SUCHE NACH GESTALTUNGSMACHT - Deutschlands Außenpolitik in Europa - Stiftung Mercator

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D         APuZ

      SUCHE NACH GESTALTUNGSMACHT
                    Deutschlands Außenpolitik in Europa
                                           Josef Janning

Eine Rückschau auf die gut 25 Jahre seit der deut-   Analysen ist sie hingegen vergleichsweise über-
schen Einheit am 3. Oktober 1990 kann zu kei-        sichtlich. Die Verarbeitung der jüngsten Ent-
nem anderen Resümee kommen: Die Position             wicklungen ist noch im Gange, dementsprechend
und Rolle Deutschlands in der europäischen und       steht eine umfassende Einordnung deutscher Au-
internationalen Politik hat sich grundlegend ge-     ßenpolitik unter den Vorzeichen einer hegemo-
wandelt, ebenso die Ziele und Handlungsstrategi-     nialen Rolle in Europa – sei sie nun halb-hegemo-
en deutscher Außenpolitik. Weder die Umbrüche        nial oder hegemonial wider Willen – noch aus.
in der internationalen Politik noch der Konstella-   Für die Stationen auf dem Weg dorthin bietet sich
tionswandel in Europa wurden damals von politi-      jedoch ein ebenso einfacher wie aufschlussreicher
schen Akteuren oder Experten annähernd erfasst.      Zugang, mit dem sich die wichtigen Debatten, die
Es gab Stimmen, die einen bedeutsamen Macht-         konzeptionellen Entwürfe und analytischen An-
zuwachs Deutschlands antizipierten, doch auch        sätze, die wichtigsten Köpfe und die relevante
sie konnten nicht vorhersehen, wie wenig die         Literatur erschließen lassen.
deutsche Politik tatsächlich aus diesem Zuwachs          Drei Publikationen bündeln die Summe der
machen würde.                                        Erforschung und Erfahrung deutscher Außenpoli-
    Während die Zahl der Vetospieler in einer Eu-    tik. Der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker
ropäischen Union mit 28 Mitgliedstaaten deut-        Hans-Peter Schwarz versammelte 1975 in einem
lich zugenommen hat, ist die Gestaltungsmacht        Handbuch die Beiträge renommierter Autoren
Deutschlands nicht mitgewachsen, mehr noch:          aus Wissenschaft und politischer Praxis, die sich
Deutschland trifft in Europa auf eine Abgren-        auf dem Stand der damaligen Forschung detailliert
zungs- und Verweigerungshaltung, die sich nicht      mit Lage, Interessen und Strategien der Außen-
primär gegen seine politischen Ziele richtet, son-   politik des westdeutschen Staates auf dem Höhe-
dern gegen seine wahrgenommene Dominanz              punkt seiner Konsolidierung befassten.01 Als Stan-
und den Stil des Regierungshandelns. Von „Ge-        dardwerk wurde es in den 1990er Jahren durch die
genmachtbildung“ zu sprechen scheint verfrüht;       vierbändige Edition „Deutschlands neue Außen-
dafür sind die Potenziale zu begrenzt, und bislang   politik“ abgelöst.02 Gemeinsam mit wechselnden
kann der Versuch, diese durch die Mobilisierung      Mitherausgebern und führenden Experten dieser
größerer Mächte zu hebeln, nur auf Russland set-     Zeit unternahm es der Politikwissenschaftler Karl
zen. Verließe Großbritannien jedoch die Euro-        Kaiser, die Lage, Interessen, Strukturen, Prozes-
päische Union im Konflikt über die Austritts-        se und Strategien der Außenpolitik des vereinten
bedingungen und zöge mit Marine Le Pen eine          Deutschlands zu vermessen.
