Un/doing age: Multiperspektivität als Potential einer intersektionalen Betrachtung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen - De Gruyter

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Zeitschrift für Soziologie 2021; 50(1): 42–57

Grit Höppner* und Anna Wanka*

un/doing age: Multiperspektivität als
Potential einer intersektionalen Betrachtung von
Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen
un/doing age: The Potential of Multi-Perspectivity
for an Intersectional Analysis of Social Differences
and Social Inequalities
https://doi.org/10.1515/zfsoz-2021-0005                          social inequalities adopt predominantly intersectional
                                                                 approaches. Criticism of such approaches focus primarily
Zusammenfassung: In der aktuellen Soziologie werden
                                                                 on a limited range of already well-researched categories
Diskussionen über die Herstellung von sozialen Differenz-
                                                                 of social difference as well as processes of their construc-
kategorien, deren Wechselwirkungen und damit einher-
                                                                 tion (doings), whereas processes of their deconstruction
gehenden Produktionen sozialer Ungleichheitsverhält-
                                                                 (undoings) tend to be neglected. This paper addresses
nisse insbesondere über intersektionale Ansätze geführt.
                                                                 both points of criticism in order to enhance intersectional
Kritik an intersektionalen Ansätzen richtet sich auf ihre
                                                                 theory building. To do so, it focuses on the construction of
Fokussierung auf eine begrenzte Anzahl bereits gut er-
                                                                 age as a category and ‘metric’ of social difference (doing
forschter Differenzkategorien und auf Konstruktionspro-
                                                                 age) instead of the traditional triad of race, class, and
zesse (doings), wobei tendenziell Dekonstruktionsprozesse
                                                                 gender. Based on this, the concept of undoing age is in-
(undoings) ausgeblendet werden. Der Beitrag greift beide
                                                                 troduced. To make age as a category of social difference
Kritikpunkte auf, um sie für die intersektionale Theorie-
                                                                 accessible to intersectional analysis, the paper, in conclu-
bildung fruchtbar zu machen. Erstens wird statt auf die
                                                                 sion, develops a multi-perspective framework.
klassische Trias aus race, class, gender das Differenzmerk-
mal Alter fokussiert, um dessen Relevanz als ‚metrische          Keywords: un/doing Age; De/construction; Age as Cate-
Variable‘ deutlich zu machen. Zweitens wird zusätzlich           gory of Social Difference; Multi-perspectivity; Social Prac-
zu doing age ein undoing age als Konzept ausgearbeitet.          tices; Social Inequalities.
Um die Differenzkategorie Alter einer intersektionalen Be-
trachtung zugänglich zu machen, entwickelt der Beitrag
damit einen multiperspektivischen Analyserahmen.
                                                                 1 Einleitung
Schlüsselwörter: un/doing age; De/Konstruktion; Alter
als soziale Differenzkategorie; Multiperspektivität; soziale     In der aktuellen Soziologie besteht über soziologische
Praktiken; soziale Ungleichheit.                                 Theorietraditionen hinweg Konsens darüber, dass soziale
                                                                 Differenzen nicht vorgängig oder natürlich existieren,
                                                                 sondern als Konstruktionen zu verstehen sind. An Kon-
Abstract: Current sociological debates about the con-            struktionsprozessen von Differenzen sind unterschied-
struction of categories of social difference as well as their    lichste gesellschaftliche Akteur*innen – von Diskursen
interdependencies and the accompanying production of             über Individuen – beteiligt, und auch die Forschung selber
                                                                 erzeugt, modifiziert oder neutralisiert Differenzen mit (vgl.
*Korrespondenzautorin: Grit Höppner, Katholische Hochschule      etwa Bourdieu 1987; Luhmann 1997; Lutz/Wenning 2001).
Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Sozialwesen, Piusallee 89,      Differenzen gelten damit als kontingent, also als historisch
48147 Münster. E-Mail: g.hoeppner@katho-nrw.de                   und kontextspezifisch geprägt (Hirschauer 2014). In dieser
Anna Wanka, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich
                                                                 lokalen Spezifik bringen sie soziale Klassifizierungen und
Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik und
Erwachsenenbildung, DFG-Graduiertenkolleg ‚Doing Transitions‘,
                                                                 Ordnungen unterschiedlicher Reichweite hervor und sta-
Theodor-W.-Adorno-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main,              bilisieren und legitimieren diese. Sie verdichten sich zu
E-Mail: wanka@em.uni-frankfurt.de                                Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, soziale oder
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age             43

ethnische Herkunft oder Behinderung, die ihrerseits wie-      aus einem Set konkurrierender Kategorisierungen, die erst
derum als Grundlage zur Organisation sozialer Prozesse        einen Unterschied schafft, der einen Unterschied macht“
herangezogen werden. Solche Differenzkategorien ziehen        (Hirschauer 2014: 170). Welche Differenzkategorien also
häufig Konsequenzen in den Möglichkeiten der sozialen         wissenschaftlich identifiziert und als relevant gesetzt,
Teilhabe und im Verfügen über gesellschaftlich relevante      welche hingegen eher marginalisiert, abgewertet oder
Ressourcen nach sich (Burzan 2013; Walgenbach 2016)           ausgeblendet werden, ist folglich nicht beliebig, sondern
und dienen dadurch als Referenzkategorien für Diskrimi-       eng an historisch geprägte und geographisch spezifische
nierung, Marginalisierung und soziale Ungleichheit.           Logiken sowie an diskurs- und machtpolitische Entschei-
     Soziologische Diskussionen über die enge Verzahnung      dungen gebunden (Walgenbach 2016).
von Differenzkategorien und Ungleichheitsverhältnissen             Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf jene Pro-
werden in den letzten Jahrzehnten insbesondere über           zesse, die von intersektionalen Analysen untersucht
Ansätze der Intersektionalität bzw. Mehrfachzugehörig-        werden. Gemeinhin werden Differenzkategorien über
keiten geführt (z. B. Knapp & Wetterer 2003; Crenshaw         deren soziale Konstruktionsprozesse auf ihre Funktions-
1991; Lutz et al. 2010; Lutz & Wenning 2001; Walgenbach       weise und Ungleichheitseffekte hin betrachtet (Hirschauer
et al. 2007; Winker & Degele 2009). In intersektionalen An-   2014). Indem Ungleichheitskategorien fokussiert werden,
sätzen wird davon ausgegangen, dass sich Ungleichheits-       die Individuen „totalisierend einschließen“ (ebd.: 176),
verhältnisse weder über einzelne Differenzkategorien –        wird davon ausgegangen, dass diese immer und in allen
und hier ist insbesondere die Trias class, race, gender       Lebenssituationen relevant werden. Wird jedoch davon
angesprochen – erschließen und analysieren lassen,            ausgegangen, dass jede Person eine Vielzahl an „Mitglied-
noch über deren bloße Addition. Stattdessen werden die        schaften“ aufweist, so können nicht alle dieser Differenzen
Wechselwirkungen und Überkreuzungen von Differenz-            in jeder sozialen Situation bedeutsam (gemacht) werden –
kategorien in den Blick genommen, um Ungleichheitsver-        sie müssen auch einmal „ruhen dürfen“ (ebd.: 177). Stefan
hältnisse theoretisch zu durchdringen, zu analysieren und     Hirschauer und Kolleg*innen der DFG-Forschergruppe
so die Konsequenzen dieser kategorialen Verwobenheiten        „un/doing differences. Praktiken der Humandifferenzie-
für die Verteilung von Lebenschancen (Burzan 2011) und        rung“ argumentieren dementsprechend, dass zur Kon-
die soziale Platzierung von Menschen abzubilden (Giebe-       struktion sozialer Differenzen (doing) immer auch deren
ler et al. 2013).                                             Dekonstruktion (undoing) mitzudenken ist. Mit dieser de-
     Seit einiger Zeit regt sich jedoch auch Kritik an in-    konstruktivistischen Perspektive ist gemeint, dass etwa
tersektionalen Ansätzen. Hier sind insbesondere zwei          Geschlecht nicht fortlaufend getan wird, sondern dass Ge-
Kritikpunkte zu nennen: erstens ihre Fokussierung auf         schlecht zwischenzeitlich auch irrelevant gemacht, unter-
eine begrenzte Anzahl bereits gut erforschter Differenz-      laufen oder ausgesetzt werden kann.1 Diese Kombination
kategorien und zweitens ihr Fokus auf Konstruktions-          aus konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Ele-
prozesse (doings), wobei tendenziell Dekonstruktionspro-      menten ist vereint im Konzept des un/doing differences.
