Stiftskirche Stuttgart - Palmsonntag 02. April 2023

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Stiftskirche Stuttgart - Palmsonntag 02. April 2023
Stiftskirche Stuttgart
                        Palmsonntag 02. April 2023
                    Stiftspfarrer Matthias Vosseler
                           Johannes 12, 12-19

          DER EINZUG IN JERUSALEM (Mt.                       21,1-11; Mk. 11,1-10; Lk. 19,29-40)
          12Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus
          nach Jerusalem kommen werde,
          13nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien:

          Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!
          14Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sach.

          9,9):
          15»Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem

          Eselsfüllen.«
          16Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten

          sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
          17Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den

          Toten auferweckte, bezeugte die Tat.
          18Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.
          19Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet;

          siehe, alle Welt läuft ihm nach.

1. Jesus-Bilder
Wenn sie Jesus auf einem Bild als eine Figur zeichnen sollten - wie sähe ihre Jesus-
Figur dann aus? Ist es das Kind in der Krippe, der Jesus, der Hungerende satt
macht, oder der, der am Kreuz hängt?
Kinder fragen oft, wer Jesus ist und sie haben bestimmte Bilder von ihm im Kopf.
Und wenn man in der Schule ein Bild malen lässt, dann zeichnen sie Jesus oft im
Boot sitzend, den Sturm und die Wellen bedrohend. Das ist glaube ich das
häufigste Bild. Sie zeichnen damit Jesus als denjenigen, der da ist, wenn ich Angst
habe, wenn ich mich fürchten muss, wenn es turbulent und stürmisch ist im Leben.
Wenn ich malen würde, da hätte mein Jesus-Bild auch etwas mit Boot und Wasser
zu tun: Die Geschichte von Petrus, der Jesus aus dem Boot heraus entgegen gehen
möchte, der aber ohne Jesus unterzugehen droht und von ihm gehalten wird.
Wir alle haben Bilder von Jesus im Kopf, Lieblingsbilder, Bilder, in denen wir uns
mit unserer eigenen Geschichte am besten wiederfinden. Und das ist auch gut so!
Das Bild von Jesus als einem König gehört da eher nicht dazu. Kinder würden
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ihn kaum als König Israels oder als den Gesalbten bezeichnen, zumindest nicht in
erster Linie. Aber genau so wird Jesus hier dargestellt, gerade in der Erzählung des
Johannes-Evangeliums. Jesus zieht in Jerusalem ein, er wird wie ein lange
erwarteter König empfangen, als König Israels. Der Einzug bleibt aber vorerst, und
das ist das Besondere an dieser Geschichte, der Einzug bleibt zunächst ohne
Krönung und ohne Antritt der Regierung, ohne Königsherrschaft.
Das ist, wie wenn in unseren Tagen der neue englische König Charles III. jetzt vom
Volk umjubelt empfangen würde, bei der Feierlichkeit die eigentliche Krönung aber
ausbleibt, ja die Stimmung in kurzer Zeit umschlägt und sich gegen ihn richtet. Zu
einem König gehören die Krönung und der Antritt der Herrschaft dazu. Krönung
und Antritt der Herrschaft kommen bei Jesus noch, aber das ist das Besondere, ja
das Einzigartige in seinem Leben. Sein König-Sein heißt, den anderen zu dienen,
ein Amt als Dienst. Ja Jesus wird kurze Zeit später gekrönt, aber durch römische
Soldaten mit einer ekelhaften Dornenkrone, einem Folterinstrument. Ja er tritt die
Königsherrschaft an, aber erst nach Auferweckung und Himmelfahrt, zur Rechten
Gottes sitzend.

