Strafprozessrecht I SS 2020 - RA Prof. Dr. Heiko Lesch Mi, 12:00 - 14:00 Uhr, Hörsaal E Vorlesung Nr. 311010314 Universität Bonn - Redeker Sellner ...

 
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Strafprozessrecht I
     RA Prof. Dr. Heiko Lesch
             SS 2020
 Mi, 12:00 – 14:00 Uhr, Hörsaal E
    Vorlesung Nr. 311010314
         Universität Bonn
4. Teil: Die Zwangsmittel
           § 1 Übersicht – Freiheitsentzug
Formen des Freiheitsentzugs im Strafverfahren
• U-Haft, §§ 112 ff. StPO
• Vorläufige Festnahme, § 127 StPO
• Einstweilige Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus oder
   Entziehungsanstalt, § 126a StPO
• Unterbringung zur Beobachtung zwecks Vorbereitung eines
   psychiatrischen Gutachtens, § 81 StPO
• Vorübergehende Sistierung
   – zwecks körperlicher Untersuchung, z.B. Entnahme einer Blutprobe,
     § 81a StPO
   – zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen, § 81b StPO
   – zur Durchsuchung, § 102 StPO
   – zur Identitätsfeststellung, §§ 163b, 163c
4. Teil: Die Zwangsmittel
             § 1 Übersicht – Freiheitsentzug
Formen des Freiheitsentzugs im Strafverfahren
• Vorführungsbefehl (zur Erzwingung der Anwesenheit bzw. Durch-
   setzung einer Vorladung im Zwangswege)
   – Vorführung des in der HV ausgebliebenen Angekl., §§ 230 Abs. 2, 236,
     329 Abs. 4 S. 1, 412 S. 1 StPO
       • milderes Mittel gegenüber Haftbefehl
       • wird nicht früher vollstreckt als es notwendig erscheint, den Angekl. rechtzeitig
         zur HV zu bringen
   – Vorführung zur Vernehmung auf Anordnung des Richters oder der StA,
     §§ 133, 134, 163a Abs. 3 StPO
   – Vorführung des ausgebliebenen Zeugen auf Anordnung des Richters
     oder der StA (§§ 51 Abs. 1 S. 3, 161a Abs. 2 StPO)
• Maßnahmen zur Verhinderung des Sichentfernens des Angekl.
  während der HV, § 231 Abs. 1 S. 2 StPO (Verweisung in die
  befriedete Anklagebank, Bewachung, Fesselung etc.)
4. Teil: Die Zwangsmittel
            § 1 Übersicht – Freiheitsentzug
Formen des Freiheitsentzugs im Strafverfahren
• Ingewahrsamnahme des Angekl. während Unterbrechung der HV,
   § 231 Abs. 1 S. 2 StPO
    Anordnung und Vollstreckung durch den Vorsitzenden (nicht StA!)
    Vollzug durch Justizwachtmeister (durch Polizei nur, wenn zur
     Wahrung der öff. Sicherheit hinzugezogen; durch Beamte der JVA,
     wenn der Angkl. aus U-Haft vorgeführt wird)
• Ordnungshaft bei Ausbleiben eines Zeugen, § 51 Abs. 1 S. 2 StPO
• Ordnungshaft als sitzungspolizeiliche Maßnahme
   – § 177 GVG (bei Ungehorsam höchstens bis zum Ende der Sitzung)
   – § 178 GVG (bei Ungebühr bis max. 1 Woche)
• Vorläufige Festnahme von Störern, § 164 StPO
• Vorläufige Festnahme von Personen, die während der HV eine
  Straftat begehen, § 183 S. 2 GVG
4. Teil: Die Zwangsmittel
            § 1 Übersicht – Freiheitsentzug
Formen des Freiheitsentzugs im Strafverfahren
• Sicherungshaft bei drohendem Widerruf der Strafaussetzung zur
   Bewährung, § 453c StPO
    ist ein der U-Haft ähnelndes Rechtsinstitut
    Sicherung der Strafvollstreckung
    Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: darf nur angeordnet werden, wenn
     vorläufige Maßnahmen anderer Art nicht ausreichend
• Vorführungs- oder Haftbefehl, § 457 Abs. 2 StPO
   – zur Erzwingung des Strafantritts
   – zur Ergreifung des entwichenen Strafgefangenen
4. Teil: Die Zwangsmittel
                  § 2 Die U-Haft
Zweck der U-Haft:
• Gewährleistung der Durchführung eines
  geordneten Strafverfahrens
  – Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten
  – Sicherung einer ordnungsgemäßen Tatsachen-
    ermittlung
• Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung
4. Teil: Die Zwangsmittel
                     § 2 Die U-Haft
Anordnung:
• nur durch schriftlichen richterlichen Haftbefehl, § 114 Abs.
