Subtypen und Propagationsmuster der thorakalen Form der Amyotrophen Lateralsklerose

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Universitätsklinikum Ulm
                          Klinik für Neurologie
                    Prof. Dr. med. Albert C. Ludolph

Subtypen und Propagationsmuster der thorakalen Form der
              Amyotrophen Lateralsklerose

            Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der
                                Medizin
             der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm

                             vorgelegt von
                         Konstantin Lucca Eder
                             Ludwigsburg

                                 2021
Amtierender Dekan:     Prof. Dr. T. Wirth
1. Berichterstatter:   Prof. Dr. A. Ludolph
2. Berichterstatter:   Prof. Dr. D. Rothenbacher
Tag der Promotion:     24. Juni 2021
Für meine Mama.
Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS ................................................................................................................ I

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ..................................................................................................... III

1.      EINLEITUNG ...................................................................................................................... 1

1.1        Amyotrophe Lateralsklerose ........................................................................................ 1
     1.1.1 Definition und Epidemiologie .................................................................................. 1
     1.1.2 Klinik und Diagnosestellung ..................................................................................... 2
     1.1.3 Therapie und Prognose ............................................................................................ 3

1.2        Neuropathologische Stadieneinteilung ....................................................................... 4

1.3        Propagationsmuster ..................................................................................................... 5

1.4        Fragestellung und Zielsetzung ..................................................................................... 7

2.      PATIENTEN UND METHODEN .......................................................................................... 8

2.1        Patienten ...................................................................................................................... 8

2.2        Methoden ..................................................................................................................... 9
     2.2.1 Charakteristika der thorakalen ALS ......................................................................... 9
     2.2.2 Untersuchung des Propagationsmusters .............................................................. 10

3.      ERGEBNISSE .................................................................................................................... 11

3.1        Charakteristika der thorakalen ALS ............................................................................ 11
     3.1.1 Demographische Verteilung .................................................................................. 11
     3.1.2 Klinische Präsentation ............................................................................................ 13
     3.1.3 Gewichtsentwicklung ............................................................................................. 15

3.2        Untersuchung des Propagationsmusters................................................................... 17
     3.2.1 Überblick über die Propagation bei thorakalen ALS-Patienten ............................ 17

                                                                     I
3.2.2 Primäre Affektion der Atemmuskulatur ................................................................ 18
     3.2.3 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur ..................................... 19

3.3        Typische Fallvignetten der thorakalen ALS-Patienten ............................................... 22
     3.3.1 Primäre Affektion der Atemmuskulatur ................................................................ 22
     3.3.2 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur ..................................... 23
     3.3.3 Besonders schwere Verlaufsform .......................................................................... 24

4.      DISKUSSION .................................................................................................................... 25

4.1        Besonderheiten der thorakalen ALS-Patienten ......................................................... 25
     4.1.1 Männliche Vulnerabilität........................................................................................ 25
     4.1.2 Zusammenhang zwischen Geschlecht und Erkrankungsalter ............................... 26
     4.1.3 Rolle der Beatmung bei der Lebenserwartung ..................................................... 27
     4.1.4 Gründe für den ungewollten Gewichtsverlust ...................................................... 28

4.2        Das Propagationsmuster der Erkrankung bei thorakalen ALS-Patienten ................. 30
     4.2.1 Keine klaren Hinweise für kortikales Spreading .................................................... 30

4.3        Limitationen der Studie .............................................................................................. 33

4.4        Ausblick ....................................................................................................................... 33

5.      ZUSAMMENFASSUNG .................................................................................................... 35

6.      LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................................. 36

7.      DANKSAGUNG ................................................................................................................ 46

8.      LEBENSLAUF ................................................................................................................... 47

                                                                     II
Abkürzungsverzeichnis
ALS            Amyotrophe Lateralsklerose
COPD           Chronic Obstructive Pulmonary Disease
C9orf72        chromosome 9 open reading frame 72
DTI            Diffusion-Tensor-Imaging
ED             Erstdiagnose
EM             Erstmanifestation
fALS           familiäre ALS
FTD            Frontotemporale Demenz
FUS            fused in sarcoma
NIPPV          non-invasive positive pressure ventilation
NIV            non-invasive ventilation
pTDP-43        phosphoryliertes TDP-43
RKU            Rehabilitations- und Universitätsklinikum Ulm
sALS           sporadische ALS
SD             Standardabweichung
SOD-1          zytosolische Cu/Zn-Superoxiddismutase-1
TARDBP         TAR DNA binding protein
TDP-43         transactive response DNA binding protein 43 kDa
vgl.           vergleiche

                                     III
1. Einleitung
1.1 Amyotrophe Lateralsklerose
1.1.1 Definition und Epidemiologie
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine der wichtigsten altersabhängig auftretenden
neurodegenerativen Erkrankungen.
Seit der Erstbeschreibung 1869 durch den französischen Neurologen Jean-Martin Charcot
(Charcot & Joffroy, 1869) hat das Wissen um die Erkrankung enorm zugenommen und
doch kann man diese Krankheit bis heute nicht heilen. Definiert wird sie über die
Degeneration des Nervensystems. Im Vordergrund steht die Erkrankung des ersten und
des zweiten Motoneurons. Das erste Motoneuron beschreibt die Betz-Zellen im
motorischen Cortex und den Tractus corticospinalis, das zweite Motoneuron die
Vorderhornzellen des Rückenmarks und die bulbären motorischen Hirnnervenkerne und
ihre Axone. Das Spektrum der Erkrankung umfasst nicht nur die klassische Form der ALS,
sondern auch die Unterformen primäre Lateralsklerose, progressive Bulbärparalyse, die
progressive Muskelatrophie und das Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom (Ludolph et al., 2015a).
Es kann zwischen einer sporadisch auftretenden Form (sALS) und einer familiären Form
(fALS) unterschieden werden, wobei die sALS deutlich häufiger ist (ca. 95%) (Kiernan et al.,
2011; Rosenbohm et al., 2017). Als häufigste Ursache der fALS wird in Europa eine
Mutation im C9orf72-Gen (chromosome 9 open reading frame 72) angesehen (Hübers et
al., 2013). Weitere Mutationen betreffen unter anderem die Gene der zytosolischen
Cu/Zn-Superoxiddismutase-1 (SOD-1), FUS (fused in sarcoma) und TARDBP (TAR DNA
binding protein) (Andersen & Al-Chalabi, 2011). Intrazelluläre Einschlüsse des durch
TARDBP kodierten Proteins TDP-43 (transactive response DNA binding protein 43 kDa)
spielen sowohl bei der ALS als auch bei etwa der Hälfte der Patienten, die an einer
Frontotemporalen Demenz (FTD) leiden, eine entscheidende Rolle in der Pathogenese
(Neumann et al., 2006). Aus diesem molekularen Grund wird heute auch von einer ALS-
FTD-Spektrumserkrankung gesprochen (Hübers et al., 2016).

In Süddeutschland tritt die ALS mit einer Inzidenz von etwa 3 pro 100 000 Einwohner pro
Jahr auf (Rosenbohm et al., 2017). Sie stellt somit die häufigste Form der

                                             1
Motoneuronerkrankungen dar. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Der
alterskorrigierte Erkrankungsgipfel liegt bei 70 bis 75 Jahren (Rosenbohm et al., 2017).

