Süße Träume, bittere Konstruktionen - Zum photohistorischen Kontext der Ausstellung The Bitter Years und zur Kontinuität ihrer Wirksamkeit in ...
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Der folgende Text ist das originale und um spezifisch deutsche Anmerkungen erweiterte Manuskript meines Beitrags zum Ausstellungskatalog „Great Expectations. Contemporary photography looks at today’s Bitter Years” im Casino Centre d’Art Contemporaine. Luxembourg [www.casino-luxembourg.lu]. Ich danke den Herausgebern Paul di Felice, Enrico Lunghi und Pierre Stiwer für die Erlaubnis zur Übernahme auf die Web-Site. Süße Träume, bittere Konstruktionen Zum photohistorischen Kontext der Ausstellung The Bitter Years und zur Kontinuität ihrer Wirksamkeit in Europa Männer und Machen In seiner Autobiographie beschreibt Edward Steichen, wie er nach der Niederlegung seiner Arbeit am Museum of Modern Art in New York seinen Nachfolger John Szarkowski darum bat, noch eine Ausstellung kuratieren und realisieren zu dürfen, die er schon lange habe machen wollen. 1 Eine der drei Begründungen, die er dafür gab, war, dass es „vor kurzem eine Beinahe-Panik an einem Aktienmarkt gab, der diesen leicht von einer schwindelnden Höhe herabschwingen und zu viele Bürger in Selbstmitleid verfallen ließ“. Diese Ausstellung mit Bildern der Farm Security Administration (FSA) aus den 1930er Jahren wurde 1961 vorbereitet, nachdem John F. Kennedy mit seiner Ankündigung eines Investititonsprogramms vom 30. Januar die seit 1957 andauernde Immobilien- und Kreditkrise für beendet erklärt hatte 2 , und sie wurde von Steichen in dieser Weise beschrieben, als er im Frühjahr 1963 endgültig seine öffentlichen Aktivitäten aufgegeben hatte. Es ist dieser Teil der Begründung, die im Jahr 2009 erstaunlich zeitgemäß erscheint; doch in der Ausstellung von 1962 wurden keine zeitgenössischen Bilder gezeigt, selbst wenn diese unzweifelhaft vorhanden waren. De facto war die Ausstellung das Re-Make einer Präsentation, die im Herbst 1938 im Grand Central Auditorium in New York gezeigt worden war, und zu der Steichen selbst im Jahrbuch U.S. Camera eine Art Rezension verfasst hat. 3 In seinen späten Erinnerung verweist Steichen darauf, wie sehr sich die Bilder, ihre Gegenstände und ihre Photographen in dem seit der Aufnahme vergangenen Vierteljahrhundert zum Guten verändert hätten, und dass sie aus Schilderungen des Elends zu Ikonen des Wiederaufstiegs aus eigener Kraft, eben zur Dokumentation und Darstellung der Tugenden amerikanischen Lebens geworden seien. Die Umdeutung einer Elends- in eine Erfolgsgeschichte ist eine alte Methode der Propaganda, streng jesuitisch auf der Glaubwürdigkeit bedruckten Papiers aufbauend, hier also auf den Kredit und die Kraft der Photographie zählend. 4 Dabei ist die vermeintliche Schmucklosigkeit der FSA-Bilder bereits wieder Teil des Kalküls: Ihre trockene Sachlichkeit wurde durch kleine Formate und eine einheitliche Präsentation unterstrichen, das politische Argument von Ausstellung und Katalog ganz und gar auf den aus der Filmtheorie entnommenen 1 Edward Steichen, A Life in Photography, Garden City NY 1963, Kap.14, unpag. Dort auch das folgende Zitat, Übersetzung RS. 2 Soenke Zehle, Die Redner, Interview Theodore C. Sorensen, April 14 2008, in: dies. (ed.), JFK-Show. Live in Berlin, Mannheim 2008, S.59-63. 3 Edward Steichen , The FSA Photographers (1938), in: Beaumont Newhall (ed.), Photography: Essays & Images, New York Boston MA 1980, pp. 267-269. Zur Ausstellung vgl. Robert Doherty, F.Jack Hurley, Jay M. Kloner, Carl G.Ryant, Roy Stryker on FSA, SONJ, J&L (1972), in: Peninah R. Petruck (ed.), The Camera Viewed. Writings on Twentieth-Century Photography. Volume 1: Photography Before World War II, New York 1979, pp.133-165, hier pp.151-152. 4 Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München Wien 2005.