nationalpopulistische Präsidentin in den Élysée-         Wenn bei Schwarz und den Autoren seines
Palast, könnte sich das rasch ändern. Die Opposi-    Handbuchs die deutsche Außenpolitik vor allem
tion gegen Deutschlands dominante Rolle in der       als durch die äußeren Rahmenbedingungen be-
Europäischen Union könnte dann unter mächti-         stimmte Strategie der Eingliederung in „den Wes-
geren Verbündeten wählen.                            ten“ dekliniert wurde, so bestimmte die Wahr-
                                                     nehmung des Neuen, der Umbrüche und der
    DREIMAL DEUTSCHE AUSSENPOLITIK                   darin liegenden Chancen die Perspektive vieler
                                                     Beiträge der neuen Reihe. Bei einem Vergleich
Die Literatur zur Außenpolitik der Bundesrepu-       der beiden Werke fällt eine Verschiebung bei der
blik im Wandel der Zeit und Konstellationen ist      Bewertung der Rolle Deutschlands ins Auge: In
kaum zu überschauen. In ihren grundlegenden          den 1970er Jahren zielten die Handlungsempfeh-

                                                                                                    13
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lungen der Autoren auf eine Mitgestaltung des                           Sünder“ ist Deutschland zum „Zuchtmeister“ der
vorgegebenen Rahmens, in den 1990er Jahren                              Währungsunion geworden, statt selbstbewusster
erstmals auch auf eine Definitions- und Gestal-                         Verweigerung wie im Irak-Krieg ergreift Deutsch-
tungsrolle deutscher Außenpolitik.                                      land ganz selbstverständlich die Initiative, sei es im
    Ein Jahrzehnt später hatte sich die Betrach-                        Ukraine-Konflikt oder bei der Aushandlung des
tung deutscher Außenpolitik erneut gewan-                               europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommens.
delt: In dem 2007 von den Politologen Siegmar                               Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft löste Angela
Schmidt, Gunther Hellmann und Reinhard Wolf                             Merkel ihre erste Krise, die Verhandlungen über
herausgegebenen Handbuch zur deutschen Au-                              den mittelfristigen Finanzrahmen der Europäi-
ßenpolitik bestimmten die Risiken und Konflikte                         schen Union, noch mit den bewährten Mitteln
der internationalen Politik den Tenor vieler Bei-                       ihrer Vorgänger, indem sie die Blockade durch
träge.03 Mit Blick auf Europa war die Zuversicht                        deutsche Mehrleistungen überwand: Der Kon-
in die Weiterentwicklung der Integration wach-                          flikt zwischen Großbritannien und Frankreich
sender Skepsis gewichen. Die Erwartungen an                             drohte zulasten der ostmitteleuropäischen Staaten
die Europäische Union hatten sich nicht erfüllt,                        auszugehen. Teil des von Merkel durchgesetzten
und Rollenkonflikte ließen sich bereits erkennen,                       Kompromisses war die Erklärung der Bundesre-
die aus dem Gewicht der Bundesrepublik in ei-                           gierung, zugunsten Polens auf rund 100 Millionen
ner stagnierenden Union resultierten. Die Politik                       Euro zu verzichten, die Deutschland zustanden.05
Deutschlands in Europa war „britischer“ gewor-                          Heute nutzt sie die Unerlässlichkeit deutscher Zu-
den im Sinne einer stärker auf die Verfolgung der                       stimmung oder Beteiligung an europäischen Initi-
Eigeninteressen gerichteten Linie. Berlins akti-                        ativen innerhalb oder außerhalb der Europäischen
vere internationale Rolle wurde breit diskutiert,                       Union zur Durchsetzung der Ziele und Präferen-
doch die Führungsfrage stellte sich eher am Ran-                        zen der Bundesregierung.
de. Dabei gehörte sie für die Herausgeber bereits                           Diese Veränderungen haben die Debatte um
zu den zentralen Analysemustern. In ihrer Ein-                          die Rolle Deutschlands in der internationalen Poli-
führung stellten Schmidt, Hellmann und Wolf                             tik drastisch zugespitzt. Die alte „deutsche Frage“
explizit die von deutschen Wissenschaftlerinnen                         nach der Verträglichkeit des Gewichts Deutsch-
und Wissenschaftlern überwiegend geäußerte Er-                          lands mit der Ordnung Europas ist zurück, seit
wartung einer Kontinuität in der deutschen Au-                          der Teilung des Landes 1949 schärfer denn je. Die-
ßenpolitik nach 1990 den Positionen US-ameri-                           se Zuspitzung resultiert nicht nur aus den skizzier-
kanischer Neorealisten wie Kenneth Waltz oder                           ten Entwicklungen und ihren Folgen für die Euro-
John Mearsheimer gegenüber, für die Deutsch-                            päische Union, sondern speist sich auch aus dem
land mit der Wiedervereinigung in den Status ei-                        Wandel des internationalen Systems. Es gibt sei-
ner Großmacht zurückgekehrt sei und diesen                              tens der klassischen Großmächte keine ordnungs-
Platz in einem machtbestimmten internationalen                          politische Strategie mehr für Europa: Das Interesse
System mit der Zeit auch einnehmen werde.04                             der Vereinigten Staaten an Europa schwindet, und
                                                                        Deutschlands Stärke wird in Washington eher als
             UNVERZICHTBARE MACHT?                                      Chance denn als Problem wahrgenommen; Russ-
                                                                        land betreibt nicht die Ordnung Europas sondern
Heute hat der einstige „kranke Mann Europas“                            deren Relativierung; Frankreich und Großbritan-
zu neuer wirtschaftlicher Stärke und einem hohen                        nien fehlt die Kraft oder der Wille, Europas Ord-
Beschäftigungsniveau gefunden, vom „Maastricht-                         nung zu prägen. Die traditionelle Antwort auf das
                                                                        Problem der deutschen Macht in der Mitte Euro-
                                                                        pas, nämlich die Durchsetzung einer Ordnung, die
01 9JO+DQV3HWHU6FKZDU] +UVJ +DQGEXFKGHUGHXWVFKHQ
Außenpolitik, München 1975.
                                                                        Deutschland seinen Platz zuweist, fällt aus.
02 9JO.DUO.DLVHUHW¬DO +UVJ 'HXWVFKODQGVQHXH$X‰HQSROLWLN       Damit hat die Bundesrepublik es selbst in der
¬%GH0QFKHQ²                                              Hand, ihre Rolle im europäischen Rahmen zu de-
03 Vgl. Siegmar Schmidt/Gunther Hellmann/Reinhard Wolf                  finieren. Nicht von Einkreisungsängsten oder Ge-
 +UVJ +DQGEXFK]XUGHXWVFKHQ$X‰HQSROLWLN:LHVEDGHQ
04 9JO.HQQHWK1¬:DOW]7KH(PHUJLQJ6WUXFWXUHRI,QWHUQD
WLRQDO3ROLWLFVLQ,QWHUQDWLRQDO6HFXULW\6¬²-RKQ     05 9JO-RVHI-DQQLQJ%XQGHVUHSXEOLN'HXWVFKODQGLQ:HUQHU
-¬0HDUVKHLPHU%DFNWRWKH)XWXUH,QVWDELOLW\LQ(XURSHDIWHUWKH    Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der europäischen
&ROG:DULQ,QWHUQDWLRQDO6HFXULW\6¬²                   ,QWHJUDWLRQ%DGHQ%DGHQ6¬²

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genallianzen getrieben, von Partnern umgeben und                 her sieht er Deutschland in der Position eines
durch die Verbrechen des Nationalsozialismus vom                 „reluctant hegemon“.08 Zur Leitvokabel wurde
Größenwahn geheilt, sieht der Politikwissenschaft-               dieser Begriff durch die Berichterstattung des
ler Herfried Münkler Deutschland als die mögliche                britischen „Economist“, der 2013 voll des Lo-
und nötige Führungsmacht, die der europäischen                   bes für die Kanzlerschaft Merkels das Wider-
Politik Richtung und Zentrum geben kann.06 Da                    streben der deutschen Öffentlichkeit und das
eine politische Einigung Europas nach bundes-                    mangelnde Führungsverständnis der Eliten be-
staatlichem Modell nicht zu erreichen sei, sieht                 klagte. Pragmatismus und Ordnungsidee seien
Münkler mangels verfügbarer und realistischer                    die Stärken Deutschlands, die Mentalität eines
Alternativen die Führung durch Deutschland                       Kleinstaates dagegen seine große Schwäche.09
geboten. An diesem Punkt setzt die Gegenthese                        Die Gründe für das Zögern und den erkenn-
an, wie sie der Germanist Hans Kundnani for-                     baren Unwillen der Bundesrepublik, die zuge-
muliert.07 Aus seiner Sicht produziert die deut-                 schriebene Führungsrolle einzunehmen, sehen
sche Politik in Europa ein Paradox: Die Bundes-                  manche in der fortwirkenden historischen Er-
republik scheint einerseits die dominante Macht                  fahrung,10 andere im fehlenden strategischen
zu sein und auch sein zu wollen, andererseits da-                Denken der politischen Klasse Deutschlands,11
raus resultierende Verantwortung und Kosten zu                   wieder andere in der mangelnden Fähigkeit der
scheuen. Deutschland regiere Europa durch rigi-                  deutschen Politik, die eigenen Ziele etwa in der
de Regeln und reklamiere für sich selbst eine po-                Flüchtlingskrise auch gegen Widerstände durch-
litische Souveränität, die den eigenen Wirtschafts-              zusetzen – Deutschland könne in den Worten des
interessen Vorrang vor Werten und politischer                    Historikers Ludwig Dehio mithin nur als halbhe-
Solidarität einräume. Ein solches Deutschland                    gemoniale Macht bezeichnet werden.12 Program-
kann für Kundnani nicht führen, weil es keine                    matisch gewendet führt die Analyse zum Bild von
Gefolgschaft findet. Der springende Punkt liege                  Deutschland als „benevolent hegemon“, nachzu-
in der Weigerung Berlins, als Lösung der Euro-                   lesen etwa bei dem Investor George Soros.13