1.1.2 Klinik und Diagnosestellung
Klinisch manifestiert sich die Erkrankung meist durch eine initial distal betonte, fokale
Atrophie der Extremitätenmuskulatur. Man spricht in diesem Fall von einer spinalen Form
der ALS. In bis zu einem Drittel der Fälle entwickeln die Patienten primär eine bulbäre
Symptomatik, welche initial mit Sprech- oder Schluckstörungen einhergeht. Eine
Beteiligung der Atemmuskulatur stellt für die meisten Patienten den lebenslimitierenden
Faktor dar (Kiernan et al., 2011).

Während sich eine Beteiligung der Atemmuskulatur in den meisten Fällen erst in späteren
Stadien der Erkrankung zeigt, sind Patienten mit isoliertem respiratorischem Beginn selten
(de Carvalho et al., 1996; Oh et al., 2017; Shoesmith et al., 2007). Erste Symptome dieser
Patienten reichen von einer milden Belastungsdyspnoe bis hin zu Orthopnoe, sodass
Betroffene lediglich im Sitzen schlafen können (Shoesmith et al., 2007). Hyperkapnie-
assoziierte Symptome wie morgendliche Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder
Konzentrationsschwierigkeiten können ebenfalls auftreten (Shoesmith et al., 2007). Noch
seltener tritt die Erkrankung durch primäre Paresen der autochthonen Rückenmuskulatur
auf. Erste Symptome dieser Subgruppe sind oftmals lediglich eine Rumpfhalteschwäche
oder eine Schwäche der Nackenmuskulatur (Talbot, 2009).
Zusammengefasst werden diese beiden Subformen unter dem Begriff der thorakalen Form
der ALS. Sie tritt nur bei etwa 3% aller ALS-Patienten auf (Rosenbohm et al., 2017;
Shoesmith et al., 2007). Aufgrund der Seltenheit dieser Subform und der zum Teil sehr
unspezifischen Symptomatik ist es nicht verwunderlich, dass Betroffene meist erst über
Umwege zum Neurologen gelangen (Chio, 1999).

Typischerweise beginnen die Symptome der ALS fokal und breiten sich im Verlauf der
Erkrankung kontinuierlich auf angrenzende Körperteile oder Regionen (bulbär, thorakal)
aus (Ravits & La Spada, 2009; Ravits et al., 2007b). Klinisch spricht man von einem
Spreading (Ravits & La Spada, 2009). Im Mittelpunkt der Symptomatik stehen Zeichen der
Degeneration des ersten und des zweiten Motoneurons. Klinische Zeichen für eine

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Schädigung des ersten Motoneurons sind gesteigerte Muskeleigenreflexe,
Pyramidenbahnzeichen und ein spastisch erhöhter Muskeltonus. Für eine Schädigung des
zweiten Motoneurons sprechen atrophische Paresen und Faszikulationen. Zunehmende
Bedeutung kommen auch den kognitiven Beeinträchtigungen und Verhaltensänderungen
im Rahmen des ALS-FTD-Spektrums zu. Bis zu 50% der ALS-Patienten entwickeln im Laufe
ihrer Erkrankung milde kognitive Defizite, etwa 5% weisen sogar das Vollbild einer FTD auf
(Lule et al., 2015).

Unterschiedliche Verläufe, individuelle Paresemuster sowie eine individuelle
extramotorische Beteiligung führen zu einer großen Heterogenität des Phänotyps (van Es
et al., 2017). Dies stellt auch die klinische Diagnostik vor einige Herausforderungen. Die
Diagnosestellung erfolgt grundsätzlich anhand des klinischen Bildes nach den
überarbeiteten El-Escorial Kriterien (Brooks et al., 2000). Da die dort vorgeschlagene
Einteilung in klinisch vermutet, klinisch möglich, klinisch wahrscheinlich, laborgestützt-
wahrscheinlich und klinisch definitiv sich für den klinischen Alltag als zu wenig sensitiv
herausgestellt hat (Agosta et al., 2015), existiert seit 2015 ein neuer Versuch einer
Überarbeitung (Ludolph et al., 2015b). In dieser wird besonders die Heterogenität der ALS
und deren enge Beziehung zur FTD genauer berücksichtigt. Außerdem ist der alleinige
Befall von einzelnen Regionen (bulbär, thorakal) als Diagnosekriterium anerkannt.

1.1.3 Therapie und Prognose
Bis heute ist die Ätiologie der Erkrankung weitestgehend ungeklärt. Eine kausale Therapie
existiert nicht. Das einzige in Europa zugelassene Medikament ist der Glutamat-Antagonist
Riluzol, für den eine lebensverlängernde Wirkung von zwei bis drei Monaten bei einer
verbleibenden Lebenserwartung von 12 Monaten beschrieben ist (Miller et al., 2012).
Ins Zentrum des Therapiekonzeptes rückt somit eine symptomorientierte Therapie und die
Vermeidung negativ prognostischer Faktoren. Als prognostisch ungünstig gelten ein
bulbärer Beginn, hohes Alter bei Krankheitsbeginn und ungewollter Gewichtsverlust (Chiò
et al., 2009; Steyn et al., 2018). Lebensverlängernd hingegen wirkt eine nicht-invasive
Beatmung (NIV) (Bourke et al., 2006; Dorst et al., 2019). Außerdem scheinen moderate
sportliche Aktivität sowie erhöhte Lipidspiegel im Blut einen positiven Einfluss auf das
Überleben zu haben (Dorst et al., 2011; Dupuis et al., 2008; Lisle & Tennison, 2015).

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Die bestmögliche Betreuung eines ALS-Patienten wird durch ein multidisziplinäres Team
aus Ärzten, Therapeuten und Angehörigen erreicht (Traynor et al., 2003; Van Den Berg et
al., 2005).
Trotz allen Bemühungen ist die Prognose schlecht. Die Erkrankung verläuft meist rasch
progredient und führt nach durchschnittlich zwei bis drei Jahren nach Symptombeginn
zum Tod durch respiratorische Insuffizienz (Gordon, 2013).

1.2 Neuropathologische Stadieneinteilung
Studien haben gezeigt, dass fehlgefaltete, zytoplasmatische Einschlüsse von
phosphoryliertem TDP-43 (pTDP-43) eine entscheidende Rolle in der Pathogenese der ALS
und der FTD spielen (Neumann et al., 2006). TDP-43 ist ein hoch konserviertes Protein,
welches physiologischerweise im Zellkern vorkommt und dort als RNA-Bindungs-Protein
eine wichtige Rolle bei der Transkription spielt (Brettschneider et al., 2013; Lee et al.,
2011). In erkrankten Zellen wird TDP-43 aus dem Zellkern in das Zytoplasma umverteilt, wo
es anschließend zur Bildung phosphorylierter Einschlusskörperchen kommt (Neumann et
al., 2006). Etwa 97% aller ALS-Patienten weisen diese Proteinopathie auf (Hardiman et al.,
2017).

Auf dieser Grundlage erstellten Brettschneider, Braak et al vier neuropathologische
Stadien der ALS (Brettschneider et al., 2013). Dazu untersuchten sie post mortem die
Gehirne von 76 ALS-Patienten.
Im Anfangsstadium (Stadium 1) sind die pathologischen Einschlusskörperchen auf den
agranulären Motorkortex, die a-Motoneurone im Vorderhorn des Rückenmarks und die
bulbären Hirnnervenkerne V, VII und X-XII beschränkt. In Stadium 2 breitet sich die
Erkrankung entlang kortikaler Assoziationsfasern auf den präfrontalen Neokortex und von
dort monosynaptisch auf die präcerebellären Kerne und die Formatio reticularis aus. In
Stadium 3 sind der supraorbitale Kortex, der postzentrale Neokortex und monosynaptisch
angebundene Neurone des Striatums (vor allem Nucleus accumbens) betroffen. Im
Endstadium (Stadium 4) haben sich die Einschlüsse bis in anteromediale Anteile des
Temporallappens einschließlich des Hippocampus ausgebreitet.

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Diese neuropathologische Stadieneinteilung konnte bereits in vivo mittels Diffusion-
Tensor-Imaging (DTI) bestätigt werden (Kassubek et al., 2014; Schulthess, 2016). Dadurch
soll es in Zukunft möglich sein, Patienten individueller und je nach Progression der
Erkrankung spezifischer zu behandeln.

1.3 Propagationsmuster
Es ist klinisch bekannt und durch die Untersuchungen zum Staging der ALS
neuropathologisch belegt, dass sich die Erkrankung kontinuierlich in Hirnarealen und damit
sekundär in der damit verbundenen Muskulatur ausbreitet (Brettschneider et al., 2013;
Kanouchi et al., 2012; Ravits & La Spada, 2009). Zugrundeliegend ist die oben beschriebene
Propagation von pathologischen pTDP-43-Einschlusskörperchen in Neuronen und
Gliazellen (Brettschneider et al., 2013). Klinisch äußert sich dies in einem progressiven
Paresemuster (Ravits & La Spada, 2009). Außerdem konnte gezeigt werden, dass das
Fortschreiten der Erkrankung mit der Größe der Proteinaggregate und der Zahl der
betroffenen Zellen assoziiert ist (Brettschneider et al., 2015; Mori et al., 2008). Ähnliche
Beobachtungen wurden bereits bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie der
Alzheimer-Demenz oder dem Morbus Parkinson gemacht (Guo & Lee, 2014). Auch hier
führen fehlgefaltete Proteinaggregate und deren Propagation zum Fortschreiten der
Erkrankung (Braak & Braak, 1991; Braak et al., 2002, 2003).

Die Arbeiten von Brettschneider und Braak liefern Hinweise für eine primär kortikale
Läsion mit Ausbreitung der pTDP-43-Einschlusskörperchen auf kortikofugaler sowie
kortikaler Ebene (Braak et al., 2013; Brettschneider et al., 2013). Es wird davon
ausgegangen, dass sich die Erkrankung zuerst kortikofugal entlang bestehender
synaptischer Verbindungen ausbreitet (Ravits, 2014). Dabei erscheinen monosynaptisch
angebundene, subkortikale Kerngebiete besonders vulnerabel zu sein (Braak et al., 2013).
Dies gilt vor allem für den Tractus corticospinalis und monosynaptisch angebundene a-
Motoneurone des Rückenmarks (Braak et al., 2017).
Experimentelle Studien zeigen, dass TDP-43 sowohl anterograd als auch retrograd
zwischen synaptisch verbundenen Neuronen transportiert wird (Fallini et al., 2012; Feiler
et al., 2015). Klinisches Korrelat ist eine kontinuierliche Ausbreitung der Paresen auf direkt

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angrenzende Körperregionen (Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009; Ravits et al., 2007a).
Die deutliche Mehrzahl der ALS-Patienten weist dieses Ausbreitungsmuster auf (Kanouchi
et al., 2012).

Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass sich die Erkrankung nicht immer nur kontinuierlich
entlang synaptischer Verbindungen auf Ebene des Rückenmarks ausbreitet. So konnte
beobachtet werden, dass es bei einem nicht geringen Anteil der Patienten zu direkten
Folgesymptomen an nicht direkt angrenzenden Körperregionen gekommen ist (Fujimura-
Kiyono et al., 2011; Gargiulo-Monachelli et al., 2012). Beispiel hierfür war unter anderem
die direkte Ausbreitung der Symptome von der bulbären Muskulatur auf die untere
Extremität mit Aussparung der oberen Extremität (Fujimura-Kiyono et al., 2011). Da die
Erkrankung in diesen Fällen von einer Region zur anderen „springt“ und dabei direkt
angrenzende Körperregionen ausspart, spricht man von einem diskontinuierlichen
Ausbreitungsmuster (Kanouchi et al., 2012). Dieses kann nicht durch die Anatomie des
Rückenmarks alleine erklärt werden, sondern deutet vielmehr auf eine zusätzliche
kortikale Ausbreitung hin.

Es lässt also darauf schließen, dass die pTDP-43-Propagation im Laufe des
Krankheitsprozesses nicht auf kortikofugale Signalwege beschränkt bleibt, sondern sich
auch über die Zellgrenzen hinweg in benachbarte Hirnregionen ausbreitet (Gargiulo-
Monachelli et al., 2012; Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009).
Jedoch ist der genaue Propagationsmechanismus bis heute unklar. Man geht von einem
Prionen-ähnlichen Verhalten aus, vergleichbar mit der Propagation des tau-Proteins bei
der Alzheimer-Demenz oder des a-synuclein bei Morbus Parkinson (Kanouchi et al., 2012;
Ludolph & Brettschneider, 2015; Smethurst et al., 2015). Neuere Überlegungen schließen
auch den zerebrospinalen Liquor als möglichen Ausbreitungs- und Transportweg des pTDP-
43 mit ein (Smith et al., 2015).

                                              6
1.4 Fragestellung und Zielsetzung
Bis heute ist die ALS nicht heilbar. Erkenntnisse zur Ausbreitung der Erkrankung sind
essentiell, um gezielte Therapien entwickeln und die Progression der Erkrankung stoppen
zu können.
Bisherige Arbeiten haben sich bereits mit dem Propagationsmuster sowie dem Muster der
Paresen an den häufigen Subformen (spinale und bulbäre Form) der ALS
auseinandergesetzt (Fujimura-Kiyono et al., 2011; Gargiulo-Monachelli et al., 2012;
Kanouchi et al., 2012; Ravits, 2014; Ravits & La Spada, 2009; Sekiguchi et al., 2014).
Aufgrund mangelnder Fallzahlen sind diese Untersuchungen jedoch noch nicht an
Patienten mit thorakaler ALS durchgeführt worden. Dabei ist das Ausbreitungsmuster der
Erkrankung bei dieser Form besonders interessant. Da zuerst zentrale Regionen des
Körpers betroffen sind, kann die Untersuchung Hinweise auf eine mögliche sekundäre
Bevorzugung von spezifischen Körperteilen bieten.

Ziel dieser Arbeit ist es, den klinischen Phänotyp der thorakalen Form der ALS möglichst
detailliert zu beschreiben und die Untersuchungen zum Propagationsmuster der
Erkrankung an dieser seltenen Subform durchzuführen.

Dazu wurde in einer der weltweit größten Kohorten untersucht, ob
   1. Patienten, die an der seltenen thorakalen Form der ALS erkranken, bestimmte
       Charakteristika hinsichtlich Alter bei Erstmanifestation, Geschlecht, diagnostischem
       Delay und Überlebenszeit im Vergleich zu den häufigen Subformen aufweisen
   2. das Propagationsmuster der thorakalen Form der ALS in Einklang mit den
       bisherigen Untersuchungen der häufigeren Subformen steht und
   3. ob es auch bei dieser Subform Hinweise für ein kortikales Spreading gibt.