  1 StPO
• Inhalt → siehe § 114 Abs. 2 StPO
• Zuständigkeiten (§ 125 StPO):
   – vor Anklageerhebung der Haftrichter auf Antrag der StA
     (bei Gefahr im Verzug auch von Amts wegen)
   – nach Anklageerhebung das mit der Sache befasste Gericht von
     Amts wegen (auch ohne Antrag der StA)
   – nach Einlegung der Revision das Gericht, dessen Urteil
     angefochten ist
   – im beschleunigten Verfahren idR der für die Durchführung
     dieses Verfahrens zuständige Richter, § 127 Abs. 3 StPO
4. Teil: Die Zwangsmittel
                  § 2 Die U-Haft
Anordnung:

Beispiel für einen Haftbefehl:
4. Teil: Die Zwangsmittel
                    § 2 Die U-Haft
Einzelheiten:
• Beschleunigungsgrundsatz: Regelmäßige Dauer der U-
  Haft auf 6 Monate beschränkt, § 121 StPO
• Im beschleunigten Verfahren § 127b StPO beachten:
    nur wenn Durchführung der HV binnen einer Woche nach
     Festnahme zu erwarten
    auf höchstens eine Woche ab Festnahme zu befristen
• Überhaft:
    mehrere Haftbefehle gegen denselben Beschuldigten
     wegen mehrerer Taten möglich
    praktisch, wenn der Haftbefehl, aufgrund dessen der
     Beschuldigte bisher eingesessen hat, aufgehoben wird
4. Teil: Die Zwangsmittel
                    § 2 Die U-Haft
Materielle Voraussetzungen:
• Dringender Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 StPO)
  – nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand
    begründete hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit
• Haftgrund
   klassische Haftgründe: Flucht, Fluchtgefahr,
    Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 StPO
   Verdacht eines Schwerstdelikts, § 112 Abs. 3 StPO
   Wiederholungsgefahr, § 112a StPO
• Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
4. Teil: Die Zwangsmittel
                      § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(1) Flucht:
  •   wenn aufgrund bestimmter Tatsachen festgestellt wird,
      dass der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält
      (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO)
  •   Flüchtig ist, wer
         vor, während oder nach der Tat seine Wohnung aufgibt, ohne
          eine neue zu beziehen.
         sich ins Ausland absetzt, sodass er für Ermittlungsbehörden und
          Gerichte unerreichbar ist.
  •   Verborgen hält sich, wer unangemeldet, unter falschem
      Namen oder an einem unbekannten Ort lebt, um sich
      dem Verfahren zu entziehen.
4. Teil: Die Zwangsmittel
                  § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr:
  • Gefahr, „daß der Beschuldigte sich dem Strafver-
    fahren entziehen werde“, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO
  • Zum Begriff des Sichentziehens gehört mehr als
    bloß passives Verhalten; es muss eine aktive
    Verfahrenssabotage vorliegen (Paeffgen, NStZ
    1990, 431; LR-Hilger, § 112 Rn. 38)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                       § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr:
  •   Zur Irrelevanz bloßer Untätigkeit BGHSt 23, 380 (383 f.):
      „Daß zum Begriff des Sichentziehens [in der früheren Vorschrift des § 10
      DAG] mehr gehört, als ein bloß passives Verhalten, bloßer Ungehorsam
      gegenüber behördlichen Anordnungen, ergibt schon die sprachliche
      Bedeutung des Wortes. Er setzt eine gewisse zweckgerichtete Tätigkeit
      voraus, die darauf zielt, die Durchführung der Auslieferung zu vereiteln
      oder doch erheblich zu erschweren. Der Begriff tritt auch in § 112 Abs. 2
      Nr. 2 StPO auf, dem insoweit § 10 DAG nachgebildet ist [...]. Dort wird
      unter Sichentziehen ein Verhalten verstanden, das den vom Beschuldigten
      beabsichtigten erkannten oder in Kauf genommenen Erfolg hat, den Fort-
      gang eines Strafverfahrens dauernd oder vorübergehend durch Aufhe-
      bung der Bereitschaft zu verhindern, für Ladungen und Vollstreckungs-
      maßnahmen zur Verfügung zu stehen, nicht dagegen bloßer Ungehorsam
      gegenüber Vorladungen und bloße Untätigkeit.“
4. Teil: Die Zwangsmittel
                         § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr:
   •   nach hM keine räumlich-körperliche Entfernung erforderlich –
       Beseitigung der Verhandlungsfähigkeit soll ausreichen
          zB bei Drogenmissbrauch (vgl. KG, JR 1974, 165 mit Anm. Kohlhaas)
          problematisch bei Weigerung der Einnahme von Medikamenten / gezieltem
           Absetzen einer zuvor eingehaltenen Medikamentierung (vgl. dazu OLG
           Oldenburg, StV 1990, 165 f; Paeffgen a.a.O.; LR-Hilger, § 112 Rn. 38)
          problematisch bei Verweigerung einer medizinischen Behandlung (vgl. dazu
           OLG Nürnberg, NJW 2000, 1804 m. Anm. Müller, NStZ 2001, 53; LR-Hilger, §
           112 Rn. 38)
          Beachte: Niemand hat die Pflicht, sich für staatliche Verfahren gesund zu
           halten! Bloße Untätigkeit ist irrelevant!
          Zweifelhaft, ob U-Haft taugliches Mittel (vgl. dazu auch § 28 UVollzG NRW).
   •   Keine Fluchtgefahr bei Gefahr eines Selbstmordes (vgl. Bader, JZ
       1956, 375; OLG Oldenburg, NJW 1961, 1984; a.A. MüKo-StPO-Graf, §
       112 Rn. 18)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                       § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr

OLG Nürnberg, NJW 2000, 1804 (1805):
„Die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung ist eine
Pflicht, aber auch ein Recht des Angeklagten. Dies bedeutet, dass
gegen den ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht
stattfindet, dieser aber andererseits auch alle Anstrengungen zu unter-
nehmen hat, dass dem Interesse an der Wahrheitsfindung Rechnung
getragen wird. Demgemäß hat er, von Ausnahmen abgesehen, zur
Hauptverhandlung zu erscheinen, und zwar in einem vernehmungs-
fähigen Zustand und darf sich nicht vorzeitig entfernen. Die Präsenz-
pflicht des Angeklagten bedeutet aber auch, dass er sich einer zumut-
baren ärztlichen Behandlung unterzieht, die eine Verhandlung mit ihm
zulässt.“
4. Teil: Die Zwangsmittel
                       § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr

UVollzG NRW – § 28 „Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der
Gesundheitsfürsorge“
„Hält der ärztliche Dienst die Durchführung von Zwangsmaßnahmen
auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge für unerlässlich und ordnet
das Gericht diese an, so dürfen die Maßnahmen nur unter ärztlicher
Leitung durchgeführt werden, unbeschadet der Leistung erster Hilfe für
den Fall, dass eine Ärztin oder ein Arzt nicht rechtzeitig erreichbar und
mit einem Aufschub Lebensgefahr verbunden ist. Zur Durchführung der
Maßnahmen besteht keine Verpflichtung, solange von einer freien
Willensbestimmung der Untersuchungsgefangenen ausgegangen
werden kann.“
4. Teil: Die Zwangsmittel
                     § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr:
• Beurteilung anhand einer Gesamtwürdigung unter
   Berücksichtigung der/des
     persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse
     Art der vorgeworfenen Tat
     Verhaltens vor und nach der Tat
     Straferwartung
     dringenden Verdachts weiterer Taten, insbesondere dem
      Umstand, dass noch weitere Verfahren anhängig sind
4. Teil: Die Zwangsmittel
                             § 2 Die U-Haft
Einzelne Haftgründe:
(2) Fluchtgefahr
• Kriterien für die Annahme von Fluchtgefahr:
      Fehlen einer festen Wohnung oder eines festen Aufenthalts
      Wohnsitz im Ausland (nur im Rahmen der Gesamtwürdigung – begründet für sich allein keine
       Fluchtgefahr, vgl. M-G/Schmidt, § 112 Rn 17a mwN)
      Auffälliger Wohnungs- und Arbeitsplatzwechsel
      Verwendung falscher Namen oder Papiere
      Flucht in früheren Verfahren oder Verfahrensabschnitten
      Charakterliche Labilität
      Neigung zu Glücksspiel oder Drogenmissbrauch
      Fehlen fester familiärer oder beruflicher Bindungen
      Vermögen und besondere Beziehungen im Ausland
      Hohe Straferwartung (nur im Rahmen der Gesamtwürdigung – begründet für sich allein keine
       Fluchtgefahr, vgl. M-G/Schmidt, § 112 Rn 24 mwN)
•   Kriterien gegen die Annahme von Fluchtgefahr:
     – Starke familiäre oder berufliche Bindungen
     – Hohes Alter oder schlechter Gesundheitszustand
     – Fester Wohnsitz
4. Teil: Die Zwangsmittel
                    § 2 Die U-Haft
(3) Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3)
Wenn aufgrund bestimmter Tatsachen das Verhalten des
Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er
werde
• Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen,
   unterdrücken oder fälschen oder
• auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in
   unlauterer Weise einwirken oder
• andere zu solchem Verhalten veranlassen
und wenn deshalb die Gefahr droht, dass die Ermittlung
der Wahrheit erschwert werde.
4. Teil: Die Zwangsmittel
                       § 2 Die U-Haft
(4) Verdacht eines Schwerstdelikts (§ 112 Abs. 3 StPO)
• rechtspolitisch bedenklich („Haftgrund der Unerträglichkeit“, Dahs,
   Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 317)
• rechtsstaatlich unerträglich (Roxin/Schünemann, StrafverfR, 30/12)
• durch die NS-StPO-Novelle von 1935 ist schon einmal ein ent-
   sprechender, auf die öffentliche Erregung reagierender Haftgrund
   eingeführt worden (vgl. v. Hippel, Strafprozess, S. 44; Roxin/Schüne-
   mann, StrafverfR 30/10)
• Umdeutung in einen klassischen Haftgrund per „verfassungskon-
   former Auslegung“ durch BVerfGE 19, 342 (350 f): In Bezug auf die
   Katalogtaten muss ein klassischer Haftgrund (Flucht, Fluchtgefahr,
   Verdunkelungsgefahr) hinzutreten, aber die Anforderungen an den
   Nachweis des Haftgrundes sind gegenüber § 112 Abs. 2 StPO
   reduziert.
4. Teil: Die Zwangsmittel
                         § 2 Die U-Haft
BVerfGE 19, 342 (350 f):
„Der Richter [hat] stets im Auge zu behalten, daß es der vornehmliche Zweck
und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft ist, die
Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die
spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke
nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich
unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen. Die
Haftgründe der Fluchtgefahr und der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2
StPO) dienen ersichtlich diesem Zweck. [...]
Der neu eingeführte § 112 Abs. 3 StPO müßte [...] rechtsstaatliche Bedenken
erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, daß bei dringendem Verdacht
eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungs-
haft ohne weiteres, d.h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt
werden dürfte. [...] fordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß der
Richter auch bei Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO den Zweck der Unter-
suchungshaft nie aus dem Auge verliert. Weder die Schwere der Verbrechen
wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld [...]
4. Teil: Die Zwangsmittel
                        § 2 Die U-Haft
BVerfGE 19, 342 (350 f) - Fortsetzung:
[...] rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch
weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare
"Erregung der Bevölkerung" ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein
"Mörder" frei umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände
vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten
die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der
zwar nicht mit "bestimmten Tatsachen" belegbare, aber nach den Umständen
des Falles doch nicht auszuschließende Fluchtverdacht oder Verdunkelungs-
verdacht kann u.U. bereits ausreichen. Ebenso könnte die ernstliche
Befürchtung, daß der Beschuldigte weitere Verbrechen ähnlicher Art begeht,
für den Erlaß eines Haftbefehls genügen. § 112 Abs. 3 StPO ist in engem
Zusammenhang mit Absatz 2 zu sehen; er läßt sich dann damit rechtfertigen,
daß mit Rücksicht auf die Schwere der hier bezeichneten Straftaten die
strengen Voraussetzungen der Haftgründe des Absatzes 2 gelockert werden
sollen, um die Gefahr auszuschließen, daß gerade besonders gefährliche Täter
sich der Bestrafung entziehen.“
4. Teil: Die Zwangsmittel
                      § 2 Die U-Haft
(5) Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO)
• bei bestimmten Katalogtaten
• hat nichts mit repressiver Strafverfolgung zu tun
• ausschließlich vorbeugende Maßnahme einer rein präventiv-
   polizeilichen Sicherungshaft zum Schutz der Allgemeinheit vor
   weiteren erheblichen Straftaten besonders gefährlicher Täter
• Ausgestaltung dieser Maßnahme der Gefahrenabwehr als U-Haft ist
   materiell fragwürdig (Lesch, JA 1994, 592); für Verfassungswidrig-
   keit wegen Usurpation der verfassungsrechtlichen Kompetenz zur
   Regelung des Rechts der Gefahrenabwehr durch den Bundesgesetz-
   geber Schwan, VerwArch 70 (1979), 112 ff; SK-Paeffgen § 112a Rn. 4
• Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist subsidiär gegenüber den
   Haftgründen des § 112 (§ 112a Abs. 2 StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                      § 2 Die U-Haft
Vollstreckung des Haftbefehls:
• durch Verhaftung (= sog. Ergreifung)
• Aushändigung des Haftbefehls (§ 114a StPO)
• schriftliche Belehrung gem. § 114b StPO
• unverzügliche Gewährung der Gelegenheit, einen Angehörigen oder
  eine Person des Vertrauens zu benachrichtigen (§ 114c StPO)
• unverzügliche Vorführung vor den zuständigen Richter, spätestens
  am Tag nach der Ergreifung (§ 115 Abs. 1, 2 StPO, Art. 104 Abs. 3
  GG)
• zuständiger Richter = der Richter, der den Haftbefehl erlassen hat
  (§ 126 Abs. 1 StPO)
• falls unverzügliche Vorführung dort nicht möglich, vor den Haft-
  richter des nächsten AG (§ 115a StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                  § 2 Die U-Haft
Vorführungstermin:
• Belehrung (§ 115 Abs. 3 StPO, ggf. zusätzlich nach
  § 136 StPO bei erster Vernehmung)
• Vernehmung
• Entscheidung des Richters über das weitere
  Schicksal des Haftbefehls:
  – Aufrechterhaltung (dann auch Rechtsbehelfs-
    belehrung gem. § 115 Abs. 4 StPO)
  – Aufhebung gem. § 120 StPO
  – Außervollzugsetzung gem. § 116 StPO
    („Haftverschonung“)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                  § 2 Die U-Haft
Aussetzung des Vollzugs („Haftverschonung“):
• Keine Aufhebung des Haftbefehls; Haftbefehl
  bleibt bestehen, aber der Beschuldigte wird nicht
  inhaftiert
• Muss erfolgen, wenn lediglich Fluchtgefahr be-
  steht und weniger einschneidende Maßnahmen
  in Betracht kommen (§ 116 Abs. 1 StPO)
• Kann auch erfolgen bei
  – Verdunkelungsgefahr (§ 116 Abs. 2 StPO)
  – Wiederholungsgefahr (§ 116 Abs. 3 StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                 § 2 Die U-Haft
Aussetzung des Vollzugs („Haftverschonung“):

Beispiel für einen Haftverschonungsbeschluss
bei laufender Verhandlung vor dem Landgericht:
4. Teil: Die Zwangsmittel
                         § 2 Die U-Haft
Rechtsbehelfe des Beschuldigten:
• Antrag auf Haftprüfung gem. §§ 117 ff. StPO
    – jederzeit und wiederholt möglich
    – auf Antrag des Beschuldigten oder nach Ermessen des Gerichts nach
      mündlicher Verhandlung (§ 118 Abs. 1), sonst nach Aktenlage
    – Entscheidung durch den Haftrichter per Beschluss (kein Devolutiveffekt)
    – dagegen: Haftbeschwerde (§ 304 StPO) und weitere Beschwerde (§ 310 StPO)
• Haftbeschwerde gem. § 304 StPO
    – subsidiär gegenüber Antrag auf Haftprüfung (§ 117 Abs. 2)
    – Abhilfeentscheidung (§ 306 Abs. 2 StPO) oder Vorlage bei dem Beschwerde-
      gericht (Devolutiveffekt)
    – Entscheidung nach mündlicher Verhandlung auf Antrag des Beschuldigten
      oder von Amts wegen (§ 118 Abs. 2 StPO; Achtung: grundsätzlich ist das
      Beschwerdeverfahren ein Verfahren nach Aktenlage ohne mündliche
      Verhandlung, vgl. § 309 Abs. 1 StPO)
    – gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts ist weitere Beschwerde zulässig
      (§ 310 StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                         § 2 Die U-Haft
Rechtsschutz von Amts wegen:
• bei Wegfall der Haftvoraussetzungen gem. § 120 Abs. 1 StPO (jederzeit in
   jedem Verfahrensabschnitt von Amts wegen zu prüfen, vgl. KK-Graf, § 117
   Rn. 1)
• bis zur Anklage Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls durch die StA gem.
   § 120 Abs. 3 StPO
• Haftprüfung nach sechsmonatiger Vollziehung eines Haftbefehls gem.
   § 121 StPO:
    – Aufhebung des Haftbefehls durch den Haftrichter
    – Außervollzugsetzung durch den Haftrichter
    – falls Fortdauer über 6 Monate hinaus erforderlich: Vorlage bei dem OLG,
      besondere Haftprüfung durch das OLG gem. § 122 StPO
    – bei Anordnung der Fortdauer durch das OLG: weitere Haftprüfung durch das
      OLG nach jeweils drei Monaten (§ 122 Abs. 4 StPO)
• bei Erlass des Eröffnungsbeschlusses (§ 207 Abs. 4 StPO)
• bei Urteilsfällung (§ 268b StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                      § 2 Die U-Haft
Zur Vertiefung: Begriff „derselben Tat“ iSd § 121 Abs. 1 StPO
• Die Dauer der U-Haft bis zum Urteil ist nur „wegen derselben Tat“
   auf 6 Monate begrenzt.
• Der Begriff „derselben Tat“ muß weit ausgelegt werden und stimmt
   nicht mit dem prozessualen Tatbegriff überein (sog. „erweiterter
   Tatbegriff“).
• Einzelheiten dazu sind sehr str. (vgl. dazu näher OLG Düsseldorf,
   NStZ-RR 2004, 125 – lesenswert!).
• HM: Dazu gehören alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt
   an, in dem sie bekannt geworden sind oder bei der gebotenen
   Beschleunigung hätten bekannt sein können und daher in den
   Haftbefehl hätten aufgenommen werden können.
• Die „Reservehaltung“ (resp. ein „Aufsparen“) von Tatvorwürfen, die
   den Erlaß eines weiteren oder die Erweiterung des bestehenden
   Haftbefehls rechtfertigen, ist unzulässig.
4. Teil: Die Zwangsmittel
                       § 2 Die U-Haft
Zur Vertiefung: Begriff „derselben Tat“ iSd § 121 Abs. 1 StPO
• Es kommt nicht darauf an, ob die weiteren Taten den Gegenstand
   desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren (auch bei einer
   anderen StA) bilden.
• Wird U-Haft vollzogen, so darf sie nicht auf Grund eines weiteren
   Haftbefehls, der bereits bei Erlaß des 1. Haftbefehls bekannt ge-
   wesene Tatvorwürfe zum Gegenstand hat, über 6 Monate hinaus
   andauern.
• Werden nach dem Erlaß eines Haftbefehls weitere Taten des
   Beschuldigten iS eines dringenden Tatverdachts bekannt, beginnt
   mit dem Erlaß eines neuen oder eines um diese Taten erweiterten
   Haftbefehls die 6-Monats-Frist des § 121 Abs. StPO erneut zu
   laufen.
• Siehe zum Ganzen auch Meyer-Goßner/Schmitt § 121 Rn. 11 ff.
4. Teil: Die Zwangsmittel
             § 3 Vorläufige Festnahme
• Realakt ohne Anordnung (bedarf keiner bestimmten
  Form oder Begründung)
• gegenüber der Verhaftung (Vollstreckung eines Haft-
  befehls per Ergreifung) subsidiäre Notkompetenz
• ausschließlich zu dem Zweck, den Festgenommenen
  der Strafverfolgung zuzuführen
• falls keine sofortige Wiederfreilassung: unverzügliche
  Vorführung vor dem Richter gem. § 128 Abs. 1 bzw.
  § 129 StPO
• unverzüglich = spätestens am Tag nach der Festnahme
• Entscheidung des Richters bei Vorführung: Freilassung
  oder Erlass eines Haftbefehls (§§ 128 Abs. 2, 129 StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
                   § 3 Vorläufige Festnahme
Überblick:
• Flagranzfestnahme (§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO)
    – wenn jemand auf frischer Tat („in flagranti“) betroffen oder verfolgt wird
    – zur Identifizierungssicherung (Befugnis: Nur Privatpersonen; für StA und
      Polizei gilt Sonderregung in S. 2) oder
    – zur Anwesenheitssicherung (Befugnis: Jedermann, auch StA und Polizei)
• Offizialfestnahme (§ 127 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 StPO)
    – Befugnis: StA oder Polizei
    – gem. § 127 Abs. 1 S. 2 StPO zur Identifizierungssicherung nach Maßgabe des
      § 163b Abs. 1 StPO und des § 163c StPO (dass das Gesetz diese Vorschrift
      nicht erwähnt, ist ein Redaktionsversehen, M-G/Schmitt, § 127 Rn. 7) oder
    – gem. § 127 Abs. 2 StPO bei Gefahr im Verzug zur Haftsicherung, wenn die
      Voraussetzungen eines Haftbefehls (oder auch eines Unterbringungsbefehls
      gem. § 126a StPO) vorliegen
4. Teil: Die Zwangsmittel
                   § 3 Vorläufige Festnahme
(1) Identifizierungssichernde Flagranzfestnahme (§ 127 Abs. 1 S. 1):
• Befugt: nur Privatpersonen (für StA und Polizei gilt § 127 Abs. 1 S. 2)
