Tanz und Walzer. Geschichte und Entwicklung eines Gesellschafts-tanzes im 19. Jahrhundert - heiBOOKS
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Tanz und Walzer. Geschichte und das Tanzschrittmaterial in seinem Umfang Entwicklung eines Gesellschafts- auf ein Bestimmtes begrenzt, ohne kom- pliziert innerhalb eines Tanzes kombiniert tanzes im 19. Jahrhundert zu werden. Andererseits ist aus den Tanz- Anastasia Eckert lehrbüchern erkennbar geworden, dass der Gesellschaftstanz durch Tanzelemente aus Tanz im 19. Jahrhundert dem Ballett eine Verfeinerung bekam, zum An der Wende von dem 18. zum 19. Jahr- Beispiel durch Pirouetten und Tanz auf hundert fanden kulturelle und soziale den Spitzen der Füße. Viele der Tanzlehr- Wandlungen statt. Die Bevölkerungszahl bücher beinhalteten einen Abschnitt über stieg und konzentrierte sich in Städten. Die die Verhaltensformen, genauso wie Be- Menschen unternahmen mehr Reisen und merkungen zu der Verwendbarkeit der gewannen an Mobilität. Dadurch, dass die Tanzlehrbücher im selbstständigen Unter- Grenzen zwischen den Gesellschafts- richt.4 schichten verschwommen, vermischten Die Komposition für den Tanz bekam sich die Gesellschaftsklassen zunehmend eine wichtige Bedeutung – sie prägte stilis- untereinander. All das beeinflusste die Lage tisch die Tanzformen und sagte die Mode- und die Erscheinungsformen des Gesell- trends an, an die sich die Tanzanhänger schaftstanzes. Der Tanz ist zum Vergnü- anpassten. Die neu entstandene Berufs- gen der Vertreter aller Gesellschaftsschich- gruppe der Tanzmusiker erhielt eine große ten geworden. Durch die steigenden An- Rolle und übernahm die Stelle von Hof- forderungen der Arbeitswelt gehörten die musikern, die sie besetzen mussten. Diese Tanzlokale zu den wenigen Gelegenheiten, Entwicklung gab es seit dem 18. Jahrhun- die Freizeit zu verbringen. Auch wenn die dert wegen des sich ausbildenden Bürger- Tanzgaststätten für alle Klassen gedacht tums. Für die Tanzmusiker gab es seither waren, waren sie einer Vorschrift unter- ausgearbeitete Regelungen bezüglich der worfen, welche jedoch mehr als Ord- Arbeit und Pausen.5 nungsprinzip diente.1 Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts Die Tanzschulen gewannen zuneh- wurde von einer Vielzahl verschiedener mend an Bedeutung. Sie wurden mehr von Tanzformen dominiert. Viele von ihnen den unteren Gesellschaftsschichten be- sind aus dem 18. Jahrhundert in unter- sucht, weil sie grundlegende Verhaltens- schiedlichen Variationen übernommen normen innerhalb der Gesellschaft unter- worden, wie die Situation von Tanzbü- richteten.2 Auch Repräsentanten aus den chern beschrieben wird, die an die aktuel- höheren Schichten hatten Hilfe in der Fra- len Modetendenzen des Repertoires der ge der Umgangsformen notwendig – vor Bälle und Tanzschulen angepasst worden allem Studenten, weil es keine Studentin- sind. Dazu zählte das Menuett, das in der nen in der Zeit gegeben hat.3 Tanzpädagogik verwendet worden ist. Es Einerseits sind die Tanzformen immer entstanden im Kontratanz Sonderformen. einfacher geworden. Beispielsweise wurde Auch die Française (französischer Kontra- tanz) brachte Sonderformen hervor.6 Aus den unterschiedlichen Formen der 1 Sibylle Dahms/Monika Woitas/Robert Atwood/ Norbert Servos/Marianne Bröcker, Art. »Tanz«, Kontratänze bildete sich während des in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, 19. Jahrhunderts die Quadrille heraus, wel- völlig neu bearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig che sich auf einige grundlegende Formen Finscher (MGG2), Sachteil 9, Kassel u. a. 1998, Sp. 228–408, hier: Sp. 285. 