Begriff des Dokumentarischen bezogen. 5 War 1938 das eine Großbild der New Yorker Ausstellung noch ungewöhnlicher Blickfang gewesen, so wurde 1962 das kleine Format zum Träger der Idee. 6 Edward Steichen hatte The Bitter Years mit gewohnter Sorgfalt vorbereitet, konnte auf einen eingespielten Mitarbeiterstab zurückgreifen und folgte insgesamt eher dem Modell der monographischen Ausstellungen am Museum of Modern Art denn der Idee, die er bei The Family of Man verfolgt hatte, die Bilder und ihre Reihenfolge in Ausstellung wie Katalog einem vorformulierten Konzept unterzuordnen. 7 In The Bitter Years legte er seine Präferenzen für einzelne Bildautoren mehr als deutlich offen: Neben Dorothea Lange und ihrer an europäischer Malerei des 19. Jahrhunderts geschulten, damit seinen eigenen ästhetischen Präferenzen folgenden Sicht gibt es scheinbar wenig nennenswerte Beiträge zur FSA, nicht einmal vom damals bereits berühmten Walker Evans. 8 Jack Delano und John Vachon, kaum zur ersten Reihe der FSA- Photographen gehörend, werden mit mehreren Bildern gezeigt; von Arthus Rothstein und Carl Mydans, die später als LIFE-Reporter reüssierten, war weniger zu sehen. Marion Post Wolcott ist gerade mit einem Bild repräsentiert, nicht einmal mit einem besonders guten oder typischen. Später zur FSA gekommene Photographen wurden trotz der Zeitangabe 1935-1941 im Titel nicht berücksichtigt, weder Gordon Parks noch Esther Bubley, die um 1960 durchaus bekannt waren, aber auch nicht John Collier Jr. oder das Ehepaar Rosskam, die bis heute unbekannt geblieben sind. Selbst die monographische Ordnung – später zu Recht als Strategie der Zerschlagung politischer Brisanz in der FSA-Bildauswahl beschrieben 9 – wird von Edward Steichen nur im Sinn einer persönlichen Wertschätzung, nicht aber als umfassend historische Sicht angeboten. Ganz in der Folge zu The Family of Man steht die Präferenz des Kuratoren für Menschenbilder und dort insbesondere für Kinder wie Greise – eine „Konstruktion des Ländlichen“ aus Portraits, die im Kontext der Propaganda in den 1930er Jahren als konservative Strategie beschrieben werden kann. 10 Es besteht heute offensichtlich Konsens darüber, die gesamte FSA-Photographie als Bestandteil einer umfassenden Strategie us-amerikanischer Selbstdarstellungen vor und während des Zweiten Weltkriegs zu verstehen 11 ; im Fall von Edward Steichen sicher auch dahingehend zu Recht, dass er sich als über Sechzigjähriger freiwillig für kriegspropagandistische Aufgaben zur Verfügung stellte. 12 Umgekehrt muss dem Kurator und seinen Mitarbeitern zugestanden werden, dass nach einem Jahrzehnt voll ungehemmt Objekt bezogener, Geschichts vergessener Werbung für einen völlig ungezügelten Konsum – für den die süsslich überzuckerten Träume der um 1960 5 Grace M. Mayer, „…I see one third of a nation ill-housed, ill-clad, ill-nourished.”, in: Edward Steichen (ed.), The Bitter Years 1935-1941, Rural America as seen by the photographers of the Farm Security Administration, New York 1962, pp.v-viii. 6 Wie Anm.3. Zum Großphoto vgl. Peter Weibel, Fotopolitik. Zur Geschichte des Großfotos als Medium sozialer Interaktion, in: ders., Gunter Rambow et al. (Hg.), „...das sind eben alles Bilder der Straße“. Die Fotoaktion als sozialer Eingriff. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1979, S.141-169. 7 Eric J. Sandeen, Picturing an Exhibition. The Family of Man and 1950s America, Albuquerque NM 1995. 8 Der Katalog von Walker Evans’ erster Ausstellung im Museum of Modern Art New York, 1938, war 1962 parallel zu The Bitter Years unverändert neu aufgelegt worden. 9 Hubertus Gassner, Die Reise ins Innere. „Amerika den Amerikanern vorstellen“. Die Fotografen der Farm Security Administration, in: NGBK (Hg.), Ausst.Kat. Amerika. Traum und Depression. 1920/40, Berlin 1980, S.313-352, hier S.350-352. Vgl. auch Douglas Crimp, Copyright and Photography, in: Camera Austria International, 6.Internationales Symposion der Sammlung Fotografis Länderbank Wien, 3.Jg. 1982, Heft 10, S.75-80. 10 Ulrich Hägele, Fotografische Konstruktion des Ländlichen. Dorothea Lange und Erna Lendvai-Dircksen – zwei Karrieren zwischen Pathos und Propaganda, in: Falk Blask, Jane Redlin (Hg.), Lichtbild - Abbild - Vorbild. Zur Praxis volks- und völkerkundlicher Fotografie, Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, Münster 38.Jg. 2005, S.26-45. 11 Astrid Böger, Die Photokampagnen der Farm Security Administration, in: Hans-Jörg Czech, Nikola Doll (Hg.), Ausst.Kat. Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930-45, Dresden 2007, S.366-373. 12 Allan Sekula, Das instrumentalisierte Bild: Steichen im Krieg, in: Fotogeschichte 12.Jg. 1992, Heft 45/46, S.55- 74. Catherine Tuggle, Edward Steichen. War, History and Humanity, in: History of Photography 17.Jg. 1993, Heft 4, S.364-368.
allgegenwärtigen populuxe-Filme á la Design Dreams stehen können 13 – ein wenig Besinnung auf menschliche Werte angesichts ökonomischer und politischer Krisen nicht schaden konnte; im Ausstellungsjahr 1962 schrammte die Welt mit der Kuba-Krise nah an einer nuklearen Katastrophe vorbei. Insofern kann der Konzentration Steichens auf die Ikonen der FSA-Photographie und auf deren Wiederentdeckung auch eine positive, Zukunfts orientierte Sicht abgewonnen werden: Zehn Jahre vor den ersten Publikationen des Club of Rome und damit der allgemeinen Etablierung eines ökologischen Bewusstseins in der Welt mögen Hinweise auf das Menschengemachte an Naturkatastrophen durchaus neu und angebracht sein. 14 Die Omnipräsenz des Automobils – in allen früheren FSA-Präsentationen und –Publikationen unangefochten – ist zurückgenommen, Besitztümer spielen weder positiv noch negativ eine große Rolle; selbst Walker Evans’ Blick durchs Holzhaus verweilt nicht an Objekten, sondern konzentriert sich auf eine Raumfolge, als gelte es, dem abwesenden Leben mit etwas Chiaroscuro Qualität einzuhauchen. Und selbst die optimistischsten Blicke der Protagonisten wollen und können nicht mehr von der Tatsache ablenken, dass ab 1960 die Tage des American Gothic à la Grant Wood gezählt sind; seiner Bilder hat sich längst die Pop Art bemächtigt, und der Dokumentation fehlt jedwede Referenz, ökonomisch wie mental. 15 Bilder und Bedeutung Kaum eine der vielen Ausstellungen Edward Steichens ist so indirekt rezipiert worden wie The Bitter Years. Mehr als eine kleine Meldung war die Schau keiner deutschen Photozeitschrift, im Osten wie im Westen, wert; und auch im westlichen Europa war das Echo eher verhalten. Einige Ausstellungen in US-Kulturinstituten Westdeutschlands, eine dritte Katalogauflage mit niederländischem Beiblatt für die Präsentation in Amsterdam 1966; das dürfte es insgesamt gewesen sein. Nicht einmal die photokina – sonst mit ihren Bilderschauen ein gut eingespieltes Propagandainstrument der deutschen Nachkriegsindustrie als Instanz kollektiver Verdrängung oder Umdeutung politischer Geschichte im ökonomischen Wiederaufstieg 16 – konnte sich zur Übernahme entschließen, allen Beteuerungen des Ausstellungsmachers Leo Fritz Gruber zur ewigen Freundschaft mit Steichen zum Trotz. 17 Doch die Bilder dieser Ausstellung blieben im kollektiven Gedächtnis haften, wahrscheinlich in anderer Weise als vom Kurator initiiert. Walker Evans und Dorothea Lange waren wie ihre Nicht-FSA-Kollegin Margret Bourke-White in der us-amerikanischen und westeuropäischen Photographie seit 1945 kontinuierlich beachtet worden; und Walker Evans’ lakonische Bildsicht wurde durchgehend mit dem Etikett FSA versehen, doch als Gruppe und Bewegung, gar von den hinter ihr stehenden, letztlich sozialromantischen Vorstellungen, wurde nichts übernommen – die Photographie hatte subjektiv zu sein, um Kunst zu werden. 18 Eine Reihe von Bildbänden trugen die Geschichte der FSA ohne 13 www.archive.org/details/Designinfo1956 [9.1.09] 14 Dennis L. Meadows et al. (Hg.), Limits to Growth, A report for the Club of Rome's Project on the Predicament of Mankind, New York NY 1972. 15 Siegfried Mattl, Das wirkliche Leben. Elend als Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers, in: Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hg.), Ausst.Kat. Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York, Wien 2007, S.111-117. Zum Dokumentationsbegriff der FSA-Bilder vgl. Rudolf Karl Stumberger, Klassen- Bilder, Sozialdokumentarische Fotografie 1900-1945, Konstanz 2007, S.83-96. 16 Rolf Sachsse, Propaganda für Industrie und Weltanschauung, Zur Verbindung von Bild und Technik in deutschen Photomessen, in: Ausst.Kat. Inszenierung der Macht, Ästhetische Faszination im Faschismus, Berlin 1987, S.273-284. 17 Leo Fritz Gruber, Glanzlichter und Schlagschatten, Photographische Erinnerungen, Heidelberg 1988, S.74. 18 Axelle Fariat, La subjektive fotografie au Centre de metiers d’art Sarrois de Sarrebruck vue par les éleves francophones d’Otto Steinert (1946- 1955) : Jean Boucher, Gilbert Champenois, Romain Urhausen, Mémoire de Master 2, Nantes 2007.
