Un/doing age: Multiperspektivität als Potential einer intersektionalen Betrachtung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen - De Gruyter
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Zeitschrift für Soziologie 2021; 50(1): 42–57 Grit Höppner* und Anna Wanka* un/doing age: Multiperspektivität als Potential einer intersektionalen Betrachtung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen un/doing age: The Potential of Multi-Perspectivity for an Intersectional Analysis of Social Differences and Social Inequalities https://doi.org/10.1515/zfsoz-2021-0005 social inequalities adopt predominantly intersectional approaches. Criticism of such approaches focus primarily Zusammenfassung: In der aktuellen Soziologie werden on a limited range of already well-researched categories Diskussionen über die Herstellung von sozialen Differenz- of social difference as well as processes of their construc- kategorien, deren Wechselwirkungen und damit einher- tion (doings), whereas processes of their deconstruction gehenden Produktionen sozialer Ungleichheitsverhält- (undoings) tend to be neglected. This paper addresses nisse insbesondere über intersektionale Ansätze geführt. both points of criticism in order to enhance intersectional Kritik an intersektionalen Ansätzen richtet sich auf ihre theory building. To do so, it focuses on the construction of Fokussierung auf eine begrenzte Anzahl bereits gut er- age as a category and ‘metric’ of social difference (doing forschter Differenzkategorien und auf Konstruktionspro- age) instead of the traditional triad of race, class, and zesse (doings), wobei tendenziell Dekonstruktionsprozesse gender. Based on this, the concept of undoing age is in- (undoings) ausgeblendet werden. Der Beitrag greift beide troduced. To make age as a category of social difference Kritikpunkte auf, um sie für die intersektionale Theorie- accessible to intersectional analysis, the paper, in conclu- bildung fruchtbar zu machen. Erstens wird statt auf die sion, develops a multi-perspective framework. klassische Trias aus race, class, gender das Differenzmerk- mal Alter fokussiert, um dessen Relevanz als ‚metrische Keywords: un/doing Age; De/construction; Age as Cate- Variable‘ deutlich zu machen. Zweitens wird zusätzlich gory of Social Difference; Multi-perspectivity; Social Prac- zu doing age ein undoing age als Konzept ausgearbeitet. tices; Social Inequalities. Um die Differenzkategorie Alter einer intersektionalen Be- trachtung zugänglich zu machen, entwickelt der Beitrag damit einen multiperspektivischen Analyserahmen. 1 Einleitung Schlüsselwörter: un/doing age; De/Konstruktion; Alter als soziale Differenzkategorie; Multiperspektivität; soziale In der aktuellen Soziologie besteht über soziologische Praktiken; soziale Ungleichheit. Theorietraditionen hinweg Konsens darüber, dass soziale Differenzen nicht vorgängig oder natürlich existieren, sondern als Konstruktionen zu verstehen sind. An Kon- Abstract: Current sociological debates about the con- struktionsprozessen von Differenzen sind unterschied- struction of categories of social difference as well as their lichste gesellschaftliche Akteur*innen – von Diskursen interdependencies and the accompanying production of über Individuen – beteiligt, und auch die Forschung selber erzeugt, modifiziert oder neutralisiert Differenzen mit (vgl. *Korrespondenzautorin: Grit Höppner, Katholische Hochschule etwa Bourdieu 1987; Luhmann 1997; Lutz/Wenning 2001). Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Sozialwesen, Piusallee 89, Differenzen gelten damit als kontingent, also als historisch 48147 Münster. E-Mail: g.hoeppner@katho-nrw.de und kontextspezifisch geprägt (Hirschauer 2014). In dieser Anna Wanka, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich lokalen Spezifik bringen sie soziale Klassifizierungen und Erziehungswissenschaften, Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, DFG-Graduiertenkolleg ‚Doing Transitions‘, Ordnungen unterschiedlicher Reichweite hervor und sta- Theodor-W.-Adorno-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main, bilisieren und legitimieren diese. Sie verdichten sich zu E-Mail: wanka@em.uni-frankfurt.de Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, soziale oder
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age 43 ethnische Herkunft oder Behinderung, die ihrerseits wie- aus einem Set konkurrierender Kategorisierungen, die erst derum als Grundlage zur Organisation sozialer Prozesse einen Unterschied schafft, der einen Unterschied macht“ herangezogen werden. Solche Differenzkategorien ziehen (Hirschauer 2014: 170). Welche Differenzkategorien also häufig Konsequenzen in den Möglichkeiten der sozialen wissenschaftlich identifiziert und als relevant gesetzt, Teilhabe und im Verfügen über gesellschaftlich relevante welche hingegen eher marginalisiert, abgewertet oder Ressourcen nach sich (Burzan 2013; Walgenbach 2016) ausgeblendet werden, ist folglich nicht beliebig, sondern und dienen dadurch als Referenzkategorien für Diskrimi- eng an historisch geprägte und geographisch spezifische nierung, Marginalisierung und soziale Ungleichheit. Logiken sowie an diskurs- und machtpolitische Entschei- Soziologische Diskussionen über die enge Verzahnung dungen gebunden (Walgenbach 2016). von Differenzkategorien und Ungleichheitsverhältnissen Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf jene Pro- werden in den letzten Jahrzehnten insbesondere über zesse, die von intersektionalen Analysen untersucht Ansätze der Intersektionalität bzw. Mehrfachzugehörig- werden. Gemeinhin werden Differenzkategorien über keiten geführt (z. B. Knapp & Wetterer 2003; Crenshaw deren soziale Konstruktionsprozesse auf ihre Funktions- 1991; Lutz et al. 2010; Lutz & Wenning 2001; Walgenbach weise und Ungleichheitseffekte hin betrachtet (Hirschauer et al. 2007; Winker & Degele 2009). In intersektionalen An- 2014). Indem Ungleichheitskategorien fokussiert werden, sätzen wird davon ausgegangen, dass sich Ungleichheits- die Individuen „totalisierend einschließen“ (ebd.: 176), verhältnisse weder über einzelne Differenzkategorien – wird davon ausgegangen, dass diese immer und in allen und hier ist insbesondere die Trias class, race, gender Lebenssituationen relevant werden. Wird jedoch