Krise die Staatsschulden in der Währungsunion                        In der deutschen Debatte wird der Begriff
zu vergemeinschaften – mit dieser Entscheidung                   des Hegemons meist vermieden, auch das Wort
sei Führung zu Beherrschung geworden.                            „Führung“ wird eher nur zögerlich verwen-
     Zwischen diesen beiden Positionen fin-                      det. Dies mag damit zusammenhängen, dass Ak-
det sich eine Vielzahl von Thesen und Entwür-                    teure und Experten in Deutschland die Debatte
fen zur Rolle Deutschlands in Europa, die sich                   vielfach als Einforderung einseitiger Zugeständ-
nicht leicht in ein Spektrum sortieren lassen.                   nisse und Leistungen wahrnehmen. Nur weni-
Die wohl augenfälligste Vokabel in dieser De-                    ge sorgen sich um eine deutsche „Übermacht“14
batte ist die des Hegemons. Sie prägt die eng-                   oder spitzen wie der „Spiegel“ die internationa-
lischsprachige Debatte zur deutschen Außenpo-
litik seit der Zuspitzung der Staatsschuldenkrise                08 :LOOLDP(3DWHUVRQ7KH5HOXFWDQW+HJHPRQ"*HUPDQ\
in der Europäischen Währungsunion. Die neu-                      0RYHV&HQWUH6WDJHLQWKH(XURSHDQ8QLRQLQ-RXUQDORI&RP
en politischen Bewegungen im Süden Europas                       PRQ0DUNHW6WXGLHV6SHFLDO,VVXH7KH-&06$QQXDO
                                                                 5HYLHZRIWKH(XURSHDQ8QLRQLQ6¬²
haben die Vokabel bereitwillig aufgenommen,
                                                                 09 (XURSH·V5HOXFWDQW+HJHPRQ6SHFLDO5HSRUW*HUPDQ\
vor allem dort wird sie im vollen Wortsinn ver-                  15. 6. 2013, ZZZHFRQRPLVWFRPVLWHVGHIDXOWÀOHVB
wendet. Ansonsten ist Deutschland bestenfalls                    JHUPDQ\SGI.
ein Hegemon mit Adjektiven. Für den Polito-                      10 6LHKHHWZD6WHSKHQ*UHHQ5HOXFWDQW0HLVWHU²+RZ
logen William Paterson, der gemeinsam mit sei-                   *HUPDQ\·V3DVW,V6KDSLQJ,WV(XURSHDQ)XWXUH&KLFDJR
                                                                 11 6LHKHHWZD3DUNH1LFKROVRQ7KH0\WKRID0LJKW\*HUPDQ\
nem Wissenschaftlerkollegen Simon Bulmer be-
                                                                 1. 6. 2015, ZZZIRUHLJQDŶDLUVFRPDUWLFOHVJHUPDQ\
reits die alte Bundesrepublik vor 1989 mit dem                   P\WKPLJKW\JHUPDQ\.
Bild des „Semi-Gullivers“ beschrieben hatte,                     12 Vgl. Hans Kundnani, Ein deutsches Europa – oder ein chaoti
markiert die Euro-Krise den Wendepunkt; seit-                    VFKHV"LQ$3X=6¬²
                                                                 13 9JO*UHJRU3HWHU6FKPLW]*HRUJH6RURV:HWWHQDXI(XURSD
                                                                 :DUXP'HXWVFKODQGGHQ(XURUHWWHQPXVVXPVLFKVHOEVW]XUHWWHQ
06 Vgl. Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufga   München 2014.
ben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015.                        14 8OULNH*XpURW9RQ1RUPDOLWlWEHUhEHUPDFKW]XU2KQ
07 9JO+DQV.XQGQDQL*HUPDQ3RZHU'DV3DUDGR[GHUGHXW      PDFKW"%HWUDFKWXQJHQ]XUGHXWVFKHQ5ROOHLQ(XURSDLQ$3X=
schen Stärke, München 2016.                                      6¬²

                                                                                                                               15
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le Wahrnehmung auf das Bild eines „Vierten Rei-                          einer Stärkung der Integration führe, sondern an-
ches“ zu.15 Kennzeichnender sind Analysen, die                           gesichts der Schwäche der Europäischen Union
die Entscheidungskonflikte deutscher Außenpo-                            zur fortdauernden Notwendigkeit werde.