Fortune fort 19 , doch es musste erst auf beiden Seiten des Atlantiks zu einer studentischen Bewegung mit großem Einfluss auf das Kunstgeschehen kommen, die insgesamt mit der Jahreszahl 1968 identifiziert wird, um die Brisanz der FSA-Photographie neu zu erkennen – als Element der sozialen Dokumentation wie des gestalterischen Eingriffs in ein politisches Geschehen. 20 Dabei gab es durchaus unterschiedliche Bewertungen: Während die meisten Historiographien politischer Photographie der FSA ausführliche Darstellungen widmeten, gab es auch solche, die diese Arbeit vollends ignorierten 21 , und wieder andere, die sich kritisch distanziert zu ihr äußerten. 22 Noch zwei Jahrzehnte später meinte sich einer der frühesten Hagiographen der FSA-Photographie über jene Historiker aufregen zu müssen, die seiner Ansicht nach die Würde des Unternehmens verletzt hätten. 23 Ihn konnten die Angegriffenen nur mit umfänglichen Verweisen auf präzise Quellenforschungen parieren 24 – etwas, was Edward Steichen und seine Mitstreiter für The Bitter Years nicht gebraucht hatten. Interessanter war die Auswirkung auf eine Generation junger Photographen in den USA und Westeuropa, die sich um 1970 mit einem ähnlich lakonischen Blick und präzisen Geräten an die kritisch dokumentarische Darstellung der sozialen Situation in ihrer eigenen Umgebung machten: Tony Ray-Jones, Gabriele und Helmut Nothhelfer – die selbst ein kleines Buch zur FSA mit exzellenten Bildkritiken schrieben 25 – sowie eine Menge junger Bildjournalisten, die ihre Motive in allernächster Nähe zur eigenen Erfahrung in Beat Culture, post-industriellem Wandel von Stadtquartieren und diverser Formen neuer Lebenserfahrungen suchten. Eine breitere Bewegung ging von teilweise spätkommunistischen Parteigruppierungen aus, die die Amateurtradition der Arbeiterfotografie wieder aufleben lassen wollten; derartige Gruppen gab es vor allem in Frankreich, Großbritannien und Westdeutschland. Wo immer eine Publikation mit Bilder aus dem alltäglichen Elend der westlichen Gesellschaften in den 1970er Jahren erschien, durfte der Hinweis auf die FSA-Photographie nicht fehlen. Selbstverständlich hatte sich hier das Bild der Rückblende gegenüber der Steichen’schen Sicht massiv verändert: Heroisch wurde Walker Evans verehrt, auch Arthur Rothstein und Marion Post Wolcott fanden Aufmerksamkeit; die anderen, allen voran Dorothea Lange, galten als allzu emphatisch, gar der Propaganda verdächtig – nicht ganz zu Unrecht. Martha Roslers fundamentale Kritik an der Inszenierung und Bildgeschichte von Dorothea Langes Migrant Mother fixierte das postmoderne Verständnis ikonographischer Codierungen in dokumentarischer Photographie endgültig auf einer individuellen, vielleicht noch Geschlechter gestützten Verantwortung. 26 Nach der allgemeinen Anerkennung von Photographie als Kunst durch die documenta und andere Groß-Ausstellungen der 1970er Jahre, nach den Erosionen linker Bewegungen und dem Aufkommen neoliberaler Staatswirtschaft war bald jeder soziale Bezug aus der dokumentarischen Photographie getilgt. Zum einen wurde in der so genannten Becher-Schule dokumentarisches Handeln über den Umweg nutzloser Dokumentationen selbst zum Ready-Made photographischer 19 Robert J. Doherty, Sozialdokumentarische Photographie in den USA, Bibliothek der Photographie Bd.4, Luzern Frankfurt am Main 1974. 20 Roland Günter, Fotografie als Waffe, Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie, Hamburg Berlin 1977. Retrospektiv: Richard Hiepe, Riese Proletariat und große Maschinerie, Zur Darstellung der Arbeiterklasse in der Fotografie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Erlangen 1983. 21 Jan Coppens, De Bewogen Camera, Protest en Propaganda door Middel van Foto’s, Amsterdam Utrecht 1982. 22 Maren Stange, Symbols of Ideal Life. Social Documentary Photography in America 1890-1950, New York 1989, S.89-132. 23 F. Jack Hurley, The Farm Security Administration Files, In and Out of Focus, in: History of Photography 17.Jg. 1993, Heft 3, S.244-252. 24 James C. Curtis, Sally Stein, 'The FSA Files', Two Replies to F.Jack Hurley, in: ebda. 17.Jg. 1993, Heft 4, S.398- 400. 25 Gabriele und Helmut Nothhelfer, Wirklichkeitsvermittlung am Beispiel der Farm Security Administration, Berlin 1978. 26 Martha Rosler, In, around and afterthoughts (on documentary photography), in: Richard Bolton (ed.), The Context of Meaning: Critical Histories of Photography, Cambridge MA 1989, pp.303-341.