2 Ebd, Sp. 286. 4 Art. »Tanz«, in: MGG2, Sp. 286. 3 Vgl. den Beitrag von Felicitas Hübner in diesem 5 Ebd. Band, S. XXXIII. 6 Ebd. XXI Anastasia Eckert: Tanz und Walzer. Geschichte und Entwicklung eines Gesellschaftstanzes im 19. Jahrhundert, in: Anastasia Eckert, Felicitas Julia Hübner, Fabienne Kathrin Knittel, Rüdiger Thomsen-Fürst (Hrsg.), F. C. Kohlenberger: Valses de l’université de Heidelberg für Klavier zu zwei Händen, XXI–XXVIII. Heidelberg: heiBOOKS, 2022. DOI: https://doi.org/10.11588/heibooks.914.c13135
ECKERT beschränkte. Doch der bedeutendste Tanz dänische Mehrpaartänze durch zahlreiche im 19. Jahrhundert war der Walzer.7 Touren die Ballsäle eingenommen.11 Auch In der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- zu der Zeit pflegten die Tanzmeister, die derts wurden einige nationale Tänze im im 19. Jahrhundert aus dem professionel- europäischen Raum bekannt. Die Tanzbü- len Bühnentanz kamen, das Interesse für cher von Paul Bruno Bartholomay von den traditionellen heimatlichen Tanz und 1838, Theodor Hentschke von 1836 und seiner Geschichte.12 andere beschrieben Tänze wie beispiels- Die Tanzsachbücher von den Tanz- weise Tarantella, Bolero und Cachucha. meistern Albert Cerwinski und Rudolph Auch die aus dem 18. Jahrhundert kom- Voß gaben in der zweiten Hälfte des mende Polonaise durfte hier nicht fehlen. 19. Jahrhunderts die Richtung an für alle Ebenso der Galopp in den Formen Ga- Gesellschaftstanzmeister.13 loppade und Galoppwalzer wurde ab den Es muss die Arbeit von Albert Zorn 1820er Jahren immer populärer. Der Tanz erwähnt werden.14 Der erste Teil seiner verbreitete sich von deutschen Ländern aus Publikation ist ein Lehrbuch über die klas- in ganz Europa und blieb zusammen mit sische Tanztechnik. Als Bemerkungen dem Walzer in der zweiten Hälfte des wurden die Tanzformen hinzugefügt zum 19. Jahrhunderts aktuell. Eine entspre- Beispiel zu: Walzer, Zweischrittwalzer, chende Situation hatte die populäre Polka, Dreischrittwalzer, Wiener Walzer, Russi- die zu einem Modetanz geworden ist. Sie scher Walzer, Ungarischer Walzer, Ga- ist sowohl in deutschen Ländern als auch loppwalzer, Rheinländer und Mazurka.15 in Skandinavien berühmt geworden.8 Im Jahr 1807 hatte Friedrich Hofmeis- Die Sachbücher über Tänze aus der ter ein eigenes Musikaliengeschäft mit Mu- Zeit zwischen 1789 und 1848 zeigten mehr sikalienleihhandel in Leipzig gegründet, das Interesse gegenüber den National- und in demselben Jahr mit Verlagspublikatio- Volkstänzen der verschiedenen europäi- nen hervorgetreten ist. Unter seinen Publi- schen Länder wie Polen, Italien, Spanien kationen gab es viele Tänze. Beispielsweise und Ungarn, als es bisher die früheren erscheint im Jahr 1823 von den Meyer- deutschsprachigen Lehrbücher getan hat- Tänzen eine Nachauflage von 100 Exemp- ten. Im Zentrum stand der Walzer, der an laren. Die Tänze von Gustav Köhler waren die Stelle des Menuetts als Modetanz getre- mit 500 Exemplaren im Januar 1817 auf ten ist.9 dem Markt vertreten.16 Die aus englischen Country-Tänzen Die Autoren, die über den Walzer in entstandene Quadrille ist zu einem der der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts populärsten Tänze geworden.10 In der Zeit zwischen 1848 und dem 11 Ebd., S. 39. Beginn des Ersten Weltkrieges ab 1914 12 Ebd. hatten neben den genannten Gesellschafts- 13 Ebd., S. 50. tänzen einschließlich der Rheinländer 14 Vgl. Friedrich Albert Zorn, Grammatik der Tanz- (Rheinische oder auch Bayerische Polka), kunst, Leipzig 1887. 