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2. Patienten und Methoden
2.1 Patienten
In die Studie eigeschlossen wurden
   •   Männer und Frauen über 18 Jahre
   •   mit sporadischer oder familiärer, diagnostizierter Amyotropher Lateralsklerose
       (ALS) nach den überarbeiteten El-Escorial-Kriterien (Ludolph et al., 2015b)
   •   mit primärer Affektion der Atemmuskulatur oder der autochthonen
       Rückenmuskulatur (thorakale Form der ALS)
   •   und mindestens einer weiteren befallenen Region des Körpers (cervical, bulbär,
       lumbal).

Dabei wurden 2 Patientenkollektive angesehen:
1. Patienten, die mindestens einmalig in der neurologischen Klinik des Rehabilitations-
   und Universitätsklinikum Ulm (RKU) vorstellig waren und somit in der hauseigenen
   Datenbank oder
2. in der Datenbank des ALS-Registers Schwaben registriert sind.

Zum Zeitpunkt der Vorstellung der Patienten konnte sich die Symptomatik bereits auf
andere Körperregionen (bulbär, spinal) ausgebreitet haben, das Initialsymptom musste
jedoch eindeutig der thorakalen Region zuzuordnen sein. Alle Patienten, die diesen
Kriterien entsprachen, wurden unter der Gruppe der thorakalen ALS-Patienten
zusammengefasst.

Aus der Studie ausgeschlossen wurden alle anderen ALS-Patienten mit bulbärer, spinaler
oder unklarer Erstsymptomatik. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Patienten mit
Erstsymptomatik an der Atemmuskulatur mit vordiagnostizierter anderer möglicher
Ursache einer chronisch respiratorischen Insuffizienz, wie zum Beispiel COPD (Chronic
Obstructive Pulmonary Disease) oder Asthma bronchiale.

In die Studie eingeschlossen wurden insgesamt 59 Patienten/-innen, davon 47 Männer und
12 Frauen. Die Studie wurde von der Ethikkomission der Universität Ulm genehmigt
(Referenz Ethikantrag Nummer 28/14).

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2.2 Methoden
Es handelt sich um eine retrospektive Analyse der Patientendaten aus den Datenbanken
der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den
Jahren 2002 bis einschließlich 2018.
Nach erster Durchsicht der Patientenakten konnten zwei Gruppen der thorakalen Form der
ALS unterschieden werden. Die erste Gruppe bestand aus allen Patienten mit primärer
Affektion der Atemmuskulatur (N = 37). Die zweite Gruppe bestand aus allen Patienten mit
primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur (N = 22). Diese Gruppe ließ sich
wiederum in Patienten mit einer Rumpfhalteschwäche (N = 16) und Patienten mit einer
Nackenmuskelparese (N = 6) unterteilen.
Im Folgenden wurden die zwei Gruppen (Atemmuskulatur, autochthone
Rückenmuskulatur) einmal zusammen und einmal separat ausgewertet.

2.2.1 Charakteristika der thorakalen ALS
Zuerst wurde die gesamte Gruppe der thorakalen ALS-Patienten (N = 59) mit allen
anderen, nicht-thorakalen Patienten des ALS-Registers Schwaben (N = 1435) hinsichtlich
der wichtigen Kennzeichen der Erkrankung (Geschlecht, Alter bei Erstmanifestation,
diagnostischer Delay, Überlebenszeit) verglichen. Die Daten der nicht-thorakalen ALS-
Patienten wurden hierzu aus der klinischen Datenbank des ALS-Registers Schwaben
bezogen. Dabei wurden alle nicht-thorakalen Subformen miteinbezogen, sprich die
klassische Form der ALS mit spinalem oder bulbärem Beginn, die progressive
Bulbärparalyse, die primäre Lateralsklerose, die progressive Muskelatrophie sowie das
Flail-Arm-/Flail-Leg-Syndrom.
Der Vergleich dieser beiden Gruppen sollte Aufschluss über mögliche Charakteristika der
Patienten geben, die an der thorakalen Form der ALS erkrankt sind. Die statistische
Auswertung erfolgte mit der Statistiksoftware SPSS, Version 25.0. Die deskriptiven Daten
wurden mittels absoluter und relativer Häufigkeit sowie Mittelwert und
Standardabweichung dargestellt.

Des Weiteren wurde untersucht:
   •   ob und in welcher Form (nicht-invasiv, invasiv) eine Beatmung eingeleitet wurde
   •   ob und in welchem Ausmaß ein ungewollter Gewichtsverlust stattgefunden hat.

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2.2.2 Untersuchung des Propagationsmusters
Um das Propagationsmuster der Erkrankung bei den thorakalen ALS-Patienten klinisch zu
erfassen, wurde eine Figur erstellt (Abbildung 1). Diese spiegelt die vier Extremitäten sowie
die bulbäre und die thorakale Region wider.
Die Patienten wurden von erfahrenen ALS-Spezialisten der neurologischen Abteilung der
Universität Ulm untersucht. Mit Hilfe von aufsteigenden Zahlen wurde dann die
Reihenfolge der betroffenen Regionen eingetragen. Die Zahl 1 steht demnach für die
Onset-Region. Informationen über die genaue Ausbreitung der Symptomatik wurden
anhand der Patientenanamnese erhoben.
Da alle in die Studie eingeschlossenen Patienten an der thorakalen Form der ALS erkrankt
sind, wurde diese Region aus Gründen der Übersicht in den folgenden Abbildungen
entfernt.
Es wurden nur Patienten in die Studie aufgenommen, bei denen mindestens zwei
Regionen des Körpers (cervical, bulbär, thorakal, lumbal) betroffen waren, einschließlich
der Onset-Region.

Abbildung 1: Anhand dieser Figur wurde die Reihenfolge der betroffenen Regionen
beschrieben. Die sechs blauen Regionen indizieren die vier Extremitäten sowie die
bulbäre (zentral oben) und die thorakale (zentral) Region. Aus Gründen der Übersicht
wurde in den weiteren Abbildungen auf die thorakale Region verzichtet.

                                                          10
3. Ergebnisse
3.1 Charakteristika der thorakalen ALS
Verglichen wurden alle primär nicht-thorakalen ALS-Patienten des ALS-Registers Schwaben
(N = 1435) mit den primär thorakalen ALS-Patienten (N = 59) aus den Datenbanken der
neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren
2002 bis einschließlich 2018.

3.1.1 Demographische Verteilung
Zuerst wurden die demographischen Unterschiede betrachtet (Tabelle 1). Von den
insgesamt 1435 nicht-thorakalen ALS-Patienten aus dem Register waren 842 (58,7%)
männlich und 593 (41,3%) weiblich. Interessanterweise waren bei der thorakalen Form
deutlich mehr Männer als Frauen betroffen. 47 der insgesamt 59 Patienten (79,7%) waren
männlich, nur 12 (20,3%) weiblich. Somit liegt das Verhältnis von Männern zu Frauen bei
der thorakalen Form bei 3,9:1, bei den nicht-thorakalen Patienten bei 1,4:1 (vgl. Abbildung
2).

           Geschlechterverteilung der nicht-                       Geschlechterverteilung der thorakalen
              thorakalen ALS-Patienten                                        ALS-Patienten

                    männlich     weiblich                                      männlich     weiblich

Abbildung 2: Geschlechterverteilung. Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen
Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben (links, N = 1435) und primär thorakalen ALS-Patienten aus den
Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis
einschließlich 2018 (rechts, N = 59). Blau = männlich, Rot = weiblich. ALS = Amyotrophe Lateralsklerose.

Das durchschnittliche Alter der nicht-thorakalen Patienten bei Erstmanifestation (EM) lag
bei 66,5 (± 11,9) Jahren mit einem Erkrankungsgipfel zwischen 70 und 75 Jahren (vgl.
Abbildung 3). Die betroffenen Frauen waren mit 67,9 (± 11,0) Jahren durchschnittlich etwa
                                                         11
zweieinhalb Jahre älter als betroffene Männer. Bei diesen lag das durchschnittliche
Erkrankungsalter bei 65,6 (± 12,4) Jahren (Tabelle 1).

Abbildung 3: Altersverteilung der Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) (N =
1369) des ALS-Registers Schwaben bei Erstmanifestation. EM = Erstmanifestation.

Bei den thorakal erkrankten Patienten lag das durchschnittliche Erkrankungsalter bei 63,2
(± 10,5) Jahren mit einem Erkrankungsgipfel bei 65 bis 75 Jahren (vgl. Abbildung 4).
Auffällig war, dass betroffene Frauen (57,2 (± 12,7) Jahre), anders als bei den nicht-
thorakalen Patienten, im Schnitt deutlich jünger zum Zeitpunkt der EM waren als
betroffene Männer (64,8 (± 9,5) Jahre) (vgl. Tabelle 1).

Abbildung 4: Altersverteilung der Patienten mit primär thorakaler Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) (N = 59)
bei Erstmanifestation. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm
und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. EM = Erstmanifestation.

                                                          12
Tabelle 1: Demographische Daten. Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen
Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben (N = 1435) und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken
der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018
(N = 59). EM = Erstmanifestation, ED = Erstdiagnose, SD = Standardabweichung.

                                                                      NICHT-THORAKAL                THORAKAL
 N                                                                          1435                        59
     MÄNNLICH, N (%)                                                      842 (58,7)                 47 (79,7)
     WEIBLICH, N (%)                                                      593 (41,3)                 12 (20,3)

 N                                                                           1369                       59
 ALTER BEI EM IN JAHREN, MITTELWERT (SD)                                 66,5 (± 11,9)             63,2 (± 10,5)
   MÄNNLICH                                                              65,6 (± 12,4)             64,8 (± 9,5)
   WEIBLICH                                                              67,9 (± 11,0)             57,2 (± 12,7)

 N                                                                           1358                       59
 ALTER BEI ED IN JAHREN, MITTELWERT (SD)                                 67,2 (± 11,8)             64,5 (± 10,5)
   MÄNNLICH                                                              66,1 (± 12,2)             66,1 (± 9,4)
   WEIBLICH                                                              68,6 (± 11,0)             58,2 (± 12,9)

3.1.2 Klinische Präsentation
Tabelle 2 zeigt die klinische Präsentation der zwei Patientengruppen.
Informationen über die Onset-Region konnten bei 1228 (85,6%) der nicht-thorakalen
Patienten erhoben werden. Bulbärer (N = 422; 34,4%) und lumbosakraler (N = 419; 34,1%)
Beginn stellten dabei die häufigsten Formen dar. Cervicaler Onset wurde bei 321 (26,1%)
Patienten festgestellt. Bei 66 Patienten (5,4%) konnte die Onset-Region retrospektiv nicht
eindeutig zugeordnet werden.

Die durchschnittliche Dauer zwischen Beginn der Erkrankung und Diagnosestellung
(diagnostischer Delay) lag bei den nicht-thorakalen ALS-Patienten bei 8,7 (± 9,2) Monaten.
Bei den thorakalen ALS-Patienten verging fast doppelt so viel Zeit bis zur Diagnosestellung.
Hier lag die Verzögerung bei durchschnittlich 14,9 (± 17,0) Monaten.
Überraschenderweise war die verbleibende Lebenserwartung der thorakalen ALS-
Patienten ab dem Auftreten der ersten Symptome höher (27,3 (± 20,3) Monate) als bei
den nicht-thorakalen ALS-Patienten (23,4 (± 14,7) Monate) (Tabelle 2).

                                                          13
Tabelle 2: Klinische Präsentation der Erkrankung bei Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen
Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der
neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.
1 Fehlend: N = 207, 2 Zum Zeitpunkt der Datenakquisition konnte nicht bei allen Patienten festgestellt werden, ob sie noch

leben oder bereits verstorben waren.

                                                                              NICHT-THORAKAL              THORAKAL
 N                                                                                  1228 1
 ONSET-REGION, N (%)
   BULBÄR                                                                         422 (34,4)
   CERVICAL                                                                       321 (26,1)
   LUMBAL                                                                         419 (34,1)
   UNKLAR                                                                          66 (5,4)

 N                                                                                N = 1358                 N = 59
 DIAGNOSTISCHER DELAY IN MONATEN, MITTELWERT (SD)                                 8,7 (± 9,2)           14,9 (± 17,0)

 N                                                                                 N = 890                 N = 26
 ÜBERLEBEN 2 AB ONSET IN MONATEN, MITTELWERT (SD)                                23,4 (± 14,7)          27,3 (± 20,3)

 N                                                                                 N = 883                 N = 26
 ÜBERLEBEN 2 AB DIAGNOSE IN MONATEN, MITTELWERT (SD)                             15,7 (± 12,9)          13,2 (± 16,0)

Deutliche Unterschiede gab es hinsichtlich der Beatmung der Patienten (Tabelle 3).
Während bei den nicht-thorakalen Fällen im Laufe der Behandlung nur 11,4% der
Patienten (N = 116) nicht-invasiv oder invasiv beatmet wurden, waren es bei den
thorakalen Patienten 93,8% (N = 45).

Tabelle 3: Beatmungsmethoden. Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen
Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der
neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.
1 Fehlend: N = 416, 2 Fehlend: N = 11

                                                                       NICHT-THORAKAL                  THORAKAL
 N                                                                            1019 1                       48 2
 BEATMUNG, N (%)
   NICHT-INVASIV                                                            111 (10,9)                  41 (85,4)
   INVASIV                                                                   5 (0,5)                     4 (8,3)
   KEINE                                                                    899 (88,2)                   3 (6,3)
   NICHT-ERHOBEN                                                             4 (0,4)

                                                           14
3.1.3 Gewichtsentwicklung
Bei der Durchsicht der Daten fiel auf, dass ein hoher Anteil der thorakalen ALS-Patienten
deutlich an Gewicht verlor.
46 der 51 (90,2%) befragten thorakalen ALS-Patienten haben bis zur Diagnosestellung an
Gewicht verloren, durchschnittlich 14,3 (± 9,8) Kilogramm (Tabelle 4). Das Spektrum
reichte dabei von drei Kilogramm bis zu 40 Kilogramm (Abbildung 5).
Bei den nicht-thorakalen Patienten verlor nur knapp ein Viertel der Patienten (N = 333,
23,2%) an Gewicht, diese im Durchschnitt 4,8 (± 3,5) Kilogramm (Tabelle 4). Die Werte
reichten hier von einem Kilogramm bis zu 24 Kilogramm (Abbildung 5). Die deutliche
Mehrheit der Patienten (N = 1102, 76,8%) gab keinen Gewichtsverlust an. Diese Daten
beziehen sich allerdings nur auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung der Patienten
in der neurologischen Klinik der Universität Ulm.

Tabelle 4: Gewichtsverlust im Vergleich zwischen Patienten mit primär nicht-thorakaler Form der Amyotrophen
Lateralsklerose (ALS) des ALS-Registers Schwaben und primär thorakalen ALS-Patienten aus den Datenbanken der
neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018.
1 Die Daten beziehen sich auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung der Patienten in der neurologischen Klinik der

Universität Ulm, 2 Fehlend: N = 8, 3 N = 2 Patienten gaben einen Gewichtsverlust an, konnten aber keine konkrete Zahl
benennen. SD = Standardabweichung

                                                                       NICHT-THORAKAL 1                THORAKAL
 N                                                                             1435                        51 2
 GEWICHTSVERLUST
   JA, N (%)                                                                333 (23,2)                 46 (90,2) 3
     MITTELWERT IN KILOGRAMM (SD)                                           4,8 (± 3,5)                14,3 (± 9,8)

   NEIN, N (%)                                                             1102 (76,8)                    5 (9,8)

                                                            15
Gewichtsverlust in Kilogramm                                 Gewichtsverlust in Kilogramm
 45                                                           45
 40                                                           40
 35                                                           35
 30                                                           30
 25                                                           25
 20                                                           20
 15                                                           15
 10                                                           10
  5                                                             5
  0                                                             0

                    Thorakale ALS-Patienten                                   Nicht-thorakale ALS-Patienten

Abbildung 5: Boxplot-Darstellung des Gewichtsverlustes im Vergleich zwischen Patienten mit primär thorakaler (links,
N = 44) und primär nicht-thorakaler (rechts, N = 333) Form der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Dargestellt sind
Median, Mittelwert (Kreuz), oberes und unteres Quartil sowie Maximal-, Minimal- und Extremwerte. Die Daten der
thorakalen ALS-Patienten beziehen sich dabei auf den Gewichtsverlust bis zur Erstdiagnose, die Daten der nicht-
thorakalen ALS-Patienten auf die drei Monate vor der letzten Vorstellung in der neurologischen Klinik der Universität Ulm.

                                                           16
3.2 Untersuchung des Propagationsmusters
Um das Propagationsmuster der thorakalen Form der ALS zu untersuchen, wurde die
Reihenfolge der aufgetretenen Symptome bei 59 thorakalen ALS Patienten erfasst. Dabei
wurden je nach Erstsymptomatik zwei Subgruppen unterteilt. Die erste Subgruppe bestand
aus allen Patienten mit primärer Affektion der Atemmuskulatur (N = 37), die zweite
Subgruppe aus den Patienten mit primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur
(N = 22). Es mussten mindestens zwei Regionen betroffen sein, einschließlich der Onset-
Region.

3.2.1 Überblick über die Propagation bei thorakalen ALS-Patienten
Abbildung 6 zeigt zunächst einen Überblick aller thorakaler ALS Patienten und deren
Propagation der Symptome auf sekundäre Regionen. Hauptsächlich breitete sich die
Erkrankung sekundär auf die obere Extremität aus (N = 32, 54,2%). Interessant war, dass
insgesamt 15 Patienten (25,4%) direkte Folgesymptome an der unteren Extremität
entwickelten. 12 Patienten (20,3%) entwickelten sekundär bulbäre Symptome. Im
Folgenden werden nun die beiden Subgruppen der thorakalen ALS separat betrachtet.

Abbildung 6: Überblick über die Propagation der Erkrankung bei Patienten mit primär thorakaler Form der Amyotrophen
Lateralsklerose (ALS). Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm
und des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Dargestellt ist die Ausbreitung der
Erkrankung auf sekundäre Regionen. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in
diesen Regionen. Ein Patient mit gleichzeitiger, sekundärer Affektion beider oberer Extremitäten wurde in dieser Grafik
nicht berücksichtigt.

                                                          17
3.2.2 Primäre Affektion der Atemmuskulatur
Bei 37 Patienten (62,7%) mit thorakaler Form der ALS konnte eine primäre Affektion der
Atemmuskulatur festgestellt werden. Diese Subgruppe machte somit den Hauptteil der
thorakal erkrankten Patienten aus.
Die Patienten klagten vor allem über eine sekundäre Ausbreitung auf die bulbäre
Muskulatur (N = 11, 29,7%) und die rechte obere Extremität (N = 11, 29,7%) (Abbildung 7).
Interessanterweise entwickelten fast ein Fünftel der Patienten (N = 7, 18,9%) direkte
Folgesymptome an der unteren Extremität.

Abbildung 7: Propagation der Erkrankung bei primärer Affektion der Atemmuskulatur bei N = 37 Patienten. Die
Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers
Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die roten Pfeile zeigen die häufigsten Ausbreitungsmuster auf
sekundäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen.
Ein Patient mit gleichzeitiger, sekundärer Affektion beider oberer Extremitäten wurde in dieser Grafik nicht berücksichtigt.

Nach bulbärer Beteiligung (N = 11, Abbildung 8a) breitete sich die Erkrankung bei 5
Patienten (45,5%) als nächstes auf die rechte obere Extremität aus. Bei zwei Patienten
(18,2%) sprang die Erkrankung nach bulbärer Beteiligung an die untere Extremität. Einer
dieser zwei Patienten gab eine gleichzeitige Affektion beider unterer Extremitäten an. Er
wurde deshalb in der Abbildung 8a nicht berücksichtigt.
Bei drei Patienten konnte keine dritte betroffene Region festgestellt werden, da sich die
Patienten entweder noch in einem Frühstadium der Erkrankung befanden oder bereits
verstorben waren.

                                                            18
Patienten mit sekundär betroffener rechter oberer Extremität (N = 11, Abbildung 8b)
berichteten vor allem über einen Befall der kontralateralen linken oberen Extremität
(N = 9, 81,8%). Ein Patient entwickelte Folgesymptome an der rechten unteren Extremität.
Auch hier konnte bei einem Patienten keine dritte betroffene Region festgestellt werden.

Abbildung 8: Darstellung der am Häufigsten sekundär betroffenen Regionen nach primärer Affektion der Atemmuskulatur.
Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-Registers
Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die blauen Pfeile zeigen die häufigsten Ausbreitungsmuster auf
tertiäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten in diesen Regionen.
a) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener bulbärer Region. Ein Patient mit gleichzeitiger, tertiärer
Affektion beider unterer Extremitäten wurde in dieser Grafik nicht berücksichtigt. Bei drei Patienten konnte keine dritte
betroffene Region festgestellt werden. b) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener rechter oberer
Extremität. Bei einem Patienten konnte keine dritte betroffene Region festgestellt werden.

3.2.3 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur
Bei 22 Patienten (37,3%) mit thorakaler Form der ALS konnte eine primäre Affektion der
autochthonen Rückenmuskulatur festgestellt werden.
Nach Onset war bei diesen Patienten vor allem die linke obere Extremität als nächstes
betroffen (N = 9, 40,1%). 5 Patienten (22,7%) berichteten, dass nach Onset als nächstes die
linke untere Extremität betroffen war (Abbildung 9). Auch in dieser Subgruppe
entwickelten insgesamt 8 Patienten (36,4%) direkte Folgesymptome an der unteren
Extremität.

