SWR2 Musikstunde Extra mit Thomas Hampson - Das Lied als Spiegel seiner Zeit Teil VII: Der große Krieg und seine Echos
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SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Extra mit Thomas Hampson Das Lied als Spiegel seiner Zeit Teil VII: Der große Krieg und seine Echos Autor: Laura Tunbridge Übersetzung: Katharina Eickhoff Sendung: 25. Januar 2022 (Erstsendung 26. Juni 2018) Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2018 SWR2 können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören: Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app
SWR2 Musikstunde Extra mit Thomas Hampson 18. Juni – 29. Juni 2018 Autor: Shela Gaffney Übersetzung: Katharina Eickhoff Willkommen zur SWR2 Musikstunde Extra mit Thomas Hampson! „Das Lied als Spiegel seiner Zeit“ haben wir diese Reihe genannt, und ich begleite Sie auch diese Woche wieder auf unseren Expeditionen in die Kulturgeschichte aus der Sicht der Liedkomponisten und ihrer Dichter. Heute beginnen wir auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs und lauschen den musikalischen und poetischen Echos dieser „Urkatastrophe“ – Sie werden Musik und Verse aus den Kriegsjahren hören und miterleben, wie die Künstler nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung nach neuen Ausdrucksformen suchen... Am 28. Juni 1914 wird Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo erschossen – und keine sechs Wochen später befinden sich große Teile Europas im Krieg. Die Gründe, die zu diesem bis dahin furchtbarsten aller Kriege geführt haben, sind, natürlich, komplex. Aber der eigentliche Antrieb zum Krieg ist, wie immer, ganz schlicht: Allen Parteien um die Bewahrung und Erweiterung von nationaler und imperialer Macht. Die Allianz – Großbritannien, Frankreich, Italien und Russland – gegen die sogenannten „Mittelmächte“, Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich: Dieser Erste Weltkrieg, den wir im Englischen einfach nur „The Great War“ nennen, bedeutet das Ende riesiger Reiche in Europa. In seinem Gefolge setzt sich der Kommunismus in Russland fest, der Faschismus triumphiert in Italien, dann folgen die weltweite Wirtschaftskrise, der Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland, und schließlich, kaum zwanzig Jahre später – noch ein Krieg, noch fürchterlicher als der Erste. Aber drehen wir die Uhr noch ein paar Jahre weiter zurück, in die Zeit vor der Katastrophe: Am Beginn des 20. Jahrhunderts beherrschen deutsche Musik und deutsche Musiker die Opernhäuser und Konzertsäle in Europa und Amerika – allen voran natürlich Richard Wagner... 2
Musik1 M0483145 01-005, 1‘30 Wagner, Richard Ouvertüre aus: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg. Große romantische Oper in 3 Aufzügen, WWV 70 Gewandhausorchester; Nelsons, Andris Aber später dann, 1917, als auch Amerika in den Krieg einsteigt, verlieren viele in den USA lebende deutsche Musiker ihren Job. Karl Muck zum Beispiel, dem Chef des Boston Symphony Orchestra,wird Spionage für Deutschland vorgeworfen. Er wird als „dangerous enemy alien“ verhaftet, als gefährlicher Feind aus dem Ausland. In New York feuert die Metropolitan Opera den Großteil ihrer deutschen Stars. Musik von lebenden deutschen Komponisten wird von den Spielplänen und Konzertprogrammen verbannt, und bald hat man auch etwas gegen die deutsche Musik des 19. Jahrhunderts, vor allem, wenn sie einen deutschen Text hat. Eine, die die Kriegsjahre gut für sich nutzen kann, ist die Altistin Ernestine Schumann- Heink. Die Österreicherin, die in Dresden Strauss’ Elektra mit uraufgeführt hat, ist seit 1908 amerikanische Staatsbürgerin und einer der großen Stars an der MET. Sie hat auf beiden Seiten Söhne im Krieg, aber sie selbst bezieht klar Stellung für ihre neue Heimat: Sie besucht unermüdlich US-Militärstützpunkte und widmet sich ganz ihren „Boys“, wie sie sie nennt. Hier singt sie einen amerikanischen Weltkriegs-Superhit, „When the boys come home!