aufs Meereis. An ich mit einem klaren NEIN beantworten. bestimmten Punkten werden Schneelöcher Der Tag ist gut mit Arbeit ausgefüllt und die bis zum Meereis gegraben und dann durch Natur ist jeden Tag anders faszinierend. Im das Meereis, welches an manchen Stellen bis Winter ziehen verstärkt Eisberge vorbei, die zu 8 m misst, faustgroße Löcher gebohrt. man von Weitem sehen kann, fantastische Schneehöhe, Eisdicken sowie deren Tempe- meteorologische Erscheinungen, wie Halos raturen und Beschaffenheit werden erfasst. und Wolkenformationen, Schneedriftbewe- Die Messungen für das Projekt AFIN (Ant- gungen und Spiegelungen lassen die karge arctic Fast Ice Network) mussten gut ge- Landschaft sehr abwechslungsreich erschei- plant werden, weil man teilweise bis zu 12 nen. Das Jahr über konnten wir die Pin- Stunden unterwegs war und während dieser guinkolonie in der Atka-Bucht beobachten, Zeit die Arbeiten auf der Station neu verteilt Weddellrobben, Skuas und andere Vögel. In werden mussten. Sicherheit spielt hier eine der Station selbst gibt es Sportmöglichkei- wichtige Rolle. Gerade in den kalten Winter- ten, eine Vielzahl von Gesellschaftsspielen, tagen gilt es seine Teammitglieder im Frei- eine große Mediathek, Bibliothek und Mög- en im Auge zu behalten, auf Flüssigkeitsauf- lichkeiten zum Musizieren. Kleine Kaiserpinguine (links), erwachsener Pinguin in der Mauser (rechts). Copyright: E. Ludewig, AWI. Als Team feierten wir besondere Anlässe wie Winter auch waren, wartet man doch ge- Geburtstage, Mittwinter im Juni, den ersten spannt auf die ersten Sonnenstrahlen. Lange Sonnenaufgang, Halbzeit, das Antarctic Film schon erahnt man am Horizont das Son- Festival und ähnliche Tage. Unser Koch ver- nenlicht und die Dämmerung überwiegt köstigte uns sehr gut, dennoch konnten wir nach und nach die Nacht, bis man dann gegen Ende November 2015 den ersten Flie- endlich die Sonne am Horizont auftauchen ger mit frischem Obst und Gemüse kaum sieht. Mit den ersten Sonnenstrahlen konn- erwarten. So schön die kalten Nächte im ten wir auch einen genauen Blick auf den
ÖGM bulletin 2016/2 13 Pinguinachwuchs werfen und deren hohen Wert erlangen. Piepstöne lauschen. Eine willkommene Ab- Besucher wechslung zum Gekreische der alten Tiere. Von der Antarktis zum Sonnblick Heute teilt sich das Sonnblick Observato- rium den Gipfel mit der Schutzhütte Zittel- Mit Ende der Wintersaison kehrt der Tru- haus der Alpenvereinssektion Rauris. Viele bel auf der Station zurück und mit jedem Bergsteiger, die den Sonnblick erklimmen, Flieger kommen neue Sommergäste, die for- nutzen die Gelegenheit einer Führung durch schen und an der Station arbeiten. Bei den das Observatorium, die im Sommer meist Überwinterern kommen gemischte Gefüh- abends stattfinden, nach Anmeldung aber le auf, einerseits Wehmut, weil man bald auch tagsüber durchgeführt werden können. diesen fantastischen Ort verlässt, anderer- Besucher sind immer wieder überrascht, seits Freude auf die Heimat, Familie und wie genau wir vor Ort messen können. Je- Freunde. In dieser Zeit verschickte ich mei- der Raucher vor Ort beeinflusst deutlich die ne Bewerbung für das Sonnblick Observa- luftchemischen Messungen. Deshalb bitten torium und kaum wieder in Europa ange- wir alle auf das Rauchen am Sonnblick zu kommen, ging es gleich zum Bewerbungsge- verzichten und falls unbedingt nötig nur an spräch nach Wien. Im Mai 2016 konnte ich dem ausgewiesenen Platz vor dem Zittel- mich in diese neue Aufgabe stürzen. haus zu rauchen. Die Zeit auf der Neumayer-Station III Infrastruktur war eine sehr lehrreiche und faszinierende Erfahrung und wie viele Österreicher auch Das Sonnblick Observatorium verfügt über schon vor mir, möchte auch ich diese Erfah- zwei wichtige Infrastrukturen, die einen Be- rung nicht missen, die mich gut auf meine trieb erst ermöglichen. Diese sind die Seil- Aufgaben für das Sonnblick Observatorium bahnanlage und eine Stromleitung, die den