SWR2 Lesenswert Magazin - SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Lesenswert Magazin Vom 12.05.2019 (17:05 – 18:00 Uhr) Redaktion und Moderation: Anja Höfer Siri Hustvedt: Damals aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald Rowohlt Verlag ISBN 9783498030414 448 Seiten 24 Euro Rezension von Meike Feßmann
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Lesenswert Magazin können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/literatur.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Wer Tagebuch schreibt, weiß genau, wovon Siri Hustvedt in ihrem neuen Roman erzählt: Das junge Ich ist mit dem älteren Ich nicht identisch. Man kennt es gut, man erinnert sich an vieles, aber das meiste hat man vergessen. In „Damals“ erzählt die 1955 in Minnesota geborene New Yorker Schriftstellerin von ihren Anfängen. Er zitiert auch aus einem wiedergefundenen Tagebuch. Das ist vermutlich fiktiv, doch das muss uns nicht kümmern bei einem autofiktionalen Werk, das zwar suggeriert, die Erzählerin sei mit der Autorin identisch, aber auch genügend Signale sendet, dass sie mit dieser Suggestion nur spielt. „Memories of the Future“ (so heißt der Roman im amerikanischen Original) beginnt episch: Zitat 1 „Vor Jahren verließ ich die weiten, flachen Felder des ländlichen Minnesota und zog auf die Insel Manhattan, um den Helden meines ersten Romans zu finden. Als ich im
August 1978 dort ankam, war er weniger eine Figur als eine rhythmische Möglichkeit, eine embryonale Kreatur meiner Phantasie, die ich auf den Streifzügen durch die Straßen der Stadt als eine Serie metrischer, mit meinen Schritten bald schneller, bald langsamer werdender Beats verspürte. Ich glaube, ich hoffte, mich selbst in ihm zu entdecken, zu beweisen, dass er und ich jeder Geschichte wert waren, die sich uns bot.“ Dreiundzwanzig ist die Erzählerin, als sie in ein heruntergekommenes Apartment an der Upper West Side zieht. Der geplante Roman, ein Detektivroman um zwei Jugendliche, wird niemals fertig. Das wirkliche Leben ruft - mit all seinen erotischen und intellektuellen Verlockungen. Am Anfang sitzt sie noch brav in ihrem Apartment und belauscht die Nachbarin. Sie hat offenbar Schlimmes erlebt. Aber bald wird das akustische Höhlengleichnis mächtig erweitert. Auf einer Lesung von John Ashbery, dem berühmten Dichter, der seine Gedichte aber näselnd verhunzt, wie die angehende Schriftstellerin feststellt, lernt sie Whitney kennen, eine selbstbewusste Dichterin und Künstlerin, schnell vergrößert sich ihr Radius. Sie gehen zu Vorträgen, in Galerien und auf Partys. Nächtelang ziehen sie durch die Clubs: Zitat 2 „Die Unterschiede in den Clubs uptown und downtown, die Soziologie der Musik und der Typen, von manchen sorgfältig untersucht und analysiert, waren irrelevant für mich. Wenn ich gerade nicht tanzte, sah ich vor allem Pathos, und das sah überall gleich aus. Menschen wollen unbedingt gesehen werden, und sich in den Augen anderer gespiegelt sehen, das familiäre >Wir-Gefühl< genießen, die betörenden Liebkosungen des Stammes, und damals, als New York zerfiel und Ronald Reagan und die AIDS-Plage noch nicht zur Geißel geworden waren, suchten Teile der Reichen und der Armen der Stadt leichtes Vergessen in kollektivem Rausch und schnellen Ficks.“ Es ist nicht nur die Zeit der großen Partys, sondern auch die Zeit der intellektuellen Debatten, die Zeit von Postmodernismus und Dekonstruktion. Sie liest alles, wovon ihre Liebhaber schwärmen: Derrida, Foucault, Bataille, Paul de Man, Deleuze und Guattari. Sie liest gründlich und intensiv. Umgekehrt ist es nicht so. Die Bücher, die sie liebt, interessieren die Männer nicht: weder Djuna Barnes noch George Eliot oder Simone Weil. Eines Nachts geht sie mit einem Typen auf eine Party, er besteht darauf sie nach Hause zu bringen. Er lässt sich nicht abwimmeln, drängt sich in ihre
Wohnung und überwältigt sie. Nur weil die Nachbarin eingreift, lässt er von ihr ab. Doch die Gewalterfahrung geht ihr nach, wochenlang analysiert sie das Geschehen. Sie schämt sich. Erst als ihr eine Freundin ein Messer schenkt, kommt ihre Selbstachtung zurück. Es hilft ihr besser als alle „verbalen Waffen“: Zitat 3 „Genau genommen ist meine Bibliothek vollgestopft mit verbalen Waffen. Doch selbst auf Deutsch zitiert, hilft Wittgenstein rein gar nichts, wenn ein Mann dich gegen eine Bücherwand schleudert.“ Siri Hustvedt ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet und steht schon lange nicht mehr in dessen Schatten. Sie sind ein intellektuelles Glamour-Paar. Wenn sie gemeinsam auftreten, spielen sie sich die Bälle zu. Trotzdem kann es passieren, dass sie gefragt wird, ob sie ihre profunden Kenntnisse über Neurologie ihrem Mann zu verdanken habe. Davon erzählt sie in ihrem ebenfalls gerade erschienenen Essayband „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“. „Damals“ ist ein Roman über männliche Überheblichkeit und Gewalt, ein Roman, der „Väter schrumpfen“ lassen will, wie es über den unvollendeten Detektivroman heißt. Was aber ist mit der Mutter? Siri Hustvedt arbeitet schon lange an der Aufwertung des Weiblichen. Ihr letzter Roman, „Die gleißende Welt“, war eine Performance in Romanform, die zeigte, wie sehr der Kunstmarkt von Männern und ihren sehr viel teureren Werken dominiert wird. Demonstrativ entspannt war „Der Sommer ohne Männer“ von 2011. Auch er hatte einen engen Draht zur Mutter wie nun auch „Damals“. Die erzählte Zeit umfasst nur ein gutes Jahr, von August 1978 bis September 1979. Die Gegenwart der Schreibenden fällt in die Jahre 2016/2017. Während die Schriftstellerin von ihrem ersten Jahr in New York erzählt, besucht sie immer wieder ihre alte Mutter in Minnesota, die den Aufstieg Trumps nicht begreifen kann. Oft schreibt sie im Nebenzimmer über ihr junges Ich, während die Mutter im Bett vor sich hindöst. Es ist eine Art imaginäre Nabelschnur, die Mutter und Tochter verbindet. Sie verknüpft auch das erinnerte junge Ich über das schreibende Ich Anfang sechzig mit dem in die Zukunft projizierten alten Ich. Die Szenen zwischen der Mutter und ihrer
alternden Tochter bilden die anrührende Verankerung der Geschichte im Jetzt. Das Gedächtnis der Mutter schwindet langsam dahin: Zitat 4 „ >Wie alt bin ich? Bin ich siebzig?< Ich berichtigte: >VierundneunzigWie peinlich. Weißt du, als ich dich fragte, glaubte ich wirklich, dass ich siebzig bin. Vierundzwanzig Jahre früher! Ist das nicht seltsam? In dem Moment glaubte ich es.< Und ich denke mir im Stillen: Beim Rechnen fehlt ihr nichts.“ „Damals“ ist ein Roman über das Verfließen der Zeit, über Gedächtnis und Erinnerung und über die Rhythmen, die sich in unseren Körper einschreiben. „>Ich vermisse meinen federnden Gang
Sie können auch lesen