15 Petermann, »Die deutschsprachigen Tanzlehrbü- Polka-Mazurka vor allem französische und cher«, S. 51. 16 Thomas Synofzik, »Die Druckbücher des Verlags 7 Ebd., Sp. 287. Hofmeister. Eine Fallstudie zu Repertoire, Paral- 8 Ebd., Sp. 289. lelausgaben, Auflagenzahlen und Honoraren am 9 Kurt Petermann, »Die deutschsprachigen Tanz- Beispiel von Schumann, Liszt und Mendelssohn«, lehrbücher des 18. und 19. Jahrhunderts als Quel- in: Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. le für den Volkstanz«, in: Festschrift für Karl Horak, und 20. Jahrhundert. Verlage, Konservatorien, Salons, hg. von Manfred Schneider, Innsbruck 1980, Vereine, Konzerte, hg. von Stefan Keym und Katrin S. 35–54, hier: S. 38. Stöck (= Musik-Stadt 3), Leipzig 2011, S. 12–27, 10 Ebd., S. 39. hier: S. 12–13. XXII
TANZ UND WALZER mehr geschrieben haben, waren auch für Volkstümliche Drehtänze sind im andere Volkstänze offen, wodurch diese in deutschsprachigen Raum seit dem 15. und die Literatur Eingang gefunden haben. So 16. Jahrhundert bekannt. Es hat Spinner, beschrieb der Gießener Tanzlehrer Paul Dreher und Weller gegeben, die durch ihre Bruno Bartholomay nach der Ballett- Drehbewegungen bildlich überliefert wor- Terminologie außer dem Walzer und Trio- den sind und deshalb zu den Vorläufern lett-Walzer auch ausländische Tänze, bei- des Walzers gezählt werden können.19 spielsweise Mazurka und Guaracha.17 Am Anfang des 18. Jahrhunderts brei- tete sich der Walzer bis nach England Der Walzer im 19. Jahrhundert aus.20 Im 19. Jahrhundert ist der Walzer Der Walzer entstand im 18. Jahrhundert. einer von den Modetänzen geworden, zu Dennoch ist er heute als einer der am wei- denen Deutscher und Ländler gehört ha- testen verbreiteten Gesellschaftstänze be- ben.21 kannt. Als Volks- und Gesellschaftstanz In den Sachbüchern über Tänze aus wurde er in vielen Ländern sowohl in klei- den Jahren zwischen 1814 und 1848 wurde nen Kreisen als auch bei öffentlichen der Walzer zum »Nationaltanz der Deut- Tanzveranstaltungen und Tanzturnieren schen« erklärt. Er wurde gemäß der traditi- getanzt. Der Walzer erschien mindestens in onellen Überlieferung getanzt. Diese war in zwei Formen: Der sogenannte Wiener den Schriften der damals fortschrittlichen Walzer und English-Waltz war mit dem Tanzmeister akzeptiert. Viele Tanzmeister Tempo Mälzels Metronom Viertel von hatten eine Abneigung dem Walzer gegen- etwa 180 beziehungsweise 90 Schlägen pro über, weil er das Menuett aus den bürgerli- Minute vertreten. Das Tanzpaar machte chen und höfischen Ballsälen verdrängt eine Drehung in enger Haltung um die hat.22 eigene Achse mit je einem betonten und zwei angedeuteten Folgeschritten zu zwei Aufgrund der ähnlichen Armhaltung Takten der Musik im Dreiertakt, bewegte bei Walzer und der Allemande wurde der sich zur selben Zeit nach vorne und um- Walzer mit dem Deutschen und dem rundete auf diese Weise den Tanzplatz Ländler in eine Reihe gestellt. Die unklare nach rechts. Auf den Bewegungsablauf ist Herkunft des Walzers wird auch aus den der Name des Tanzes offensichtlich zu- Tanzlehrbüchern des 19. Jahrhunderts rückzuführen. Die zwei deutschen Verben ersichtlich. Diese beschrieben unterschied- liche Walzerformen wie Schwäbischer, »walzen« und »(sich) wälzen« kommen von Deutscher, Französischer Walzer, Tyroler dem Hauptwort »Walze« – ein zylinder- Triller oder Ländler, Steyrischer und insbe- förmiger Körper und als Folge eine dre- sondere Wiener Walzer oder Wiener hende oder rollende (Fort-)Bewegung. Aus Rauschwalzer.23 dem deutschen Wort »Walzer« wurden die Lehn- und Fremdwörter aus anderen Spra- Durch die Tatsache, dass der Walzer chen (engl. waltz, frz. valse, span. vals, sehr berühmt geworden ist, sind viele Stili- serbokroatisch valcer) hergeleitet. Aus die- sierungen entstanden. Der Tanzmeister sem Grund wird der deutsche – vor allem Julius Kurth aus Thüringen führte in sei- der österreichisch-bajuwarische – Raum als nem Buch von 1854 sechs Walzerarten auf: Heimat des Walzers angesehen.18 19 Ebd., Sp. 1873–1874. 