Kunst und damit zum Dokumentarismus als reiner Ideologie 27 , zum anderen fehlte mit der beginnenden Auflösung der Ost-West-Konflikte die Folie einer sozial engagierten Photographie – in Westeuropa wie in Polen, Ungarn, der DDR und Tschechoslowakei flohen die Photographen gleichermaßen in die Nischen einer künstlerischen Parallelgesellschaft. 28 Soziale Dokumentation in der Nachfolge der FSA war zu einer Form der Reisephotographie geworden 29 ; den Schrecken des sozialen Dramas holte man sich in den illustrierten Zeitschriften ab, bevor am Beginn der 1990er Jahre Talkshows, daily soaps und andere Medienelemente auch diese Funktion übernahmen. Um diese Zeit begann sich das Metamedium Internet zu etablieren; gemeinsam mit der Digitalisierung der gesamten Photographie sorgte es nicht nur für eine nachhaltige Veränderung des Geschichtsverständnisses 30 , sondern auch für eine vollkommen veränderte Basis referentieller Wirklichkeitsfindung im digital erstellten Bild. Was Michel Foucault für die Veränderung der Sprache um 1800 fixierte 31 , muss für die Bildmedien um 1990 festgestellt werden: Ab jetzt zählt zu jedem visuellen Angebot ein Diskurs über dessen Glaubwürdigkeit und die Fundierung einer jeden Tatsächlichkeit im dargebotenen, wenn auch vergangenen Geschehen. 32 Für soziale Wirklichkeiten bedeutet dies, dass das Zeigen so wirkungslos bleibt wie das Behaupten – aus Geschichte werden wieder Geschichten, und das Narrativ bestimmt die Dramatik samt nachfolgender Kommunikation, unabhängig von der Ausgabeform eines Bildes in Druck, Ausstellung oder flüchtiger Medialität von Bildschirm und Projektion. 33 Letztlich hat dieses Verständnis auch den Blick auf The Bitter Years grundlegend verändert, und zwar schon konkret im Hinblick auf seine museale Präsentation. Die Ausstellungsbilder von 1962 – selbstverständlich in der damals üblichen Form als Neuvergrößerungen auf Tafeln kaschiert –, die Edward Steichen noch vor seinem Tod wie eine der Versionen von The Family of Man seinem Heimatland Luxembourg zur dauerhaften Präsentation gestiftet hatte, wurden anfangs der 1990er Jahre grundlegend restauriert, 1995 im Casino Luxembourg Centre d’Art Comtemporain erneut als Wechselausstellung gezeigt und haben nun ihren endgültigen Platz in Dudelange gefunden. Schon die Präsentation im Casino Luxembourg war ein deutlicher Hinweis auf die Zeitgebundenheit des nunmehr doppelt gebrochenen Blicks auf die Geschichte: Den jungen Künstlern, denen dieser Platz gewidmet ist, wurde ein Bild vom Bild von Geschichte in Geschichten vorgeführt – und das auch nur in einem Medium, das seine primäre Bedeutung als Träger von Emotion und Empathie an jüngere, bewegtere und buntere Medien abgegeben hatte. Copyright und Inszenierung In der Inszenierung von The Bitter Years demonstriert Edward Steichen sein Misstrauen gegenüber dem zuvor so gefeierten Pathos von The Family of Man und seinem nunmehr naïven Glauben an die katarthische Wirkung emotionaler Bildbotschaften. 34 Dem Realismus als künstlerischem Anspruch an die sozial dokumentierende Photographie hat er damit ein Danaer-Geschenk gemacht: Gerade weil viele der FSA-Photographien so lakonisch wirken, treiben sie ihre Betrachter zu noch genauerer Beobachtung der in ihnen enthaltenen Wahrheiten. Das wiederum 27 Rupert Pfab, Studien zur Düsseldorfer Photographie, Die frühen Akademieschüler von Bernd Becher, Weimar 2001 (Berlin : Diss.phil. 1999). 