davon angesprochen – erschließen und analysieren lassen, ausgegangen, dass jede Person eine Vielzahl an „Mitglied- noch über deren bloße Addition. Stattdessen werden die schaften“ aufweist, so können nicht alle dieser Differenzen Wechselwirkungen und Überkreuzungen von Differenz- in jeder sozialen Situation bedeutsam (gemacht) werden – kategorien in den Blick genommen, um Ungleichheitsver- sie müssen auch einmal „ruhen dürfen“ (ebd.: 177). Stefan hältnisse theoretisch zu durchdringen, zu analysieren und Hirschauer und Kolleg*innen der DFG-Forschergruppe so die Konsequenzen dieser kategorialen Verwobenheiten „un/doing differences. Praktiken der Humandifferenzie- für die Verteilung von Lebenschancen (Burzan 2011) und rung“ argumentieren dementsprechend, dass zur Kon- die soziale Platzierung von Menschen abzubilden (Giebe- struktion sozialer Differenzen (doing) immer auch deren ler et al. 2013). Dekonstruktion (undoing) mitzudenken ist. Mit dieser de- Seit einiger Zeit regt sich jedoch auch Kritik an in- konstruktivistischen Perspektive ist gemeint, dass etwa tersektionalen Ansätzen. Hier sind insbesondere zwei Geschlecht nicht fortlaufend getan wird, sondern dass Ge- Kritikpunkte zu nennen: erstens ihre Fokussierung auf schlecht zwischenzeitlich auch irrelevant gemacht, unter- eine begrenzte Anzahl bereits gut erforschter Differenz- laufen oder ausgesetzt werden kann.1 Diese Kombination kategorien und zweitens ihr Fokus auf Konstruktions- aus konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Ele- prozesse (doings), wobei tendenziell Dekonstruktionspro- menten ist vereint im Konzept des un/doing differences. zesse (undoings) ausgeblendet werden (Hirschauer 2014). Dieses äußert sich als „flüchtige[r] Schwebezustand“, als In Bezug auf den ersten Kritikpunkt wird also konstatiert, ein „Moment der Ununterschiedenheit und In-Differenz dass intersektionale Ansätze und Analysen, sowohl im zwischen der Relevanz und Irrelevanz sozialer Unterschei- deutschsprachigen als auch im angloamerikanischen dungen“ (Hirschauer 2017: 170). Raum, vor allem auf die Differenzkategorien class, race, Der vorliegende Beitrag greift beide Kritikpunkte auf, gender fokussieren. Diese Auswahl beruht auf in der his- um sie für die intersektionale Theoriebildung fruchtbar zu torischen Entwicklung von intersektionalen Ansätzen machen. Erstens wird daher im Beitrag statt auf die Trias bedingten Setzungen, die zu einer Hierarchisierung von aus race, class und gender das Differenzmerkmal ‚Alter‘ Differenzkategorien beigetragen haben. Ebenso ungleich- fokussiert. Das geschieht keineswegs, um aus der Trias heitsfördernde Dimensionen werden dadurch seltener ein Quartett zu machen – viel eher macht uns die kon- problematisiert oder ganz ausgeblendet – etwa Alter (als sequente, intersektionale Berücksichtigung von Alter als Ausnahme siehe z. B. Denninger & Schütze 2017; Richter ‚metrischer Variable‘ deutlich, mit welcher Komplexität 2018; Traunsteiner 2018) oder Behinderung (als Ausnahme siehe z. B. Dederich 2007; Waldschmidt 2013). Diese Un- 1 Damit ist keineswegs ein Aussetzen der Wirksamkeit von Ge- gleichbehandlung von Differenzkategorien vermittelt den schlecht gemeint. Stattdessen steht solch eine Dethematisierung von Anschein, class, race, gender seien wirksamer als andere Geschlecht für das Funktionieren von Geschlechterdifferenzen, das (Denninger & Schütze 2017). Die Auswahl von Differenz- heißt hier ist die Offensichtlichkeit, ja Banalität dieser Unterschei- kategorien deutet jeweils hin auf eine „sinnhafte Selektion dung angesprochen (siehe hierzu auch Westheuser 2015).
44 Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age und Dynamik intersektionale Theoriebildung umgehen werden im Sinne einer intersektionalen Perspektive doing- können muss. Bisher wurde Alter als Differenzkategorie in Ansätze zu Geschlecht und Alter und damit die Konstrukti- intersektionalen Ansätzen nur selten konsequent berück- onsweisen dieser zwei Differenzkategorien vertieft. Daran sichtigt, obwohl die Wirksamkeit von Alter ungebrochen schließt sich als zweite Perspektive und im Sinne von un/ ist – in der Gegenwartsgesellschaft vielleicht noch stärker doing-differences eine Auseinandersetzung zu undoing als in den vorherigen Jahrzehnten. Wichtig erscheint uns, gender und undoing age an. Da sowohl Geschlecht als auch die Eigenständigkeit von Alter als Differenzkategorie sicht- Alter jeweils explizit fokussiert wird, kann dem Vorwurf bar zu machen und Alter nicht nur als eine Verstärkung einer Relativierung von Differenzkategorien Rechnung ge- von anderen Ungleichheitsverhältnissen zu verstehen. tragen werden. Die dritte Perspektive bezieht sich auf die Zweitens plädieren wir dafür, dass neben den Konstruk- Differenzkategorie Alter mit ihren lebenslaufbezogenen tionsprozessen sozialer Differenzkategorien auch deren Implikationen. Dazu werden die Konturen der Differenz- Dekonstruktionen konsequent mitgedacht werden sollten. kategorie Alter skizziert, und sowohl deren Spezifika im Neben der Skizzierung eines intersektionalen doing age Vergleich zu anderen Differenzkategorien herausgear- soll deshalb die Gegenseite dieser Medaille, nämlich ein beitet, als auch Konsequenzen für die Weiterentwicklung undoing age, ausgearbeitet werden. In der Alter(n)sfor- von undoing age benannt, die in den Begriffen Materia- schung wurde die Idee des undoing age erst in den letzten lität, Kontinuität und Prozesshaftigkeit zusammengefasst Jahren vereinzelt und im Vergleich zu undoing gender sind. Ein Fazit zu den Potentialen einer so verstandenen weniger ausdifferenziert aufgegriffen. Multiperspektivität im Rahmen einer intersektionalen Be- Daraus ergeben sich die drei Ziele des Beitrags: Um trachtung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen Alter stärker als bisher geschehen als Differenzkategorie rundet den Beitrag ab. zu theoretisieren und intersektionale Theoriebildung mit der Kategorie Alter voranzutreiben, wird erstens das doing age-Konzept als Pendant zum doing gender-Konzept dar- gestellt. Um zweitens das in der Intersektionalitätsdebatte 2 doing-Ansätze: bisher zu wenig genutzte Potential der Dekonstruktion Zur Konstruktion der Differenz- für eine Ausdifferenzierung der Kategorie Alter deutlich zu machen und um – in Anlehnung an Hirschauer (2017: kategorien Geschlecht und Alter 12–13) – Altersindifferenzen zu beleuchten, wird dabei Zunächst wendet sich der Beitrag jenen soziologischen insbesondere auf die Skizzierung eines undoing age ab- Ansätzen zu, die Differenzkategorien als durch soziale gestellt. Durch die konsequente Berücksichtigung des Praktiken (doings) konstruiert verstehen. Dabei werden prozessualen Charakters der Differenzkategorie Alter zunächst doing gender-Konzepte und im Anschluss kann – drittens – deren Mehrwert für eine Betrachtung daran Theorieansätze zum doing age diskutiert. Seit den von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen nicht nur 1980er Jahren wurden in der Soziologie vermehrt doing- situativ-dynamisch, sondern auch in einer lebenslaufbezo- Ansätze entwickelt, die soziale Differenzkategorien wie genen (Zeit-)Perspektive noch deutlicher gemacht werden. Geschlecht, Alter oder Ethnizität als durch soziale Prakti- Der so entwickelte multiperspektivische Analyse- ken hergestellte Konstruktionen begreifen. Ausgegangen rahmen berücksichtigt somit (1) über klassische Ungleich- ist diese theoretische Ausrichtung insbesondere von der heitskategorien hinausgehend (2) die Konstruktion und Genderforschung: Schon Ende der 1960er Jahre machte Dekonstruktion von Mehrfachzugehörigkeiten sowie (3) der Soziologe Harold Garfinkel auf der Grundlage seiner ihre Prozessualität und Dynamik, die nicht nur in einer ethnomethodologischen Studien darauf aufmerksam, situativen Zeitlichkeit, sondern auch über die Lebenszeit dass Geschlecht nicht naturgegeben ist, sondern, dass zu betrachten ist. Dieser Analyserahmen wird im Beitrag Geschlechterrollen und Geschlechtsidentitäten durch anhand der Differenzkategorien Geschlecht und Alter be- bewusste und insbesondere durch unbewusste Bewe- bildert. Die Auswahl der Differenzkategorie Geschlecht gungsmuster und Handlungsweisen, die auf körperlich liegt in der intensiven Auseinandersetzung mit Geschlecht verankerten Routinen basieren, hervorgebracht und ver- und Geschlechterverhältnissen in der Frauenforschung mittelt werden (Garfinkel 1984 [1967]). Candace West und und den Gender Studies begründet, die ein umfangreiches Don Zimmermans Weiterentwicklung von Harold Garfin- Theorierepertoire zur Folge hatte, das für die Argumenta- kels Geschlechterverständnis in Form des Ansatzes des tion des Beitrags produktiv genutzt werden kann. doing gender im Jahr 1987 hat in der sozialwissenschaft- Um das Prinzip der Multiperspektivität zu vertiefen, lichen Geschlechterforschung die Idee der sozialen Kon- gliedert sich der Beitrag in drei Hauptteile. Zunächst
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age 45 struiertheit von Geschlecht maßgeblich beeinflusst. West wurde jedoch Kritik an dem Konzept laut. Ein wesentli- und Zimmerman (1987: 127) unterscheiden dabei „sex“ cher Vorwurf lautete, dieser Ansatz würde lediglich weiße als biologisches Geschlecht, dessen Klassifikation bei der Frauen der Mittelschicht und deren Herstellungsmodi von Geburt nach sozial vereinbarten äußeren Geschlechts- Geschlecht berücksichtigen, nicht jedoch die von schwar- merkmalen oder durch Chromosomenanalyse erfolgt, von zen Frauen. Ungleichheitserfahrungen von Frauen seien der „sex-category“, deren Zuordnung im Alltag auf der vielfältiger und müssen daher differenzierter betrachtet Basis des zugeordneten biologischen Geschlechts und der werden (z. B. Crenshaw 1989). Dieser Kritik begegneten dadurch erwarteten Darstellung beruht. Unter „gender“ Candace West und Sarah Fenstermaker (West & Fenster- verstehen West und Zimmerman das sozial erworbene Ge- maker 1995; Fenstermaker & West 2001), indem sie nicht schlecht, das im Alltag in Interaktionen vollzogen und her- länger ausschließlich Geschlecht, sondern auch soziale gestellt wird. Während in diesem ethnomethodologischen Klasse und Ethnizität in ihrem Ansatz des doing difference Verständnis von doing gender Geschlecht als etwas der als Kategorien, die soziale Ungleichheiten bedingen, be- Darstellung „Vorgelagertem“ aufgefasst wird, betonen pra- rücksichtigten. Die drei Kategorien werden dabei nicht xistheoretische und poststrukturalistische Perspektiven, in einem vorab festgelegten Verhältnis zueinander be- wie etwa von Judith Butler (1991) formuliert, die Gleich- stimmt und deren jeweilige Relevanz somit festgelegt. zeitigkeit der Performativität von (Sprech-)Akten und der Stattdessen wird angenommen, dass Geschlecht, soziale Hervorbringung von Geschlecht – eine konzeptionelle Klasse und Ethnizität in sozialen Prozessen gleichzeitigt Differenzierung, die auch für undoing-Ansätze relevant ist. hergestellt werden, und folglich „difference as an ongoing Die Hinwendung zu vergeschlechtlichten Konstruk- interactional accomplishment“ zu verstehen sei (West & tions- und Zuschreibungsprozessen hat die sozialwissen- Fenstermaker 2002: 56). Die Verhältnisbestimmung des schaftliche Geschlechterforschung maßgeblich bereichert. sich fortlaufend konstituierenden Beziehungsgefüges Denn mit ihr ging eine Abkehr von einem Verständnis erfolgt mittels des Konzepts der Intersektionen (Überlage- einher, das Geschlecht als eine biologische Determinante rungen). Stefan Hirschauer (2014) kritisiert und erweitert auffasste, mittels derer vergeschlechtlichte Annahmen na- dieses Verständnis, indem er statt von stabilen Intersek- turalisiert und als Konsequenz einer körperlichen ‚Grund- tionen von kontingenten und multiplen Mitgliedschaften ausstattung‘ konzeptualisiert wurden (Oakley 1972). Der spricht. Jedes Individuum vereint dabei eine Vielzahl an durch den Verweis auf die soziale Konstruiertheit von Mitgliedschaften, die von identitär stärker vereinnahmen- Geschlecht in den Analysefokus gerückte interaktive Aus- den Mitgliedschaften wie Geschlecht oder Klasse über for- handlungsprozess als zentraler Motor der Hervorbringung malisierte Mitgliedschaften in Organisationen bis hin zu von Geschlecht wurde in den 1990er Jahren auch in der diffusen Mitgliedschaften, wie die Beteiligung an sozialen deutschsprachigen Soziologie weiter ausgearbeitet (u. a. Netzwerken, reichen. Welche davon wie, wann, wo und Gildemeister & Wetterer 1992; Hirschauer 1993; Lindemann von wem situativ relevant (doing) oder situativ irrelevant 1993; Villa 2000). Dadurch konnte gezeigt werden, dass (undoing) gemacht werden, wird aus dieser Perspektive zu die interaktive Hervorbringung von Geschlecht auf Kon- einer empirischen Frage. struktionen und Zuschreibungen basiert, die in Normali- Um der konzeptionellen Verengung bezogen auf die sierungsprozesse eingebettet sind. Diese verweisen wie- drei prominenten Differenzkategorien class, race, gender derum auf soziale Ungleichheits- und Machtverhältnisse, zu begegnen, wurden in der Kindheitsforschung (z. B. wie sie unter anderem in der Erwerbsarbeit, etwa durch Lee 2008), der kritischen Erwachsenheitsforschung (z. B. die Feminisierung von Pflegeberufen (Wetterer 2002), Burnett 2010) und der Altersforschung (z. B. Laz 1998; sowie durch die Arbeitsteilung bei Paaren (Grunow 2013; Schroeter 2012) auch Konzeptionen eines doing age ent- Hochschild & Machung 1993) relevant gemacht werden. wickelt. Dadurch wurde auch die Theoretisierung der Mit dem Konzept des doing gender wurde nicht nur auf die Differenzkategorie Alter angestoßen. In diesen Feldern Omnipräsenz von Geschlecht in jeglichen sozialen Situa- wurde die soziale Konstruktion von Alter zunächst his- tionen aufmerksam gemacht, sondern auch gezeigt, dass torisch-institutionell hergeleitet, wie etwa in Phillippe Geschlecht hervorzubringen immer auch bedeutet, eines Ariès (1962) Thesen zur „Erfindung von Kindheit“ oder von zwei Geschlechtern zu ‚machen‘. Unweigerlich wird Martin Kohlis (1985) Darstellung der Entwicklung der somit durch die Performanz von Geschlecht eine binär Altersphase mit der Etablierung des Rentensystems. Aus strukturierte Differenz hergestellt, die die Norm der Zwei- diesen stärker strukturalistisch ausgerichteten Ansätzen geschlechtlichkeit reproduziert (Butler 1991, 1993). entwickelten sich jedoch in Anlehnung an doing gender Bald nach der Veröffentlichung von Candace West bald auch interaktionistisch-materialistische Ansätze, und Don Zimmermans Aufsatz zu doing gender 1987 die nicht lediglich die soziale Konstruiertheit von Alter
46 Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age betonen, sondern diese auch in sozio-materiellen Prak- (vgl. van Dyk 2015). In den entsprechenden doing age- tiken verorten. Ansätzen wird diese Doppelköpfigkeit jedoch noch wenig Das interaktionistische Konzept des doing age des berücksichtigt (van Dyk 2019). Statt einer Theoretisierung Alterssoziologen Klaus Schroeter (2008, 2012) geht dem- von doing age über den Lebensverlauf finden sich, wie entsprechend in Analogie zu doing gender von der grund- oben skizziert, Konzeptionen in den nach Lebensphasen legenden Annahme aus, Altern vollziehe sich als soziale getrennten Sub-Feldern der Kindheitsforschung (z. B. Praxis in alltäglichen Interaktionsprozessen zwischen Lee 2008), der kritischen Erwachsenheitsforschung (z. B. Menschen und ist damit „ein sich mit jeder menschlichen Burnett 2010) oder der Altersforschung (z. B. Schroeter Handlung vollziehender fortlaufender Prozess interakti- 2012). Dadurch wird die an sich metrische Einteilung von ver Darstellung und sozialer Zuschreibungen“ (Schroeter Alter zuerst kategorial in Lebensphasen verdichtet, die 2008: 250). Er verortet diese Praktiken auf fünf Ebenen: wiederum in den ausdifferenzierten Forschungsfeldern 1) in Symbolen und Repräsentationen, 2) in Institutionen, als binär betrachtet werden: Es wird Kindheit oder Alter 3) in Interaktionen, 4) in Körpern, Dingen und Räumen praktisch vollzogen oder negiert, und fällt eine Person und 5) in Affekten und Sinnen. Während seine Kon- aus der entsprechend fokussierten Kategorie, so wird sie zeption stärker auf (menschliche) Körper, Symbole und im jeweiligen Forschungsfeld nicht mehr oder nur noch Interaktionen fokussiert, finden sich in der Kindheits- als komplementäres „Anderes“ berücksichtigt. Die Alters- forschung Ansätze, die bereits über einen reinen Sozial- forschung beschäftigt sich also beispielsweise mit der konstruktivismus hinausgehen und stärker nicht-mensch- Performanz des höheren Erwachsenenalters, theoretisiert liche Akteur*innen mitberücksichtigen. Kindheitsforscher dabei aber weder die Performanz von Kindheit noch den Nick Lee (2008) versteht in diesem Sinne Kindheit etwa als performativen Wechsel zwischen Alterskategorien mit. „an emergent property of interactions between persons, Insbesondere in der intersektionalen Betrachtung mit discourses, technologies, objects, bodies etc.“ (Lee 2008: anderen Differenzkategorien verkompliziert die Berück- 60) Ähnlich wie von Lee wird auch in aktuellen Weiter- sichtigung von Alter das soziologische Verständnis eines entwicklungen des doing age-Konzeptes im Bereich der doings maßgeblich: So multipliziert sich einerseits die Altersforschung argumentiert, in denen das Verhältnis Anzahl an möglichen überlappenden Mitgliedschaften, von Alter(n) und Materialität neu gefasst wird und dazu wie Hirschauer (2014: 171) soziale Differenzmerkmale die Wechselwirkungen zwischen Alter(n) und Körpern bezeichnet, durch die intersektionale Berücksichtigung (Höppner 2015a, 2015b), Alter(n) und Alltagsgegenstän- einer kontinuierlichen Variable wie Alter, die mögliche den, sowie neuen Technologien (Artner et al. 2017; Depner Ausprägungen von 0 bis über 100 Jahre hat. Andererseits 2015; Endter 2016; Wanka & Gallistl 2018) und Alter(n) und dynamisiert die intersektionale Berücksichtigung von Alter Räumen (Hahmann 2018; Wanka 2016; Wanka & Oswald diese komplexen Vollzugswirklichkeiten auch noch, indem 2020) analysiert werden. Diese Arbeiten ermöglichen nicht nur beispielsweise die intersektionale Mitgliedschaft eine detaillierte Beschreibung des Zusammenspiels von „35 Jahre alte, schwarze Akademikerin“ vollzogen werden menschlichen Körpern, Artefakten, Technologien und muss, sondern dieses Gefüge auch noch ständig in prozes- Räumen in der Hervorbringung von Alter(n), ohne diese sualen Verschiebungen begriffen ist, da wir ständig älter Materialitäten als natürliche Tatsachen zu essentialisieren werden. Das Differenzmerkmal ‚Alter‘ bringt besondere oder als kulturelle Bedeutungsträger diskursiv aufzulösen. Herausforderungen für die sozialkonstruktivistische inter- Zusätzlich zur Frage, wie sich Alter(n) materiell vollzieht, sektionale Soziologie mit sich, für die bisher noch keine problematisieren erste Arbeiten auch, wo Alter(n) vonstat- ausreichenden Theoretisierungen entwickelt wurden. tengeht und welche Materialität/en darin involviert bzw. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass so- hervorgebracht werden (Höppner & Urban 2018).2 ziologische doing-Ansätze zunächst vor allem in der Ge- Anders als Geschlecht ist Alter jedoch immer gleicher- schlechterforschung entwickelt wurden, sich jedoch bald maßen Zustand (einer Person wird ein bestimmtes Alter darauf in andere Forschungsfelder, wie die Migrations-, zugeschrieben) und Prozess (diese Zuschreibung schrei- Bildungs-, Kindheits- und Altersforschung ausgebreitet tet kontinuierlich linear voran). Dies wird in der Alters- und zunehmend intersektional ausgerichtet haben. Dabei soziologie als „Doppelköpfigkeit“ des Alters bezeichnet wurden in der Altersforschung Ansätze aus der Geschlech- terforschung weitgehend übernommen, ohne den Spe- zifika der Differenzkategorie ‚Alter‘ vollends Rechnung zu 2 Siehe hierzu auch das von der Deutschen Forschungsgemein- schaft finanziell unterstützte Netzwerk „Materielle G erontologie“, tragen. Allen solchen doing-Ansätzen ist gemein, dass sie das im Januar 2020 seine Arbeit aufgenommen hat (https://material als Grundlage für die Herstellung sozialer Differenzkate- gerontology.wordpress.com/). gorien ein praktisches Wissen ansehen, das intersubjek-
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age 47 tiv (Meissner 2008) und teilweise interobjektiv (Höppner (2004) Verständnis von undoing gender auf individuelle, 2021)3 geteilt wird. Geschlechtliche, altersbezogene oder subversive Praktiken, die sich restriktiven Normen zu Ge- ethnische Zugehörigkeit wird also nicht nur performativ schlecht und Sexualität widersetzen. Während sich Butler hergestellt, sondern muss vom Gegenüber als solche (1991) in ihrem poststrukturalistischen Verständnis von erkannt und zugeordnet werden. Ist ein Mensch in solch doing gender auf die Gleichzeitigkeit von performativen einem intersubjektiven bzw. interobjektiven Verständi- (Sprech-)Akten und der Hervorbringung von Geschlecht gungsprozess einmal als männlich oder weiblich, jung bzw. Zweigeschlechtlichkeit bezieht, so scheint ihre Aus- oder alt (differenz-)kategorisiert, werden alle seine folgen- legung von undoing gender von einer bereits hergestellten den Artikulationen vor diesem Hintergrund interpretiert. heteronormativen Struktur auszugehen, die es mittels sub- Diese Annahme mutet insbesondere für eine poststruk- versiver Praktiken zu überwinden gilt – es gibt also kein turalistische Lesart von doing-Ansätzen reichlich deter- undoing ohne ein zeitlich vorgelagertes doing. Ähnlich ministisch an. Es stellt sich also die Frage, ob es aus dem angelegt ist das undoing gender-Konzept von Francine vermeintlichen Teufelskreis von Performanz von etwas M. Deutsch (2007), das die im doing gender-Konzept an- und Anerkennung als etwas einen Ausweg gibt – oder, visierte interaktive Aushandlung von Geschlecht in den mit West und Zimmerman (1987) gesprochen: „Can we Blick nimmt und daraufhin befragt, welche Potentiale sich ever not do gender“ (und/oder Alter, Ethnizität, etc.)? Um durch eine gezielte Verwendung von Sprache eröffnen, diese Frage zu beleuchten, wenden wir uns im folgenden um Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit zu Abschnitt undoing-Ansätzen zu. problematisieren und zu kritisieren, mit dem Ziel, einen Wandel in geschlechtsbezogenen Ungleichheitsverhält- nissen anzustoßen. Hirschauers (1994, 2001, 2013) Kon- 3 undoing-Ansätze: zeption von undoing gender geht dagegen davon aus, dass soziale Praktiken des doing gender auch unterbrochen Zur Dekonstruktion der Differenz- oder vergessen werden können, ohne dass sich dies – wie kategorien Geschlecht und Alter bei Butler – explizit gegen einen Umstand Y richtet. Statt- dessen können sie auch nicht vollzogen werden, weil in einer bestimmten Situation konkurrierende Mitgliedschaf- Wenn wir einerseits davon ausgehen, dass Differenzkate- ten relevant gemacht werden oder etwa aufgrund von ‚in- gorien in sozialen Praktiken vollzogen, durch diese her- frastrukturellen Löchern‘ keine geschlechtlichen Adressie- gestellt, reproduziert und/oder transformiert werden, so rungen und Re-Adressierungen stattfinden (können) – sie impliziert das andererseits, dass diese Differenzierungen werden zwischenzeitlich also schlicht irrelevant gemacht. auch kritisch hinterfragt und deshalb anders (Butler 2004; Um diese Blickwinkelverschiebung zu konzeptualisieren, Deutsch 2007) oder gar nicht vollzogen werden können schlägt Hirschauer vor, Geschlechterkonstruktionen und (Hirschauer 2014, 2017): Die Annahme eines doings impli- Geschlechterunterscheidungen nicht als omnipräsente ziert damit immer auch ein undoing (Hirschauer 2017: 11). Prozesse aufzufassen, wie dies West und Zimmerman Hirschauer hat bereits zu Beginn der 1990er Jahre darauf (1987) tun, sondern deren episodenhaften Charakter an- hingewiesen, dass zusätzlich zum doing gender auch ein zuerkennen und stärker zu berücksichtigen. Geschlecht undoing gender denkbar sein müsse; auch wenn diese Idee kann dann stellenweise aus dem Blick geraten, wenn es Gefahr läuft, die Semantik der Gleichheit zu unterstützen, nicht permanent aktualisiert, also nicht wiederholt wird. die zu einer Nivellierung von Geschlechterungleichheiten beitragen kann (u. a. Heintz & Nadai 1998). „Wird eine Unterscheidung [Anm.: aus einer Reihe konkurrie- In Bezug auf undoing gender bestehen heute ver- render Differenzierungen] nicht selegiert, so findet sie bis auf schiedene Ansätze: So fokussiert etwa Judith Butlers Weiteres nicht statt, sie ruht in einer Art Stand-by-Modus. […] Die Nicht-Zugehörigkeit oder Ungebundenheit von Personen entspricht einer mehr oder weniger dauerhaften Indifferenz von 3 Interobjektivität im Sinne Bruno Latours (2001) meint hier, dass Differenzen.“ (Hirschauer 2017: 12–13) nicht per se davon ausgegangen werden kann, dass sich in prakti- schen Vollzügen ausschließlich Menschen ihr Alter gegenseitig an- Solch ein „aktives ‚Absehen‘“ kann eine Art „soziales Ver- zeigen. Stattdessen ist in den jeweiligen situativen Vollzügen von gessen“ (Hirschauer 2013: 160) mit sich bringen: Menschen Alter(n) zu problematisieren, wer oder was im Prozess der Hervor- nehmen sich während des undoings möglicherwiese nicht bringung von Alter(n) jeweils als Altersakteur erkannt und adressiert wird. Solch eine interobjektive Sichtweise vermeidet durch die An- als weiblich oder männlich wahr und/oder ihr Gegenüber, erkennung der materiellen Vielfalt von Alter(n) determinierende und das „Publikum“, adressiert sie nicht als Frau oder Mann. kausale Setzungen zugunsten des menschlichen Körpers. Dann ‚ruht‘ ihre ‚gesellschaftliche Mitgliedschaft‘ als An-
48 Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age gehörige einer Geschlechtergruppe quasi für eine gewisse an Verben verdeutlicht bereits, dass undoing age – ebenso Zeit, und zwar so lange, bis ihr Geschlecht wieder relevant wie undoing gender – unterschiedlich ausgelegt werden gemacht wird und folglich auf Geschlecht als soziale Ord- kann. In der Altersforschung finden sich dazu verschiedene nungskategorie rekurriert wird. Wird also Geschlecht in Interpretationen, die jedoch insbesondere auf das Verleug- einer konkreten Situation nicht als Differenzmerkmal he- nen, Negieren und Reversieren von Alter (vgl. Haller 2010; rangezogen, so wird es situativ undone4 – kann allerdings Pfaller 2016) einerseits und das Abweichen und Unter- in einer anderen Situation wieder aktualisiert werden. laufen von Altersnormen (vgl. Martin 2017; Schroeter 2018; Gründe gibt es hierfür verschiedene: So können – ähnlich Sandberg & Marshall 2017) andererseits fokussieren. Beide dem doing difference – andere Differenzkategorien als Ge- dieser Interpretationen gehen damit im Sinne einer ethno- schlecht akzentuiert werden, Geschlechterdarstellungen methodologischen Perspektive von einem zeitlich vorgela- können heruntergespielt oder eine Geschlechteradressie- gerten doing aus, einer bereits hergestellten Kategorie und rung kann abgewehrt werden. den mit ihr verbundenen Normen, Erwartungen und Adres- Wie einfach oder schwierig es ist, eine Differenzierung sierungen, an der sich das undoing abarbeitet (siehe oben). irrelevant zu machen, hängt nach Hirschauer von ihrem Wenn wir also von einem undoing age sprechen, dann „Aggregatzustand“ (2017: 15) ab. Diesen erkennt man u. a. stellt sich zuallererst die Frage, welche Definition von daran, wo, wie stark und wie weitreichend er sich in der Alter eben nicht vollzogen wird: Wird eine bestimmte Art sozialen Welt materialisiert: etwa in sprachlichen Struk- von Alter getan, so wird im Umkehrschluss immer min- turen (z. B. Grammatik, Personennamen), diskursiven destens eine andere Art von Alter nicht getan. Anders als Repräsentationen (z. B. Redensarten, visuelle Darstellun- beim un/doing gender existieren dabei allerdings nicht gen), kognitiven Schemata (z. B. Stereotypen), situierten nur zwei Möglichkeiten – männlich oder weiblich – und Praktiken (z. B. Arbeit, Konsum), institutionellen Infra- deren verschiedene Auslegungen, sondern eine Vielzahl strukturen (z. B. sozialen Beziehungen, Organisationen), potentieller Alterskategorien und -interpretationen. In im sozial geformten Körper, in Artefakten, Technologien heute hegemonialen Konzepten wie dem aktiven und er- und Architekturen. Freiräume für undoing gender sieht folgreichen Alter (vgl. Rowe & Kahn 1997) wird ein „gutes“ Hirschauer (2013) dementsprechend in der Modifikation Altern damit gleichgesetzt, überhaupt nicht zu altern der „Infrastruktur“5, die Praktiken des doing gender auf- (McHugh 2000). Alter in diesem Sinne erfolgreich zu voll- rechterhält: Vornamen und Produkte, die nicht nur eines ziehen bedeutet also Alter gleichzeitig auf eine bestimmte der zwei Geschlechter adressieren, Freundschaften und Art zu vollziehen und andere Formen von Alterspraktiken Paarbildung, die geschlechtlich nicht mehr klar verteilt zu unterlassen: Alter wird als mittleres Erwachsenen- sind, das Internet, das gegengeschlechtliche Erfahrungen alter oder gar Jugend inszeniert, während biologistische ermöglicht, unsere Sprache, die zunehmend Gleichheit und defizitäre Altersbilder negiert werden. Man „tut“ zwischen Geschlechtern vermittelt, usw. also nicht gebrechlich, sondern fit, gesund, selbstständig In Analogie zu Konzeptionen eines undoing gender und aktiv. Besonders explizit macht diese Ambivalenz wurde in der Altersforschung in den letzten Jahren die zwischen Aneignung spezifischer Alterspraktiken und Denkfigur eines undoing age entwickelt. Dieses kann als Widerstand gegen andere Larissa Pfaller (2016) in ihren Konstellation performativer Praktiken verstanden werden, Analysen von Anti-Ageing Praktiken. In diesen, so die die restriktive und normative Konzeptionen von Alter an- Autorin, wird nicht nur das eigene Alter(n) verhandelt, nulieren, zurücknehmen, rückgängig machen, löschen, wi- sondern es werden auch Imperative von Selbstsorge und derrufen, aufknoten, trennen, auflösen, öffnen, zerstören einem „guten Leben“ miteinander verknüpft und voll- oder zunichtemachen (vgl. Haller 2010: 218). Diese Vielzahl zogen. Diese Praktiken des Verleugnens, Negierens und der Versuch des Reversierens von Alter finden dabei nicht nur im drastischen Beispiel von Schönheits-Operationen 4 Als eine situative Möglichkeit eines solchen undoings nennt Hir- oder technologisch unterstützten Körperoptimierungen6, schauer die Kreuzung mehrerer Differenzkategorien, die in ihrem Zusammenspiel die Differenzwirkung einer der herangezogenen Differenzierungen minimiert. Die Einordnung als Arbeitnehmer*in überschreibt beispielsweise formal die Einordnung als „jung“ oder 6 Die Idee, das Alter unsichtbar zu machen, scheint auf offene „alt“ durch gesetzliche Antidiskriminierungsregelungen. Ohren zu stoßen; dies legt jedenfalls der Erfolg einer medizinischen 5 Mit dem Begriff der Infrastrukturen verstehen wir in Anlehnung an Konferenz in Berlin mit dem Titel „Undoing Ageing“ (https://www. Hirschauer (2013) in diesem Artikel keine präexistierenden, objekti- undoing-aging.org/) mit über 500 Teilnehmenden im März 2019 vierten Entitäten, sondern Phänomene, die selber erst im Vollzug von nahe, bei der es um die Wiederherstellung von molekularen und intersektionalen Beziehungsgeflechten und Praktiken hervorgebracht zellulären Schäden aufgrund von Alter(n) ging. Diese Konferenz soll werden, anderen Vollzügen aber wiederum als Trägermedien dienen. im Mai 2021 mit demselben Titel am selben Ort nochmals stattfinden.
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age 49 sondern auch in alltäglichen Praktiken statt – etwa durch etwa mit dem jungen oder mittleren Erwachsenenalter Fitness und sportliche Betätigung, durch physisches und verknüpft sind. So wollte Emil Ratelbland nicht ohne de- kognitives Self-Tracking mittels smarter Technologien, finierbares Alter (queer age) sein, sondern entschied sich durch die Performanz von Sexualität und sexueller At- für eine konkrete Alterskategorie im mittleren Erwachse- traktivität oder die alltägliche Inszenierung von Aktivität, nenalter. Während hohes Alter also negiert wird, werden Geschäftigkeit und Selbstständigkeit (vgl. Ekerdt 1986; Alterspraktiken anderer Alterskategorien vollzogen und Marshall & Katz 2016). Als Effekt dieser Form des undoing damit deren respektive Altersnormen aktualisiert. age ist eine ‚falsche‘ Altersadressierung vorstellbar (im Eine zweite und etwas anders geartete Interpretation Sinne von jünger oder älter aussehen als eine Person ent- des undoing age findet sich in Ansätzen eines undoing age sprechend ihres kalendarischen Alters ist) oder auch eine appropriateness (Martin 2017), eines doing age in other Dethematisierung von Alter, weil vorausgesetzt wird, dass ways (Schroeter 2018) oder eines queering age (Sandberg eine Person das ‚richtige‘ Alter hat (siehe hierzu Llewellyn & Marshall 2017). Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie 2015 zu Altersadressierungen an der Kinokasse). auf jene Praktiken fokussieren, die explizit von Alters- Ansatzpunkt, um den sich viele dieser Praktiken normen abweichen, diese unterlaufen und damit kritisch drehen, sind alternde Körper und die sie umgebenden Ma- in Frage stellen. In Martins Ansatz eines undoing age ap- terialitäten, wie Kleidung oder Nahkörpertechnologien. propriateness plädiert sie für eine subversive Expression Diese Körperkonstruktionen sind eng mit Identitätskon- des Alters und alternder Körper, die Erwartungen daran, struktionen verbunden und von Altersnormen (und ent- was dieser spezifische Körper (insbesondere auf der Thea- sprechenden Machtkonstellationen) durchzogen (siehe terbühne) tun sollte und wo er es tun sollte, zuwiderläuft hierzu schon Sontag 1972 sowie Degele 2008; Höppner (Martin 2017: 153–154). Dabei versucht sie, Ambiguitäten 2011; Schroeter 2012). Eine weniger stark am Körper an- in der Grenzziehung zwischen Angemessenheit (appro- setzende Auseinandersetzung mit dem Alter stieß dagegen priateness), Lächerlichkeit, Würde und Geschmack aus- der Niederländer Emil Ratelbland an, der dafür klagte, sein zuloten, „transgressing what is conventionally understood kalendarisches Alter von 69 auf 49 Jahre heruntersetzen as a r espectful and dignified representation of age(ing).“ zu lassen. Diese Reversierung sollte sich jedoch nicht, wie (Martin 2017: 155) etwa bei Anti-Ageing-Praktiken, in seinen Körper, sondern Ähnlich wie Martins Bühnenperformanzen, die Alters- in seine Dokumente einschreiben. Sein Körper und sein normen verdeutlichen, kritisch beleuchten und sich auch Geist, so der Kläger, entsprächen bereits der jüngeren über diese lustig machen wollen, kritisieren Sandberg Alterszahl – nur sein rechtlicher Status bilde dies noch und Marshall aktuelle Altersverständnisse. Ihr Konzept nicht ab. Dabei zog er in seiner Argumentation Analogien eines queering age „disrupts the ways that expectations zur Transgender-Bewegung und der Möglichkeit, sein Ge- of a good later life and happy aging are seen to adhere to schlecht in offiziellen Dokumenten ändern zu können. some bodies and subjectivities over others.“ (Sandberg Das undoing age besteht hier also nicht nur, so zeigt dieser & Marshall 2017: 4) Bezugnehmend auf feministische, Fall sehr deutlich, in der Aneignung hegemonialer Alters- queere und crip-Theorien plädieren sie für ein generelles diskurse um ein „Nicht-Altern“, sondern kann durchaus Unterlaufen von Altersnormen und Chronormativität (vgl. als subversiver politischer Akt verstanden werden. Ent- Freeman 2010), das schließlich – wird es kollektiv be- sprechend finden sich auch auf politisch-institutioneller trieben – zu einem Außerkraftsetzen von Altersnormen Ebene Praktiken eines undoing age: In einer Dokumenten- und verstärktem Zulassen von Altersdiversität führen analyse internationaler Policy-Organisationen wie der kann. Ein queeres oder „anderes“ Alter(n) verweist also World Health Organization und der Europäischen Union auf der allgemeinsten Ebene auf einen von normierten zeigen Aske Lassen und Tiago Moreira (2014: 33) auf, wie Alterspraktiken abweichenden Vollzug. Wie bei der Ne- durch die Festschreibung von Vorstellungen eines aktiven gation von Alter wird also im Vollzug eines bestimmten Alter(n)s ein „unmaking of old age“ auf politischer Ebene Alters (hier eines queeren oder „anderen“ Alters) auch geschieht7. Das höhere Alter in diesem Sinne performa- hier eine jeweils andere Definition von Alter (hier eines tiv abzulehnen impliziert, wie diese Beispiele zeigen, hegemonialen, „normalen“ Alters) performativ abgelehnt. eine starke Inszenierung anderer Alterskodierungen, die Während ein Negieren des Alters sich dabei aber primär auf (alternde) Körper bezieht, fokussiert ein queering age auf (Alters-)Normen. 7 Zu ähnlichen Resultaten kommen Silke van Dyk und Kolleg*innen in einer Analyse politischer Rahmenprogramme und medialer Dar- In der deutschsprachigen Alterssoziologie beschäf- stellungen von Alter seit den 1980er Jahren in Deutschland (van Dyk tigt sich Schroeter (2018) mit solcherlei nicht-normati- et al. 2013). ven Altersvollzügen. Er unterscheidet jedoch zwischen
50 Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age einem doing age differently, also einer (akzeptierten) Di- 4 un/doing age: Spezifika der versifikation von Alterspraktiken, die mittlerweile Nor- malität geworden sei, und einem queering age. Letzteres Differenzkategorie Alter im stellt nach seiner Interpretation nicht nur einen weiteren Vergleich zu anderen Differenz- Lebensstil in einer Spanne möglicher Expressionen des Altes dar, sondern eine „sich der otherness bewusste Per- kategorien und Konsequenzen formanz des Alterns, die sich diskursiv und praxeologisch für die Weiterentwicklung von Ausdruck ihres ‚Andersseins‘ verschafft und ihr Recht auf Eigensinn, Dissidenz und ‚Subversion‘ einfordert“ undoing age (Schroeter 2018: 118). Weitergedacht könnte dies, so seine Wie einleitend erwähnt verfolgt der vorliegende Beitrag Überlegung, zu einem A-Alter (age(a)ness) bzw. Nicht-Vor- drei Ziele, die hier noch einmal wiederholt werden sollen: handensein von Alter führen. Es soll erstens die intersektionale Theoriebildung voran- Zusammenfassend zeigen sich im Hinblick auf un- getrieben werden, indem das Differenzmerkmal ‚Alter‘ doing-Ansätze als Konterpart zu doing-Ansätzen wiederum fokussiert wird, und dabei zweitens nicht nur auf Kon- eine erstmalige Verortung in der Geschlechterforschung struktions-, sondern ebenso auf Dekonstruktionsprozesse und eine spätere Ausbreitung u. a. in der Altersforschung. und mit Bezug auf Alter insbesondere auf ein undoing age Sowohl undoing gender als auch undoing age werden un- abgestellt werden. Dies ist – und das soll drittens gezeigt terschiedlich ausgelegt, und es zeigen sich dabei Schnitt- werden – deswegen von besonderem soziologischen In- mengen und auch Unterschiede in diesen Auslegungen teresse, da Alter eine aufgrund seiner Prozesshaftigkeit zwischen der Geschlechter- und der Altersforschung: über den Lebens(ver-)lauf besondere, sowohl aus intersek- In beiden Feldern wurden Ansätze entwickelt, die ein tionaler als auch aus differenzierungstheoretischer Per- undoing gender bzw. undoing age als ein Set subversiver spektive noch weitgehend untertheoretisierte Differenz- und widerständiger Praktiken verstehen, welche sich res- kategorie darstellt. Versteht man die Einteilung in soziale triktiven hegemonialen Geschlechter- oder Altersnormen Differenzkategorien als eine Praxis des Differenzierens, so widersetzen. Hier sind etwa die undoing gender-Ansätze erfolgt diese etwa beim Geschlecht nach dem Prinzip ‚ent- von Butler (2004) oder Deutsch (2007), sowie die Konzep- weder (weiblich) – oder (männlich)‘, und diese Einteilung tionen eines undoing age appropriateness (Martin 2017), bleibt in den meisten Fällen bestehen. Beim Alter existiert doing age differently (Schroeter 2018) oder queering age hingegen eine Vielzahl linear und konsekutiv gedachter (Sandberg & Marshall 2017) zu nennen. Daneben finden Zahlen (z. B. 5, 43, 89), die einem Menschen analog jeden sich in der kritischen Gerontologie Ansätze, die auf ein gelebten Jahres zugeordnet wird, d. h. die Einteilung muss (individuelles) undoing age oder (institutionelles) unma- kontinuierlich angepasst werden, wenn Menschen ‚älter‘ king old age mit der Kehrseite eines doing youth abstellen werden. Alter ist damit zwar ebenso wie Geschlecht oder (vgl. Lassen & Moreira 2014; Pfaller 2016). Eine solche Ethnizität ein naturalisiertes Merkmal, im Gegensatz zu Auslegung findet sich in der Geschlechterforschung (bei- ihnen jedoch erstens weder binär noch kategorial, sondern spielsweise undoing male zugunsten eines doing female) kontinuierlich, und zweitens nicht statisch, sondern dyna- nicht dezidiert. Demgegenüber wurde für die Geschlech- misch konzeptualisiert8. terforschung von Hirschauer (2013, 2014, 2016) eine Kon- Was bedeutet das nun insbesondere für ein undoing zeption von undoing gender entwickelt, die Praktiken des von Alter? Vergleicht man doing-Ansätze aus der sozio- (temporären) Aussetzens oder Irrelevantmachens von Ge- logischen Geschlechterforschung mit denen aus der schlecht als sozialer Differenzkategorie fokussiert. Eine Altersforschung, so zeigen sich – wie oben bereits zu- ähnliche Auslegung wurde innerhalb der Altersforschung noch nicht formuliert. Der folgende Abschnitt dieses Ar- tikels befasst sich daher eingehender mit diesen Unter- 8 Dabei betonen die neueren Gender Studies und Queers Studies, schieden zwischen un/doing gender und un/doing age- dass etwa auch Geschlecht keine binäre und auch nicht notwendiger- Konzeptionen, und dementsprechend mit den Spezifika weise eine kategoriale Differenz ist. Stattdessen wird, wie beim Alter, der Differenzkategorie Alter, sowie ihrer Implikationen für von einem Kontinuum zwischen Genderkategorien ausgegangen, die Weiterentwicklung eines undoing age. sowie der Möglichkeit, sich überhaupt außerhalb von Geschlechter- grenzen zu bewegen. Ein klassisches Beispiel, das auch Stefan Hir- schauer (1993) aus einer doing-Perspektive untersucht hat, ist der Wechsel von Geschlechtern und trans*-Identitäten. Nichtsdestotrotz bleibt das Geschlecht im Vergleich zum Alter eine in den meisten Lebensläufen zumindest als statisch imaginierte Kategorie.
Grit Höppner und Anna Wanka, un/doing age 51 sammengefasst – teilweise Überschneidungen und teil- die Schulpflicht oder die Blutspende, die – je nach weise Differenzen. Insbesondere fällt auf, dass eine an Organisation bis einschließlich 68 oder 73 Jahren Hirschauer (2013, 2014, 2016) angelehnte Konzeption von durchgeführt werden darf – fungieren als Infrastruk- undoing als temporales Aussetzen oder Irrelevantmachen tur eines doing age, denn sie sind explizit an das für das Alter noch nicht entwickelt wurde. Dabei wird kalendarische Alter gebunden. Dementsprechend ar- sowohl das Hervorbringen als auch sein Unterlassen als gumentierte auch das Gericht im Fall von Emil Ratel intersubjektive und interobjektive Leistung beschrieben, bland – seine Klage abweisend –, dass eine rechtliche diese aber auch in jener (geschlechtlichen bzw. alters- Veränderung des Alters, anders als des Geschlechts spezifischen) Infrastruktur verortet, die sie als solche oder des Namens, deshalb nicht möglich sei, da zen- ermöglicht oder verunmöglicht, bedingt oder erschwert trale Rechte und Pflichten an das Alter gebunden (vgl. Goffman 1994; Hirschauer 2013). Während sowohl seien. Könnte man sein Alter formal ändern lassen, in der soziologischen Geschlechter- als auch in der sozio- könnte man sich selbsttätig von diesen Rechten und logischen Altersforschung individuelle Möglichkeiten zu Pflichten entheben oder aber sie eingehen, ohne dafür heteronormativer Kritik und zu alternativen bzw. subver- qualifiziert zu sein. Auch in neue Technologien ein- siven Praktiken zur Veränderung von geschlechts- oder geschriebene Skripte wie die von Ambient Assisted altersbezogenen Ungleichheitsverhältnissen erforscht Living Technologies stellen in gewisser Weise eine werden (Butler 2004; Deutsch 2007; