SWR2 Musikstunde Extra mit Thomas Hampson - Das Lied als Spiegel seiner Zeit Teil VI: Das Fin de Siècle

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SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde Extra mit
Thomas Hampson
Das Lied als Spiegel seiner Zeit
Teil VI: Das Fin de Siècle

Autor: Susan Youens
Übersetzung: Katharina Eickhoff

Sendung:    24. Januar 2022 (Erstsendung: 25. Juni 2018)
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2018

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SWR2 Musikstunde Extra mit Thomas Hampson
18. Juni – 29. Juni 2018
Autor: Shela Gaffney
Übersetzung: Katharina Eickhoff

Guten Morgen, ich bin Thomas Hampson, und das hier ist die SWR2-Musikstunde.
Willkommen zu zweiten Woche unserer Reihe „Das Lied als Spiegel seiner Zeit“ in der
wir Ihnen vor Ohren führen möchten, wie sehr das Kunstlied in allen Ländern und zu
allen Zeiten Spiegel der Geschichte und des Lebens der Menschen war.

Heute werfen wir einen Blick auf das Fin de siècle, jene Zeit an der Wende vom 19.
zum 20. Jahrhundert, in der man noch am Alten festhalten wollte, das Neue aber schon
vor der Tür stand.

Bei genauem Hinsehen zeigt sich uns dieses „Fin de Siècle“ als Januskopf:
Während um sie herum eine Epoche unaufhaltsam ihrem Ende zusteuert, schauen die
Menschen einerseits nach vorn, in Richtung des 20. Jahrhunderts, aber sie blicken
auch mit Wehmut zurück auf die gute alte Zeit, von der sie sich noch nicht so ganz
verabschieden können.

Zum Beispiel Charles Ives: Der ist im Jahr 1900 sechsundzwanzig Jahre alt und
schreibt schon an der enorm originellen und visionären Musik, für die er später
berühmt werden wird. Und doch zeigt ein Lied wie „Feldeinsamkeit“, dass Ives die
Vergangenheit noch      nicht   ad   acta   gelegt   hatte:   „Feldeinsamkeit“   ist ein
wunderschönes Beispiel für ein ganz klassisches, oder besser: Romantisches Lied –
in Musik gesetzte Poesie.

Musik 1
[BR] C5014190011 01-011 3'01
Ives, Charles; Allmers, Hermann Feldeinsamkeit für Bariton und Klavier
Hampson, Thomas; Guzelimian, Armen Lieder

                                                                                      2
Die schönen weissen Wolken ziehn dahin
Durch’s tiefe Blau, wie schöne stille Träume;
Mir ist, als ob ich längst gestorben bin
Und ziehe selig mit durch ew’ge Räume...

...So endet die „Feldeinsamkeit“ von Charles Ives.

Johannes Brahms hat diese Verse des norddeutschen Dichters Hermann Allmers rund
zwanzig Jahre früher auch schon mal vertont, und ohne Zweifel hat Ives diese
Brahms’sche Version gekannt.
Ich selbst habe da gesungen, Armen Guzelimian spielte Klavier.
Ende des 19. Jahrhunderts gibt es eine Explosion auf dem Gebiet der technischen
Entwicklungen, die für die Menschen einerseits aufregend, andererseits aber auch
ziemlich beunruhigend ist. Man muss sich nur mal in diese Zeit versetzen: Elektrisches
Licht, Telefone und Phonographen, Filme, Flugzeuge, das Automobil...Alles war neu
damals in den 1890-er Jahren, oder gerade erst dabei, entwickelt zu werden.

Neue Harmonien und Klangfarben schwirren plötzlich durch die Luft – vor allem in
Frankreich: Dort werden die impressionistischen Maler - Monet, Manet, Renoir und die
anderen- , endlich langsam salonfähig. Und in der Musik lassen sich alle, die Lust auf
Neues haben, von den schimmernden musikalischen Landschaften Claude Debussys
verzaubern. 1897 komponiert Debussy seine „Chansons de Bilitis“:
Die Texte hat er von seinem guten Freund Pierre Louys (Loo-eess) – der nennt sich
„Orientspezialist“ und behauptet, die Verse stammten aus der griechischen Antike, wo
sie eine geheimnisvolle junge Frau verfasst und auf die Wand eines Grabmals
geschrieben haben soll. Die Gedichte machen Furore, vor allem, als sich herausstellt,
dass es die junge Dame gar nicht gegeben hat: Pierre Louys hat die verträumten Verse
selber geschrieben!
In „La chevelure“ hat der Dichter einen ziemlich symbolistischen Traum von sich und
seiner Geliebten, es träumt ihm, das sich ihre Haare um seinen Hals legen wie ein
schwarzes Halsband, und dass er selber Stück für Stück ein Teil seiner Geliebten
wird... “La chevelure“, von Claude Debussy, gesungen von Maggie Teyte, am Klavier
ist der legendäre Alfred Cortot, wir hören eine Aufnahme von 1936.

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Musik 2
[DRadio] 5003085 03-015 3'07
Debussy, Claude; Louys, Pierre (2) La Chevelure aus: Trois Chansons de Bilitis. 3
Lieder für Singstimme und Klavier, L 90       Teyte, Maggie; Cortot, Alfred Pelléas et
Mélisande

„La chevelure“ aus den „Chansons de Bilitis“ von Claude Debussy.

Maggie Teyte, die Sängerin, war eigentlich Engländerin, wurde aber zu einer der
bedeutendsten Interpretinnen für französische Musik – und sie war eine von Debussys
Lieblings-Sängerinnen. Seine Lieder er noch persönlich mit ihr einstudiert.
Zu Anfang des neuen, des 20. Jahrhunderts, entdeckt der britische Komponist Charles
Villiers Stanford den amerikanischen Poeten Walt Whitman für sich und vertont dessen
ätherisches „To the Soul“.

Es ist erstaunlich, wie gut Stanfords feierliche, eher konservativ-britische Komposition
Walt Whitmans visionäre Verse zur Geltung bringt.
Im Moment des Todes fordert da ein Mensch seine Seele auf, mit ihm in jenes
unbekannte Land aufzubrechen: „Wagst du es nun, o Seele, mit mir hinauszugehen
ins unbekannte Gefilde, wo für die Füße kein Grund ist, kein Pfad, dem sie folgen...“
Und im Angesicht des Todes fühlt der Dichter Freude und ruft aus: „O joy, o fruit of all!“
– Bei Charles Villiers Stanford ist das ein Augenblick des Triumphs.

Musik 3
M0483938-004, 4’02
Charles Villiers Stanford, To the Soul
Thomas Hampson, Craig Rutenberg

„To the soul“, von Charles Villiers Stanford, ich habe gesungen, begleitet von Craig
Rutenberg. Die Verse stammen vom großen Poeten Amerikas, Walt Whitman, aus
seiner riesigen Gedichtesammlung „Leaves of Grass“.

Stanford unterrichtet fast vierzig Jahre lang Komposition am Royal College of Music in
London, aber seine eigene Musik steht oft im Schatten seiner berühmteren Schüler, -

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zum Beispiel Ralph Vaughan Williams. Der komponiert 1903 seinen Liedzyklus „The
House of Life“, nach Sonetten des englischen Malers und Dichters Dante Gabriel
Rossetti.

Rossettis sepiafarbene Melancholie erleuchtet diesen Zyklus, der die Stimmung der
Jahrhundertwende erstaunlich gut wiedergibt – in „Silent Noon“ zum Beispiel, „Stiller
Nachmittag“, will der Dichter weder nach vorn noch zurück blicken, sondern für eine
perfekte Stunde einfach mal die Zeit anhalten, die Sanduhr stoppen, um sich später
an diesen Moment erinnern zu können, in dem er mit seiner Liebsten im tiefen Gras
lag...

Musik 4
Ralph Vaughan Williams, Silent Noon
Benjamin Luxon, David Willison
Chandos 8475, 4’27

„Silent Noon“, Stiller Nachmittag, aus dem Liedzyklus „The House of Life“ von Ralph
Vaughan Williams aus dem Jahr 1903. Der britische Bariton Benjamin Luxon war da
zu hören, zusammen mit David Willison am Flügel.

Ich bin Thomas Hampson, Sie hören die SWR2 Musikstundenreihe „Das Lied als
Spiegel seiner Zeit“ – in diesem Spiegel sehen und hören wir heute das Fin de Siècle,
als die Gesellschaft zwischen den Stühlen saß, oder genauer: zwischen zwei
Jahrhunderten: Das alte wollte man nicht ganz loslassen, aber das neue lockte
schon...
Nach 1910 kommt aus den fernsten Fernen des British Empire eine außergewöhnliche
neue Stimme in der westlichen Welt an:
Rabindranath Tagore, geboren in Kalkutta, war vieles auf einmal – Poet und Philosoph,
Schriftsteller und Komponist. Tagore übersetzt seine Gedichte aus dem Bengalischen
ins Englische und reist mit ihnen nach England und um die ganze Welt. Sein
Gedichtebuch „Gitanjali“, Sangesopfer, erscheint im Jahr 1912 in London und trifft auf
Anhieb den Nerv der Zeit - Inmitten der vielen Veränderungen findet Tagore eine
spirituelle Welt in zeitlosen Momentaufnahmen: dem Schlaf eines Babys, der Freude
eines Kinds über ein buntes Spielzeug, Sonnenlicht, das eine Wolke durchbricht. In

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England und weit darüber hinaus sind die Leser fasziniert von der Schönheit und
Frische dieser Verse – Tagores mystische Empfindsamkeit ist für den Westen ein ganz
neues Erlebnis. Und sein Ruhm wächst immer weiter: 1913 bekommt Rabindranath
Tagore den Nobelpreis für Literatur.

Im selben Jahr setzt der amerikanische Komponist und Elgar-Schüler John Alden
Carpenter sechs Gedichte aus „Gitanjali“ in Musik – „When I bring to you colour’d toys“
heißt das Folgende über ein Kind und sein Spielzeug, und in einer Aufnahme von 1932
singt es hier die Metropolitan Opera-Diva Rose Bampton.

Musik 5
[BR] C502999 01-016 2'25
Carpenter, John Alden; Tagore, Rabindranath When I bring to you colored toys, my
child aus: The Gitanjali. 6 Lieder nach Gedichten von Rabindranath Tagore Bampton,
Rose; Pelletier, Wilfred Rose Bampton

„When I bring to you colour’d toys“, aus dem Zyklus „Gitanjali“ von John Alden
Carpenter, auf Verse von Rabindranath Tagore. Wir hörten Rose Bampton, übrigens
Arnold Schönbergs Lieblingssängerin, begleitet von ihrem Ehemann, dem Dirigenten
Wilfred Pelletier.

Ganz ähnlich wie Charles Ives hat auch der amerikanische Komponist Charles
Tomlinson Griffes in seinen jüngeren Jahren deutsche Dichtung vertont. Anders als
Ives, dieser durch und durch amerikanische Autodidakt, hat Griffes aber in Europa
studiert, samt einem kurzen Zwischenspiel bei Engelbert Humperdinck. Brahms,
Strauss und die dunkel schimmernde Poesie deutscher Romantiker wie Nikolaus
Lenau haben Griffes enorm beeindruckt. 1909, nach seiner Rückkehr in die USA,
veröffentlicht er in New York fünf deutsche Lieder, mit dabei: „Auf geheimem
Waldespfade“ nach Lenau.
Auch Griffes war ein Kind seiner Zeit zwischen den Stühlen und, in seinem Fall,
Kulturen – denn trotz der deutschen Worte scheint die Landschaft, durch die Griffes
da musikalisch wandelt, doch schon hörbar in der Neuen Welt zu liegen...

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Musik 6
[BR] C5014190025 01-025 1'54
Griffes, Charles T.; Lenau, Nikolaus Auf geheimem Waldespfade für Bariton und
Klavier   Hampson, Thomas; Guzelimian, Armen Lieder

„Auf geheimem Waldespfade“ von Charles Tomlinson Griffes,
ich habe gesungen, begleitet von Armen Guzelimian am Klavier.

Hier ist die SWR2 Musikstunde, ich bin Thomas Hampson, und wir sind hier in der
zweiten Staffel unserer musikalischen Kulturgeschichte „Das Lied als Spiegel seiner
Zeit“ – in dieser Serie möchten wir hörbar machen, wie sehr das Kunstlied in allen
Ländern und zu allen Zeiten Spiegel der Geschichte und des Lebens der Menschen
war.

Heute sind wir in den Jahren rund um die Jahrhundertwende unterwegs,
und zu dieser Zeit explodiert ja vor allem in Wien die Kreativität: Gustav Mahler,
Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Gustav Klimt, Leo Trotzki, Alban Berg,
Arnold Schönberg – sie alle sitzen in Wiens Kaffeehäusern und schreiben Literatur-,
Kunst- und Musikgeschichte.
1905 bringt Mahler in Wien seine Rückert-Lieder heraus. In „Blicke mir nicht in die
Lieder“ erlaubt er uns einen kleinen Blick in den sonst ängstlich behüteten
Schaffensprozess des Künstlers, den Rückert mit dem Wabenbauen der Bienen
vergleicht, die sich auch nicht gern beim Schaffen zusehen lassen – Mahler hat die
fleißigen Bienen im Klavierpart seiner Musik hörbar gemacht, hier gespielt vom großen
Leonard Bernstein:

Musik 7
M0483940-015, 1‘33
Gustav Mahler, Blicke mir nicht in die Lieder

„Blicke mir nicht in die Lieder“, eins von Gustav Mahlers „Rückert-Liedern“, mit,
unverkennbar, Dietrich Fischer-Dieskau, und, nicht ganz so gewohnt, mit Leonard
Bernstein am Klavier!

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Als Chef des New York Philharmonic Orchestra hat Leonard Bernstein dann die ganz
große Mahler-Renaissance im zwanzigsten Jahrhundert eingeleitet. Und fünfzig Jahre
zuvor, als das Jahrhundert noch ganz jung war, war Mahler selber musikalischer
Direktor beim New York Philharmonic.

In Europa und der ganzen Welt ist das frühe zwanzigste Jahrhundert eine Zeit des
Protests und der Rebellion: Suffragetten, Gewerkschaftler, Sozialisten, Kommunisten
und Anarchisten – sie alle treibt es auf die Straßen, und der allgemeine Impuls von
Befreiung erreicht auch die Musik.

Für Arnold Schönberg und seine Komponistenfreunde der Zweiten Wiener Schule sind
die bis dahin geltenden musikalischen Strukturen, allem voran die Tonalität,
verzichtbar geworden. Die althergebrachten Systeme empfinden sie als sinnlose
Einschränkungen – Musik sollte sich frei machen davon, entsprechend der neuen Zeit:
Die Gewissheiten des 19. Jahrhunderts haben sich ja aufgelöst, es gibt keine
einfachen Antworten und Lösungen mehr. Und deshalb eben auch keine Kadenzen...

Musik 8
M0483936-036, 1‘30
Arnold Schönberg, Am Strande
Helen Vanni, Glenn Gould

Das war „Am Strande“, komponiert von Arnold Schönberg um das Jahr 1909 auf Verse
von Rainer Maria Rilke. Die Amerikanerin Helen Vanni wurde hier, unverwechselbar,
begleitet von Glenn Gould.

Schönberg betrachtet sich übrigens selbst gar nicht als Umstürzler, und seine für viele
so erschreckend anders klingende Musik sieht er nicht als Revolution, sondern als
Evolution. Eigentlich fühlt er sich als direkten Nachkommen des von ihm so heiß
geliebten Johannes Brahms, auch dann noch, als seine Musik längst im Zwölfton-
System angekommen ist.

Im Jahr 1913 leitet Schönberg die Uraufführung eines aufsehenerregenden neuen
Werks – das gar nicht von ihm stammt, sondern von seinem Schüler Alban Berg. Die

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„Altenberg-Lieder“ sind Orchesterlieder, sie basieren auf Postkartentexten des Wiener
Kaffeehaus-Impressionisten Peter Altenberg; und das Konzert geht in die Geschichte
ein – als „Skandalkonzert 1913“ hat es sogar seinen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Aber auch wenn diese „Altenberg-Lieder“ wütenden Widerspruch provozieren, weil sie
neue, fremdartige Klangwirkungen haben und harmonisch und melodisch eine neue
Welt erobern – der Gestus dieser Musik ist und bleibt hochromantisch!
Und illustrierend: Zu Beginn des ersten Lieds scheinen wir uns in einem flirrenden
Schneetreiben zu befinden. Der Text auf Peter Altenbergs Postkarte lautet:

„Seele, wie bist du schöner, tiefer, nach Schneestürmen.
Auch du hast sie, gleich der Natur.
Und über beiden liegt noch ein trüber Hauch, wenn das Gewölk
sich schon verzog!“

Musik 9
M0483922-009, 2’50
Alban Berg, Seele, wie bist du schöner, Margaret Price, LSO, Claudio Abbado /

Margaret Price sang da eines von Alban Bergs skandalträchtigen „Altenberg-Liedern“,
Claudio Abbado leitete das London Symphony Orchestra.

Zur Zeit des sogenannten „Skandalkonzerts 1913“ hat man noch Kapazitäten, sich
über ein paar schräge Töne aufzuregen.
Eineinhalb Jahre später herrscht Krieg, der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen, und die
technischen Neuerungen, die man um die Jahrhundertwende noch staunend
bewundert hat, werden zu tödlichen Waffen: Flugzeuge können jetzt auch Bomben
werfen. Automobile werden zu Panzern. Und die Sprengstoffe, mit denen man gerade
noch den Panama-Kanal gebaut hat, jagen nun plötzlich Städte, Dörfer und Menschen
in die Luft. Eine ganze Generation junger Männer wird da für Gott und Vaterland von
ihren Liebsten getrennt, viele kommen nicht mehr zurück. 1915 schreibt der junge
Wiener Komponist Erich Wolfgang Korngold sein Lied „Gefasster Abschied“ für den
nationalen Kriegs-Hilfsfond, - später wird es Teil der Sammlung „Lieder des
Abschieds“, und die Haltung darin, dieses „wird schon nicht so schlimm werden“,
beschreibt ganz gut die allgemeine Stimmung bei Kriegsbeginn...

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Musik 10
M0029635.023, 3‘50
Erich Wolfgang Korngold, Gefasster Abschied, Dietrich Henschel, Helmut Deutsch

„Gefasster Abschied“, eines der „Vier Lieder des Abschieds“ von Erich Wolfgang
Korngold, der diesen Text beim Gelegenheitsdichter Ernst Lothar bestellt hatte, aus
dem später noch ein bedeutender Regisseur des Wiener Burgtheaters wurde.

Angefangen haben wir die Sendung heute mit Charles Ives, wie er zurück auf die Musik
des 19. Jahrhunderts blickt – und wir beenden sie auch mit Charles Ives, diesmal
allerdings mit einem Ives, der ganz klar im 20. Jahrhundert angekommen ist. „General
William Booth Enters Into Heaven“ stammt von 1914. Der Text kommt vom Midwest-
Bänkelsänger Vachel Lindsay, der es in den USA zu Berühmtheit brachte, indem er
seine eigenen Verse selbst und singend vorgetragen hat, als reisender Sänger.

Held seines Gedichts ist der flammende Methodisten-Prediger William Booth, der als
General Booth die Salvation Army, die Heilsarmee, gründete, um mit Gottes Hilfe die
Seelen von Säufern, Huren, Bettlern und anderen armen Teufeln zu retten. Mit einem
einfachen Rezept: Soup, Soap, Salvation – Suppe, Seife, Seelenheil.
William Booth ist 1912 gestorben, und Lindsays Gedicht malt nun Booths
triumphierende Ankunft vor der Himmelstür, mit allen Arten von Heiligen und Sündern
im Schlepptau. Das Gedicht spielt mit einer gewagten Sprache und schockierenden
Bildern, aber gleichzeitig ist es ein ganz klassisches Erzählgedicht im Stile Tennysons
oder Longfellows. Was allerdings Charles Ives dann daraus gemacht hat, ist...nun ja,
etwas wirklich und absolut Neues....

Musik 11
[DRA] 5014658 01-B-001, 5’04
Ives, Charles; Lindsay, Vachel General William Booth enters into heaven (Lied für
Singstimme und Klavier)    Gramm, Donald

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William Booth betritt das Himmelreich – „General William Booth enters into Heaven“
von Charles Ives aus dem Jahr 1914. Gesungen hat Bassbariton Donald Gramm, am
Klavier war Richard Cumming.

„Are you washed in the blood of the lamb?“ - Vachel Lindsays Gedicht mündet in eine
Frage. Und Fragen werfen auch die zögernden, dissonanten, geisterhaften Schritte
auf, die Ives da zum Schluss komponiert hat: Gehen sie vorwärts, oder wollen sie
lieber umkehren, zurück in die vertraute Vergangenheit. Es ist schwer, das heute zu
hören und darin nicht die Welt zu hören, wie sie damals war: Am Rande des
Zusammenbruchs, der dann auch tatsächlich eingetreten ist.
Mehr dazu in der Musikstunde morgen!

Ich bin Thomas Hampson, und das hier war ein neues Teil unserer Reihe „Das Lied
als Spiegel seiner Zeit“ in SWR2 – Expeditionen in die Kulturgeschichte mit den Augen
der Dichter und den Ohren der Komponisten, heute ging es dabei um Abschiede und
Aufbrüche auf der Schwelle vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert, um die
Welt zwischen den Stühlen im Fin de Siècle.
Danke Ihnen fürs Zuhören, und, wenn Sie mögen: Bis morgen!

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