Taraf de Haïdouks unterm Kronleuchter - Norient

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Taraf de Haïdouks unterm Kronleuchter - Norient
Taraf de Haïdouks unterm Kronleuchter | norient.com                     4 Jun 2022 21:41:29

    Taraf de Haïdouks unterm
    Kronleuchter
    by Theresa Beyer

    Taraf de Haïdouks, die musikalische Familiendynastie aus
    dem Dorf Clejani südlich von Bukarest, wurde nach allen
    Regeln des Weltmusik-Marktes zum Inbegriff rumänischer
    Roma-Musik. Am Samstagabend trat die Band bei der «Nacht
    der Musik» im Berner Kulturcasino auf. Die Einbettung in den
    klassischen Konzertkontext, die überholte Suche nach dem
    vermeintlich «Echten» in der Musik des Ostens und der
    Zusammenprall der Welten gaben allerlei zu denken.
    1989, Clejani, ein 3000-Seelen-Dorf südlich von Bukarest: Aus einem Haus
    tönen schnelle Rhythmen und improvisierte Melodien, der Boden knarrt unter
    den Füssen der Tänzer. Schon 30 Stunden dauert das wilde Hochzeitsfest
    des jungen rumänischen Paars – die Lăutari (= traditionelle Romamusiker)
    haben Geige, Zymbal, Bass, Akkordeon und Flöte höchstens für das
    Anzünden einer Zigarette aus den Händen gelegt.

    Nicht mal zwei Dekaden später: Über fünf Millionen Aufrufe haben die zwölf
    Männer der musikalischen Familiendynastie auf YouTube; unter dem Namen
    Taraf de Haïdouks musizieren sie nun in Filmen mit Johnny Depp und halten

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    awardgekrönt Einzug in klassische Konzertsäle, wie am 16. Juni 2012 in das
    Berner Kulturcasino.

    Vermeintliche Botschafter der Roma-Musik
    Was ist in der Zwischenzeit passiert? Nach dem Zusammenbruch des
    Kommunismus reisten der Schweizer Musikethnologe Laurent Aubert und die
    belgischen Musiker Stéphane Karo und Michel Winter nach Rumänien. Karo
    erinnert sich, wie er das erste mal die Taraf aus Clejani hörte: «Ich kam in
    dieses abgelegene Dorf und wurde von den Musikern eingeladen, sie waren
    stolz vor ausländischen Gästen spielen zu können.» 1991, lange vor Ry
    Cooders Buena Vista Social Club, holten die beiden zukünftigen Manager das
    Mehrgenerationen-Ensemble in ein belgisches Studio und nahmen mit ihnen
    das Album Musiques de Tziganes de Roumanie auf. Perfekt erfüllte es die
    Kriterien der wenige Jahre zuvor konstruierten Kategorie «World Music» und
    klinkte sich innerhalb kürzester Zeit in die Weltmusik-Charts ein. Mit
    westlichem Augenmass wurde so die in Rumänien kaum bekannte Taraf de
    Haïdouks zum Inbegriff der überaus komplexen Musikkultur der Roma.

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    Das westliche Interesse für die Truppe aus Clejani ist jedoch älter: Schon in
    der Zwischenkriegszeit hatten Musikethnologen von der dortigen, besonders
    reichhaltigen Musikkultur gehört und reisten regelmässig zu Feldforschungen
    in das kleine Dorf. Eine überregionale Sichtbarkeit der Lăutari liess sich aber
    später nicht mit dem kommunistischen Regime vereinen: Im Ostblock war
    das Wanderleben der Roma verboten, sie mussten christliche Namen
    annehmen und ihre Musik wurde stark reglementiert.

    Neue Hierarchien
    Nimmt man die postkommunistische Geschichte der traditionsreichen Band
    unter die Lupe, offenbaren sich ganz neue Abhängigkeitsverhältnisse. Nun ist
    es nicht mehr das Ceaușescu-Regime, sondern es sind die Manager aus
    Belgien, die entscheiden, wie rumänische Musik zu sein hat. Ins Weltmusik-
    Image passen muss zum einen der Verweis auf den Ursprung: Und so wird
    fleissig erzählt vom langen Weg der Roma von Indien in den Iran über die
    Türkei nach Europa vor über 1000 Jahren. Bewusst sind sich die Musiker,
    welche Sehnsüchte sie damit in Westeuropa und Nordamerika wecken. So
    begründete der Violinist Caliu in einem Interview der BBC: «Da Roma-Musik
    nicht so fremd klingt, erinnert sie die westlichen Hörer an eine verlorene
    musikalische Tradition. Vielleicht haben sie sich ja auch von den grossen
    Stars auf ihren Konzertbühnen entfremdet. Wir sind ganz normale Leute, die
    eben Musik machen.»

    Kunstmusik vs. traditionelle Musik

    Wohl eine ähnliche Motivation wird hinter der Einladung des Chefdirigenten
    des Berner Sinfonieorchesters Mario Venzago stecken. Er kreierte für das
    diesjährige Saisonfinale im Rahmen der leichtfüssig angelegten «Nacht der
    Musik» einen Konzertabend unter dem Motto «All‘Ungharese» (so genau
    muss man es ja auch nicht nehmen mit den kulturellen Räumen und
    musikalischen Traditionen im Osten). Der Aufführung von Kunstmusik mit
    Bezug zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn folgten ganz unvermittelt die
    «verwegenen Rhythmen und herzzerreissenden Melodien» (vgl. Pressetext)
    der Taraf de Haïdouks.

    Das «Hohe» und das «Echte»

    Die vom BSO gespielten Stücke, unter anderem Dopplers «Ungarische
    Phantasie», Liszts «Ungarische Rhapsodie» und Bergs «Wozzeck»
    kommentierte Venzago höchstpersönlich – ausgesprochen ausführlich
    versteht sich. Den dritten Teil hingegen leitete er lediglich mit den Worten
    ein: «Was wir als nächstes hören, ist die echte Zigeunermusik». Schliesslich
    geht es hier ja um die pure Lebensfreude – und die hat eben weder Namen
    noch Geschichte. Ist dies bloss eine Bildungslücke oder vielmehr
    Bildungshochmut?

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    Für mangelndes Fingerspitzengefühl der Gastgeber sprachen auch die
    akustischen Bedingungen, unter denen die Taraf spielten. Mit der Lautstärke
    moderner Instrumente für die Orchesterbühne konnten das für intime Räume
    gedachte Akkordeon, das Zymbal, der Kontrabass, die Geigen und Flöten der
    Haïdouks nicht mithalten. Auch die Installation von nur zwei Mikrofonen für
    Flöte, Geige und Gesang schien von dem Kunstmusik-Klangideal eines
    Solisten im Vordergrund und eines Orchesters im Hintergrund auszugehen.

    Akkordeonist Marin Manole «Marius» (Kurzinterview nach dem Konzert):

              «Wir spielen balkanische Musik, Musik der Zigeuner,
              bulgarische Musik, Musik von überall her. Sinfonische
              Musik wie heute Abend sind wir nicht gewöhnt zu
              spielen.»

              Gheorghe Anghel: «Für uns sind die ernsten Leute, die auf
              ihren Stühlen sitzen bleiben, Leute welche die Musik
              wertschätzen, die sehr aufmerksam zuhören. Aber
              irgendwie ist es auch schade, dass sie sitzen bleiben. Seit
              über 10 Jahren haben wir immer wieder Publikum, das
              zum Tanzen aufspringt. Manchmal beobachte ich aber
              auch Leute, die einfach einschlafen...»

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    Aber nicht nur akustisch war der Raum inkompatibel: Im hochritualisierten
    westlichen Konzertkontext wurde eine traditionelle Band ausgestellt, die mit
    ihrem scheinbar unverdorbenen Charakter einen diffusen «Osten»
    repräsentieren sollte. Nie tiefer war an diesem Abend der Graben zwischen
    Bühne und Publikum – vom 13/8-Takt überfordert sassen die Zuhörer 50
    aufwärts an den runden Tischen mit den weissen Tischdecken und nippten
    stumm am Sektglas.

    Was geht hier vor sich?

    Das Wechselverhältnis zwischen Kunstmusik und traditioneller Musik wurde
    in den 1920ern mit der «Theorie vom gesunkenen Kulturgut» beschrieben.
    Aus evolutionistischer Sichtweise ging der deutsche Volkskundler Hans
    Naumann davon aus, dass die «Oberschicht» Kulturgut erfände, was von der
    «Unterschicht» übernommen und «popularisiert» werde. Die Theorie stützt
    sich auf eine Hierachie, welche der Volkskultur innovative Fähigkeiten
    abspricht. Bei den Taraf de Haïdouks im Berner Kulturcasino ist eine
    umgekehrte und nicht weniger problematische Dynamik zu beobachten: die
    «Hochkultur» verhilft dem nach eigenen Massstäben definierten «Populären»
    zum Aufstieg. Doch das Programm der «Nacht der Musik» lässt sich kaum als
    ironische Absage an die Innovationskraft der Oberschicht verstehen, sondern
    soll wohl vielmehr lebendiges Zeugnis der Musikstile sein, denen «unsere»
    Kunstmusikomponisten einst ihre Klangvorstellungen vom «Osten»
    entlehnten. Doch hinter dieser Gegenüberstellung lauert sie schon wieder, die
    Idee einer angeblich zeitlosen, statischen «Volksmusik».

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    Beim Konzert im Kulturcasino blieb die Zwei-Schichten-Welt getrennt –
    zumindest bis Mitternacht. Dann stiegen die rumänischen Musiker von der
    Bühne und mischten sich in die stehende, klatschende Menge im hinteren
    Teil des Saals. Im pompösen Raum liessen sie ihre eigene kleinere Welt
    entstehen und wirkten im Gewühle sichtlich erleichtert. Als Befreiung diente
    schliesslich die leise Melodie, welche der erschöpfte Akkordeonist Marius
    vorm Betreten des Tourbusses anstimmte – in Vorfreude auf den lang
    ersehnten Feierabendschnaps.

    → Published on June 18, 2012

    → Last updated on October 08, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

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