“, eine Aufnahme von 1918: Musik 2 Ernestine Schumann-Heink „When the boys come home“ Romophon 81030, 0’59 Eine Deutsche als patriotische Amerikanerin: Ernestine Schumann-Heink mit „When the boys come home“ von Oley Speaks. Das Orchester leitet hier übrigens Josef Pasternack, der Direktor der Victor Talking Machine Company. 3
Das erste Unheil des 20. Jahrhunderts – so wird man den Ersten Weltkrieg nennen. Später dann. Zu Anfang hoffen viele Leute ja noch, es sei „The war to end all wars“ – diesen Begriff hat der Schriftsteller H.G.Wells geprägt: Der Krieg, der alle Kriege beendet. Sicher ist, dass dieser Krieg viel schlimmer und brutaler wird als jeder vorangegangene: Etwa 10 Millionen Soldaten sterben, und 20 Millionen werden verwundet. Dazu kommen noch sieben Millionen Zivilopfer, die vor allem an Krankheiten und Hunger sterben. Heute sind das bloße Zahlen. Damals waren es Menschen, Millionen von toten Menschen... Während des Kriegs helfen, wie so oft, Musik und Dichtung dabei, die furchtbare Realität und die Todesangst zu verarbeiten. Kein britischer Offizier, der im Schützengraben nicht seine Ausgabe von „A Shropshire Lad“ dabeihatte, eine Gedichtesammlung von A.E.Housman aus dem Jahr 1896. Die schlichten Verse mit ihrer ländlichen Kulisse waren für viele ein Stück Heimat auf dem Schlachtfeld, oder, mit den Worten des damals im Krieg gefallenen Dichters Robert Brooke: „That there’s some corner of a foreign field/ That is for ever England.“ Der Lieutenant George Butterworth stirbt im August 1916 in der Schlacht an der Somme in Nordfrankreich an einer deutschen Kugel – er ist einunddreißig Jahre alt und bei seinen Soldaten so beliebt, dass sie einen Schützengraben nach ihm benannt haben – von da an gibt es also den Butterworth-Graben. Ein Grab gab es nicht für ihn, seiner Familie daheim in England konnte bloß die Todesnachricht überbracht werden...Der junge Bataillonsleiter, der das auf sich genommen hat, war dann ziemlich überrascht, als er auf Besuch bei den Butterworths herausfand, dass es sich bei dem toten Lieutenant um einen der Besten unter den jungen britischen Komponisten gehandelt hatte. Butterworth hat vor dem Krieg die Gedichte aus „A Shropshire Lad“ vertont – er hat dem törichten Enthusiasmus der jungen Soldaten damals eine Stimme gegeben und scheinbar sein eigenes Schicksal vorausgeahnt: „Think no more, lad; laugh, be jolly;/ Why should men make haste to die?“ – Denk nicht so viel, mein Junge, lache und sei lustig! Warum sollte der Mensch sich mit dem Sterben beeilen? 4