vorbereitete. Anschluss der Anlage an das allgemeine Stromnetz ermöglicht. Damit sind erst die Das Sonnblick Observatorium hochsensiblen Messungen im luftchemi- Das Sonnblick Observatorium zählt zu den schen Bereich möglich, da lokale Emissio- wichtigsten Forschungseinrichtungen Ös- nen ausgeschlossen werden können. Die terreichs. Seit 130 Jahren wird am Hohen Materialseilbahn mit eingeschränktem Per- Sonnblick am Ende des Rauriser Tales, an sonenverkehr erleichtert es den Mitarbei- der Grenze zwischen den Bundesländern tern, das Observatorium zu erreichen. Kärnten und Salzburg, gemessen und be- Personal obachtet. Im Jahre 1886 wurde das Ob- servatorium danke eines gut ausgeprägten Die personelle Zusammensetzung des österreichischen Pioniergeistes am Hohen Sonnblick Observatoriums ist sehr kom- Sonnblick auf 3106 m erbaut. Wer hätte plex, weil eine Vielzahl von Menschen im- vor 130 Jahren gedacht, dass eine Tempe- mer wieder am Sonnblick tätig sind. Das raturzeitreihe so bedeutend für die Mensch- Kernteam umfasst vier Wetterdiensttechni- heit sein könnte? Es ist ein wichtiger Aspekt ker, zwei Ingenieure und eine Leitung. Für von Observatorien, dass manche Datensät- die vier Wetterdiensttechniker ist eine Ver- ze nicht sofort Anwendung in der Forschung tretung im Urlaubs- und Krankheitsfall von finden, aber bei Zeiten einen unschätzbaren drei Personen vorgesehen. Zusätzlich sind
14 ÖGM bulletin 2016/2 weitere Ingenieure, Techniker und Studen- Biosphäre und Kryosphäre. Aktuelle Aktivi- ten der ZAMG, BOKU, TU-Wien, Umwelt- täten am Sonnblick Observatorium werden bundesamt, AGES, etc. am Sonnblick für den in einer jährlich erscheinenden Broschüre Messbetrieb zuständig. veröffentlicht. Im Jahr 2017 wird eine neue Webseite übersichtlich aktuelle Daten und Netzwerke Informationen über das Sonnblick Obser- Den besonderen internationalen Status des vatorium bereitstellen. Forschungsprojek- Sonnblick Observatoriums kann man an den te und -ideen sind immer willkommen und Mitgliedschaften in internationalen Netz- werden gerne vom Sonnblick-Team unter- werken beurteilen. Solche Netzwerke defi- stützt. nieren was und wie gemessen wird. Abhän- Sonnblick-Verein gig von der Datenqualität und -quantität sowie von Stationseigenschaften kann ei- Die Zukunft verlangt viele Investitionen um ne Forschungsstation/Observatorium in ein den Status des Observatoriums zu erhal- solches Netzwerk aufgenommen werden. ten und auszubauen. Die vorhandene Infra- Damit ist gewährleistet, dass man die Da- struktur (Seilbahn, Stromleitung, Kommuni- tenwerte unterschiedlicher Orte vergleichen kation) muss erneuert werden. Zusätzliche und so schnell Besonderheiten und Verän- Labore und Arbeitsräume sind zukünftig nö- derungen aufzeigen kann. Das Sonnblick tig, um weitere Forschungsprojekte zu rea- Observatorium ist in den weltweit wichtigs- lisieren. Hierbei sind wir auch auf die Un- ten Netzwerken, wie NDACC, BSRN, GAW, terstützung des Sonnblick Vereins angewie- GCW oder GTS vertreten. Der Sonnblick ist sen, auf dessen Mitglieder und Förderer so- aber auch ein wichtiger Standort in den na- wie Spenden. Neue Mitglieder und Förderer tionalen Messnetzen für Immissionsschutz, sind immer willkommen! Strahlungsschutz, ARAD, etc. Über den Sonnblick-Verein werden zu- Forschung künftig auch Forschungsstipendien verge- ben. Falls Sie mehr über das Sonnblick Ob- Das Konzept für Forschung am Sonnblick servatorium erfahren möchten, kontaktie- ist in dem Programm ENVISON (ENVIron- ren Sie gerne das Sonnblick-Team. Wir sind mental Research and Monitoring SONn- stets bemüht auf alle Fragen und Interessen blick) zusammengefasst. Schwerpunkte sind einzugehen. Österreich kann stolz auf sein Forschungen in den Bereichen Atmosphäre, Sonnblick Observatorium sein! Links: Sonnblick Observatorium im Juni 2016. Copyright: B.M.I: Flugpolizei Salzburg. Rechts: Sonnblick-Team im September 2016 (H. Tannerberger fehlt). Copyright: ZAMG.