28 Rolf Sachsse, Kodak reitet nach Osten. Zur Rezeption der DDR-Fotografie im Westen um 1980, in: Fotogeschichte 26.Jg., 2006, Heft 102, S.41-46. 29 Vgl. Jacob Holdt, United States, Bilder 1970-1975, Göttingen 2007. 30 Susanne Regener, Bilder / Geschichte. Theoretische Überlegungen zur Visuellen Kultur, in: Karin Hartewig, Alf Lüdtke (Hg.), Die DDR im Bild, Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S.13-26. 31 Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1970. 32 Douglas Crimp, Die aneignende Aneignung (1982), in: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV 1980-1995, München 2000, S.250-255. 33 Peter Weibel, Das post-gutenbergsche Buch, Die CD-ROM zwischen Index und Erzählung, in: ders., Gamma und Amplitude, hg. und kommentiert von Rolf Sachsse, Berlin 2004, S.116-132. 34 Karl Pawek, Der Streit um die Photographie, in: ders. (Hg.), Panoptikum oder Wirklichkeit. Der Streit um die Photographie, Hamburg 1965, S.5-17.
hat es vielen Rechercheuren der Generationen nach Steichen erleichtert, umso genauer nach Brüchen in der Bildinszenierung zu suchen, nach den Mitteln einer Regie und deren Creditbilität in Bezug auf die vorgeführte soziale Situation. Andere erweiterten den Blick auf diese Bilder durch den Fund weiterer Varianten, etwa in Farbe. 35 Und endlich führte die endgültige Etablierung der Photographie als Medium bildender Kunst, gemeinsam mit einem zunächst stilistisch orientierten, d.h. Markt konformen Ordnungsraster monographischen Beharrens auf dem Ruhm großer Künstler dazu, das Interesse der Rezipienten vom Dargestellten weg zu den Darstellungsformen hin zu führen, wie es für Künstler anderer Medien schon zuvor galt. 36 Der Kunstmarkt mit seinem Interesse an Photographen statt Photographie führte also exakt das fort, was die Archivare der McCarthy-Ära begonnen hatten, die inhaltliche Desorganisation des FSA- Projekts zugunsten eines singulären Künstlerruhms. Um derlei Mechanismen müssen sich heutige Künstler, die mit Photographie arbeiten, in keiner Weise mehr kümmern. Ihnen kann die Glaubwürdigkeit des Bildes qua mechanischem Verfahren genauso egal sein wie die kommunikative Wirkung eines schockierenden Bildes zu Zeiten einer print-gesteuerten Propaganda; derlei Kategorien zählen in keiner Weise mehr. Auch bedarf das Thema Landwirtschaft keiner weiteren Rechtfertigung, ebenso wenig wie die Nutzung aller Formen der Überhöhung von Bildstrukturen durch nachträgliche oder Aufnahme begleitende Eingriffe. 37 Farbe ist selbstverständlich, Schwarzweiß dagegen gewollte Abstraktion. Nicht einmal kompositorische Elemente spielen die zentrale Rolle, die sie noch Steichen für seine Bildauswahl in The Bitter Years gegeben hatten. Vollends unwichtig geworden ist die Frage nach einer Inszenierung als Element der visuellen Wahrheit: Selbstverständlich ist und wird alles arrangiert, vor wie nach der Aufnahme, und die zufälligen Elemente sind kein Garant für positive Wissenschaft wie noch bei Talbots Wassersprengern in Paris. 38 Diese tektonische Verschiebung im (Selbst-)Verständnis von Photographie hat nicht nur technische Gründe – zu denen die in der FSA noch schwierigen Blitzlichtbilder gehören –, sondern ist Teil eines Prozesses, den Globalisierung zu nennen wir uns angewöhnt haben. Noch die Dienstanweisungen Roy Strykers an die FSA-Photographen gingen von einer selbstverständlichen Differenz zwischen der photographierenden Oberschicht und den dahin vegetierenden Abgebildeten aus – wobei die Armut in protestantischer Sicht durchaus selbst verschuldet sein konnte. Noch zu Zeiten von The Bitter Years galt die Regel vom kolonialen, mindestens besser wissenden Blick der engagierten, aber wohl ausgebildeten und sich selbst als Teil der Oberschicht verstehenden Künstler; aus differenzierten Bildanalysen lässt sich erschließen, dass die Abgebildeten oft genug verarmte Bürger nicht ohne Bildung waren. 