zesse (undoings) ausgeblendet werden (Hirschauer 2014).       Dieses äußert sich als „flüchtige[r] Schwebezustand“, als
In Bezug auf den ersten Kritikpunkt wird also konstatiert,    ein „Moment der Ununterschiedenheit und In-Differenz
dass intersektionale Ansätze und Analysen, sowohl im          zwischen der Relevanz und Irrelevanz sozialer Unterschei-
deutschsprachigen als auch im angloamerikanischen             dungen“ (Hirschauer 2017: 170).
Raum, vor allem auf die Differenzkategorien class, race,           Der vorliegende Beitrag greift beide Kritikpunkte auf,
gender fokussieren. Diese Auswahl beruht auf in der his-      um sie für die intersektionale Theoriebildung fruchtbar zu
torischen Entwicklung von intersektionalen Ansätzen           machen. Erstens wird daher im Beitrag statt auf die Trias
bedingten Setzungen, die zu einer Hierarchisierung von        aus race, class und gender das Differenzmerkmal ‚Alter‘
Differenzkategorien beigetragen haben. Ebenso ungleich-       fokussiert. Das geschieht keineswegs, um aus der Trias
heitsfördernde Dimensionen werden dadurch seltener            ein Quartett zu machen – viel eher macht uns die kon-
problematisiert oder ganz ausgeblendet – etwa Alter (als      sequente, intersektionale Berücksichtigung von Alter als
Ausnahme siehe z. B. Denninger & Schütze 2017; Richter        ‚metrischer Variable‘ deutlich, mit welcher Komplexität
2018; Traunsteiner 2018) oder Behinderung (als Ausnahme
siehe z. B. Dederich 2007; Waldschmidt 2013). Diese Un-
                                                              1 Damit ist keineswegs ein Aussetzen der Wirksamkeit von Ge-
gleichbehandlung von Differenzkategorien vermittelt den
                                                              schlecht gemeint. Stattdessen steht solch eine Dethematisierung von
Anschein, class, race, gender seien wirksamer als andere      Geschlecht für das Funktionieren von Geschlechterdifferenzen, das
(Denninger & Schütze 2017). Die Auswahl von Differenz-        heißt hier ist die Offensichtlichkeit, ja Banalität dieser Unterschei-
kategorien deutet jeweils hin auf eine „sinnhafte Selektion   dung angesprochen (siehe hierzu auch Westheuser 2015).
44       Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age

und Dynamik intersektionale Theoriebildung umgehen             werden im Sinne einer intersektionalen Perspektive doing-
können muss. Bisher wurde Alter als Differenzkategorie in      Ansätze zu Geschlecht und Alter und damit die Konstrukti-
intersektionalen Ansätzen nur selten konsequent berück-        onsweisen dieser zwei Differenzkategorien vertieft. Daran
sichtigt, obwohl die Wirksamkeit von Alter ungebrochen         schließt sich als zweite Perspektive und im Sinne von un/
ist – in der Gegenwartsgesellschaft vielleicht noch stärker    doing-differences eine Auseinandersetzung zu undoing
als in den vorherigen Jahrzehnten. Wichtig erscheint uns,      gender und undoing age an. Da sowohl Geschlecht als auch
die Eigenständigkeit von Alter als Differenzkategorie sicht-   Alter jeweils explizit fokussiert wird, kann dem Vorwurf
bar zu machen und Alter nicht nur als eine Verstärkung         einer Relativierung von Differenzkategorien Rechnung ge-
von anderen Ungleichheitsverhältnissen zu verstehen.           tragen werden. Die dritte Perspektive bezieht sich auf die
Zweitens plädieren wir dafür, dass neben den Konstruk-         Differenzkategorie Alter mit ihren lebenslaufbezogenen
tionsprozessen sozialer Differenzkategorien auch deren         Implikationen. Dazu werden die Konturen der Differenz-
Dekonstruktionen konsequent mitgedacht werden sollten.         kategorie Alter skizziert, und sowohl deren Spezifika im
Neben der Skizzierung eines intersektionalen doing age         Vergleich zu anderen Differenzkategorien herausgear-
soll deshalb die Gegenseite dieser Medaille, nämlich ein       beitet, als auch Konsequenzen für die Weiterentwicklung
undoing age, ausgearbeitet werden. In der Alter(n)sfor-        von undoing age benannt, die in den Begriffen Materia-
schung wurde die Idee des undoing age erst in den letzten      lität, Kontinuität und Prozesshaftigkeit zusammengefasst
Jahren vereinzelt und im Vergleich zu undoing gender           sind. Ein Fazit zu den Potentialen einer so verstandenen
weniger ausdifferenziert aufgegriffen.                         Multiperspektivität im Rahmen einer intersektionalen Be-
     Daraus ergeben sich die drei Ziele des Beitrags: Um       trachtung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen
Alter stärker als bisher geschehen als Differenzkategorie      rundet den Beitrag ab.
zu theoretisieren und intersektionale Theoriebildung mit
der Kategorie Alter voranzutreiben, wird erstens das doing
age-Konzept als Pendant zum doing gender-Konzept dar-
gestellt. Um zweitens das in der Intersektionalitätsdebatte
                                                               2 doing-Ansätze:
bisher zu wenig genutzte Potential der Dekonstruktion             Zur Konstruktion der Differenz-
für eine Ausdifferenzierung der Kategorie Alter deutlich
zu machen und um – in Anlehnung an Hirschauer (2017:
                                                                  kategorien Geschlecht und Alter
12–13) – Altersindifferenzen zu beleuchten, wird dabei
                                                               Zunächst wendet sich der Beitrag jenen soziologischen
insbesondere auf die Skizzierung eines undoing age ab-
                                                               Ansätzen zu, die Differenzkategorien als durch soziale
gestellt. Durch die konsequente Berücksichtigung des
                                                               Praktiken (doings) konstruiert verstehen. Dabei werden
prozessualen Charakters der Differenzkategorie Alter
                                                               zunächst doing gender-Konzepte und im Anschluss
kann – drittens – deren Mehrwert für eine Betrachtung
                                                               daran Theorieansätze zum doing age diskutiert. Seit den
von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen nicht nur
                                                               1980er Jahren wurden in der Soziologie vermehrt doing-
situativ-dynamisch, sondern auch in einer lebenslaufbezo-
                                                               Ansätze entwickelt, die soziale Differenzkategorien wie
genen (Zeit-)Perspektive noch deutlicher gemacht werden.
                                                               Geschlecht, Alter oder Ethnizität als durch soziale Prakti-
     Der so entwickelte multiperspektivische Analyse-
                                                               ken hergestellte Konstruktionen begreifen. Ausgegangen
rahmen berücksichtigt somit (1) über klassische Ungleich-
                                                               ist diese theoretische Ausrichtung insbesondere von der
heitskategorien hinausgehend (2) die Konstruktion und
                                                               Genderforschung: Schon Ende der 1960er Jahre machte
Dekonstruktion von Mehrfachzugehörigkeiten sowie (3)
                                                               der Soziologe Harold Garfinkel auf der Grundlage seiner
ihre Prozessualität und Dynamik, die nicht nur in einer
                                                               ethnomethodologischen Studien darauf aufmerksam,
situativen Zeitlichkeit, sondern auch über die Lebenszeit
                                                               dass Geschlecht nicht naturgegeben ist, sondern, dass
zu betrachten ist. Dieser Analyserahmen wird im Beitrag
                                                               Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten durch
anhand der Differenzkategorien Geschlecht und Alter be-
                                                               bewusste und insbesondere durch unbewusste Bewe-
bildert. Die Auswahl der Differenzkategorie Geschlecht
                                                               gungsmuster und Handlungsweisen, die auf körperlich
liegt in der intensiven Auseinandersetzung mit Geschlecht
                                                               verankerten Routinen basieren, hervorgebracht und ver-
und Geschlechterverhältnissen in der Frauenforschung
                                                               mittelt werden (Garfinkel 1984 [1967]). Candace West und
und den Gender Studies begründet, die ein umfangreiches
                                                               Don Zimmermans Weiterentwicklung von Harold Garfin-
Theorierepertoire zur Folge hatte, das für die Argumenta-
                                                               kels Geschlechterverständnis in Form des Ansatzes des
tion des Beitrags produktiv genutzt werden kann.
                                                               doing gender im Jahr 1987 hat in der sozialwissenschaft-
     Um das Prinzip der Multiperspektivität zu vertiefen,
                                                               lichen Geschlechterforschung die Idee der sozialen Kon-
gliedert sich der Beitrag in drei Hauptteile. Zunächst
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age    45

struiertheit von Geschlecht maßgeblich beeinflusst. West      wurde jedoch Kritik an dem Konzept laut. Ein wesentli-
und Zimmerman (1987: 127) unterscheiden dabei „sex“           cher Vorwurf lautete, dieser Ansatz würde lediglich weiße
als biologisches Geschlecht, dessen Klassifikation bei der    Frauen der Mittelschicht und deren Herstellungsmodi von
Geburt nach sozial vereinbarten äußeren Geschlechts-          Geschlecht berücksichtigen, nicht jedoch die von schwar-
merkmalen oder durch Chromosomenanalyse erfolgt, von          zen Frauen. Ungleichheitserfahrungen von Frauen seien
der „sex-category“, deren Zuordnung im Alltag auf der         vielfältiger und müssen daher differenzierter betrachtet
Basis des zugeordneten biologischen Geschlechts und der       werden (z. B. Crenshaw 1989). Dieser Kritik begegneten
dadurch erwarteten Darstellung beruht. Unter „gender“         Candace West und Sarah Fenstermaker (West & Fenster-
verstehen West und Zimmerman das sozial erworbene Ge-         maker 1995; Fenstermaker & West 2001), indem sie nicht
schlecht, das im Alltag in Interaktionen vollzogen und her-   länger ausschließlich Geschlecht, sondern auch soziale
gestellt wird. Während in diesem ethnomethodologischen        Klasse und Ethnizität in ihrem Ansatz des doing difference
Verständnis von doing gender Geschlecht als etwas der         als Kategorien, die soziale Ungleichheiten bedingen, be-
Darstellung „Vorgelagertem“ aufgefasst wird, betonen pra-     rücksichtigten. Die drei Kategorien werden dabei nicht
xistheoretische und poststrukturalistische Perspektiven,      in einem vorab festgelegten Verhältnis zueinander be-
wie etwa von Judith Butler (1991) formuliert, die Gleich-     stimmt und deren jeweilige Relevanz somit festgelegt.
zeitigkeit der Performativität von (Sprech-)Akten und der     Stattdessen wird angenommen, dass Geschlecht, soziale
Hervorbringung von Geschlecht – eine konzeptionelle           Klasse und Ethnizität in sozialen Prozessen gleichzeitigt
Differenzierung, die auch für undoing-Ansätze relevant ist.   hergestellt werden, und folglich „difference as an ongoing
     Die Hinwendung zu vergeschlechtlichten Konstruk-         interactional accomplishment“ zu verstehen sei (West &
tions- und Zuschreibungsprozessen hat die sozialwissen-       Fenstermaker 2002: 56). Die Verhältnisbestimmung des
schaftliche Geschlechterforschung maßgeblich bereichert.      sich fortlaufend konstituierenden Beziehungsgefüges
Denn mit ihr ging eine Abkehr von einem Verständnis           erfolgt mittels des Konzepts der Intersektionen (Überlage-
einher, das Geschlecht als eine biologische Determinante      rungen). Stefan Hirschauer (2014) kritisiert und erweitert
auffasste, mittels derer vergeschlechtlichte Annahmen na-     dieses Verständnis, indem er statt von stabilen Intersek-
turalisiert und als Konsequenz einer körperlichen ‚Grund-     tionen von kontingenten und multiplen Mitgliedschaften
ausstattung‘ konzeptualisiert wurden (Oakley 1972). Der       spricht. Jedes Individuum vereint dabei eine Vielzahl an
durch den Verweis auf die soziale Konstruiertheit von         Mitgliedschaften, die von identitär stärker vereinnahmen-
Geschlecht in den Analysefokus gerückte interaktive Aus-      den Mitgliedschaften wie Geschlecht oder Klasse über for-
handlungsprozess als zentraler Motor der Hervorbringung       malisierte Mitgliedschaften in Organisationen bis hin zu
von Geschlecht wurde in den 1990er Jahren auch in der         diffusen Mitgliedschaften, wie die Beteiligung an sozialen
deutschsprachigen Soziologie weiter ausgearbeitet (u. a.      Netzwerken, reichen. Welche davon wie, wann, wo und
Gildemeister & Wetterer 1992; Hirschauer 1993; Lindemann      von wem situativ relevant (doing) oder situativ irrelevant
1993; Villa 2000). Dadurch konnte gezeigt werden, dass        (undoing) gemacht werden, wird aus dieser Perspektive zu
die interaktive Hervorbringung von Geschlecht auf Kon-        einer empirischen Frage.
struktionen und Zuschreibungen basiert, die in Normali-            Um der konzeptionellen Verengung bezogen auf die
sierungsprozesse eingebettet sind. Diese verweisen wie-       drei prominenten Differenzkategorien class, race, gender
derum auf soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse,       zu begegnen, wurden in der Kindheitsforschung (z. B.
wie sie unter anderem in der Erwerbsarbeit, etwa durch        Lee 2008), der kritischen Erwachsenheitsforschung (z. B.
die Feminisierung von Pflegeberufen (Wetterer 2002),          Burnett 2010) und der Altersforschung (z. B. Laz 1998;
sowie durch die Arbeitsteilung bei Paaren (Grunow 2013;       Schroeter 2012) auch Konzeptionen eines doing age ent-
Hochschild & Machung 1993) relevant gemacht werden.           wickelt. Dadurch wurde auch die Theoretisierung der
Mit dem Konzept des doing gender wurde nicht nur auf die      Differenzkategorie Alter angestoßen. In diesen Feldern
Omnipräsenz von Geschlecht in jeglichen sozialen Situa-       wurde die soziale Konstruktion von Alter zunächst his-
tionen aufmerksam gemacht, sondern auch gezeigt, dass         torisch-institutionell hergeleitet, wie etwa in Phillippe
Geschlecht hervorzubringen immer auch bedeutet, eines         Ariès (1962) Thesen zur „Erfindung von Kindheit“ oder
von zwei Geschlechtern zu ‚machen‘. Unweigerlich wird         Martin Kohlis (1985) Darstellung der Entwicklung der
somit durch die Performanz von Geschlecht eine binär          Altersphase mit der Etablierung des Rentensystems. Aus
strukturierte Differenz hergestellt, die die Norm der Zwei-   diesen stärker strukturalistisch ausgerichteten Ansätzen
geschlechtlichkeit reproduziert (Butler 1991, 1993).          entwickelten sich jedoch in Anlehnung an doing gender
     Bald nach der Veröffentlichung von Candace West          bald auch interaktionistisch-materialistische Ansätze,
und Don Zimmermans Aufsatz zu doing gender 1987               die nicht lediglich die soziale Konstruiertheit von Alter
46         Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age

betonen, sondern diese auch in sozio-materiellen Prak-                (vgl. van Dyk 2015). In den entsprechenden doing age-
tiken verorten.                                                       Ansätzen wird diese Doppelköpfigkeit jedoch noch wenig
     Das interaktionistische Konzept des doing age des                berücksichtigt (van Dyk 2019). Statt einer Theoretisierung
Alterssoziologen Klaus Schroeter (2008, 2012) geht dem-               von doing age über den Lebensverlauf finden sich, wie
entsprechend in Analogie zu doing gender von der grund-               oben skizziert, Konzeptionen in den nach Lebensphasen
legenden Annahme aus, Altern vollziehe sich als soziale               getrennten Sub-Feldern der Kindheitsforschung (z. B.
Praxis in alltäglichen Interaktionsprozessen zwischen                 Lee 2008), der kritischen Erwachsenheitsforschung (z. B.
Menschen und ist damit „ein sich mit jeder menschlichen               Burnett 2010) oder der Altersforschung (z. B. Schroeter
Handlung vollziehender fortlaufender Prozess interakti-               2012). Dadurch wird die an sich metrische Einteilung von
ver Darstellung und sozialer Zuschreibungen“ (Schroeter               Alter zuerst kategorial in Lebensphasen verdichtet, die
2008: 250). Er verortet diese Praktiken auf fünf Ebenen:              wiederum in den ausdifferenzierten Forschungsfeldern
1) in Symbolen und Repräsentationen, 2) in Institutionen,             als binär betrachtet werden: Es wird Kindheit oder Alter
3) in Interaktionen, 4) in Körpern, Dingen und Räumen                 praktisch vollzogen oder negiert, und fällt eine Person
und 5) in Affekten und Sinnen. Während seine Kon-                     aus der entsprechend fokussierten Kategorie, so wird sie
zeption stärker auf (menschliche) Körper, Symbole und                 im jeweiligen Forschungsfeld nicht mehr oder nur noch
Interaktionen fokussiert, finden sich in der Kindheits-               als komplementäres „Anderes“ berücksichtigt. Die Alters-
forschung Ansätze, die bereits über einen reinen Sozial-              forschung beschäftigt sich also beispielsweise mit der
konstruktivismus hinausgehen und stärker nicht-mensch-                Performanz des höheren Erwachsenenalters, theoretisiert
liche Akteur*innen mitberücksichtigen. Kindheitsforscher              dabei aber weder die Performanz von Kindheit noch den
Nick Lee (2008) versteht in diesem Sinne Kindheit etwa als            performativen Wechsel zwischen Alterskategorien mit.
„an emergent property of interactions between persons,                     Insbesondere in der intersektionalen Betrachtung mit
discourses, technologies, objects, bodies etc.“ (Lee 2008:            anderen Differenzkategorien verkompliziert die Berück-
60) Ähnlich wie von Lee wird auch in aktuellen Weiter-                sichtigung von Alter das soziologische Verständnis eines
entwicklungen des doing age-Konzeptes im Bereich der                  doings maßgeblich: So multipliziert sich einerseits die
Altersforschung argumentiert, in denen das Verhältnis                 Anzahl an möglichen überlappenden Mitgliedschaften,
von Alter(n) und Materialität neu gefasst wird und dazu               wie Hirschauer (2014: 171) soziale Differenzmerkmale
die Wechselwirkungen zwischen Alter(n) und Körpern                    bezeichnet, durch die intersektionale Berücksichtigung
(Höppner 2015a, 2015b), Alter(n) und Alltagsgegenstän-                einer kontinuierlichen Variable wie Alter, die mögliche
den, sowie neuen Technologien (Artner et al. 2017; Depner             Ausprägungen von 0 bis über 100 Jahre hat. Andererseits
2015; Endter 2016; Wanka & Gallistl 2018) und Alter(n) und            dynamisiert die intersektionale Berücksichtigung von Alter
Räumen (Hahmann 2018; Wanka 2016; Wanka & Oswald                      diese komplexen Vollzugswirklichkeiten auch noch, indem
2020) analysiert werden. Diese Arbeiten ermöglichen                   nicht nur beispielsweise die intersektionale Mitgliedschaft
eine detaillierte Beschreibung des Zusammenspiels von                 „35 Jahre alte, schwarze Akademikerin“ vollzogen werden
menschlichen Körpern, Artefakten, Technologien und                    muss, sondern dieses Gefüge auch noch ständig in prozes-
Räumen in der Hervorbringung von Alter(n), ohne diese                 sualen Verschiebungen begriffen ist, da wir ständig älter
Materialitäten als natürliche Tatsachen zu essentialisieren           werden. Das Differenzmerkmal ‚Alter‘ bringt besondere
oder als kulturelle Bedeutungsträger diskursiv aufzulösen.            Herausforderungen für die sozialkonstruktivistische inter-
Zusätzlich zur Frage, wie sich Alter(n) materiell vollzieht,          sektionale Soziologie mit sich, für die bisher noch keine
problematisieren erste Arbeiten auch, wo Alter(n) vonstat-            ausreichenden Theoretisierungen entwickelt wurden.
tengeht und welche Materialität/en darin involviert bzw.                   Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass so-
hervorgebracht werden (Höppner & Urban 2018).2                        ziologische doing-Ansätze zunächst vor allem in der Ge-
     Anders als Geschlecht ist Alter jedoch immer gleicher-           schlechterforschung entwickelt wurden, sich jedoch bald
maßen Zustand (einer Person wird ein bestimmtes Alter                 darauf in andere Forschungsfelder, wie die Migrations-,
zugeschrieben) und Prozess (diese Zuschreibung schrei-                Bildungs-, Kindheits- und Altersforschung ausgebreitet
tet kontinuierlich linear voran). Dies wird in der Alters-            und zunehmend intersektional ausgerichtet haben. Dabei
soziologie als „Doppelköpfigkeit“ des Alters bezeichnet               wurden in der Altersforschung Ansätze aus der Geschlech-
                                                                      terforschung weitgehend übernommen, ohne den Spe-
                                                                      zifika der Differenzkategorie ‚Alter‘ vollends Rechnung zu
2 Siehe hierzu auch das von der Deutschen Forschungsgemein-
schaft finanziell unterstützte Netzwerk „Materielle G
                                                    ­ erontologie“,
                                                                      tragen. Allen solchen doing-Ansätzen ist gemein, dass sie
das im Januar 2020 seine Arbeit aufgenommen hat (https://material     als Grundlage für die Herstellung sozialer Differenzkate-
gerontology.wordpress.com/).                                          gorien ein praktisches Wissen ansehen, das intersubjek-
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age            47

tiv (Meissner 2008) und teilweise interobjektiv (Höppner                (2004) Verständnis von undoing gender auf individuelle,
2021)3 geteilt wird. Geschlechtliche, altersbezogene oder               subversive Praktiken, die sich restriktiven Normen zu Ge-
ethnische Zugehörigkeit wird also nicht nur performativ                 schlecht und Sexualität widersetzen. Während sich Butler
hergestellt, sondern muss vom Gegenüber als solche                      (1991) in ihrem poststrukturalistischen Verständnis von
erkannt und zugeordnet werden. Ist ein Mensch in solch                  doing gender auf die Gleichzeitigkeit von performativen
einem intersubjektiven bzw. interobjektiven Verständi-                  (Sprech-)Akten und der Hervorbringung von Geschlecht
gungsprozess einmal als männlich oder weiblich, jung                    bzw. Zweigeschlechtlichkeit bezieht, so scheint ihre Aus-
oder alt (differenz-)kategorisiert, werden alle seine folgen-           legung von undoing gender von einer bereits hergestellten
den Artikulationen vor diesem Hintergrund interpretiert.                heteronormativen Struktur auszugehen, die es mittels sub-
Diese Annahme mutet insbesondere für eine poststruk-                    versiver Praktiken zu überwinden gilt – es gibt also kein
turalistische Lesart von doing-Ansätzen reichlich deter-                undoing ohne ein zeitlich vorgelagertes doing. Ähnlich
ministisch an. Es stellt sich also die Frage, ob es aus dem             angelegt ist das undoing gender-Konzept von Francine
vermeintlichen Teufelskreis von Performanz von etwas                    M. Deutsch (2007), das die im doing gender-Konzept an-
und Anerkennung als etwas einen Ausweg gibt – oder,                     visierte interaktive Aushandlung von Geschlecht in den
mit West und Zimmerman (1987) gesprochen: „Can we                       Blick nimmt und daraufhin befragt, welche Potentiale sich
ever not do gender“ (und/oder Alter, Ethnizität, etc.)? Um              durch eine gezielte Verwendung von Sprache eröffnen,
diese Frage zu beleuchten, wenden wir uns im folgenden                  um Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit zu
Abschnitt undoing-Ansätzen zu.                                          problematisieren und zu kritisieren, mit dem Ziel, einen
                                                                        Wandel in geschlechtsbezogenen Ungleichheitsverhält-
                                                                        nissen anzustoßen. Hirschauers (1994, 2001, 2013) Kon-

3  undoing-Ansätze:                                                    zeption von undoing gender geht dagegen davon aus, dass
                                                                        soziale Praktiken des doing gender auch unterbrochen
   Zur Dekonstruktion der Differenz-                                    oder vergessen werden können, ohne dass sich dies – wie

   kategorien Geschlecht und Alter                                      bei Butler – explizit gegen einen Umstand Y richtet. Statt-
                                                                        dessen können sie auch nicht vollzogen werden, weil in
                                                                        einer bestimmten Situation konkurrierende Mitgliedschaf-
Wenn wir einerseits davon ausgehen, dass Differenzkate-
                                                                        ten relevant gemacht werden oder etwa aufgrund von ‚in-
gorien in sozialen Praktiken vollzogen, durch diese her-
                                                                        frastrukturellen Löchern‘ keine geschlechtlichen Adressie-
gestellt, reproduziert und/oder transformiert werden, so
                                                                        rungen und Re-Adressierungen stattfinden (können) – sie
impliziert das andererseits, dass diese Differenzierungen
                                                                        werden zwischenzeitlich also schlicht irrelevant gemacht.
auch kritisch hinterfragt und deshalb anders (Butler 2004;
                                                                        Um diese Blickwinkelverschiebung zu konzeptualisieren,
Deutsch 2007) oder gar nicht vollzogen werden können
                                                                        schlägt Hirschauer vor, Geschlechterkonstruktionen und
(Hirschauer 2014, 2017): Die Annahme eines doings impli-
                                                                        Geschlechterunterscheidungen nicht als omnipräsente
ziert damit immer auch ein undoing (Hirschauer 2017: 11).
                                                                        Prozesse aufzufassen, wie dies West und Zimmerman
Hirschauer hat bereits zu Beginn der 1990er Jahre darauf
                                                                        (1987) tun, sondern deren episodenhaften Charakter an-
hingewiesen, dass zusätzlich zum doing gender auch ein
                                                                        zuerkennen und stärker zu berücksichtigen. Geschlecht
undoing gender denkbar sein müsse; auch wenn diese Idee
                                                                        kann dann stellenweise aus dem Blick geraten, wenn es
Gefahr läuft, die Semantik der Gleichheit zu unterstützen,
                                                                        nicht permanent aktualisiert, also nicht wiederholt wird.
die zu einer Nivellierung von Geschlechterungleichheiten
beitragen kann (u. a. Heintz & Nadai 1998).                                 „Wird eine Unterscheidung [Anm.: aus einer Reihe konkurrie-
     In Bezug auf undoing gender bestehen heute ver-                        render Differenzierungen] nicht selegiert, so findet sie bis auf
schiedene Ansätze: So fokussiert etwa Judith Butlers                        Weiteres nicht statt, sie ruht in einer Art Stand-by-Modus. […]
                                                                            Die Nicht-Zugehörigkeit oder Ungebundenheit von Personen
                                                                            entspricht einer mehr oder weniger dauerhaften Indifferenz von
3 Interobjektivität im Sinne Bruno Latours (2001) meint hier, dass          Differenzen.“ (Hirschauer 2017: 12–13)
nicht per se davon ausgegangen werden kann, dass sich in prakti-
schen Vollzügen ausschließlich Menschen ihr Alter gegenseitig an-       Solch ein „aktives ‚Absehen‘“ kann eine Art „soziales Ver-
zeigen. Stattdessen ist in den jeweiligen situativen Vollzügen von      gessen“ (Hirschauer 2013: 160) mit sich bringen: Menschen
Alter(n) zu problematisieren, wer oder was im Prozess der Hervor-
                                                                        nehmen sich während des undoings möglicherwiese nicht
bringung von Alter(n) jeweils als Altersakteur erkannt und adressiert
wird. Solch eine interobjektive Sichtweise vermeidet durch die An-
                                                                        als weiblich oder männlich wahr und/oder ihr Gegenüber,
erkennung der materiellen Vielfalt von Alter(n) determinierende und     das „Publikum“, adressiert sie nicht als Frau oder Mann.
kausale Setzungen zugunsten des menschlichen Körpers.                   Dann ‚ruht‘ ihre ‚gesellschaftliche Mitgliedschaft‘ als An-
48         Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age

gehörige einer Geschlechtergruppe quasi für eine gewisse               an Verben verdeutlicht bereits, dass undoing age – ebenso
Zeit, und zwar so lange, bis ihr Geschlecht wieder relevant            wie undoing gender – unterschiedlich ausgelegt werden
gemacht wird und folglich auf Geschlecht als soziale Ord-              kann. In der Altersforschung finden sich dazu verschiedene
nungskategorie rekurriert wird. Wird also Geschlecht in                Interpretationen, die jedoch insbesondere auf das Verleug-
einer konkreten Situation nicht als Differenzmerkmal he-               nen, Negieren und Reversieren von Alter (vgl. Haller 2010;
rangezogen, so wird es situativ undone4 – kann allerdings              Pfaller 2016) einerseits und das Abweichen und Unter-
in einer anderen Situation wieder aktualisiert werden.                 laufen von Altersnormen (vgl. Martin 2017; Schroeter 2018;
Gründe gibt es hierfür verschiedene: So können – ähnlich               Sandberg & Marshall 2017) andererseits fokussieren. Beide
dem doing difference – andere Differenzkategorien als Ge-              dieser Interpretationen gehen damit im Sinne einer ethno-
schlecht akzentuiert werden, Geschlechterdarstellungen                 methodologischen Perspektive von einem zeitlich vorgela-
können heruntergespielt oder eine Geschlechteradressie-                gerten doing aus, einer bereits hergestellten Kategorie und
rung kann abgewehrt werden.                                            den mit ihr verbundenen Normen, Erwartungen und Adres-
     Wie einfach oder schwierig es ist, eine Differenzierung           sierungen, an der sich das undoing abarbeitet (siehe oben).
irrelevant zu machen, hängt nach Hirschauer von ihrem                       Wenn wir also von einem undoing age sprechen, dann
„Aggregatzustand“ (2017: 15) ab. Diesen erkennt man u. a.              stellt sich zuallererst die Frage, welche Definition von
daran, wo, wie stark und wie weitreichend er sich in der               Alter eben nicht vollzogen wird: Wird eine bestimmte Art
sozialen Welt materialisiert: etwa in sprachlichen Struk-              von Alter getan, so wird im Umkehrschluss immer min-
turen (z. B. Grammatik, Personennamen), diskursiven                    destens eine andere Art von Alter nicht getan. Anders als
Repräsentationen (z. B. Redensarten, visuelle Darstellun-              beim un/doing gender existieren dabei allerdings nicht
gen), kognitiven Schemata (z. B. Stereotypen), situierten              nur zwei Möglichkeiten – männlich oder weiblich – und
Praktiken (z. B. Arbeit, Konsum), institutionellen Infra-              deren verschiedene Auslegungen, sondern eine Vielzahl
strukturen (z. B. sozialen Beziehungen, Organisationen),               potentieller Alterskategorien und -interpretationen. In
im sozial geformten Körper, in Artefakten, Technologien                heute hegemonialen Konzepten wie dem aktiven und er-
und Architekturen. Freiräume für undoing gender sieht                  folgreichen Alter (vgl. Rowe & Kahn 1997) wird ein „gutes“
Hirschauer (2013) dementsprechend in der Modifikation                  Altern damit gleichgesetzt, überhaupt nicht zu altern
der „Infrastruktur“5, die Praktiken des doing gender auf-              (McHugh 2000). Alter in diesem Sinne erfolgreich zu voll-
rechterhält: Vornamen und Produkte, die nicht nur eines                ziehen bedeutet also Alter gleichzeitig auf eine bestimmte
der zwei Geschlechter adressieren, Freundschaften und                  Art zu vollziehen und andere Formen von Alterspraktiken
Paarbildung, die geschlechtlich nicht mehr klar verteilt               zu unterlassen: Alter wird als mittleres Erwachsenen-
sind, das Internet, das gegengeschlechtliche Erfahrungen               alter oder gar Jugend inszeniert, während biologistische
ermöglicht, unsere Sprache, die zunehmend Gleichheit                   und defizitäre Altersbilder negiert werden. Man „tut“
zwischen Geschlechtern vermittelt, usw.                                also nicht gebrechlich, sondern fit, gesund, selbstständig
     In Analogie zu Konzeptionen eines undoing gender                  und aktiv. Besonders explizit macht diese Ambivalenz
wurde in der Altersforschung in den letzten Jahren die                 zwischen Aneignung spezifischer Alterspraktiken und
Denkfigur eines undoing age entwickelt. Dieses kann als                Widerstand gegen andere Larissa Pfaller (2016) in ihren
Konstellation performativer Praktiken verstanden werden,               Analysen von Anti-Ageing Praktiken. In diesen, so die
die restriktive und normative Konzeptionen von Alter an-               Autorin, wird nicht nur das eigene Alter(n) verhandelt,
nulieren, zurücknehmen, rückgängig machen, löschen, wi-                sondern es werden auch Imperative von Selbstsorge und
derrufen, aufknoten, trennen, auflösen, öffnen, zerstören              einem „guten Leben“ miteinander verknüpft und voll-
oder zunichtemachen (vgl. Haller 2010: 218). Diese Vielzahl            zogen. Diese Praktiken des Verleugnens, Negierens und
                                                                       der Versuch des Reversierens von Alter finden dabei nicht
                                                                       nur im drastischen Beispiel von Schönheits-Operationen
4 Als eine situative Möglichkeit eines solchen undoings nennt Hir-
                                                                       oder technologisch unterstützten Körperoptimierungen6,
schauer die Kreuzung mehrerer Differenzkategorien, die in ihrem
Zusammenspiel die Differenzwirkung einer der herangezogenen
Differenzierungen minimiert. Die Einordnung als Arbeitnehmer*in
überschreibt beispielsweise formal die Einordnung als „jung“ oder      6 Die Idee, das Alter unsichtbar zu machen, scheint auf offene
„alt“ durch gesetzliche Antidiskriminierungsregelungen.                Ohren zu stoßen; dies legt jedenfalls der Erfolg einer medizinischen
5 Mit dem Begriff der Infrastrukturen verstehen wir in Anlehnung an    Konferenz in Berlin mit dem Titel „Undoing Ageing“ (https://www.
Hirschauer (2013) in diesem Artikel keine präexistierenden, objekti-   undoing-aging.org/) mit über 500 Teilnehmenden im März 2019
vierten Entitäten, sondern Phänomene, die selber erst im Vollzug von   nahe, bei der es um die Wiederherstellung von molekularen und
intersektionalen Beziehungsgeflechten und Praktiken hervorgebracht     zellulären Schäden aufgrund von Alter(n) ging. Diese Konferenz soll
werden, anderen Vollzügen aber wiederum als Trägermedien dienen.       im Mai 2021 mit demselben Titel am selben Ort nochmals stattfinden.
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age      49

sondern auch in alltäglichen Praktiken statt – etwa durch             etwa mit dem jungen oder mittleren Erwachsenenalter
Fitness und sportliche Betätigung, durch physisches und               verknüpft sind. So wollte Emil Ratelbland nicht ohne de-
kognitives Self-Tracking mittels smarter Technologien,                finierbares Alter (queer age) sein, sondern entschied sich
durch die Performanz von Sexualität und sexueller At-                 für eine konkrete Alterskategorie im mittleren Erwachse-
traktivität oder die alltägliche Inszenierung von Aktivität,          nenalter. Während hohes Alter also negiert wird, werden
Geschäftigkeit und Selbstständigkeit (vgl. Ekerdt 1986;               Alterspraktiken anderer Alterskategorien vollzogen und
Marshall & Katz 2016). Als Effekt dieser Form des undoing             damit deren respektive Altersnormen aktualisiert.
age ist eine ‚falsche‘ Altersadressierung vorstellbar (im                  Eine zweite und etwas anders geartete Interpretation
Sinne von jünger oder älter aussehen als eine Person ent-             des undoing age findet sich in Ansätzen eines undoing age
sprechend ihres kalendarischen Alters ist) oder auch eine             appropriateness (Martin 2017), eines doing age in other
Dethematisierung von Alter, weil vorausgesetzt wird, dass             ways (Schroeter 2018) oder eines queering age (Sandberg
eine Person das ‚richtige‘ Alter hat (siehe hierzu Llewellyn          & Marshall 2017). Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie
2015 zu Altersadressierungen an der Kinokasse).                       auf jene Praktiken fokussieren, die explizit von Alters-
     Ansatzpunkt, um den sich viele dieser Praktiken                  normen abweichen, diese unterlaufen und damit kritisch
drehen, sind alternde Körper und die sie umgebenden Ma-               in Frage stellen. In Martins Ansatz eines undoing age ap-
terialitäten, wie Kleidung oder Nahkörpertechnologien.                propriateness plädiert sie für eine subversive Expression
Diese Körperkonstruktionen sind eng mit Identitätskon-                des Alters und alternder Körper, die Erwartungen daran,
struktionen verbunden und von Altersnormen (und ent-                  was dieser spezifische Körper (insbesondere auf der Thea-
sprechenden Machtkonstellationen) durchzogen (siehe                   terbühne) tun sollte und wo er es tun sollte, zuwiderläuft
hierzu schon Sontag 1972 sowie Degele 2008; Höppner                   (Martin 2017: 153–154). Dabei versucht sie, Ambiguitäten
2011; Schroeter 2012). Eine weniger stark am Körper an-               in der Grenzziehung zwischen Angemessenheit (appro-
setzende Auseinandersetzung mit dem Alter stieß dagegen               priateness), Lächerlichkeit, Würde und Geschmack aus-
der Niederländer Emil Ratelbland an, der dafür klagte, sein           zuloten, „transgressing what is conventionally understood
kalendarisches Alter von 69 auf 49 Jahre heruntersetzen               as a r­ espectful and dignified representation of age(ing).“
zu lassen. Diese Reversierung sollte sich jedoch nicht, wie           (Martin 2017: 155)
etwa bei Anti-Ageing-Praktiken, in seinen Körper, sondern                  Ähnlich wie Martins Bühnenperformanzen, die Alters-
in seine Dokumente einschreiben. Sein Körper und sein                 normen verdeutlichen, kritisch beleuchten und sich auch
Geist, so der Kläger, entsprächen bereits der jüngeren                über diese lustig machen wollen, kritisieren Sandberg
Alterszahl – nur sein rechtlicher Status bilde dies noch              und Marshall aktuelle Altersverständnisse. Ihr Konzept
nicht ab. Dabei zog er in seiner Argumentation Analogien              eines queering age „disrupts the ways that expectations
zur Transgender-Bewegung und der Möglichkeit, sein Ge-                of a good later life and happy aging are seen to adhere to
schlecht in offiziellen Dokumenten ändern zu können.                  some bodies and subjectivities over others.“ (Sandberg
Das undoing age besteht hier also nicht nur, so zeigt dieser          & Marshall 2017: 4) Bezugnehmend auf feministische,
Fall sehr deutlich, in der Aneignung hegemonialer Alters-             queere und crip-Theorien plädieren sie für ein generelles
diskurse um ein „Nicht-Altern“, sondern kann durchaus                 Unterlaufen von Altersnormen und Chronormativität (vgl.
als subversiver politischer Akt verstanden werden. Ent-               Freeman 2010), das schließlich – wird es kollektiv be-
sprechend finden sich auch auf politisch-institutioneller             trieben – zu einem Außerkraftsetzen von Altersnormen
Ebene Praktiken eines undoing age: In einer Dokumenten-               und verstärktem Zulassen von Altersdiversität führen
analyse internationaler Policy-Organisationen wie der                 kann. Ein queeres oder „anderes“ Alter(n) verweist also
World Health Organization und der Europäischen Union                  auf der allgemeinsten Ebene auf einen von normierten
zeigen Aske Lassen und Tiago Moreira (2014: 33) auf, wie              Alterspraktiken abweichenden Vollzug. Wie bei der Ne-
durch die Festschreibung von Vorstellungen eines aktiven              gation von Alter wird also im Vollzug eines bestimmten
Alter(n)s ein „unmaking of old age“ auf politischer Ebene             Alters (hier eines queeren oder „anderen“ Alters) auch
geschieht7. Das höhere Alter in diesem Sinne performa-                hier eine jeweils andere Definition von Alter (hier eines
tiv abzulehnen impliziert, wie diese Beispiele zeigen,                hegemonialen, „normalen“ Alters) performativ abgelehnt.
eine starke Inszenierung anderer Alterskodierungen, die               Während ein Negieren des Alters sich dabei aber primär
                                                                      auf (alternde) Körper bezieht, fokussiert ein queering age
                                                                      auf (Alters-)Normen.
7 Zu ähnlichen Resultaten kommen Silke van Dyk und Kolleg*innen
in einer Analyse politischer Rahmenprogramme und medialer Dar-
                                                                           In der deutschsprachigen Alterssoziologie beschäf-
stellungen von Alter seit den 1980er Jahren in Deutschland (van Dyk   tigt sich Schroeter (2018) mit solcherlei nicht-normati-
et al. 2013).                                                         ven Altersvollzügen. Er unterscheidet jedoch zwischen
50       Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age

einem doing age differently, also einer (akzeptierten) Di-    4  un/doing age: Spezifika der
versifikation von Alterspraktiken, die mittlerweile Nor-
malität geworden sei, und einem queering age. Letzteres
                                                                 Differenzkategorie Alter im
stellt nach seiner Interpretation nicht nur einen weiteren       Vergleich zu anderen Differenz-
Lebensstil in einer Spanne möglicher Expressionen des
Altes dar, sondern eine „sich der otherness bewusste Per-
                                                                 kategorien und Konsequenzen
formanz des Alterns, die sich diskursiv und praxeologisch        für die Weiterentwicklung von
Ausdruck ihres ‚Andersseins‘ verschafft und ihr Recht
auf Eigensinn, Dissidenz und ‚Subversion‘ einfordert“
                                                                 undoing age
(Schroeter 2018: 118). Weitergedacht könnte dies, so seine
                                                              Wie einleitend erwähnt verfolgt der vorliegende Beitrag
Überlegung, zu einem A-Alter (age(a)ness) bzw. Nicht-Vor-
                                                              drei Ziele, die hier noch einmal wiederholt werden sollen:
handensein von Alter führen.
                                                              Es soll erstens die intersektionale Theoriebildung voran-
     Zusammenfassend zeigen sich im Hinblick auf un-
                                                              getrieben werden, indem das Differenzmerkmal ‚Alter‘
doing-Ansätze als Konterpart zu doing-Ansätzen wiederum
                                                              fokussiert wird, und dabei zweitens nicht nur auf Kon-
eine erstmalige Verortung in der Geschlechterforschung
                                                              struktions-, sondern ebenso auf Dekonstruktionsprozesse
und eine spätere Ausbreitung u. a. in der Altersforschung.
                                                              und mit Bezug auf Alter insbesondere auf ein undoing age
Sowohl undoing gender als auch undoing age werden un-
                                                              abgestellt werden. Dies ist – und das soll drittens gezeigt
terschiedlich ausgelegt, und es zeigen sich dabei Schnitt-
                                                              werden – deswegen von besonderem soziologischen In-
mengen und auch Unterschiede in diesen Auslegungen
                                                              teresse, da Alter eine aufgrund seiner Prozesshaftigkeit
zwischen der Geschlechter- und der Altersforschung:
                                                              über den Lebens(ver-)lauf besondere, sowohl aus intersek-
In beiden Feldern wurden Ansätze entwickelt, die ein
                                                              tionaler als auch aus differenzierungstheoretischer Per-
undoing gender bzw. undoing age als ein Set subversiver
                                                              spektive noch weitgehend untertheoretisierte Differenz-
und widerständiger Praktiken verstehen, welche sich res-
                                                              kategorie darstellt. Versteht man die Einteilung in soziale
triktiven hegemonialen Geschlechter- oder Altersnormen
                                                              Differenzkategorien als eine Praxis des Differenzierens, so
widersetzen. Hier sind etwa die undoing gender-Ansätze
                                                              erfolgt diese etwa beim Geschlecht nach dem Prinzip ‚ent-
von Butler (2004) oder Deutsch (2007), sowie die Konzep-
                                                              weder (weiblich) – oder (männlich)‘, und diese Einteilung
tionen eines undoing age appropriateness (Martin 2017),
                                                              bleibt in den meisten Fällen bestehen. Beim Alter existiert
doing age differently (Schroeter 2018) oder queering age
                                                              hingegen eine Vielzahl linear und konsekutiv gedachter
(Sandberg & Marshall 2017) zu nennen. Daneben finden
                                                              Zahlen (z. B. 5, 43, 89), die einem Menschen analog jeden
sich in der kritischen Gerontologie Ansätze, die auf ein
                                                              gelebten Jahres zugeordnet wird, d. h. die Einteilung muss
(individuelles) undoing age oder (institutionelles) unma-
                                                              kontinuierlich angepasst werden, wenn Menschen ‚älter‘
king old age mit der Kehrseite eines doing youth abstellen
                                                              werden. Alter ist damit zwar ebenso wie Geschlecht oder
(vgl. Lassen & Moreira 2014; Pfaller 2016). Eine solche
                                                              Ethnizität ein naturalisiertes Merkmal, im Gegensatz zu
Auslegung findet sich in der Geschlechterforschung (bei-
                                                              ihnen jedoch erstens weder binär noch kategorial, sondern
spielsweise undoing male zugunsten eines doing female)
                                                              kontinuierlich, und zweitens nicht statisch, sondern dyna-
nicht dezidiert. Demgegenüber wurde für die Geschlech-
                                                              misch konzeptualisiert8.