ÖGM bulletin 2016/2 15 ESSL Der verheerende Wiener-Neustadt-Tornado vom 10. Juli 1916 Alois M. Holzer Einleitung men den Arbeiten am Forschungsprojekt TORNeustadt, das von 2012 bis 2014 mit Unterstützung der Statutarstadt Wiener D er verheerende Tornado, der am 10. Juli 1916 den Norden Wiener Neu- stadts verwüstete, ist nach heutigem Stand Neustadt am Europäischen Unwetterfor- schungsinstitut ESSL durchgeführt wurde. des Wissens in der europäischen Geschich- Daran beteiligt waren neben dem Autor wei- te der sechsttödlichste. Mindestens 35 Men- ters DI Thomas Schreiner, Mathias Stampfl, schen verloren dabei ihr Leben, etwa 330 Mag. Georg Pistotnik und Dr. Pieter Groe- Menschen wurden verletzt, rund ein Drittel nemeijer, die auch alle am Abschlussbericht davon schwer. mitgewirkt haben. Diesem Abschlussbericht Die maximale Stärke erreichte der Torna- entstammen umfangreiche Abschnitte die- do im Bereich der „Alten Lokomotivfabrik“, ses Artikels. dies konnte durch das Schadensausmaß an 1. Ausgangssituation mehreren Schadensindikatoren festgestellt werden. Hier wurde auf der so genannten Der historische Tornado von 1916 hat in Fujita-Skala der Grad F4 erreicht, und es Wiener Neustadt in den vergangenen Jahr- wurden im Bereich der maximalen Schä- zehnten immer wieder die Aufmerksamkeit den sogar Ziegelmauern mit einer Stärke von erregt, sei es in Form von Zeitungsartikeln etwa einem Meter umgerissen. Gemäß der anlässlich eines kleineren Sturmereignisses empirischen Beziehung zwischen Schaden oder in Form von Ausstellungen, wie im In- und Wind entspricht F4 einer Spitzenwind- dustrieviertelmuseum im Jahr 2006 (Geissl, geschwindigkeit von etwa 380 km/h. 2006). Eine eingehende wissenschaftliche Dieser Höchstwert ist lediglich in einem Reanalyse des Falles stand vor dem For- kurzen Teilstück der Schadensspur aufge- schungsprojekt TORNeustadt jedoch aus. treten. Häufig wurden die vom Zentrum Die Basis für eine wissenschaftliche Auf- des Tornados überquerten Stadtteile Wiener arbeitung, die dem heutigen Kenntnisstand Neustadts aber mit Windspitzen bis F2 oder entspricht, kann für ein so lange zurücklie- etwa 220 km/h, schon seltener bis F3 oder gendes Ereignis jedoch kaum besser sein. etwa 295 km/h, konfrontiert. Als historische Basis konnte die erste und Viele Erkenntnisse dieses Artikels entstam- bisher einzige wissenschaftliche Studie ver-
16 ÖGM bulletin 2016/2 wendet werden, die sich mit dem Ereignis historisch-kritischen Beurteilung der aufge- näher befasst hat, und zwar der Artikel in der fundenen Bild- und Textquellen. Meteorologischen Zeitschrift aus dem Jahr Folgende Archive wurden angefragt, und 1917 (Dörr, 1917). Dazu kommen über 120 wenn möglich ausgewertet: aufgefundene Bildquellen von Schäden und Bilder aus dem unmittelbaren Umfeld. Aber 1. Stadtarchiv Wiener Neustadt – zahlrei- selbst nach dem Forschungsprojekt TOR- che Bilder und einige Texte Neustadt wurden im Zuge der Vorarbeiten 2. Industrieviertelmuseum – zahlreiche für die Ausstellung „Tornado 10. Juli 1916 in Bilder, Pläne und Texte Wiener Neustadt“ (anlässlich des 100. Ge- 3. Österreichisches Staats- und Kriegsar- denkjahres) neuerlich zusätzliche Archivbil- chiv – zwei Texte der entdeckt. Zudem existieren einige of- 4. Gemeindeamt Sollenau – ein Bericht fizielle Berichte und Zusammenfassungen 5. Gemeindeamt Felixdorf – keine Infor- aus den Tagen und Wochen nach dem Er- mationen vorhanden eignis und auch mehrere Augenzeugenbe- 6. Gemeindeamt Piesting und Dreistetten richte aus verschiedenen Perspektiven (sie- – keine Informationen vorhanden he Literatur- und Quellenliste). Dazu kommt 7. Gemeindeamt Wöllersdorf – Fotos und noch die erhaltene ereignisbezogene Be- Augenzeugenberichte richterstattung in den hauptsächlich lokalen 8. Österreichische Bundesforste – keine Printmedien (siehe Literatur- und Quellen- Informationen vorhanden liste). 