Musik 3 [BR] CD431560W01 01-004 1'22 Butterworth, George; Housman, Alfred Edward Nr. 4: Think no more, lad aus: Six Songs from "A Shropshire Lad" für Bariton und Klavier Luxon, Benjamin; Willinson, David Benjamin Luxon und David Willison mit einem der „Six Songs from A Shropshire Lad“, George Butterworths Vertonung der Verse A.E. Housemans. Der Erste Weltkrieg hat eine Menge widerstreitender Gefühle ausgelöst – bei Soldaten UND Zivilisten. Amerikas revolutionärer Komponist Charles Ives hat einen Weg gefunden, diese Spannung auszudrücken: 1917 vertont er John McCraes bewegendes Gedicht „In Flanders Fields“, eine direkte Reaktion auf den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Auf dem Höhepunkt des Lieds reichen die toten Soldaten der Schlachtfelder in Flandern die Freiheitsfackel an die Lebenden weiter – „To you from falling hands we throw the torch“ – und Ives stellt da zwei bekannte Hymnen einander gegenüber, die „Marseillaise“ und „America“, beides musikalische Symbole für die Armeen der Alliierten. Musik 4 M0038738 01-010 2'41 Ives, Charles; Del Tredici, David; ... In Flanders fields. Bearbeitung für Singstimme und Orchester, No. 277 Hampson, Thomas; San Francisco Symphony; Thomas, Michael Tilson „In Flanders Fields“ von Charles Ives. Ich bin Thomas Hampson, und Sie hören die SWR2 Musikstundenreihe „Das Lied als Spiegel seiner Zeit“ – in der heutigen Folge mit Musik, die während und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist. Im Jahr 1918 feiert der große französische Komponist Gabriel Fauré, damals schon über siebzig, den Frieden mit einem erstaunlich fröhlichen Lied. Sein Text ist ein 5
preisgekröntes Gedicht von Georgette Debladis (De-blah-dees) mit dem Titel „C’est la paix!“, Der Frieden ist da! Eine junge Frau freut sich auf die Rückkehr der französischen Soldaten, sie sagt: „So lange sie im Krieg waren, tanzten wir nicht mehr, wir sprachen kaum, wir sangen nicht.“ Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, fährt sie fort, „sollen sie geliebt werden,- dafür, dass sie die deutschen Horden in die Flucht geschlagen haben, sollen ihnen unsere Herzen gehören – statt Hass sollen sie Liebe bekommen.“ Musik 5 [BR] CD026940423 04-023 1'17 Fauré, Gabriel; Debladis, Georgette C'est la paix. Lied für eine Singstimme und Klavier A-Dur, op. 114 Ameling, Elly; Baldwin, Dalton Elly Ameling und Dalton Baldwin mit Gabriel Faurés triumphierendem „C’est la paix!“ Mit dem Frieden im Jahr 1918 kommt unter den Künstlern das unbändige Verlangen auf, mit dem Alten zu brechen – alle sind auf der Suche nach dem Neuen. 1919 schreibt der gerade mal zwanzigjährige Francis Poulenc, eben aus dem Kriegsdienst zurück, an seinen Verleger: „Meine vier liebsten Komponisten sind Bach, Mozart, Satie und Strawinsky. Ich mag Beethoven überhaupt nicht...Ich verabscheue Wagner...Ich kann Franck nicht leiden...Ich verabscheue jene, die im Kielwasser der Meister mitschwimmen...“. Typisch arroganter Jung-Komponist, könnte man denken – aber Poulenc ist wirklich fest entschlossen, der Musik und ihren Ausdrucksformen ein paar Frischzellen zu verpassen. Er ist gut befreundet mit den damals in Paris versammelten Surrealisten, die fasziniert sind von Sigmund Freuds Ideen zur freien Assoziation und zum Unterbewussten. Einer von ihnen ist Guillaume Apollinaire, der 1917 den Begriff „Surrealismus“ überhaupt erst erfunden hat, ein Jahr, nachdem er als Soldat in Frankreichs Armee schwer verwundet wurde. 6
