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Störung des Sozialverhaltens, Dissozialität Prof. Dr. Michael Günter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie WS 2021/2022
Störung des Sozialverhaltens F91.0: auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (Grundlage meist Beziehungsstörung, günstigere Prognose, „Battered parents-Syndrom“) F91.1: Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (keine adäquate Freundschaft mit Gleichaltrigen) F91.2: Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (Freundschaft mit Gleichaltrigen) F91.3: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten (Kinder, leichtere Form?) F92.0: Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung F92.8: sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (neurotische Störung) Zahl und Schwere der Symptome entscheidender als Typ der Störung © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Risiko- und Resilienzfaktoren I Kumulatives Risiko, nicht einzelne Faktoren Entwicklungsgeschichte der Delinquenz als dynamisches Geschehen; kein statisches Risiko Biologische Ebene Temperamentsfaktoren (Persönlichkeitsentwicklung) perinatale Hirnschädigungen kognitive Defizite (niedrige Intelligenz, Teilleistungs- störungen ADHD © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Risiko- und Resilienzfaktoren II Familiäre Ebene Konflikte, Disharmonie Misshandlung, uneinfühlsame Erziehung etc. verwahrlosende Erziehung Alkoholismus, Kriminalität, Auflösung der Familie u.a. „Multiproblemfamilie“ © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Risiko- und Resilienzfaktoren III Soziale Ebene soziale Brennpunkte, gewalttätige Nachbarschaft Migration, Enkulturationsprobleme Orientierung an delinquenten Peer groups Dabei sind biologische, familiäre und soziale Faktoren häufig eng verknüpft im Sinne einer gegenseitigen Interdependenz. Gleichzeitig kumulieren oder potenzieren sich die Belastungseffekte und es ergeben sich negative Rückkopplungszirkel. © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Risiko- und Resilienzfaktoren IV Protektive Faktoren einfaches Temperament, Ängstlichkeit sichere Bindung emotionale Zuwendung, Kontrolle und Konsistenz in der Erziehung flexible Anpassung der Ich-Grenzen und der Kontrollinstanzen (ego resiliency) aktives, nicht vermeidendes Bewältigungverhalten positives Selbstbild (nicht überhöht) überdurchschnittliche Intelligenz, Planungsverhalten schulischer Erfolg soziale Beziehungen zu nichtdelinquenten Peers oder gewisse soziale Isolation Vorbilder für Resilienz unter widrigen Umständen sozial integrierte Nachbarschaft © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Typen der antisozialen Entwicklung Dual taxonomy: Adolescence-limited antisocial behavior contemporay maturity gap normative, adjustive, peer group oriented Life-course-persistent antisocial behavior neuropsychological problems (for example ADHD, learning disabilities, temperament) interact with adverse, criminogenic environmental factors and culminate in a pathological personality (Moffitt, Psychological Review 1993) Problem: retrospektiv hohe Aufklärung der Varianz prospektiv relativ geringe Vorhersagekraft © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Typen der antisozialen Entwicklung Häufig- keit Adolescence limited antisocial behavior Life-course persistant antisocial behavior Alter (nach Moffitt, Psychological Review 1993) © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Typen der antisozialen Entwicklung II Overt antisociality direkt gegen Opfer gerichtete Aggression (Schlagen, Tierquälen; später Körperverletzung, Vergewaltig. etc.) covert antisociality nicht direkt gegen Opfer gerichete antisoziale Vehaltensweisen (Lügen, Stehlen, Feuerlegen; später Einbrüche, Betrug) authority conflict Trotz, Wutausbrüche, später Streunen, Schulschwänzen, Weglaufen) (Loeber und Hay, in: Rutter und Hay, Oxford 1994) © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Alters- und Geschlechtsverteilung Tatverdächtiger Anteil Jugendlicher und Heranwachsender Erwachsene an der 78,8% Kriminalitätsbelastung 17,6% Anteil an der Bevölkerung ca. 6,7% Heranwachsende 8,8% Jugendliche Kinder 8,8% 3,6% 74,6% männlich 25,4% weiblich Quellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 2019; Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsstatistik 2019 © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Gewaltkriminalität nach Altersgruppen Quelle: Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder-und Jugendkriminalitätsprävention Zahlen –Daten –Fakten. Jugendgewalt, https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/jugendkriminalitaet/Z-D-F_Jugendgewalt_Apr2019.pdf © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Tatverdächtigenbelastungszahlen Gewaltkriminalität Quelle: Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder-und Jugendkriminalitätsprävention Zahlen –Daten –Fakten. Jugendgewalt, https://www.dji.de/fileadmin/user _upload/jugendkriminalitaet/Z-D- F_Jugendgewalt_Apr2019.pdf © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Dissozialität 1. Entwicklung von Risikoverhalten und Kontrollfunktionen 2. Gewalt und Gewaltfantasien 3. Die Bedeutung von Gruppenprozessen 4. Sexuelle Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit 5. Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit bei Mädchen © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Entwicklung von Risikoverhalten und Kontrollfunktionen Problembereich Ansatzpunkte Entwicklungsdysharmonien Persönlichkeitsentwicklung Mangelnde Vertrautheit mit Aufklärung, Durchspielen, Konstellationen „Psychoedukation“ Gruppeneinflüsse, Bedeutung d. Gruppe verstehen, Gruppennormen alternative Angebote, Bedürfnisse Gruppenkultur, Gruppennormen verändern = besser sozial verträglich entwickeln Mangelnde Beachtung von Rasche Reaktion, authentische Langzeitfolgen Aufklärung Risikoverhalten, Sensation z.B. Erlebnispädagogik + seeking Beziehungsangebot Geringe Stimmungsmodulation Verfügbarkeit von Ansprechpartnern, Beziehungsangebote © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Dissozialität 1. Entwicklung von Risikoverhalten und Kontrollfunktionen 2. Gewalt und Gewaltfantasien 3. Die Bedeutung von Gruppenprozessen 4. Sexuelle Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit 5. Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit bei Mädchen © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Gewaltfantasien Funktionen von Gewalt(fantasien) Normaler Bestandteil der Entwicklung Absetzen von Erwachsenenwelt schaffen Gruppenidentität eigene Identität Größenfantasien, Macht, narzisstische Stabilisierung Abwehr von Ohnmachtsgefühlen, Depression, Wertlosigkeit Scham sexuellen Ängsten Selbstwirksamkeit Grundsätzlich positiv. Wie können wir erreichen, dass sie nicht zu (Gewalt-)delinquenz führen? © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Normale Gewaltfantasien Entwicklungsaufgaben Unsicherheiten adoleszente Ängste (Sexualität, Identität, Selbstbehauptung Autonomie, Abhängigkeit) Selbstwertunsicherheit/ narzisstische Ängste Ablösung Wunsch nach Zugehörigkeit zur Peer group Gesunder Narzissmus adoleszente Scham/ Ängste abnormal zu sein Selbstvergewisserung in Gruppen Selbstwirksamkeit Abwehr sexueller Ängste Narzisstische Stabilisierung Abgrenzung von Erwachsenen gruppenorientiert symbolisiert, ritualisiert entwicklungsfördernd © Prof. Dr. Michael Günter 2018
Entgleisende Gewalt Gewalttraumatisierung/ Deprivation/sexuelle Gewalt Abwehrmechanismen Verleugnung der Realität Narzisstische Identifikation mit dem Verletzung Aggressor → Dissoziation Selbstunsicherheit keine Bewältigung im Spiel Wendung der Aggression/Gewalt chronische latente gegen sich selbst Anspannung/Aggression Gefühl von Minderwertigkeit (muss abgewehrt werden) Sozialer Rückzug/ oder Identifikation mit Isolation Gruppengewalt Funktionen der Gewalt Abwehr von Ohnmacht Rache Identitätsbildung über Identifikation mit Aggressor © Prof. Dr. Michael Günter 2018
Dissozialität 1. Entwicklung von Risikoverhalten und Kontrollfunktionen 2. Gewalt und Gewaltfantasien 3. Die Bedeutung von Gruppenprozessen 4. Sexuelle Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit 5. Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit bei Mädchen © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Einzelfallanalyse jugendliche Sexualstraftäter- Klinische Typologie 1. Sexueller Missbrauch von Kindern durch kognitiv und/oder emotional retardierte und kontaktgestörte Jugendliche und Heranwachsende . Gute Prognose bei sexualpädagogischer Arbeit, ggf. Herausnahme aus der Familie und stationäre Jugendhilfemaßnahme. Problem: kaum entsprechende Gruppenangebote für Jugendliche verfügbar 2. (Hoch)aggressive Gewaltdelinquenz, auch im Bereich sexueller Gewaltstraftaten. Einschlägige und nicht-einschlägige Rezidivgefahr in Bezug auf die Gewaltdelinquenz Behandlung der Gewaltproblematik 3. Fixierte Perversionen oder deutliche Gefahr der Fixierung aberranter Fantasien und eingeschränkte Impulskontrolle. Gefahr der weiteren Verfestigung, im Einzelfall auch aggressiven Eskalation. konsequente Behandlung dieser komplexen Problematik. Problem: kaum therapeutische Gruppenangebote für Jugendliche © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Dissozialität 1. Entwicklung von Risikoverhalten und Kontrollfunktionen 2. Gewalt und Gewaltfantasien 3. Die Bedeutung von Gruppenprozessen 4. Sexuelle Entwicklungsprobleme und Straffälligkeit 5. Gewaltstraffälligkeit bei Mädchen © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Anteil der weiblichen Tatverdächtigen an ausgewählten Straftaten Btm-Delikte Heranwachsende Schw. Diebstahl Jugendliche Einf. Diebstahl Betrug . Brandstiftung Körperverletzung Raub Vergew./sex. Nöt. Mord/Totschlag Insgesamt 1988 Insgesamt 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Häufigste Diagnosen - Tübinger Adoleszenz-Rückfallstudie Delinquenz (TARD) N = 2 x 44 60% 50% 40% 30% Mädchen Jungen 20% 10% 0% g un g ng HS St. st. örun k eru D e gs s st kr an in d h./ A isc h n An it r m er ot o hke ch te en z ial v eu r da v l ic u l l ig o z N ön S e S rs Int St. Pe © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Klassifikation der tatrelevanten Beziehungsdynamik - Tübinger Adoleszenz-Rückfallstudie Delinquenz (TARD) Opfer ist Ersatz für eine enge Bezugsperson (Mutter, Vater etc.) Jungen Tatgeschehen nur verstehbar auf dem Hintergrund der Mädchen Beziehungsdynamik Beziehungsdynamik hat wesentlichen Einfluss auf die Tat "Normale" Delinquenz, Beziehungsdynamik ohne unmittelbaren Einfluss N 0 5 10 15 20 25 30 © Prof. Dr. med. M. Günter 2021
Prof. Dr. med. Michael Günter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Klinikum Stuttgart Zentrum für Seelische Gesundheit Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin – Olgahospital (kooptiert) Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart E-Mail: m.guenter@klinikum-stuttgart.de
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