9. Verein Schlot.at – einige Bilder und Das Ereignis „Tornado“ (mit den Begrif- Landkarten fen Windhose, Windsbraut, Trombe und 10. Forstbetrieb der WNSKS – keine Infor- Wirbelsturm in historisch-synonymer Ver- mationen erhalten wendung) wurde in den zeitgenössischen 11. Eisenbahnmuseum Strasshof – keine Berichten bereits weitgehend als solches Informationen erhalten erkannt und beschrieben. Mit dem dama- Nach der mehrmonatigen Quellensuche ligen Wissensstand war es allerdings noch wurden die aufgefundenen Bild- und Text- nicht möglich Abschätzungen der maxima- dokumente geordnet und digitalisiert. Origi- len Windgeschwindigkeiten für den Verlauf nalfotos und gute Kopien wurden hochauf- des Ereignisses zu machen. Dies können wir lösend eingescannt. nun mit heutigem Wissen tun - zusammen mit einer Einordnung des Tornados. Nach diesen vorbereitenden Schritten wurde wie bei einer aktuellen Schadens- 2. Methodik und Daten analyse vorgegangen und die vorhandenen Schadensfotos und Berichte wurden in al- Eine zeitnahe Schadensanalyse eines Tor- len Details einzeln bewertet. Dazu ist für nados beginnt üblicherweise mit der detail- jeden eindeutig identifizierbaren und zuor- lierten Begehung und Aufnahme der Schä- denbaren Schaden zuerst ein so genannter den, möglichst rasch nach dem Ereignis. Schadensindikator festzulegen (vereinfachte Dies ist bei historischen Fällen nicht mög- Bauklassen und Vegetationsarten nach Feu- lich. An die Stelle der Feldanalyse und Scha- erstein et al, 2011). Bezogen auf diesen In- densaufnahme am Ort des Geschehens tritt dikator wird in einem zweiten Schritt das jedoch eine möglichst gründliche Quellen- Ausmaß des Schadens festgestellt, welches suche und Quellenanalyse, gefolgt von einer nun bereits zu einer ersten Schätzung des
ÖGM bulletin 2016/2 17 einzeln betrachteten Schadens auf der F- auf wenige Meter genau angegeben werden Skala führt (siehe Detailbeschreibung wei- kann. Für eine Fotoserie konnte sogar nach- ter unten). Die einzelnen Ergebnisse wur- vollzogen werden, welchen Weg der Fotograf den dann im nächsten Schritt auf Plausibili- durch die zerstörten Stadtteile vor 100 Jah- tät geprüft und im Sinne einer Ensemblebe- ren für seine Aufnahmen gewählt hat. trachtung zuletzt endgültig festgelegt. Dar- Die für die Analyse verwendete F-Skala aus ergibt sich schließlich ein - unter Be- wurde ursprünglich als nichtlineare Wind- rücksichtigung der Fehlerquellen - hinrei- skala konzipiert, von der Beaufortskala (Bft) chend homogenes Bild des gesamten Ver- abgeleitet, und mit dem empirischen Ex- laufes der Tornadospur, soweit für die jewei- ponenten 3/2 skaliert - unter Verwendung ligen Abschnitte ausreichend Informationen der Fixpunkte für Bft 12=v(F=1)=33 m/s und verfügbar waren. Im dicht verbauten Stadt- v(F=12)=330 m/s (Fujita 1971, 1981). Eine gebiet von Wiener Neustadt ist das der Fall, sorgfältige Analyse der Skala erfolgte durch sonst nur vereinzelt. Dotzek (2009). Dotzek et al. (2000) haben Die im 6-Augen-Prinzip (Holzer, Schrei- auch die leicht unterschiedlichen Geschwin- ner, Stampfl) gewonnenen Einzelergebnisse digkeitsgrenzen homogenisiert. Auf diese wurden parallel in digitaler Karten- und Ta- Werte bezieht sich auch die vorliegende Ar- bellenform dokumentiert. beit (Tabelle 1). Feuerstein et al. (2011) ha- F-Class km/h km/h error ben schließlich im Rahmen ihrer Arbeit über F0- 90 ±27 die Adaptierung der Windskalen für Mit- teleuropa