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Abbildung 9: Propagation der Erkrankung bei primärer Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur bei N = 22
Patienten. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und des ALS-
Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die roten Pfeile zeigen die häufigsten
Ausbreitungsmuster auf sekundäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen
Patienten in diesen Regionen.

Alle Patienten mit sekundär betroffener linker oberer Extremität entwickelten
Folgesymptome an der kontralateralen rechten oberen Extremität (Abbildung 10a).

Patienten mit sekundär betroffener linker unterer Extremität (N = 5, Abbildung 10b)
berichteten vor allem über einen Befall der kontralateralen rechten unteren Extremität
(N = 3, 60%). 2 Patienten (40%) berichteten über eine Propagation in die ipsilaterale linke
obere Extremität.

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Abbildung 10: Darstellung der am Häufigsten sekundär betroffenen Regionen nach primärer Affektion der autochthonen
Rückenmuskulatur. Die Patientendaten stammen aus den Datenbanken der neurologischen Klinik der Universität Ulm und
des ALS-Registers Schwaben aus den Jahren 2002 bis einschließlich 2018. Die blauen Pfeile zeigen die häufigsten
Ausbreitungsmuster auf tertiäre Regionen an. Die Zahl in den Kreisen indiziert die Anzahl der jeweils betroffenen Patienten
in diesen Regionen. a) Propagation der Erkrankung nach sekundär betroffener linker oberer Extremität. b) Propagation der
Erkrankung nach sekundär betroffener linker unterer Extremität.

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3.3 Typische Fallvignetten der thorakalen ALS-Patienten
3.3.1 Primäre Affektion der Atemmuskulatur
   I)     „Herr H., 64 Jahre alt, berichtet, dass er seit etwa 8 Monaten an einer
          progredienten Belastungsdyspnoe einhergehend mit Schlafstörungen,
          Tagesmüdigkeit, vermehrter körperlicher Erschöpfbarkeit und teilweise
          Kopfschmerzen leide. Es erfolgte primär eine pulmonale und kardiologische
          Diagnostik ohne wegweisenden Befund. Im Verlauf habe er zudem generalisierte
          Muskelkrämpfe sowie generalisierte Faszikulationen bemerkt. Auf Nachfrage
          bestehe in letzter Zeit eine Kraftlosigkeit und Feinmotorikstörung im Bereich der
          rechten Hand. Sehr diskret sei ihm eine Veränderung des Sprechens sowie
          intermittierendes Verschlucken aufgefallen. Es bestehe eine ungewollte
          Gewichtsabnahme von etwa 8 Kilogramm im letzten Jahr.“

   II)    „Herr B., 79 Jahre alt, klagte im Aufnahmegespräch über eine seit einem halben
          Jahr bestehende, progrediente Dyspnoe vor allem bei Belastung. Zusätzlich
          bemerke er eine zunehmende Kraftminderung, insbesondere beim
          Treppensteigen und beim Gehen. Seit einem Monat benötige er einen Rollstuhl,
          momentan könne er nur noch 10m ohne Gehhilfe gehen. Außerdem bemerke er
          seit etwa drei Monaten eine verwaschene und zunehmend leisere Sprache.
          Anamnestisch war zu erfahren, dass Herr B. vor sechs Wochen wegen eines
          hyperkapnischen Komazustandes stationär behandelt worden sei. Nach initialer
          Versorgung wurde eine restriktive Ventilationsstörung mit Hyperkapnie ohne
          Anhalt für eine metabolische oder kardiale Ursache festgestellt. Ein MRT des
          Kopfes wurde durchgeführt; dieses zeigte keine Auffälligkeiten. Bei ausgeprägter
          Dysarthrophonie sowie Faszikulationen in den oberen Extremitäten wurde eine
          weitere neurologische Abklärung empfohlen.“

Patienten mit primärer Affektion der Atemmuskulatur machen den Großteil der thorakalen
ALS-Patienten aus. Typischerweise sieht man bei diesen Patienten eine sich langsam
entwickelnde Belastungsdyspnoe als erstes Zeichen der Erkrankung. Dies merken
Betroffene oft zuerst beim Treppensteigen oder beim Spazierengehen anhand
abnehmender Leistungsfähigkeit. Aufgrund nächtlicher Hyperkapnie, welche der

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Ventilationsstörung geschuldet ist, kann es bei diesen Patienten auch zu weiteren
Symptomen wie Schlafstörungen, morgendlichen Kopfschmerzen oder
Konzentrationsschwierigkeiten kommen.
Die folgenden Besuche beim Hausarzt, Pulmonologen oder Kardiologen bleiben meist
ohne wegweisenden Befund. Es kann oft nur eine restriktive Ventilationsstörung
nachgewiesen werden; die genaue Ursache bleibt jedoch zunächst unbekannt. Erst nach
dem Auftreten weiterer ALS-typischer Symptome wie Muskelfaszikulationen, -krämpfe
oder einem allgemeinen Kraftverlust, rückt eine mögliche neurodegenerative Erkrankung
in den Fokus. Bis hierhin sind jedoch meist schon mehrere Monate seit Symptombeginn
vergangen.

3.3.2 Primäre Affektion der autochthonen Rückenmuskulatur
   III)      „Frau M., 66 Jahre alt, berichtet, sie habe vor 8 Monaten zunächst eine
             Schwäche im Bereich der Rückenmuskulatur bemerkt. Ihr sei es schwergefallen,
             sich aufzurichten. Sie leide auch unter gelegentlichen lumbalen Schmerzen,
             diese stünden aber nicht im Vordergrund. Im Verlauf sei auch eine Schwäche der
             Beine hinzugekommen, dies habe sie insbesondere beim Treppensteigen
             bemerkt. Eine orthopädische Abklärung habe bisher keinen wegweisenden
             Befund ergeben, jedoch habe der Orthopäde bereits den Verdacht auf eine
             Motoneuronerkrankung geäußert. Im Verlauf sei die linke Hand schwächer
             geworden. Dies habe sie bemerkt, da sie das Garagentor in letzter Zeit nicht
             mehr öffnen könne. An Gewicht habe sie seit einem Monat etwa 5 Kilogramm
             verloren. Aufgrund ihrer schnellen Ermüdbarkeit sei eine
             Herzkatheteruntersuchung erfolgt. Diese zeigte einen unauffälligen Befund.“

Nur etwa ein Drittel der thorakal erkrankten ALS-Patienten weist eine primäre Affektion
der autochthonen Rückenmuskulatur auf. Typischerweise sind auch hier deutlich häufiger
Männer betroffen. Erste Symptome dieser Patienten sind oft nur eine unspezifische
Rumpfhalteschwäche. Betroffenen fällt es schwer, sich aus liegender Position aufzurichten
oder sie bemerken beim Gehen, dass der Oberkörper oder der Kopf nach vorne „kippt“.
Auch diese Patienten suchen aufgrund ihrer unspezifischen Beschwerden zunächst oft den

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Weg zum Physiotherapeuten oder Orthopäden. Eine neurologische Vorstellung erfolgt
meist erst nach progressiven Paresen.
Eine häufige klinische Begleiterscheinung der thorakalen ALS-Patienten ist ein zum Teil
enormer, ungewollter Gewichtsverlust. Dies trifft sowohl für die primär an der
autochthonen Rückenmuskulatur erkrankten, als auch für die primär an der
Atemmuskulatur betroffenen Patienten zu. Ein hoher Gewichtsverlust stellt zugleich auch
ein erstes Anzeichen für einen prognostisch ungünstigeren Verlauf dar.