• Voraussetzungen:
    – „Tat“: Tatbestandsmäßige und rechtswidrige (nicht notwendig schuldhafte)
      Straftat (auch Versuch, keine OWi). Str., ob „Tat“ objektiv vorliegen muss oder
      zurechenbar erregter Schein einer Tat oder nur dringender Tatverdacht
      ausreicht (vgl. Jakobs AT 2. Aufl., 16/16)
    – „betroffen“: enger räumlicher und zeitlicher Zusammenhang zur Tat (wer am
      Tatort oder in dessen unmittelbarer Nähe gestellt wird)
    – „verfolgt“: bei sofortiger Verfolgung (unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang)
    – „Identität nicht sofort feststellbar“: wenn Angaben zur Person verweigert
      werden oder die Person keinen gültigen Ausweis mitführt
• Befugnisse (Reichweite):
    – Freiheitsberaubung, Nötigung, leichte Körperverletzungen
    – Mildere Mittel (Warnschüsse, Drohung mit Waffe, Wegnahme von Sachen zur
      Erzwingung der Selbstgestellung) stets zulässig
4. Teil: Die Zwangsmittel
                 § 3 Vorläufige Festnahme
(2) Anwesenheitssichernde Flagranzfestnahme (§ 127 Abs. 1 S. 1):
• Befugt: Jedermann, d.h. Privatpersonen, StA und Polizei
• Voraussetzungen:
   – „auf frischer Tat betroffen“ (wie vor)
   – Fluchtverdacht: wenn nach dem erkennbaren Verhalten des Täters
     vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, er werde sich
     dem Strafverfahren entziehen
• Befugnisse (Reichweite)
   – für Privatpersonen wie vor
   – für StA und Polizei str.
       • H.M.: Anwendung von Polizeirecht, d.h. UZwG (für Bundesbeamte) bzw.
         Landespolizeigesetze (für Landesbeamte), vgl. M-G/Schmitt, § 127 Rn. 20
       • sehr zweifelhaft wegen Verwischung von Präventiv- und Repressivbefugnissen
       • jedenfalls Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
4. Teil: Die Zwangsmittel
                  § 3 Vorläufige Festnahme
(3) Identifizierungssichernde Offizialfestnahme (§ 127 Abs. 1 S. 2):
• Befugt: StA und Polizei
• Voraussetzungen:
    – richtet sich nach §§ 163b Abs. 1, 163c StPO
    – dass § 163c StPO in § 127 Abs. 1 S. 2 nicht erwähnt wird, ist ein
      Redaktionsversehen (M-G/Schmitt, § 127 Rn. 7)
• Befugnisse (Reichweite):
    – H.M.: für unmittelbaren Zwang Befugnisse gem. UZwG bzw.
      Landespolizeigesetzen
    – Zweifelhaft wegen Verwischung von Präventiv- und Repressivbefug-
      nissen
    – jedenfalls Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten
• Achtung: Maximale Dauer der Freiheitsentziehung insoweit 12
  Stunden (§ 163c Abs. 2 StPO)
4. Teil: Die Zwangsmittel
               § 3 Vorläufige Festnahme
(4) Haftsichernde Offizialfestnahme (§ 127 Abs. 2):
• Befugt: StA und Polizei
• Voraussetzungen:
   – dringender Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 StPO)
   – Haftgrund (§ 112 Abs. 2, 3, § 112 a StPO)
   – Gefahr in Verzug
      • Verzögerung durch Einholung eines richterlichen Haftbefehls
        würde die Festnahme gefährden bzw. den Festnahmezweck
        vereiteln
      • nicht erforderlich: objektive Gefährdung des Festnahmeerfolgs;
        vielmehr ist die Annahme aufgrund pflichtgemäßer Prüfung der
        Umstände ausreichend
• Befugnisse (Reichweite): wie vor
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