terforschung von Hirschauer (2013, 2014, 2016) eine Kon-
                                                                  Was bedeutet das nun insbesondere für ein undoing
zeption von undoing gender entwickelt, die Praktiken des
                                                              von Alter? Vergleicht man doing-Ansätze aus der sozio-
(temporären) Aussetzens oder Irrelevantmachens von Ge-
                                                              logischen Geschlechterforschung mit denen aus der
schlecht als sozialer Differenzkategorie fokussiert. Eine
                                                              Altersforschung, so zeigen sich – wie oben bereits zu-
ähnliche Auslegung wurde innerhalb der Altersforschung
noch nicht formuliert. Der folgende Abschnitt dieses Ar-
tikels befasst sich daher eingehender mit diesen Unter-
                                                              8 Dabei betonen die neueren Gender Studies und Queers Studies,
schieden zwischen un/doing gender und un/doing age-           dass etwa auch Geschlecht keine binäre und auch nicht notwendiger-
Konzeptionen, und dementsprechend mit den Spezifika           weise eine kategoriale Differenz ist. Stattdessen wird, wie beim Alter,
der Differenzkategorie Alter, sowie ihrer Implikationen für   von einem Kontinuum zwischen Genderkategorien ausgegangen,
die Weiterentwicklung eines undoing age.                      sowie der Möglichkeit, sich überhaupt außerhalb von Geschlechter-
                                                              grenzen zu bewegen. Ein klassisches Beispiel, das auch Stefan Hir-
                                                              schauer (1993) aus einer doing-Perspektive untersucht hat, ist der
                                                              Wechsel von Geschlechtern und trans*-Identitäten. Nichtsdestotrotz
                                                              bleibt das Geschlecht im Vergleich zum Alter eine in den meisten
                                                              Lebensläufen zumindest als statisch imaginierte Kategorie.
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age          51

sammengefasst – teilweise Überschneidungen und teil-               die Schulpflicht oder die Blutspende, die – je nach
weise Differenzen. Insbesondere fällt auf, dass eine an            Organisation bis einschließlich 68 oder 73 Jahren
Hirschauer (2013, 2014, 2016) angelehnte Konzeption von            durchgeführt werden darf – fungieren als Infrastruk-
undoing als temporales Aussetzen oder Irrelevantmachen             tur eines doing age, denn sie sind explizit an das
für das Alter noch nicht entwickelt wurde. Dabei wird              kalendarische Alter gebunden. Dementsprechend ar-
sowohl das Hervorbringen als auch sein Unterlassen als             gumentierte auch das Gericht im Fall von Emil Ratel­
intersubjektive und interobjektive Leistung beschrieben,           bland – seine Klage abweisend –, dass eine rechtliche
diese aber auch in jener (geschlechtlichen bzw. alters-            Veränderung des Alters, anders als des Geschlechts
spezifischen) Infrastruktur verortet, die sie als solche           oder des Namens, deshalb nicht möglich sei, da zen-
ermöglicht oder verunmöglicht, bedingt oder erschwert              trale Rechte und Pflichten an das Alter gebunden
(vgl. Goffman 1994; Hirschauer 2013). Während sowohl               seien. Könnte man sein Alter formal ändern lassen,
in der soziologischen Geschlechter- als auch in der sozio-         könnte man sich selbsttätig von diesen Rechten und
logischen Altersforschung individuelle Möglichkeiten zu            Pflichten entheben oder aber sie eingehen, ohne dafür
heteronormativer Kritik und zu alternativen bzw. subver-           qualifiziert zu sein. Auch in neue Technologien ein-
siven Praktiken zur Veränderung von geschlechts- oder              geschriebene Skripte wie die von Ambient Assis­ted
altersbezogenen Ungleichheitsverhältnissen erforscht               Living Technologies stellen in gewisser Weise eine
werden (Butler 2004; Deutsch 2007; Sandberg & Marshall             Infrastruktur von Alter dar, denn sie sollen vor
2017; Schroeter 2018), bleibt die Analyse jener institutio-        allem alte Menschen auch mit mehreren Handicaps
neller Spielräume, in denen Alter ausgesetzt oder irrele-          im Sinne eines „ageing-in-place“ (u. a. Andrews &
vant gemacht werden kann, in der Altersforschung bisher            Phillips 2005) dazu befähigen, längst möglich in
ausgeblendet. Dort stehen eher die individuellen Möglich-          den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben (Schill-
keiten zum Verleugnen, Negieren, Reversieren von Alter             meier & Domenech 2010). Welchem Geschlecht diese
bzw. zum Abweichen und Unterlaufen von Altersnormen                Menschen angehören, ist bei der Verwendung der in
im Zentrum.                                                        den Wohnräumen installierten Kameras und bei der
     Der Fokus auf das Individuum, der in altersbezogenen          Nutzung der Sensoren, die diesen Menschen um den
undoing-Ansätzen vorherrscht, kann durch die oben be-              Hals hängen oder die sie als Uhr tragen, unwichtig.
schriebene Komplexität und Dynamik des Alters als Diffe-       –   Infrastrukturen des latenten Relevantsetzens von
renzmerkmal bedingt sein – Infrastrukturen scheinen auf            Alter im Sinne eines undoing age bei gleichzeiti-
den ersten Blick zu statisch, um diese Dynamik zu fassen.          gem manifesten Relevantsetzen von Geschlecht:
Hier kann es hilfreich sein, auf Hirschauers (2017: 15) Kon-       In Bezug auf situierte Praktiken des Konsums wird
zeption von Aggregatzuständen, in denen sich Geschlecht            Alter weniger explizit gemacht als Geschlecht: So
manifestiert, zurückzugreifen. Aggregatzustände erkennt            wird beim Friseur zwischen einem Damen- und einem
man daran, wo, wie stark und wie weitreichend sie sich             Herrenschnitt unterschieden und es gibt Frauen-
in der sozialen Welt materialisieren. Sehen wir uns diese          und Männerabteilungen in Bekleidungsgeschäften,
Materialisierungen in Bezug auf Alter und im Vergleich             während dieselben klaren Trennungslinien nach Alter
zu Geschlecht an, so sehen wir etwa, dass Alter sich in            nicht gezogen werden.9 Das heißt aber nicht, dass
manchen der genannten Bereiche expliziter manifestiert             Alter beim Friseur oder beim Kleidungskauf irrelevant
als Geschlecht, in anderen impliziter verhandelt wird und          gemacht wird – im Gegenteil. Die Alterskodierungen
in wieder anderen irrelevant gemacht wird. Diese Graduie-          sind jedoch impliziter als in Bezug auf Geschlecht,
rung im ‚Manifestationsgrad‘ von Alter zeigt sich etwa an          und häufig spielen beide Differenzierungen intersek-
folgenden Beispielen:                                              tional zusammen (z. B. Kleidungsnormen für ältere
– Infrastrukturen des manifesten Relevantsetzens                   Frauen versus ältere Männer, vgl. Twigg 2015). Ähn-
     von Alter im Sinne eines doing age bei zwischen-              liches gilt auch in Bezug auf Paarbeziehungen, bei
     zeitlichem Irrelevantsetzen von Geschlecht: Deut-             denen Altersdifferenzen je nachdem, wer der oder
     lich explizit gemacht wird Alter im Praxisrahmen der
     Erwerbsarbeit: Hier bestehen, sowohl nach „unten“
     als auch nach „oben“, explizite Altersbegrenzungen        9 Man denke hier etwa an einen günstigen „Altenschnitt“ oder eine
                                                               Unterwäscheabteilung für 70+. Eine Ausnahme stellt dabei die Le-
     im Sinne eines Verbots von Kinderarbeit und eines
                                                               bensphase Kindheit dar, deren Konsumgüter klare Altersbeschrän-
     gesetzlichen Rentenantrittsalters. Auch andere ge-        kungen aufweist: So gibt es Spielzeug für 3-jährige, Kleidung für
     setzliche Rechte, Pflichten und Vorgaben – etwa das       12-jährige, Haarschnitte für Kinder und altersabhängige Konsumver-
     aktive und passive Wahlrecht, das Recht zu heiraten,      bote für Zigaretten und Alkohol.
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