Poulenc komponiert sechs Gedichte aus Apollinaires „Bestiaire“, - eine Ansammlung von höchst seltsamen Tiergedichten, zum Beispiel diesem hier: Le Dromadaire. „Mit seinen vier Dromedaren durchreiste Don Pedro d’Alfraroubeira die Welt und bestaunte sie. Er tat, was auch ich tun würde, hätte ich vier Dromedare“... Poulencs Musik beschreibt auf schlichte und feierliche Art Don Pedros Reisen, aber am Ende bricht eine neue Stimmung durch: Ein Nebeneinander von Realitäten, irgendwo zwischen Volkston und Frivolität... Musik 6 Francis Poulenc, Le Dromadaire José van Dam, Bariton / Maciej Pikulski, Klavier Forlane 920637, 1‘26 José van Dam hat hier gesungen, begleitet von Maciej Pikulski „Le Dromadaire“, ein Gedicht von Guillaume Apollinaire, nimmt sich selber nicht so ernst, genau wie die drollige Musik dazu, komponiert von Francis Poulenc im Jahr 1919. Apollinaire hat das Lied nie gehört – er und Millionen andere sterben während der Influenza-Epidemie, die 1918 als eine der direkten Kriegsfolgen ausbricht. Tatsächlich sind damals wohl rund fünf Prozent der Weltbevölkerung an der Spanischen Grippe gestorben. Und so waren dann in den 20er Jahren, nach den Schrecken des Kriegs und verheerenden Krankheiten, viele Leute sehr daran interessiert, ihre Sorgen zu vergessen. Zu dieser Zeit kommen eine Menge Amerikaner nach Paris, um in die Atmosphäre dieses neuen, hedonistischen Europa einzutauchen. Paris ist die Stadt des europäischen Jazz – und, für eine Weile, auch die Stadt von Josephine Baker, mit ihren exotischen Tänzen und ihren zweideutigen Chansons... 7
Musik 7 La conga primitive man Josephine Baker iTunes, ca. 0’25 (keine weiteren Angaben) Paris ist auch die Stadt der Moderne, wo Sylvia Beach, die Besitzerin des legendären Buchladens „Shakespeare and Company“, den „Ulysses“ von James Joyce herausgibt, und die Stadt ist auch ein Magnet für amerikanische Schriftsteller wie F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Ezra Pound, e.e. cummings oder Gertrude Stein. Die wiederum kriegen bald Gesellschaft von jungen amerikanischen Komponisten wie Virgil Thomson, Marc Blitzstein oder Aaron Copland. Sie alle kommen, um bei einer der einflussreichsten Kompositionslehrerinnen des Jahrhunderts zu studieren, bei Nadia Boulanger. Virgil Thomson, später einer der strengsten Musikkritiker der USA, ist damals noch Harvard-Student, und er ist begeistert von den modernistischen Wort-Experimenten der Dichterin Gertrude Stein. Sie und Thomson sind im verrückten Paris der 20er Jahre unzertrennlich, und Thomsons erstes veröffentlichtes Lied ist im Jahr 1926 eine Vertonung von Gertrude Steins Gedicht „Susie Asado“. Stein selbst sagt zu dem Gedicht, dass sie darin versucht habe, die Worte von ihrer Bedeutung zu trennen, und dass sich das als unmöglich herausgestellt habe. Thomson geht die Sache anders an und sagt: „Meine Theorie war, dass wenn ein Text entlang dem Sprachklang komponiert ist, die Bedeutung schon von alleine käme.“ Seine Musik wirkt simpel – es gibt steigende Skalen und wiederholte Akkorde im Klavierpart, und die Stimme changiert zwischen Sprechen und Gesang. Simpel ist das vielleicht, aber auch: radikal. Musik 8 Virgil Thomson: Sweet Susie Asado Glenn Siebert, Tenor / Phillip Bush, Klavier Albany Records 272, 1’41 8
Glenn Siebert und Phillip Bush mit Virgil Thomsons innovativer Vertonung von „Sweet Susie Asado“ von Gertrude Stein. Sie hören die SWR2 Musikstunde mit Thomas Hampson, „das Lied im Spiegel seiner Zeit“ heißt unsere Reihe, heute lauschen wir den musikalischen und poetischen Echos des Ersten Weltkriegs. Während Komponisten wie Zemlinsky über die Grenzen schauen, auf der Suche nach neuen Ausdrucksweisen, sind andere damit beschäftigt, alte Volkskulturen zu bewahren, bevor sie für immer verloren gehen. Musikethnologen wie Alan Lomax in den USA und Cecil Sharp in England reisen überall herum und dokumentieren musikalische