39 Für die heutigen Photographen ist diese Regel irrelevant: Die auf eigene Kosten vor Ort recherchierenden Bildjournalisten sind genauso Angehörige eines intellektuellen Prekariats wie die Photographen, die aus den Staaten stammen, in denen sie ihre Bilder aufnehmen. Und mindestens in den Bildern, die Menschen bei irgendwelchen Aktionen zeigen, kann heute in der gleichen Weise von einer zustimmenden, wenn auch abwartenden Kommunikation ausgegangen werden wie im Bild der Allie Mae Burroughs von Walker Evans. 40 Oft inszenieren sich die Protagonisten in ihren Bildern selbst so wie sie vom Photographen gesehen werden wollen, also weit stärker als die Protagonisten der FSA-Portraits – und in jeder Weise ablesbar, damit also in einer sozialen Nähe, die es nie zuvor gegeben hatte. 35 Sally Stein, FSA Color, The Forgotten Document, in: Modern Photography 43.Jg. 1979, Heft 6, S.90-99, 162-165. 36 Wolfgang Kemp, Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985. 37 Frits Gierstberg , The agrarian landscape in photography, A historical exploration, in: Wilfried Lentz (ed.), Mixed farming. The changing agrarian landscape, Amsterdam Rotterdam 2004, pp.9-28. 38 Rolf Sachsse, Fotografie. Vom technischen Bildmittel zur Krise der Repräsentation, Köln 2003, S.24-28. 39 Gassner op.cit. (Anm.9), S.325-327. 40 Walker Evans, Photographs fot the Farm Security Administration 1935-1938, A Catalog of Photographic Prints Available from the Farm Security Administration Collection in the Library of Congress, New York 1973, No.250.
Um dieses postkoloniale Bild abschließend medienmetaphorisch 41 umzudrehen: Keiner der FSA- Photographen wäre jemals auf die Idee gekommen, den Farmern, der Migrant Mother oder ihren Kindern eine kleine Kamera in die Hand zu drücken, um ihr Schicksal aus eigener Sicht aufzunehmen. Manch ein Absolvent europäischer und us-amerikanischer Kunsthochschulen, die sich gerade zu Bildern der Art aufmachen, wie sie in dieser Ausstellung zu sehen sind, hat jedoch genau diese Initialzündung zu seiner Arbeit erhalten: Während der 1980er Jahre gingen einige Non Government Organisations dazu über, sozial und ökologisch Betroffenen in armen Ländern Kameras zu übergeben, damit sie selbst über die Visualisierung ihres Lebens verfügen können. 42 Photographie ist ein selbst ein vergleichsweise armes Zwischenmedium geworden, mit billiger Herstellung und digital noch billigerer Distribution über Metamedien wie das Internet. Und eine der besseren Folgen dieser Entwicklung ist, dass der Antagonismus zwischen den reichen, süßen Träumen des Konsums und den bitteren Konstruktionen eines Blicks auf die reale Welt zumindest von Seiten der Bildermacher her aufgehoben wurde – das lässt wenigstens prinzipiell hoffen, dass dies auch für die Seite der Abgebildeten möglich werden könnte. © Rolf Sachsse 41 Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 2002, S.28- 55. 42 Ausst.Kat. Maritza Studart, son mago, Leipzig 2006.
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