SWR2 Lesenswert Magazin - SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

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ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Lesenswert Magazin
Vom 12.05.2019 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Anja Höfer

Siri Hustvedt: Damals

aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald

Rowohlt Verlag

ISBN 9783498030414

448 Seiten

24 Euro

Rezension von Meike Feßmann
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Wer Tagebuch schreibt, weiß genau, wovon Siri Hustvedt in ihrem neuen Roman
erzählt: Das junge Ich ist mit dem älteren Ich nicht identisch. Man kennt es gut, man
erinnert sich an vieles, aber das meiste hat man vergessen.
In „Damals“ erzählt die 1955 in Minnesota geborene New Yorker Schriftstellerin von
ihren Anfängen. Er zitiert auch aus einem wiedergefundenen Tagebuch. Das ist
vermutlich fiktiv, doch das muss uns nicht kümmern bei einem autofiktionalen Werk,
das zwar suggeriert, die Erzählerin sei mit der Autorin identisch, aber auch genügend
Signale sendet, dass sie mit dieser Suggestion nur spielt. „Memories of the Future“
(so heißt der Roman im amerikanischen Original) beginnt episch:

Zitat 1
„Vor Jahren verließ ich die weiten, flachen Felder des ländlichen Minnesota und zog
auf die Insel Manhattan, um den Helden meines ersten Romans zu finden. Als ich im
August 1978 dort ankam, war er weniger eine Figur als eine rhythmische Möglichkeit,
eine embryonale Kreatur meiner Phantasie, die ich auf den Streifzügen durch die
Straßen der Stadt als eine Serie metrischer, mit meinen Schritten bald schneller, bald
langsamer werdender Beats verspürte. Ich glaube, ich hoffte, mich selbst in ihm zu
entdecken, zu beweisen, dass er und ich jeder Geschichte wert waren, die sich uns
bot.“

Dreiundzwanzig ist die Erzählerin, als sie in ein heruntergekommenes Apartment an
der Upper West Side zieht. Der geplante Roman, ein Detektivroman um zwei
Jugendliche, wird niemals fertig. Das wirkliche Leben ruft - mit all seinen erotischen
und intellektuellen Verlockungen. Am Anfang sitzt sie noch brav in ihrem Apartment
und belauscht die Nachbarin. Sie hat offenbar Schlimmes erlebt. Aber bald wird das
akustische Höhlengleichnis mächtig erweitert. Auf einer Lesung von John Ashbery,
dem berühmten Dichter, der seine Gedichte aber näselnd verhunzt, wie die
angehende Schriftstellerin feststellt, lernt sie Whitney kennen, eine selbstbewusste
Dichterin und Künstlerin, schnell vergrößert sich ihr Radius. Sie gehen zu Vorträgen,
in Galerien und auf Partys. Nächtelang ziehen sie durch die Clubs:

Zitat 2
„Die Unterschiede in den Clubs uptown und downtown, die Soziologie der Musik und
der Typen, von manchen sorgfältig untersucht und analysiert, waren irrelevant für
mich. Wenn ich gerade nicht tanzte, sah ich vor allem Pathos, und das sah überall
gleich aus. Menschen wollen unbedingt gesehen werden, und sich in den Augen
anderer gespiegelt sehen, das familiäre >Wir-Gefühl< genießen, die betörenden
Liebkosungen des Stammes, und damals, als New York zerfiel und Ronald Reagan
und die AIDS-Plage noch nicht zur Geißel geworden waren, suchten Teile der
Reichen und der Armen der Stadt leichtes Vergessen in kollektivem Rausch und
schnellen Ficks.“

Es ist nicht nur die Zeit der großen Partys, sondern auch die Zeit der intellektuellen
Debatten, die Zeit von Postmodernismus und Dekonstruktion. Sie liest alles, wovon
ihre Liebhaber schwärmen: Derrida, Foucault, Bataille, Paul de Man, Deleuze und
Guattari. Sie liest gründlich und intensiv. Umgekehrt ist es nicht so. Die Bücher, die
sie liebt, interessieren die Männer nicht: weder Djuna Barnes noch George Eliot oder
Simone Weil. Eines Nachts geht sie mit einem Typen auf eine Party, er besteht
darauf sie nach Hause zu bringen. Er lässt sich nicht abwimmeln, drängt sich in ihre
Wohnung und überwältigt sie. Nur weil die Nachbarin eingreift, lässt er von ihr ab.
Doch die Gewalterfahrung geht ihr nach, wochenlang analysiert sie das Geschehen.
Sie schämt sich. Erst als ihr eine Freundin ein Messer schenkt, kommt ihre
Selbstachtung zurück. Es hilft ihr besser als alle „verbalen Waffen“:

Zitat 3
„Genau genommen ist meine Bibliothek vollgestopft mit verbalen Waffen. Doch
selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich
gegen eine Bücherwand schleudert.“

Siri Hustvedt ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet und steht schon lange
nicht mehr in dessen Schatten. Sie sind ein intellektuelles Glamour-Paar. Wenn sie
gemeinsam auftreten, spielen sie sich die Bälle zu. Trotzdem kann es passieren,
dass sie gefragt wird, ob sie ihre profunden Kenntnisse über Neurologie ihrem Mann
zu verdanken habe. Davon erzählt sie in ihrem ebenfalls gerade erschienenen
Essayband „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“.

„Damals“ ist ein Roman über männliche Überheblichkeit und Gewalt, ein Roman, der
„Väter schrumpfen“ lassen will, wie es über den unvollendeten Detektivroman heißt.
Was aber ist mit der Mutter? Siri Hustvedt arbeitet schon lange an der Aufwertung
des Weiblichen. Ihr letzter Roman, „Die gleißende Welt“, war eine Performance in
Romanform, die zeigte, wie sehr der Kunstmarkt von Männern und ihren sehr viel
teureren Werken dominiert wird. Demonstrativ entspannt war „Der Sommer ohne
Männer“ von 2011. Auch er hatte einen engen Draht zur Mutter wie nun auch
„Damals“.

Die erzählte Zeit umfasst nur ein gutes Jahr, von August 1978 bis September 1979.
Die Gegenwart der Schreibenden fällt in die Jahre 2016/2017. Während die
Schriftstellerin von ihrem ersten Jahr in New York erzählt, besucht sie immer wieder
ihre alte Mutter in Minnesota, die den Aufstieg Trumps nicht begreifen kann. Oft
schreibt sie im Nebenzimmer über ihr junges Ich, während die Mutter im Bett vor sich
hindöst. Es ist eine Art imaginäre Nabelschnur, die Mutter und Tochter verbindet. Sie
verknüpft auch das erinnerte junge Ich über das schreibende Ich Anfang sechzig mit
dem in die Zukunft projizierten alten Ich. Die Szenen zwischen der Mutter und ihrer
alternden Tochter bilden die anrührende Verankerung der Geschichte im Jetzt. Das
Gedächtnis der Mutter schwindet langsam dahin:

Zitat 4
„ >Wie alt bin ich? Bin ich siebzig?< Ich berichtigte: >VierundneunzigWie peinlich. Weißt du, als ich dich fragte, glaubte ich wirklich, dass ich
siebzig bin. Vierundzwanzig Jahre früher! Ist das nicht seltsam? In dem Moment
glaubte ich es.< Und ich denke mir im Stillen: Beim Rechnen fehlt ihr nichts.“

„Damals“ ist ein Roman über das Verfließen der Zeit, über Gedächtnis und
Erinnerung und über die Rhythmen, die sich in unseren Körper einschreiben. „>Ich
vermisse meinen federnden Gang
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