20 Rudolf Braun/David Gugerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 17 Petermann, »Die deutschsprachigen Tanzlehrbü- 1550–1914, München 1993, S. 207. cher«, S. 49. 21 Flotzinger, Art. »Walzer«, Sp. 1886. 18 Rudolf Flotzinger, Art. »Walzer«, in: MGG2, 22 Petermann, »Die deutschsprachigen Tanzlehrbü- Sachteil 9, Kassel u. a. 1998, Sp. 1873–1896, hier: cher«, S. 49. Sp. 1873. 23 Art. »Tanz«, in: MGG2, Sp. 288. XXIII
ECKERT Der langsame Walzer (3/4-Takt), der den Höfen mit Johann Strauss und seinen Ländler-Walzer (3/4-Takt), der Wiener- Söhnen.27 Erst mit Vater Johann Strauss oder Raschwalzer (3/8-Takt), der Russi- begann die Ära des Wiener Walzers. Zu sche Walzer (2/4-Takt), der Wechselwalzer seinen bekannten Walzern gehörten bei- mit zwei Damen (auch valse d’trois) (3/4- spielsweise die Hofballtänze (Op. 51), die Takt) und der Marschwalzer (3/4- und Alexandra-Walzer (Op. 56) – um 1832 ver- 4/4-Takt).24 öffentlicht. Die späteren populären Walzer In dieser Zeit ist das Galoppieren als waren Victoria-Walzer, Cäcilien-Walzer, Me- modisches neues Element in die Ballsäle phisto’s Höllenrufe, Elektrische Funken und gekommen. Die Tanzmeister nahmen die- Bajaderen.28 ses Element als Mode wahr, wendeten sich Nach dem Vater wurde sein ältester jedoch in der Praxis dagegen, weil die Sohn Johann Strauss der Wiener Walzer- Neuerungen für die Tanzschüler unge- könig. Dieser übertraf Johann Strauss (Va- wohnt und schwer ausführbar wären. Der ter) in der Kunstfertigkeit des Walzers. Zu Universitätslehrer Armint Freising aus Ber- seinen beliebtesten Walzern zählten zum lin forderte im Jahr 1885, 40 Jahre nach Beispiel: An der schönen blauen Donau, Kunst- Kurths Buch, alle Tanzmeister auf, die leben, Morgenblätter, Geschichten aus dem Wiener neuen Tanzelemente sowohl in den Unter- Wald und Wiener Blut. Er reiste nicht nur richtsstunden als auch in den Tanzsälen durch die Großstädte von Österreich, son- aus den genannten Gründen zu verbieten. dern ist zu einem angesehenen Gast in Aus diesen Umständen wird es nicht klar, Berlin, London, Paris, Sankt Petersburg ob es sich bei »Galoppieren« um eine mo- und in Amerika geworden. Nachdem er im dische Neuerung handelte. Denn modische Jahr 1863 heiratete, übergab er seine Tanz- Neuerungen haben sich nicht lange gehal- kapelle seinen Brüdern Joseph und Edu- ten und sind sehr schnell vergessen wor- ard, von denen nur Eduard komponierte, den.25 dirigierte und reiste.29 Während des Wiener Kongresses von Der Walzer ist populär geworden 1814 ist auch Walzer getanzt worden, als durch seine befreiende Art von allen Tanz- die Politiker in Wien zusammenkamen, um vorschriften, die von der freien Bewegung die politische Neuordnung Europas nach der Tanzpaare abgelöst worden sind: Die der Niederlage Napoleons zu besprechen. drehende Bewegung des Tanzpaares umei- Damit etablierte sich der Walzer auch in nander als auch insgesamt der Tanzpaare den höchsten Gesellschaftskreisen. Und um den Tanzsaal rückte in den Vorder- von hier aus gelangte er durch die teilneh- grund.30 menden Politiker nach ganz Europa. In Der Walzer ist ein Schritt in Richtung Wien ist es dadurch dazu gekommen, dass sozialer