Traditionen von den Hügeln der Appalachen bis zu den schottischen Highlands. Cecil Sharp nennt es „Arbeit, die um der Nachwelt willen getan werden MUSS“. Derweil erforscht der tschechische Komponist Leos Janacek die musikalischen Traditionen Mährens. Zu hören ist das in „Tagebuch eines Verschollenen“, seinem Liederzyklus von 1912. Der Text basiert auf Gedichten von Josef Kalda, die vom rätselhaften Verschwinden eines Bauernsohns erzählen. In diesen beiden kurzen Liedern aus dem Zyklus träumt der Junge von einer Zigeunerin, die ihn verführt. Die Vision von ihr lässt ihn nicht schlafen und verfolgt ihn sogar beim Pflügen der Felder. Musik 9 M0010452 01-004, 0'59 und 005, 0‘51 Janácek, Leos; Kalda, Josef (4) Schon zwitschern junge Schwalben aus: Tagebuch eines Verschollenen. Liederzyklus für Tenor, Alt, 3 Frauenstimmen und Klavier Bostridge, Ian; Philogene, Ruby; Adès, Thomas; 3 Frauenstimmen M0010452 01-005 0'51 Janácek, Leos; Kalda, Josef (5) Schlecht geht's mit dem Pflügen Zwei Lieder aus Leos Janaceks „Tagebuch eines Verschollenen“, gesungen von Ian Bostridge, am Klavier saß der britische Komponist und Pianist Thomas Adès. 9
1925 beschreibt der Komponist Ernst Krenek das Volkslied als eine „unerschöpfliche Kraftquelle für die, die darin ihre Wurzeln finden können“. Aber das Volkslied hat zu dieser Zeit auch noch eine andere Funktion: Es liefert vertraute Melodien, in einer Epoche, wo viele moderne Kompositionen immer schwerer zu verstehen - und noch schwerer anzuhören sind. Die amerikanische Mäzenin Elizabeth Sprague Coolidge hat das allerdings sehr schön zurechtgerückt: „Wir müssen die moderne Musik nicht schön finden, wir müssen sie nicht einmal unbedingt verstehen, aber wir müssen sie aufführen, als ein bedeutendes Dokument der Menschheit.“ Einer von Coolidges Kompositionsaufträgen empört im Jahr 1925 das Publikum: „Chansons Madécasses“ von Maurice Ravel, der damals schon eine internationale Berühmtheit ist. Ravel hat sich Verse eines dichtenden französischen Aristokraten mit dem klingenden Namen Evariste Désiré de Forges de Parny ausgesucht. Die Gedichte sind eineinhalb Jahrhunderte früher entstanden, noch vor der Französischen Revolution, und sie befassen sich mit der aggressiven Seite des Kolonialismus. „Vorsicht vor dem weißen Mann!“, warnt das zentrale Stück darin, und Ravel malt hier nicht mit der zart impressionistischen Palette seiner frühen Musik, er ist absichtlich brutal: Die Rhythmen wiederholen sich unendlich, und die Harmonik ist wenig harmonisch. Ravel schreibt dieses Stück zu einer Zeit, als Frankreich in Marokko einen Aufstand niederschlägt, und bei der Premiere der Chansons Madécasses gab es dann auch jede Menge Ärger... Musik 9 M0114134 01-014 3'39 Ravel, Maurice; Parny, Evariste Désiré de Nr. 2: Aoua aus: Chansons madécasses 3 Lieder für Singstimme, Flöte, Violoncello und Klavier Souzay, Gérard; Baldwin, Dalton „Aoua!“, ein Protest gegen Kolonialistische Brutalität aus den „Chansons Madécasses“ von Maurice Ravel. Der Sänger war Gérard Souzay, am Klavier Dalton Baldwin, und dazu der Flötist Maxence Larrieu und der Cellist Pierre Degenne. 10
Während der Krieg noch im Gange war, hat es in Deutschland jede Menge musikalisch-patriotisches Fahnenschwenken gegeben: In der Hauptstadt haben die Berliner Philharmoniker hunderte von Beethoven-Konzerten gegeben, aber so gut wie keine neuere französische, russische, amerikanische oder britische Musik gespielt. Kein Debussy und kein Ravel, nichts von Elgar oder Strawinsky. Stattdessen waren die Festivals den deutschen Heroen gewidmet: Bach und Mozart, Weber, Schubert, Brahms – und immerhin ein Zeitgenosse war dabei: Richard Strauss. Nach dem Krieg ist Strauss der wohl einflussreichste und meistrespektierte Komponist seiner Zeit. Trotzdem fühlt er sich ständig unterbezahlt und klagt laut über finanzielle Ungerechtigkeiten, zum Beispiel hat er unversöhnlich Streit mit seinem Verlag, Bote und Bock, und dieser Krach inspiriert dann tatsächlich einen seiner Liedzyklen, der Titel: Krämerspiegel. Das Ganze soll eine Satire auf die Finanzsorgen sein, die den Künstlern das Leben schwer machen – und auf Strauss trifft das zumindest insofern zu, als während des Kriegs seine Tantiemen aus dem Ausland eingefroren waren. Darben musste er trotzdem nie... Die Musik im „Krämerspiegel“ zitiert scherzhaft Strauss’ eigene Kompositionen und Musik von Beethoven. Und der Text des deutsch-jüdischen Großkritikers Alfred Kerr ist auch voller Wortwitz, Namen von Kritikern und Komponisten tauchen darin auf – und auch die von Verlegern: Dieses Lied hier warnt alle, die eine Tondichtung geschrieben haben, sie sollen sich vor den Gebrüdern Reinecke in Acht nehmen. Reinecke ist natürlich einerseits der gierige Fuchs aus der Fabel, gleichzeitig hieß so aber auch eine bekannte deutsche Verlagsanstalt... Musik 10 M0339598 01-005 0'55 Strauss, Richard; Kerr, Alfred Hast du ein Tongedicht vollbracht, op. 66 Nr. 5 aus: Aus: Krämerspiegel. 12 Gesänge, op. 66 Nr. 1-12 Schreier, Peter; Shetler, Norman „Hast du ein Tongedicht vollbracht“ aus dem Liedzyklus „Krämerspiegel“ von Richard Strauss, Peter Schreier wurde da begleitet von Norman Shetler. Die jüngere Generation ist nicht ganz so nostalgisch wie Strauss in Bezug auf die Spätromantik mit ihren grandiosen Melodien und satten Harmonien. In der Weimarer 11
Republik wird vielmehr die Massenkultur zur treibenden kreativen Kraft, - Rundfunk, Schallplatten und Film verändern die Wahrnehmung von Musik grundlegend, Musik wird jetzt zum Konsumgegenstand. Berlin wird nach dem Krieg wieder das musikalische Zentrum Deutschlands, und an der Staatsoper wird eine ganze Reihe von bedeutenden neuen Opern aufgeführt, nicht zuletzt Alban Bergs „Wozzeck“. Und viele Komponisten setzen jetzt auf eine Kombination von Avantgarde und populärer Musik, die die moderne Welt reflektiert, in der sie leben. Sein Ziel – sagt zum Beispiel Kurt Weill – ist es, ein neues Genre zu schaffen, einen angemessenen Ausdruck für die völlig neuen Lebensformen der Zeit. Da kommt ihm die Freundschaft mit dem berühmt-berüchtigten Bertolt Brecht gerade recht: 1927 gibt es die erste Zusammenarbeit von Brecht und Weill, für das Songspiel „Mahagonny“, uraufgeführt beim Festival für deutsche Kammermusik hier in Baden- Baden. Das aus einer Handvoll Songs bestehende Stück spielt in einer fiktiven Stadt irgendwo in Amerika, einem Ort des Jazz, der Prohibition, der losen Sitten. „Austragungsort“ der Songs ist ein Boxring. Der „Alabama Song“ aus diesem „Mahagonny“ wird dann einer der größten Hits des 20. Jahrhunderts – Lotte Lenya hat ihn uraufgeführt, und ihre unverwechselbare Stimme ist für immer damit verbunden: Musik 11 M0122921 01-005, 1’23 Weill, Kurt; Brecht, Bertolt Alabama Song (Moon of Alabama) Lenya, Lotte Lotte Lenya mit dem „Alabama Song“ von Bert Brecht und Kurt Weill – am Ende der Uraufführung hat das Publikum das Stück ausgebuht, aber das Orchester hat einfach zurückgepfiffen... Weill und andere Künstler, die sich für das interessieren, was man damals in Deutschland „Neue Sachlichkeit“ nennt, finden es wichtig, Kunst für die Massen zu machen. Musik, sagen sie, soll einfach sein, einfach, direkt und ausdrucksstark. Kunstwerke sollen die Probleme des wahren Lebens und der Mechanisierung der Gegenwart widerspiegeln. 12
Gegen Ende der zwanziger Jahre, als die wirtschaftliche Lage in Deutschland immer hoffnungsloser wird, komponiert Hanns Eisler einen Liedzyklus, der wie eine Collage von Zeitungsausschnitten wirkt. Schnell folgt da eine Meldung auf die andere, ein musikalischer Stil auf den anderen, scheinbar ohne alle Logik. Musik 12 M0253229 01-016 1'11 Eisler, Hanns; Eisler, Hanns (8) Liebeslied eines Grundbesitzers aus: Zeitungsausschnitte. Für Sopran und Klavier, op. 11 Trexler, Roswitha; Olbertz, Walter Hanns Eislers „Heiratsannonce (Liebeslied eines Grundbesitzers)“ aus „Zeitungsausschnitte“, Roswitha Trexler wurde da begleitet von Walter Olbertz. Die kreative Energie der Nachkriegsjahre mit ihren modernistischen Experimenten, dem Jazz, den Ausflügen zum Volkslied und zu den ersten Tonfilmen verliert dann deutlich an Schwung nach dem Finanzcrash von 1929. Die Krise führt ins politische und ökonomische Chaos, und das wird auch von der Musik reflektiert – mit schärferen, nationalistischen Tönen und, immer öfter, dem Wunsch, der Gegenwart zu entfliehen. Das versucht unser letztes Lied für heute, Samuel Barbers „Dover Beach“: Es ist die Vertonung eines düsteren Gedichts aus den achtzehnhundertfünfziger Jahren, geschrieben von Matthew Arnold, einem im neunzehnten Jahrhundert sehr geschätzten britischen Lyriker. Der tief melancholische Text ist eine Reaktion auf die große Glaubenskrise, die damals im Zeitalter der Wissenschaft aufkam, als Charles Darwin seine neuen Theorien zum Ursprung des Lebens entwickelt und Karl Marx die Herrschaft der Religion über die Gesellschaft in Frage gestellt hat. Was Barber, den Harmonie-Süchtigen, dann im Jahr neunzehnhundert-einunddreißig inspiriert, ist Matthew Arnolds Schlussfolgerung: Wenn es Hoffnung für die Menschheit gibt, dann liegt sie in der Liebe. Musik 13 M0053174 01-021 8'12 Barber, Samuel; Arnold, Matthew Dover Beach. Lied für Singstimme, 2 Violinen, Viola und Violoncello, op. 3 Hampson, Thomas; Emerson String Quartet 13
Samuel Barbers monumentales „Dover Beach“ – ich selbst habe gesungen, begleitet vom Emerson String Quartet. „Ignorant armies clashing by night“ - Matthew Arnolds Gedicht endet mit einer dunklen Vision von „unwissenden Armeen, die des Nachts aufeinandertreffen“ – im Jahr 1931 hatte Samuel Barber dabei den Ersten Weltkrieg vor Augen, jenen Krieg, der angeblich alle Kriege beenden sollte. Und konnte nicht ahnen, dass der nächste, noch verheerendere, schon am Horizont stand... Ich bin Thomas Hampson, und in unserer SWR2-Musikstunde ging es heute um den musikalischen Widerhall des Ersten Weltkriegs. Wenn Sie mehr über unsere Reihe „Das Lied im Spiegel seiner Zeit“ erfahren möchten, dann schauen Sie doch auf die SWR2 Website unter www.swr2.de - schrägstrich – Musikstunde, dort gibt es alle Sendungen eine Woche lang zum Nachhören...Mehr Geschichten und Geschichte rund um das Lied gibt es auf der Website meiner Stiftung: Hampsongfoundation.org! – und wenn Sie mögen, folgen Sie uns morgen weiter auf unserem Weg durch das Zwanzigste Jahrhundert und seine Lieder! 14
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