3.3.3 Besonders schwere Verlaufsform
   IV)     „Bei Herrn S. war es bereits seit etwa 4 Monaten zu einer Gewichtsabnahme von
           circa 40 Kilogramm gekommen. Die durchgeführten Untersuchungen
           (Gastroskopie und Koloskopie) waren ohne pathologischen Befund. Seit 6
           Monaten zeige sich eine progrediente muskuläre Schwäche. Bei Verdacht auf
           eine schwere depressive Episode wurde Herr S. in eine psychiatrische Klinik
           aufgenommen. Dort kam es zu einer rapiden Verschlechterung der
           Atemsituation bis zu einer Sauerstoffsättigung von 63%. Der hinzugezogene
           Notarzt stellte eine Tachykardie sowie Hebungen über der Hinterwand fest. Der
           Patient wurde daraufhin intubiert und beatmet in eine Fachklinik verlegt. Dort
           konnte in der durchgeführten Koronarangiographie eine Ischämie
           ausgeschlossen werden. Neurologisch wurden eine Encephalitis und eine
           Myasthenie ausgeschlossen, das EEG erbrachte keinen wegweisenden Befund.
           Nach Stabilisierung der Beatmungssituation erfolgte die Extubation. Bei erneut
           verschlechterter Atemsituation und respiratorischer Erschöpfung mit
           Vigilanzminderung musste Herr S. jedoch wieder reintubiert werden. Im Verlauf
           wurde der Patient wiederholt ex- und wieder reintubiert. Eine nicht-invasive
           Beatmung brachte eine kurzfristige Besserung, aufgrund der zunehmenden
           muskulären Erschöpfung musste jedoch wieder auf eine invasive
           Beatmungsform gewechselt werden. In der folgenden Woche wurde der Patient
           deshalb in eine Lungenfachklinik zur Einstellung auf ein Heimbeatmungsgerät
           überwiesen.“

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4. Diskussion
4.1 Besonderheiten der thorakalen ALS-Patienten
In diese Studie wurden insgesamt 59 Patienten eingeschlossen, die an der seltenen
thorakalen Form der ALS erkrankt sind. Da es bisher kaum spezifische Untersuchungen zu
diesen Patienten gab, wurden sie zunächst mit den klassischen ALS-Patienten des ALS-
Registers Schwaben verglichen. Zu den klassischen Patienten zählen vor allem diejenigen
mit spinalem oder bulbärem Beginn, welche zusammen etwa 95% aller ALS-Patienten
ausmachen (Kiernan et al., 2011; Rosenbohm et al., 2017). Durch diesen Vergleich
erhofften wir uns, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der seltenen thorakalen
Form und den häufiger auftretenden Subformen herauszufinden.

4.1.1 Männliche Vulnerabilität
In der Gruppe der thorakalen ALS-Patienten ergab sich ein Geschlechterverhältnis
männlicher zu weiblicher Patienten von 3,9:1 (vgl. Abbildung 2). Es liegt somit deutlich
über der beschriebenen Verteilung für die häufigsten Subformen mit spinalem und
bulbärem Beginn. Bei diesen liegt das Verhältnis von männlich zu weiblich bei 1,1 - 1,4:1
(Logroscino et al., 2010; Rosenbohm et al., 2017; Uenal et al., 2014).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die vorliegende
Studienpopulation als repräsentativ erachtet werden kann und wie die hier beschriebene
Geschlechterverteilung einzuordnen ist. Mit 59 thorakalen ALS-Patienten ist es die bisher
größte Untersuchung an dieser Patientengruppe. Vergleichbare Studien mit weniger
Patienten beschrieben ebenfalls ein vermehrtes Auftreten der thorakalen ALS bei Männern
mit einem Verhältnis von bis zu 4:1 (de Carvalho et al., 1996; Shoesmith et al., 2007). Es
lässt sich somit die Vermutung bestätigen, dass Männer deutlich vulnerabler für die
thorakale Form der ALS sind.

Interessanterweise wurde eine solche Geschlechterpräferenz auch bei den anderen
Subformen der ALS beschrieben. An der bulbären Form erkranken vor allem ältere Frauen,
Männer hingegen scheinen vor allem an der spinalen Form und der Unterform, dem Flail-
Arm-Syndrom, zu erkranken (Chiò et al., 2009; Gordon, 2013; Hildenbrandt, 2015;
Logroscino et al., 2010; Ravits et al., 2013). Man geht davon aus, dass das Geschlecht eine
Rolle in der phänotypischen Ausprägung der Erkrankung spielt (Blasco et al., 2012).

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Welche Rolle dieses jedoch genau bei der Ausbildung der Erkrankung spielt und wieso
bestimmte Geschlechter vulnerabler für bestimmte Subformen der ALS sind, ist bisher
unklar und muss in weiterführenden Studien untersucht werden. Es wäre interessant zu
wissen, ob es für diese Geschlechterselektivität möglicherweise molekulare, genetische
oder auch hormonelle Erklärungen gibt. Die Prognose scheint unabhängig vom Geschlecht
zu sein (Blasco et al., 2012; Mandrioli et al., 2006).

4.1.2 Zusammenhang zwischen Geschlecht und Erkrankungsalter
In großen multizentrischen Studien wird ein mittleres Erkrankungsalter der ALS über alle
Subformen hinweg von 62 bis 65 Jahren angegeben (Chio et al., 2013; Logroscino et al.,
2010). Damit liegen sowohl die hier untersuchten thorakalen (63,2 Jahre) als auch die
nicht-thorakalen Patienten des ALS-Registers Schwaben (66,5 Jahre) in etwa im Bereich der
Gesamtkohorte.
Des Weiteren beschrieben Logroscino et al einen Unterschied im Erkrankungsalter
zwischen Männern und Frauen (Logroscino et al., 2010). So waren Frauen zum Zeitpunkt
der Erstmanifestation durchschnittlich zwei Jahre älter als Männer. Diese Gegebenheit
konnte auch bei den nicht-thorakalen Patienten des ALS-Registers Schwaben beobachtet
werden (vgl. Tabelle 1). Interessanterweise unterschieden sich die thorakalen Patienten
hier deutlich von der Vergleichskohorte. Primär thorakal erkrankte Frauen waren zum
Zeitpunkt der Erstmanifestation im Schnitt 7,5 Jahre jünger als die primär thorakal
erkrankten Männer (vgl. Tabelle 1). Im Vergleich zu den nicht-thorakal erkrankten Frauen
waren sie sogar über zehn Jahre jünger.
Diese Werte sollten allerdings mit Vorsicht interpretiert werden. Es wurden lediglich 12
thorakal erkrankte Frauen registriert und in die Studie aufgenommen, sodass es durch
diese niedrige Fallzahl zu einer Verfälschung der Ergebnisse kommen kann.

Eine andere plausible Erklärung für einen früheren Krankheitsbeginn der thorakalen ALS
bei Frauen lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht finden. Es werden weitere Studien mit
größeren Fallzahlen benötigt, um dies zu überprüfen und eine mögliche Ursache zu finden.

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