Gleichheit geworden. Wenn früher der Walzer in alle Gesellschaftsbereiche das Tanzverhalten die Zugehörigkeit zu eindrang, die häuslichen und öffentlichen einem Stand zum Ausdruck gebracht hat, Tanzveranstaltungen miteingeschlossen.26 so tanzen im Walzer alle Klassen der in- Der Tanz gewann ständig an Populari- tät. Er wurde zu dem Konzertwalzer zum Beispiel bei Schubert, Chopin, Liszt, Brahms, 27 Henning Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwin- digkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des u. a. Der Walzer wurde von allen über- 18./19. Jahrhunderts (= Stuttgarter Beiträge zur Ge- nommen – von der Unterschicht bis zu schichte und Politik 12), Stuttgart 1978, S. 189. 28 Franz Magnus Böhme, Geschichte des Tanzes in Deutschland. Darstellender Theil, Leipzig 1886, 24 Petermann, »Die deutschsprachigen Tanzlehrbü- S. 270. cher«, S. 49. 29 Ebd, S. 274. 25 Ebd. 30 Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit, 26 Flotzinger, Art. »Walzer«, Sp. 1882. S. 189. XXIV
TANZ UND WALZER dustriellen Gesellschaft dieselbe Tanzfigu- sierung, denn es wurden volkstümliche ration. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab Musikstücke ungeraden Taktes gewählt. es Versuche, das Menuett und die Quadril- Aufgrund dessen waren sie schwer tanzbar. le als ständespezifische Tänze wieder ein- Auf diese Weise markierten sie den Schluss zuführen, welche jedoch scheiterten.31 des Tanzes und forderten alle auf, nur die Eine große Anzahl lokaler und natio- Musik zu hören. Dadurch ist auch das naler Formen und Varianten des Walzers kompositorische Element hervorgehoben wurden in diesen Büchern detailliert darge- worden.34 stellt.32 Ab etwa 1800 wurde eine Coda selbst- verständlich. Doch der Walzer kam erst Formentwicklung jetzt in den Druck – davor ist der Ländler Aufgrund der unterschiedlichen Besetzun- normalerweise gedruckt worden.35 gen sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts Am Anfang des 19. Jahrhunderts hat verschiedene Variationen der Werke her- der Walzer einen kurzen Einleitungsteil ausgegeben worden. In der Regel wurden und eine lange Coda bekommen. Durch zwei bis drei Fassungen herausgebracht den Einsatz des Walzers in der Oper haben zum Beispiel für Streichtrio, größeres En- sich die Längenproportionen der einzelnen semble, Klavier, später auch Gitarre. Meis- Tanzsätze, der Introduktion und der Coda tens gab es Klavierversionen. Tänze der verschoben. Das Rahmenprinzip hatte sich gleichen Art zusammen zu bündeln in jedoch nicht verfestigt.36 sechs oder zwölf Tänze kam aus der Tradi- Die Gegenüberstellung von der Intro- tion der Tanzmusiker. Das hatte mit der duktion und der Coda war zunächst nicht gewollten Vielfalt der Besetzung zu tun relevant, auch wenn das Kompositions- und war beispielsweise bei Menuetten er- prinzip der Rahmenbildung im sichtlich. Von den Menuetten kommt die 18. Jahrhundert bekannt gewesen ist. Es ist Praxis, die Deutschen mit Trios zu verse- möglich, dass das mit der Länge der Rei- hen. Weil diese Trios besonders volkstüm- hen und/oder einzelnen Teilen zu tun hat. lich gehalten wurden, war es möglich, die Denn die Coda hatte ihre Anzahl erhöht.37 Redout-Deutschen auf die traditionelle Art zu tanzen: und zwar zweiteilig – Rundtanz Die Walzer wurden wegen ihrer und Umgang im Wechsel. Auf die Choreo- schneller werdenden Tempi öfter zu sechs als zu zwölf Stücke zusammengebündelt.38 grafie bezieht sich die gängige Periodisie- rung der Musik in achttaktige Reprisen. Es Die Einleitung, die aus wenigen Tak- bleibt die Frage, ob einzelne Tänze aus ten besteht, diente zuerst als Überleitung zwei oder drei Perioden bestehen.33 zu einem Tanz. Dabei wurden unterschied- liche Motive verwendet, die den nachfol- Die zweite Periode hatte den Bezug zu genden Tanz charakterisierten. Die frühes- der ersten Periode eines Tanzes entweder ten geläufigen Tanzsammlungen mit Intro- durch die Dominante oder als Variation duktion und Coda sind von Johann Baptist und eine Dritte diente als Verlänge- Schiedermayr. Er hatte eine enge Verbin- rung/Erweiterung – Beeinflussung aus dung zu Tanzmusikern aus Oberösterreich. dem Trio! Wenig später wurde es üblich, Schiedermayr schrieb in seinen Tanzsamm- derartige Ketten gleichartiger oder unter- lungen vor, dass man die Anzahl der Tänze schiedlicher Tänze mit einer Coda abzu- verringern muss, um die Funktion des schließen. Das geht in Richtung der Stili- 34 Ebd., Sp. 1884. 31 Ebd., S. 200. 35 Ebd., Sp. 1885. 32 Petermann, »Die deutschsprachigen Tanzlehrbü- 36 Ebd., Sp. 1885–1886. cher«, S. 38. 37 Ebd., Sp. 1885. 33 Flotzinger, Art. »Walzer«, Sp. 1883. 38 Ebd., Sp. 1886. XXV
ECKERT Rahmens hervorzuheben. Genauso wies Stilisierungen Schubert auf die Introduktion in seinen Im 19. Jahrhundert entstanden viele ver- Werksammlungen hin. Die Coda hat er schiedene Formen des Walzers.42 nicht mehr komponiert, hat sie jedoch improvisiert. In den ersten 30 Jahren des Seit der ersten Jahrhunderthälfte wur- 19. Jahrhunderts enthielten Zyklen von de der Walzer in das Ballett und die Oper Deutschen und Ländler öfter die Introduk- integriert. Damit wurde gesellschaftliches tion und Coda als Walzer. Demzufolge ist Milieu, Lebensgefühl oder Tanz an sich die Rahmenbildung von dort entlehnt ausgedrückt.43 worden. Besondere Aufmerksamkeit im Es fand eine Wechselwirkung zwi- Hinblick auf den Walzer schenkte Carl schen den Gattungen und der entstande- Maria von Weber in seinem Rondo brilliant nen Fragestellung der »hohen« und der Aufforderung zum Tanz von 1819.39 »Volks«-Kunst oder »Funktion« und Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm »Kunst« statt. Dadurch wurde der Aspekt Johann Strauss Vater mehr Einfluss auf des »Modernen« miteinbezogen.44 den Aufbau des Wiener Walzers. Die kur- In der ersten Hälfte des 19. Jahr- zen und fanfarenartigen Einleitungen wur- hunderts ist Wien zu dem Zentrum der den länger. Und als Gegenstück zu diesen Pflege des Walzers geworden. Diese Aus- wurde auch die Coda breiter angelegt. Sie einandersetzung mit dem Walzer ging so brachte die Hauptthemen des Walzers weit, dass die Stadt ab etwa 1860 mit Paris noch einmal. Die eingeschlossene Walzer- um den Ruf der »Hauptstadt der Musik« folge, die ursprünglich aus voneinander konkurrierte. Auch in der Frage der Natio- unabhängigen Melodien bestand, ver- nalidentität spielte der Walzer eine große schmolz mehr zu einer selbstständigen Rolle. Außerdem half der Walzer, wenigs- Einheit. Dabei entwickelte sich das nächste tens für eine bestimmte Zeit, die Grenzen Thema aus dem Vorherigen. Diese Tatsa- der Gesellschaft aufzuheben. Der Walzer che hat dazu geführt, dass man weniger wurde in Österreich dermaßen berühmt, von der Pluralform »die« Walzer gespro- dass er zu einer zweiten inoffiziellen chen hat und öfter den Singular »der« Wal- »Hymne« des Landes geworden ist, weil zer sagte.40 sich die Österreicher mit seiner Hilfe als Neben der zyklischen Entwicklung gab solche wahrnehmen und identifizieren es seit ihrem Beginn eine zweite Entwick- konnten.45 lungslinie – die Verbreitung der Einzeltän- Exkurs »Klavierwalzer« ze. Es kam zu einer Stilisierung wegen der Entdeckung kleiner Formen wie zum Bei- In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spiel Nocturne und Romanze. Auch wenn wurde eine Vielfalt von neuen Klangfar- mehrere Tänze in einem Sammelband er- ben, Figurationen als Spielfiguren und Me- schienen, so waren diese dermaßen unter- lodienseligkeit des Klaviers beispielsweise schiedlich, dass man von einer Zyklusbil- in der Einstellung in eine bestimmte Ton- dung nicht sprechen konnte – eine Zyklus- art, Gegebenheiten der musikalischen Lyrik bildung in den Sammelbänden wurde nicht und Dramatik entdeckt. Außerdem war das angestrebt.41 Klavier in jedem Raum präsent, was den Komponisten ermöglichte, eigene neue Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren. 39 Flotzinger, Art. »Walzer«, Sp. 1886. 40 Peter Kemp, Die Familie Strauß. Geschichte einer Musikerdynastie, Stuttgart 1987, S. 25–26; In dieser 42 Eichberg, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit, Arbeit wird die Pluralform verwendet, weil es S. 191. mehrere Walzer innerhalb eines Walzerzyklus 43 Flotzinger, Art. »Walzer«, Sp. 1893. sind. 44 Ebd., Sp. 1894. 41 Flotzinger, Art. »Walzer«, Sp. 1887. 45 Ebd. XXVI
TANZ UND WALZER Im Gegensatz dazu kann ein Orchester vierwalzers. Die Entwicklung des lyrischen kein neues Musikstück spontan ausführen. Klavierstückes ist den tschechischen Das war die Zeit des aufstrebenden Kla- Komponisten Johann Hugo Worzischek viervirtuosentums.46 und Wenzel Tomaschek zu verdanken. Es Schubert wurde als »Ahnherr des Kla- ist anzunehmen, dass Schubert ihre Kom- vierwalzers« angesehen, weil er den Walzer positionen für den Tanz aus ihrer Volks- aufgegriffen und entscheidend geprägt hat: musik gehört haben muss. Denn Schubert Er entwickelte aus dem Walzer zwei Werk- schrieb stilistisch ähnliche Tänze.49 typen – den extravertierten »Valse noble« Das mäßig schnelle Tempo des Wal- und den lyrisch-introvertierten »Valse sen- zers der Schubertschen Tänze ist auf das timentale«.47 von ihm bevorzugte Musikinstrument, das Aus in den Werken Beethovens einge- Klavier, zurückzuführen. Jedoch ist die streuten Walzerminiaturen entstanden die Violine für das schnelle Tempo – das Wie- ersten Klavierwalzer par excellence, zum nerische – verantwortlich.50 Innerhalb der Beispiel die Klavierwalzer in D-Dur und Walzerketten sind die einzelnen Klavier- Es-Dur (WoO 84 und 85). Schon walzer austauschbar.51 Das grundlegende Beethoven verwendete den Titel »Walzer« Problem des Klavierwalzers bei Schubert statt »Deutscher«.48 ist es, den Klang der Violine in die Kla- viermusik zu übertragen.52 Denn wie Eine genauso bedeutende Rolle spiel- Nietzsche behauptete, es sei die »Geburt ten die Deutschen Tänze Op. 28 von Johann des Walzers aus dem Geist der Violine«. Nepomuk Hummel. Darin verwendete Der Klang der Violine ist das Kennzeichen Hummel den für Schubert wichtigen »Val- des Wiener Walzers. Trotz dieser Tatsache se-Noble-Rhythmus«. Grundsätzlich beein- gibt es stilistische Gemeinsamkeiten zwi- flusste Hummel den Konzertwalzer sehr schen Klavier- und Orchesterwalzer.53 stark. Der Walzer Gral zum Gruß ist außer Carl Maria von Webers Aufforderung von 1819 der einzige Nachweis des frühen Kla- 46 Gerhard Puchelt, Verlorene Klänge. Studien zur deutschen Klaviermusik 1830-1880, Berlin- Lichterfelde 1969, S. 7–8. 49 Ebd., S. 15. 47 Alfred Stenger, Studien zur Geschichte des Klavierwal- 50 Ebd., S. 26. zers (= Europäische Hochschulschriften, 1), Frankfurt 51 Ebd., S. 30–31. am Main, Bern, Las Vegas 1978, S. 11. 52 Ebd., S. 144. 48 Ebd., S. 14. 53 Ebd., S. 145. XXVII
ECKERT Literatur Thomas Nussbaumer und Franz Gratl (= Schriften zur musikalischen Ethnologie 3), Art. »Tanz«, in: Die Musik in Geschichte und Innsbruck 2014, S. 117–124. Gegenwart, zweite, völlig neu bearbeitete Kemp, Peter: Die Familie Strauß. Geschichte Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher einer Musikerdynastie, Stuttgart 1987. (MGG2), Sachteil 9, Kassel u. a. 1998, Petermann, Kurt: »Die deutschsprachigen Sp. 228–408 (Sibylle Dahms, Monika Tanzlehrbücher des 18. und 19. Jahr- Woitas, Robert Atwood, Norbert Ser- hunderts als Quelle für den Volkstanz«, vos, Marianne Bröcker). in: Festschrift für Karl Horak, hg. von Art. »Walzer«, in: MGG2, Sachteil 9, Kassel Manfred Schneider, Innsbruck 1980, u. a. 1998, Sp. 1873–1896 (Rudolf S. 35–54. Flotzinger). Puchelt, Gerhard: Verlorene Klänge. Studien Art. »Dance«, in: Grove Music Online, Oxford zur deutschen Klaviermusik 1830–1880, Ber- Music Online, https://doi-org. lin-Lichterfelde 1969. ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/10. 1093/ Schmidt, Else: »Walzerformen in der öster- gmo/9781561592630.article.45795, reichischen Volkstanzpflege«, in: Zur zugegriffen am 02.11.2018 (Julia Sutton, Frühgeschichte des Walzers (= Schriften zur E. Kerr Borthwick, Ingrid Brainard, musikalischen Ethnologie 3), hg. v. Thomas Jennifer Nevile, Rebecca Harris-Warrick, Nussbaumer und Franz Gratl, Innsbruck Andrew Lamb, Helen Thomas). 2014, S. 99–116. Art. »Waltz(i)«, in: Grove Music Online, Stenger, Alfred: Studien des Klavierwalzers Oxford Music Online (Andrew Lamb) (= Europäische Hochschulschriften 36; Mu- https://doi.org/10.1093/gmo/9781561 sikwissenschaft 1), Frankfurt am Main 592630.article.29881, zugegriffen am 1978. 02.11.2018. Synofzik, Thomas: »Die Druckbücher des Böhme, Franz Magnus: Geschichte des Tanzes Verlags Hofmeister. Eine Fallstudie zu in Deutschland. Beitrag zur deutschen Sitten-, Repertoire, Parallelausgaben, Auflagen- Literatur- und Musikgeschichte. Dach den zahlen und Honoraren am Beispiel von Quellen zum erstenmal bearbeitet und mit alten Schumann, Liszt und Mendelssohn«, in: Tanzliedern und Musikproben, 1. Darstellen- Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten der Teil, Leipzig 1886. im 19. und 20. Jahrhundert. Verlage, Konser- Braun, Rudolf / Gugerli, David: Macht des vatorien, Salons, Vereine, Konzerte, hg. v. Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Stefan Keym und Katrin Stöck, (= Be- Herrschaftszeremoniell 1550–1914, Mün- richt über den XIV. Internationalen Kongress chen 1993. der Gesellschaft für Musikforschung vom 28. Eichberg, Henning: Leistung, Spannung, Ge- September bis 3. Oktober 2008 am Institut für schwindigkeit, Sport und Tanz im gesellschaftli- Musikwissenschaft der Universität Leipzig 3), chen Wandel des 18./19. Jahrhunderts Leipzig 2011, S. 12–27. (= Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Po- Witzmann, Reingard: »Magie der Drehung litik 12), Stuttgart 1978. – Zum Phänomen des Wiener Walzers Endler, Franz: Das Walzer-Buch. Johann von der Aufklärung zum Biedermeier«, Strauß: Die Wiener Aufforderung zum Tanz, in: Zur Frühgeschichte des Walzers (= Schrif- Wien 1975. ten zur musikalischen Ethnologie 3), hg. v. Thomas Nussbaumer und Franz Gratl, Fink, Monika: »Verrufen – verfemt – ver- Innsbruck 2014, S. 9–32. ehrt. Zur sozialen Stellung des Walzers aus der Sicht des Tanzmeisters«, in: Zur Zorn, Friedrich Albert, Grammatik der Frühgeschichte des Walzers, hg. von Tanzkunst, Leipzig 1887. XXVIII
F. C. Kohlenberger, VALSES de l'université de Heidelberg pour le PIANO FORTE, [o. O.] Selbstverlag [um 1840] Privatbesitz XXIX
Sie können auch lesen