eine Entscheidungsmatrix (Abbil- F0 97 ±29 dung 1), als Beziehung zwischen Indikator, F0+ 108 ±32 Schaden und Windgeschwindigkeit) vorge- F1- 133 ±40 schlagen, die auf jener von Fujita (1992) ba- F1 148 ±44 siert. F1+ 162 ±49 F2- 198 ±59 Die detaillierte Aufnahme des Scha- denspfades erfolgte dadurch, dass anhand F2 216 ±65 der einzelnen Schadensbilder nicht nur die F2+ 234 ±70 Blickrichtung, sondern auch Fallrichtungen F3- 270 ±81 von Bäumen und andere Windrichtungs- F3 288 ±86 Indikatoren eruiert wurden. Die gewonne- F3+ 324 ±97 nen Informationen wurden einerseits in F4 378 ±113 Tabellenform festgehalten, zeitgleich aber F5 468 ±140 auch in interaktives Kartenmaterial (Google- Maps) eingearbeitet. Ein wichtiger Schritt in Tab. 1: Windgeschwindigkeitsklassen der F- der abschließenden Gesamtbeurteilung war Skala (beste Schätzwerte in km/h und 95 % die Zusammenführung von allen Einzelin- Vertrauensbereich „km/h error“ nach Holzer formationen mit den vorhandenen Augen- und Groenemeijer, 2015). zeugenberichten zur Bestimmung der Zug- Im Lauf der Arbeit konnten die Aufnahmeor- bahn des Tornados und der Breite der Scha- te der einzelnen Bilder immer besser identi- densschneise in den einzelnen Abschnit- fiziert werden, wodurch die Genauigkeit der ten. Dabei sind deutliche Diskrepanzen in Ortsangaben nun typischerweise im Deka- den Originalberichten zu Tage getreten, aus meterbereich liegt, bei vielen Bildern sogar denen ein schlüssiges Gesamtbild abzulei-
18 ÖGM bulletin 2016/2 ten war. Dies führt zu einer grundsätzlichen über Wiener Neustadt wahrscheinlich das Neubeurteilung des Gesamtereignisses. Im Ergebnis von zwei Vorläufertornados war. Gegensatz zur Arbeit von Dörr (1917) scheint es schlüssig anzunehmen, dass der Tornado Abb. 1: Bewertungsschema (Entscheidungsmatrix) für Gebäudeschäden auf Englisch (aus Feuerstein et al., 2011). 3.1 Wetterlage wärts ziehen. Die Luftdruckschwankungen am Tag davor und danach waren in Ost- Wie aus den täglichen Wetterberichten der österreich gering. Unmittelbar nach dem Zentralanstalt für Meteorologie und Geody- Tornado-Ereignis ist der Luftdruck in Mit- namik (ZAMG, 1916) hervorgeht, liegt am teleuropa gestiegen. Das Temperaturniveau 10. Juli 1916 ein schwaches Tief über dem war in Ostösterreich hochsommerlich. Am Nordwesten Europas, ein schwaches Hoch Tag des Ereignisses ist über Mitteleuropa je- über dem Südosten. Vom 10. auf den 11. doch ein deutlicher Temperaturgradient von steigt der Luftdruck von Westeuropa bis zur Nordwest nach Südost zu sehen, abzulesen Alpennordseite in Form eines Hochdruck- in der folgenden Auflistung (Tabelle 2). keiles, während Tiefs über Nordeuropa ost-
ÖGM bulletin 2016/2 19 München 23 Grad Kremsmünster 25 Grad Wien Hohe Warte 27 Grad Reichenau an der Rax 32 Grad Wiener Neustadt 31 Grad (Wert um 14 Uhr, Maximum vermutlich höher) Budapest 33 Grad Graz 30 Grad Belgrad 38 Grad Rax Karl-Ludwig Haus 18 Grad (in 1.804 m) Tab. 2: Temperaturen am 10. Juli 1916 (ZAMG, 1916) Dabei war die Luft sehr feucht und vom mit Hagel. Dass bereits vor dem Tornado ein Waldviertel bis zum Wienerwald eine bo- Gewitter mit kräftigen Böen über der Stadt dennahe Konvergenzzone vorhanden (ein niedergegangen ist, wurde auch in den Text- Zusammenfließen des Windes), an der sich berichten erwähnt. Zwischen dem Gewitter die Gewitter an diesem Tag bevorzugt aus- um 17:20 Uhr, das bereits Gewitterfallböen bilden konnten. Im Einklang mit der aktuel- (Downbursts) produzierte, und dem Torna- len Theorie für Tornadobildungen in Super- do wurde es aber nochmals schwül und na- zellen dürfte eine starke Windscherung mit hezu windstill. der Höhe geherrscht haben. Der Sonnblick Aus den Berichten lässt sich ableiten, etwa meldet zeitweise Sturm aus Westsüd- dass die Gewitterentwicklung über dem süd- west. Am betreffenden Nachmittag und frü- lichen Wiener Becken und dem Raum Hohe hen Abend wurden von fast allen Wettersta- Wand und Wiener Neustadt sehr komplex tionen in Niederösterreich Gewitter gemel- abgelaufen ist, und dass sich in der Stun- det. Sturmböen wurden in Mödling, Preß- de des Tornadoereignisses mehrere Zellen burg (Ungarn), Reichenau an der Rax, Wien entwickelt haben oder jedenfalls aktiv wa- Zentralanstalt, und Wiener Neustadt (Stadt ren. Aufgrund der Stärke des Tornados und und Flugfeld) beobachtet. Hagel wurde an den Beschreibungen der Wolkenformation den Wetterstationen in Mödling und Wie- können wir von zumindest einer Superzel- ner Neustadt (Stadt und Flugfeld) gemeldet. le ausgehen. Wie diese mit den benachbar- Im Bericht der Meteorologischen Zeitschrift ten Gewitterzellen interagiert hat, lässt sich wird außerdem erwähnt, dass nördlich der nicht mehr rekonstruieren. Die Komplexität Sturmbahn bis zu nussgroßer Hagel gefallen des Gewitterclusters kann jedenfalls als Vor- ist. aussetzung für die ungewöhnliche Entste- Die Gewittertätigkeit war also sehr ver- hungsphase der zwei wahrscheinlichen Vor- breitet und oft heftig. An den Stationen in läufertornados des großen Tornados über Wiener Neustadt wurden über den Nachmit- Wiener Neustadt angesehen werden. tag verteilt mehrere Gewitter registriert, und 3.2 Chronologische Beschreibung zwar in der Stadt von 16:45 bis 17:30 Uhr und mit Sturmböen um 17:40 Uhr. Am Flug- Es gibt keine Aufzeichnungen von exakten feld von 14:30 bis 15:45 Uhr, um 17:20 Uhr Zeitangaben für den Beginn und für das mit Sturmböen und von 17:30 bis 17:50 Uhr Ende des Tornadoereignisses. Als maxima-
20 ÖGM bulletin 2016/2 ler Zeitrahmen kann für das gesamte Er- 2013). eignis jedoch 17:30 bis 18:00 abgeschätzt Weiter verläuft die Zugbahn über den werden. In der Meteorologischen Zeitschrift Mahlleitenberg mit massiven Waldschäden wird für das Gesamtereignis eine Zeitspan- ins Steinfeld, und hier die Feuerwerksanstalt ne von etwa 10 Minuten angegeben, oh- im Süden streifend und über die Schießstät- ne aber Referenzzeiten zu nennen. Dieser te aufs Flugfeld ziehend. Hier ist von Augen- Zeitraum scheint etwas zu knapp bemes- zeugen von einem Knick von ostsüdöstlicher sen, besonders weil allein für den Bereich auf südöstliche Zugrichtung die Rede. Un- der Josefstadt eine Zeitspanne von 4 Minu- klar ist, ob und wie hier die wahrscheinli- ten genannt wird. Der „nicht geeichte Ane- chen zwei Vorläufertornados zusammenge- mograph“ am Flugfeld (ein Modell davon troffen sind. Siehe dazu den Augenzeugen- ist heute noch im Stadtmuseum zu bestau- bericht in Punkt b). Mit dem Überschreiten nen!) hat über einen Zeitraum von 3 Mi- der Südbahntrasse wird die Zugbahn auf- nuten Windgeschwindigkeiten von „über 40 grund der dichten Schadensbelege eindeu- m/s“ (Dörr, 1917) gemessen. tig nachvollziehbar. Zunächst verläuft die Da keine genauen Zeitangaben verfüg- Schadensspur noch ostsüdöstlich über die bar sind, kann auch die Zuggeschwindigkeit Josefstadt. Ab dem „Auge Gottes“ genannten nicht befriedigend abgeschätzt werden. Aus Kreuzungsbereich von Wiener und Potten- den Berichten geht hervor, dass sich über dorfer Straße verläuft die Zugbahn östlich, dem Flugfeld wahrscheinlich zwei Vorläu- und ab der Lokomotivfabrik ostnordöstlich, fertornados zum Haupttornado vereinigt bevor sich der auflösende Tornado in den haben, oder diese zumindest sehr zeitnah Leitha-Auen nochmals nach Südosten be- in einen räumlich engen Bereich gemündet wegt. sind und dann unmittelbar zur Bildung des b) wahrscheinlicher nördlicher Vorläufer- Haupttornados geführt haben. Insgesamt tornado lässt sich folgender Verlauf nachvollziehen, ohne dafür genaue Zeitangaben zu besitzen: Dazu liegt ein Bericht von Professor Leo- a) westlicher Vorläufertornado und Haupt- pold Schmidt, dem Wiener Neustädter tornado Flugfeld-Pionier, vor (WNN, 1916), der in einem von Wien kommenden Zug von Le- Er entstand zwischen Vorderer Hoher obersdorf nach Wiener Neustadt fuhr, also Mandling und Vorderer Hoher Wand, je- nach Süden: doch ohne nachgewiesenen Bodenkontakt „Es herrschte Gewitterschwüle, doch Wind- westlich von Peisching. Erste Schäden tra- stille, als ich in Leobersdorf den Zug um ten in Peisching mit abgedeckten Dächern 5 Uhr 28 Minuten gegen Neustadt bestieg. auf und ab hier gab es laut Bericht der Me- Über das Triestingtal ging ein heftiges Ge- teorologischen Zeitschrift (Dörr, 1917) einen witter nieder. Auf der Fahrt blieb in der Nä- durchgehenden Schadenspfad bis zur Leitha he des Eisenbahnzuges die Windstille anhal- östlich von Wiener Neustadt. Von Peisching tend, während eine Wolkenbank im Westen verläuft die Zugbahn ostsüdöstlich über das plötzlich sich mit rasender Eile in der Rich- Hartl mit Waldschäden, und dann über den tung von Hirtenberg nach Südosten in Be- nördlichen Teil von Dreistetten. Hier wer- wegung setzte. Bei Felixdorf bemerkte man den einige Häuser schwer beschädigt und es etwa zwei Kilometer westlich von der Bahn- ist das erste Todesopfer zu beklagen (OHK, strecke eine kleine Windhose entstehen, wel-
ÖGM bulletin 2016/2 21 che in geringem Umfange, wie es häufig zu nado klar von dem Phänomen unterschei- sehen ist, etwa mit derselben Geschwindig- den hätte können, das er beschreibt, und keit wie der Eisenbahnzug und parallel mit zwar jenes etwa zur selben Zeit aus Nor- diesem fortschritt. Diese Windhose hielt sich den parallel zur Bahnlinie ziehend. Warum mit ganz geringen Veränderungen ziemlich Schmidt den westlichen Tornadovorläufer gleich. Zwischen Theresienfeld und Wr. Neu- nicht gesehen hat, und warum die Beobach- stadt aber nahmen ihre fortschreitende Ge- ter am Flugfeld den aus Norden heranzie- schwindigkeit und auch ihr Umfang zu. Sie henden wahrscheinlichen zweiten Tornado- wuchs rasch zu einem Durchmesser von zirka vorläufer nicht bemerkt haben, können wir ein Kilometer an und dürfte eine 3 – 5 fache nur mutmaßen. Als drei von vielen mög- Höhe erlangt haben. Aufgewirbelte Ackerer- lichen Szenarien sind sichteinschränkende de machte den Wirbel zu einer tiefschwarzen, Regenvorhänge, unterschiedliche Lichtver- scharf begrenzten Säule. Die fortschreiten- hältnisse oder eine Aufmerksamkeitsablen- de Bewegung zielte gegen die Hangaranlage kung durch das jeweils besser sichtbare am Flugfelde. In der Nähe derselben muss Tornadogeschehen zu nennen. Mit deut- in scharfem Bogen eine Ablenkung eingetre- lich geringerer Wahrscheinlichkeit kann für ten sein, welche die Windhose nun in steilem den wahrscheinlichen nördlichen Vorläufer- Winkel über das Geleise gegen den nördlichen tornado ein Gustnado (Gewitterböenfront- Teil Wr. Neustadts führte, wo die Dimensio- wirbel) angenommen werden. Nahezu aus- nen derselben das Maximum erreichten und schließen kann man aufgrund der plasti- eine Stätte entsetzlicher Verwüstungen die schen Schilderung reine Gewitterfallböen weitere Bahn nur zu gewaltig gekennzeichnet (Downbursts) mit aufgewirbelten Staubfah- hat und mehr als ein Drittel Tausend Men- nen. Aus unserer davon unabhängigen Ana- schen Tod und Verletzungen brachte.“ lyse der Schäden geht hervor, dass tatsäch- Dieser Augenzeugenbericht wird in der lich zwei Objekte außerhalb der Zugbahn zeitgenössischen Analyse in der Meteoro- des westlichen Vorläufertornados stark in logischen Zeitschrift (Dörr, 1917) nicht er- Mitleidenschaft gezogen wurden. Diese las- wähnt und steht im Widerspruch zur dort sen sich mit der obigen Beschreibung des vertretenen Theorie eines einzelnen Tor- Augenzeugen Schmidt weitgehend in Ein- nados. Der zitierte Augenzeuge, Professor klang bringen. Und zwar zunächst ein sich Leopold Schmidt, war (ÖBL, 1992) Aviati- im nordöstlichen Bereich des Flugfeldes in ker, Mitbegründer des Wiener Neustädter Bau befindlicher Hangar, und das sich eben- Flugfeldes und führte dort Windmessun- falls am Rande des Flugfeldes in Bau be- gen mit einem selbst konstruierten Wind- findliche Heizhaus (die heutige Flugfeld- messer ein, die er statistisch auswertete. Kirche). Da keine Berichte vorliegen, die ex- Schmidt war also mit der Landschaft west- akt beschreiben, ob diese Gebäude von ei- lich von Wiener Neustadt bestens vertraut, nem Tornado erfasst wurden, und diesbe- kannte die genauen Entfernungen und hat züglich auch der Bericht unscharf ist, kann (wie wir aus seinem Bericht schließen) auf nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die- der Heide bereits öfter Kleintromben beob- se zwei Objekte von Gewitterfallböen getrof- achtet („ . . . kleine Windhose . . . wie häu- fen wurden. Gegen Downbursts spricht, dass fig zu sehen . . . “). Wir können daher da- die benachbarten Objekte völlig unbeschä- von ausgehen, dass Schmidt den aus Wes- digt blieben, und der Augenzeugenbericht ten über den bewaldeten Bergrücken auf das von Schmidt mit hoher Wahrscheinlichkeit Flugfeld ziehenden westlichen Vorläufertor- von einem Tornado spricht.
22 ÖGM bulletin 2016/2 Die beiden Vorläufertornados müssen auf- Über der Josefstadt und im Bereich zwi- grund der vorliegenden Informationen für schen Friedhof und „Auge Gottes“ wurde zumindest einige Minuten zeitgleich exis- eine maximale Intensität von F2+ erreicht, tiert und sich im Bereich des Flugfeldes in und die Schadensbreite von zumindest F0- einem zeitlich sehr engen Bereich angenä- Schäden erreichte etwa 400 m, während die hert oder vereinigt haben, wobei die Vereini- optische Wahrnehmung des Tornados bis zu gungsvariante durch den oben zitierten Au- 1 km Durchmesser betrug. Im Bereich der genzeugen nahegelegt, jedoch nicht direkt „Alten Lokomotivfabrik“ betrug die maxi- beobachtet wird. Absolute Klarheit können male Intensität F4 bei einer Schadensbreite wir nach so langer Zeit dazu mangels Quel- von etwa 600m für zumindest F0-Schäden. len nicht mehr erlangen. Hier wurden die größten Schäden verur- sacht. c) Beschreibung der Wirkungen in Wiener Neustadt und Auflösung des Tornados Abb. 2: „Alte Lokomotivfabrik“ (Archiv Stadtmuseum Wiener Neustadt). Bei den Daimler-Werken ging die maxi- wenigen hundert Metern völlig auf und rich- male Intensität wieder auf F2+ zurück, und tet keine Schäden mehr an. die Schadensbreite auf etwa 400m. Weiter 3.3 Zahlen und Fakten östlich verlief die Tornadospur über Wie- sen und Äcker und südlich von Lichten- Während das Teilstück des westlichen Vor- wörth über die Leitha-Auen, wo immer noch läufertornados etwa 13 km lang ist, er- schwere Waldschäden verursacht wurden, streckt sich das Teilstück des wahrschein- sich die Breite der Sturmbahn aber beim lichen nördlichen Vorläufertornados über Eintritt in die Hofau bereits auf etwa 80 m rund 5 km, der Haupttornado weist schließ- verengte. lich ab dem als wahrscheinlich anzuneh- Östlich der Leitha löst sich der Tornado nach
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