2. Jesus-König !?!
Die Geschichte vom Einzug Jesu unterscheidet sich bei Johannes in einigen Dingen
von der Erzählung der anderen Evangelien. Nur Johannes passt zum heutigen Tag.
Auch wenn es in der Chronologie des Johannes nicht der Sonntag ist, sondern der
Montag jener Woche, an dessen Freitag dann Jesus gekreuzigt wurde. Warum
passt nur Johannes so richtig zu Palmsonntag?
Warum gehört auch in den Predigttexten die Erzählung bei Matthäus als Text zum
ersten Advent und bei Johannes als Text zum Palmsonntag?
Das ist mir auch erst jetzt bewusst geworden. Nur Johannes erwähnt nämlich
Palmzweige. Bei Matthäus sind es eher Zweige des Olivenbaums, bei Markus
einfach Laubbüschel, bei Lukas ist davon gar nicht die Rede. Johannes hat
ausdrücklich Palmzweige, Zeichen für den Empfang eines Königs. Und diese Zweige
müssen sie nicht erst kurz vorher mühsam abhauen, wie die anderen erzählen, sie
haben sie einfach schon dabei, als hätten sie sie vorab auf dem Markt gekauft.
Auch Kleider spielen keine Rolle; das Eselchen wird nicht eigens gepolstert und die
Menschen ziehen nicht Kleider aus, um damit den Weg für den einziehenden König
zu markieren.
Wenn man genau liest: Johannes hat eine andere Bewegungsrichtung, genau
umgekehrt wie die übrigen Evangelisten: Bei Johannes kommt ihm die Menge
förmlich entgegen, strömt zusammen, kommt ihm als dem einziehenden König
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entgegen. Bei den anderen Evangelisten warten die Menschen am Rand des Wegs
auf den einziehenden König. Johannes interessiert sich für viele Details nicht, die
die anderen Evangelisten von dieser Geschichte erzählen. Wenn man das wieder
nebeneinanderlegt, da gibt es große Unterschiede, so dass in der Synopse die
Druckanordnung so ist, dass die Johannesversion ganz extra abgedruckt wird. Er
lässt vieles weg: wie Jesus seine Jünger losschickt, wie der Esel gefunden wird, bei
den andern ja eine Eselin mit einem Jungen, einem Füllen. Hier ist nur vom
‚Eselchen‘ die Rede, also irgendwie einem kleinen Exemplar.
Dafür hat Johannes einen Teil, der nur bei ihm zu finden ist. Johannes erzählt diese
Geschichte vom Einzug in Jerusalem von der Erzählung der Auferweckung des
Lazarus her. Das ist zugleich der Schlüssel für die Deutung. Die Menschen, die
Jesus jubelnd empfangen, suchen ihn und auch Lazarus, der jetzt auch im Gefolge
dabei ist. Bei Johannes wird die Auferweckung des Lazarus als das siebte, letzte
und höchste Wunder Jesu geschildert, eine Auferweckung ist als Wunder schlicht
nicht mehr zu toppen. Die jubelnden Menschen am Straßenrand wollen den Jesus
sehen, der dieses unglaubliche Wunder vollbracht hat. Die Lazarus-Geschichte ist
bei Johannes unverzichtbar, zum Verständnis des Palmsonntags, ja zum Verständ-
nis von Passion und Ostern insgesamt. Was Lazarus widerfahren ist, nämlich aus
dem Tod noch einmal ins Leben zurückzukehren, das erlebt Jesus auf noch einmal
andere Weise kurz darauf. Und das darf im Glauben an Jesus Christus auch unsere
Perspektive sein: eine Auferweckung von den Toten, auch für mich. Auch für mich
und für dich darf im Glauben an den, der den Tod überwunden hat, mit der
Friedhofsruhe nicht das Ende sein. Ja, ein Abbruch, ganz gewiss, aber immer
verbunden mit einer Verheißung für etwas ganz Neues in Gottes Reich. Das ist
Schlüssel dieser Erzählung. Bei Johannes ist schon am Palmsonntag ein Anklang an
Ostern da. Ein Anklang an den König Jesus. Es wird deutlich wie Jesus sein
Königsein versteht: als Dienst, als Dienst in Niedrigkeit, nicht als Erniedrigung der
Volksmenge, so wie heute Könige und Herrscher ihr Amt so oft ausüben. Jesus
gewinnt Ansehen und Vollmacht durch Dienen.

3. Jesus-Nachfolge
Das Bild vom Einzug in Jerusalem ist ein großes Gemälde. Hier bei uns im Chor-
raum findet sich im Mittelfenster die Erzählung von Passion und Auferstehung Jesu.
Sie beginnt mit der Geschichte vom Einzug in Jerusalem in der untersten Reihe. Es
ist die Geschichte, die ich am häufigsten vor Augen habe. Mir ist sie am nächsten,
schon vom Abstand her. Sie ist am nächsten dran bei den Menschen. Für mich

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heißt das immer: Da knüpfe ich als erstes an, wenn es um die Passion Jesu geht.
Und die Frage lautet: „Wo stehen wir in diesem großen Gemälde des Einzugs in
Jerusalem: Wo würden sie sich verorten, am liebsten sehen? Schwenken sie
feierlich Palmzweige, stehen sie am Straßenrand, vielleicht in dritter Reihe als stiller
Beobachter - oder geht es in der Nachfolge Jesu direkt hinter ihm her?
Jesus lädt uns ein in seine Nachfolge. Diese Nachfolge ist eine Entscheidung. Sie
schließt das gemeinsame Abendmahl mit ein, das Gebet im Garten Gethsemane,
Verrat und Verhaftung, Folter und den Gang ans Kreuz. ‚I never promised you a
rose garden.‘ ruft uns Jesus zu, wie es in einem Song einmal heißt. Ja, es ist
wirklich eine Frage, ob das attraktiv ist. Es bleibt in dieser Woche nicht beim
jubelnden Palmsonntag. Da kommen in dieser Woche noch viele Dinge, die nicht
schön sind, die zur Geschichte aber dazugehören. Es sind Erfahrungen von Unge-
rechtigkeit, von Gewalt, von Leid, von Schmerz, von Verlassenheit, von mensch-
lichen Enttäuschungen. Es sind Erfahrungen, wie wir sie jeden Tag auch bei uns
haben. Vorgestern haben wir solche Erfahrungen auf unserem Kreuzweg gesam-
melt, Erfahrungen von Gewalt und Ungerechtigkeit. Wir haben diese Erfahrungen
ans Kreuz geschrieben. Und sind damit an verschiedene Orte durch die Innenstadt
gezogen, bis zum Hauptbahnhof, einem Ort des Empfangs, des Einzugs in die
Stadt, der aber in letzter Zeit so oft ein Ort von unschönen Gewalterfahrungen
geworden ist.
Wir werden dieses Kreuz jetzt die Woche über hier in der Kirche lassen und
Menschen können noch selbst eigene Erfahrungen dazuschreiben. Als Christ darf
und soll ich das ans Kreuz bringen, kann Unrecht und Gewalt dem bringen, der das
selbst erfahren hat. Wir glauben nicht an einen über allen Dingen easy daher-
schreitenden Gott, sondern einen ganz menschlichen, der sich in die tiefsten Tiefen
menschlichen Lebens hinabbegeben hat und mitträgt. Diese Nachfolge hat ein Ziel
vor Augen: die himmlische Herrlichkeit. Sie geht durch diese Erde hindurch, sie
geht mit in den Alltag und besonders in die nun vor uns liegende Woche.
Der Evangelist Johannes hat immer Ostern im Blick.
Er blickt von Ostern her auf den Palmsonntag, von Ostern her auf Gründonnerstag
und Karfreitag. Aber er weiß auch, dass zu Ostern all das dazugehört, was nun in
den kommenden Tagen sein wird.
Amen

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