litik zwischen der europäischen Integration als                               Einen eigenen Strang in der deutschen Debat-
Milieuziel einerseits und den politischen wie fi-                        te bildet die Frage nach der künftigen Sicherheits-
nanziellen Möglichkeiten Deutschlands anderer-                           und Verteidigungspolitik. Deutschlands wirt-
seits herausarbeiten.16                                                  schaftliches und finanzielles Übergewicht steht
     Exemplarisch für dieses Denken steht die Ana-                       sein militärisches Untergewicht gegenüber – zu-
lyse der Politikwissenschaftlerin Daniela Schwar-                        mindest in der internationalen Wahrnehmung.
zer, die ein pragmatisches Herantasten Deutsch-                          Das deutsche Dilemma besteht hier in der Abwä-
lands an seine neue Rolle beschreibt. An die Stelle                      gung von Ansprüchen und Interessen: Eine grö-
früherer Reflexe und fester Handlungsachsen sei                          ßere militärische Handlungsfähigkeit könnte dazu
mehr Varianz im deutschen Agieren festzustellen,                         beitragen, Deutschlands internationale Positi-
es sei situativer und zugleich entschlossen, wenn                        on zu balancieren, seiner Stimme mehr Gewicht
die Umstände dies erfordern.17 Die Bundesregie-                          verleihen und weniger finanzielle Kompensatio-
rung sei in ihrer Außenpolitik beharrlich, wenn                          nen erfordern. Andererseits würde dies deutlich
es um die Behauptung von Positionen und Prä-                             mehr Aufwendungen bedeuten sowie eine stär-
ferenzen gehe, ob in der Euro- beziehungswei-                            kere innenpolitische Konsensbildung und euro-
se Schuldenkrise, im Ukraine-Konflikt oder in                            päische Abstimmung; vor allem wäre jedoch eine
der Flüchtlingspolitik. In jeder dieser drei Krisen                      nach innen wie außen erkennbare Bestimmung
habe Deutschland eine führende Rolle gespielt,                           und Priorisierung der Interessen und Ziele not-
im eigenen Interesse und mit dem Ziel, einen be-                         wendig. Vielfach weichen deutsche Politikerinnen
stimmten europäischen Status zu behaupten. Das                           und Politiker dieser Aufgabe durch die Verwen-
Besondere an der gegenwärtigen Lage liege we-                            dung des Begriffs der Verantwortung aus.19 Die-
niger darin, dass Deutschland eine Führungsrolle                         ser impliziert, bestimmtes Handeln basiere auf der
wahrnimmt, sondern in der Frage, wie sich dies                           entsprechenden Pflicht statt auf einer politischen
längerfristiger auswirkt. Der wunde Punkt liegt                          Entscheidung, sein Gebrauch beschränkt jedoch
für Schwarzer und viele andere aus Politik und                           die Debatte eher, als sie zu forcieren. Der von Au-
Wissenschaft in der scheinbaren Unmöglichkeit,                           ßenminister Frank-Walter Steinmeier 2014 initi-
die Führungsleistung in eine verstärkte europä-                          ierte „Review-Prozess“ der deutschen Außenpo-
ische Handlungsfähigkeit zu verwandeln und                               litik war der bewusste Versuch, dieses Muster zu
Deutschlands Führung gewissermaßen zur Vor-                              durchbrechen und das Verständnis der Deutschen
leistung einer Vertiefung der europäischen Inte-                         für Herausforderungen der internationalen Lage,
gration zu machen. Was der Leiter des Planungs-                          die exponierte Position Europas und damit auch
stabes im Auswärtigen Amt Thomas Bagger als                              Deutschlands sowie die Folgen für die Instru-
„the German moment“18 bezeichnet hat, die                                mente und Strategien deutscher Außen- und Si-
günstige Konstellation innerer wie äußerer Fak-                          cherheitspolitik zu aktualisieren.20
toren, könne so zum deutschen Dauerlauf wer-                                  Zögernd, unwillig und zugleich nicht gegen
den, wenn die Stärke der Bundesrepublik nicht zu                         seinen Willen, unvorbereitet, teilweise sicherlich
                                                                         auch ungeübt beziehungsweise unbeholfen hat
15 1LNRODXV%ORPHHW¬DO'DV9LHUWH5HLFKLQ'HU6SLHJHO
6¬²                                                   19 Bundespräsident Joachim Gauck unternahm in seiner Rede vor
16 0LOLHX]LHOEH]HLFKQHWLQGLHVHP=XVDPPHQKDQJGDVDXIHLQ            GHU0QFKQHU6LFKHUKHLWVNRQIHUHQ]GHQ9HUVXFK/DJH,QWHUHVVHXQG
bestimmtes Klima, eine bestimmte Kultur und auf bestimmte Formen         9HUDQWZRUWXQJGLVNXUVLYGDU]XOHJHQ²JHUDGHPLWGHP=LHOHLQH
GHV+DQGHOQVEH]RJHQHVDX‰HQSROLWLVFKHV=LHO=XP%HJULŶGHV            EUHLWHUH'HEDWWHDQ]XUHJHQ6LHKH-RDFKLP*DXFN'HXWVFKODQGV
0LOLHXVLQGHQ,QWHUQDWLRQDOHQ%H]LHKXQJHQYJOEVSZ6WDQOH\+RŶ       5ROOHLQGHU:HOW$QPHUNXQJHQ]X9HUDQWZRUWXQJ1RUPHQXQG
PDQQ7KH3ROLWLFDO(WKLFVRI,QWHUQDWLRQDO5HODWLRQV1HZ
D         APuZ

Deutschland seine neue Rolle angenommen – un-                          Prozesse der Staatenwelt infrage gestellt werden,
sicher mit Blick auf etwaige Kosten und Folgen,                        scheint der Zeitpunkt schlecht für Deutschland
unbehaglich mit Blick auf mögliche negative Re-                        zu sein, um eine größere Rolle einzunehmen. Von
aktionen der Partner und ohne die Aussicht auf                         ihrer Grundeinstellung und ihren Möglichkei-
ein Ende der Sonderstellung in einer entsprechend                      ten her ist die Bundesrepublik eine Belohnungs-
verstärkten Europäischen Union. Deutschland ist                        macht, die positive Entwicklungen und Poten-
in Europa und in manchen Bereichen auch da-                            ziale verstärken und verstetigen möchte. In der
rüber hinaus zu einer „unverzichtbaren“ Macht                          Außenpolitik bevorzugt sie Win-win-Situationen
geworden,21 ohne die es keine Lösung oder kein                         und vertrauensvolle Beziehungen, möchte Chan-
Voranschreiten gibt, was jedoch nicht heißt, mit                       cen nutzen, statt Risiken zu kontrollieren oder
einer Beteiligung Deutschlands wäre das eine wie                       einzudämmen. Auch wenn es Aufmerksamkeit
das andere schon gewonnen. Die offene Frage                            und in gewissem Maße Einfluss verspricht, als
lautet, wie Deutschland seine Anliegen und Mög-                        Machtakteur in einem machtpolitisch bestimm-
lichkeiten im europäischen und internationalen                         ten internationalen System wahrgenommen zu
Kontext strategisch umsetzen kann.                                     werden, würde die politische Klasse in Deutsch-
                                                                       land lieber das Management globaler Interdepen-
                  MACHT OHNE MITTE                                     denzen betreiben. Hier sähe sich Deutschland
                                                                       mit seiner europäischen Erfahrung und Stellung
Es sind nicht allein die historischen Belastungen                      in der Europäischen Union besser aufgestellt als
und die finanziellen Nutzenerwägungen, aus de-                         in der Geopolitik der Großmächte.
nen die Zurückhaltung der Deutschen gegenüber                               Drittens die außenpolitische Kultur: Deutsch-
einer führenden Rolle in der europäischen Politik                      land widerstrebt die Exponiertheit und Einsam-
resultiert. Mindestens drei weitere Aspekte sind                       keit einer führenden Rolle. Macht hat im po-
mitentscheidend.                                                       litischen Denken hierzulande den Zweck, in
    Erstens das Problem der Vermittlung nach in-                       einer guten Ordnung aufzugehen. Die Begrün-
nen: Der Appell an Größe und Würde verfängt                            dung deutscher Macht und Führung liegt daher
nicht in einer eher nüchternen Nation wie der                          im Bestreben, die Europäische Union zum Trä-
deutschen. Die aus Paris oder London zu hörende                        ger und Garanten einer solchen Ordnung zu ma-
pathetische Rhetorik würde in Deutschland eher                         chen. Wenn zu diesem Zweck das Interesse der
Argwohn als Zustimmung erzeugen. Dies hat die                          Nachbarn, Deutschlands Macht europäisch zu
Bundeskanzlerin zuletzt mit ihrer Beschwörung                          binden, genutzt werden kann, ist dies nur im
der Leistungsfähigkeit Deutschlands in der Flücht-                     Sinne der Bundesrepublik – diese Logik führ-
lingskrise erfahren. Die Rezeption und Wirkung ih-                     te seinerzeit Bundeskanzler Helmut Kohl und
rer humanitären Position übersteigt in vielen Part-                    seinen Außenminister Hans-Dietrich Genscher
nerländern vermutlich die Wertschätzung, die ihrer                     nach Maastricht. Trotz zahlreicher Bemühungen
Haltung in Deutschland selbst entgegengebracht                         hat die europäische Integration diese Erwartung
wird. Der Politologe Thorsten Benner bezeichne-                        Deutschlands seitdem enttäuscht. Wie es in der
te die Bundesrepublik in diesem Zusammenhang                           Bilanz des „Review-Prozesses“ implizit festge-
als „liberalen Hegemon“22 – wirksam könnte nor-                        halten wurde, fehlt der Europäischen Union die
mative Vormachtstellung jedoch nur dann werden,                        Stärke, um aus der Stärke Deutschlands Nutzen
wenn sie im Inneren weitgehend mitgetragen wird,                       zu ziehen.23
und dies ist in Deutschland wohl nicht der Fall.                            Doch Deutschland fehlt viel mehr, denn ihm
    Zweitens die Lage der Welt: Mit Blick auf das                      ist das Ziel abhandengekommen, das seine Macht
internationale System, das sich derzeit in Un-                         legitimiert: Wozu sollte Deutschland seine mili-
ordnung befindet und in dem Regeln, Werte und                          tärischen Mittel stärken und Aktionsräume aus-
                                                                       weiten, wenn nicht als Teil der Herstellung eu-
21 The Indispensable European, 7. 11. 2015, ZZZHFRQRPLVW            ropäischer Verteidigungsfähigkeit? Gedacht als
FRPQHZVOHDGHUVDQJHODPHUNHOIDFHVKHUPRVWVHUL          nationale Kapazität bliebe sie bestenfalls dritt-
RXVSROLWLFDOFKDOOHQJH\HWHXURSHQHHGVKHUPRUe.
                                                                       klassig und böte dennoch Grund genug zur po-
22 7KRUVWHQ%HQQHU(XURSDVHLQVDPHU+HJHPRQLQ)ULHGULFK
(EHUW6WLIWXQJ,QWHUQDWLRQDOH3ROLWLNXQG*HVHOOVFKDIW1HZVOHWWHU
                                                                       litischen Abgrenzung seitens der Nachbarstaa-
8. 2. 2016, ZZZLSJMRXUQDOGHNRPPHQWDUDUWLNHOHXURSDVHLQVD
PHUKHJHPRQ.                                                      23 9JO$XVZlUWLJHV$PW $QP 

                                                                                                                             17
A 28–29/2016

ten. Wozu sollte Deutschland Vorleistungen bei        Verhinderungsmacht, während die Gestaltungs-
der Aufnahme von Flüchtlingen erbringen, wenn         macht im System der Europäischen Union ver-
nicht als Teil einer europäischen Gesamtlösung?       kümmert. Zwar kann Deutschland als Vetospieler
Die Integrität des Binnenraumes und der Vorrang       in nahezu jedem Politikbereich Entscheidungen
gemeinsamer Lösungen rechtfertigen aus deut-          verzögern oder behindern und so Lenkungs-
scher Sicht diese Belastung. Wozu sollte Deutsch-     wirkungen erzeugen, seine Fähigkeit, zu gestal-
land Milliardenkredite im Euro-Raum verbürgen,        ten, sowie zu politischer und institutioneller In-
wenn es nicht darum ginge, die Integrität des Re-     novation ist jedoch bescheiden. Der wesentliche
gelwerks der Wirtschafts- und Währungsunion           Milieufaktor früherer Phasen der Europapolitik,
zu wahren?                                            das Agieren im Rahmen einer Konsensgruppe
    Diese Fragen markieren die eigentlichen Pro-      aus größeren und kleineren Staaten, wurde nicht
bleme einer politischen Führung durch Deutsch-        konsequent gepflegt und hat stark an Bedeutung
land in Europa. Das erste Problem liegt in der        und Wirkung eingebüßt. Deutschland will, wie
ordnungspolitischen Orthodoxie des deutschen          Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen
Denkens, das auf die Strukturierung, Institutio-      sagte, aus der Mitte führen,24 doch taugt die Ma-
nalisierung und Verregelung versteift ist und An-     xime nicht als geografische Metapher. Mitte heißt
reize und Werbung sowie Umwege und Umar-              hier, aus einem politischen Zentrum heraus zu
mungen vernachlässigt, aber auch die Wirkung          führen, das nur in einem Kreis gleichgesinnter
eines Vorbildes. Statt beispielsweise Gesellschaf-    Regierungen entstehen kann, die ebenso wie die
ten und Regierungen im Süden der Europäischen         Bundesrepublik die Europäische Union zur Si-
Union mit Reformpartnerschaften, der Bereit-          cherung und Vertretung ihrer Interessen einset-
stellung von Hilfen und Belohnungen zu gewin-         zen wollen. Diesen Kreis muss Deutschland ins
nen, glauben deutsche Politiker größtenteils an       Leben rufen und pflegen und die eigenen Ideen
die Steuerungsleistung makropolitischer Zielwer-      und Ziele dort vermitteln und schärfen. In diesem
te. Diese sind zwar nicht falsch, doch es erweist     Rahmen kann und muss Deutschland integrieren,
sich als Schwäche zu glauben, die Durchsetzung        statt zu dominieren.
der Regeln reiche aus. Ähnlich gestaltet sich die         Aus seiner Studie zum Ersten Weltkrieg hat
Situation bei der Frage der europäischen Vertei-      Herfried Münkler geschlossen, dass eine Macht
digung: Eine große Lösung in Form europäischer        in der Mitte es sich kaum erlauben könne, Feh-
Streitkräfte scheint noch in ferner Zukunft zu lie-   ler zu machen.25 Darin liegt die Herausforderung
gen. Statt darauf zu warten, könnte die Bundes-       deutscher Außenpolitik in Europa: Ob Deutsch-
republik schrittweise an einer kleinen Lösung         land es versteht, eine politische Mitte zu schaffen
arbeiten, etwa durch die Integration der eigenen      und zu bewahren, und nicht darin, ob Deutsch-
Streitkräfte mit denen Polens und anderer Nach-       land die Zentralmacht Europas ist.
barstaaten. Keiner der anderen großen EU-Staa-
ten könnte praktische Schritte der Streitkräftein-
tegration besser leisten als Deutschland, wo die
Strukturprobleme der kleineren Nachbarländer
besser gesehen und verstanden werden als in Paris
oder London.
    Das zweite Problem liegt im Verlust verläss-
licher Koalitionspartner. Die Europäische Uni-        JOSEF JANNING
on hat sich in den Stufen ihrer Erweiterung ver-             !  ! " "#
ändert, heute erscheint sie politisch fragmentiert    des European Council on Foreign Relations.
und von Nutzenerwartungen dominiert. Diese            MRVHIMDQQLQJ#HFIUHX
Entwicklung wurde lange vernachlässigt, denn sie
trug dazu bei, Deutschlands Rolle unter den gro-      24 9JO8UVXODYRQGHU/H\HQ)KUXQJDXVGHU0LWWH5HGH]XU
ßen EU-Staaten zu unterstreichen. Die gewach-         0QFKQHU6LFKHUKHLWVNRQIHUHQ]0QFKHQZZZ
                                                      EPYJGHSRUWDOSRFEPYJ"XUL FL$EZEPYJPLQLVWHULXPGHUB
sene Zahl kleinerer Mitgliedstaaten und das Stre-
                                                      minister.reden&de.conet.contentintegrator.portlet.current.id=01DB
ben der Großen nach Bewahrung ihres Gewichts          010000000001%7C9TGCNP221DIBR.
verstärkten jedoch nicht den supranationalen          25 Vgl. Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–
Impuls. Ganz im Gegenteil dominiert heute die         %HUOLQ6¬Ŷ

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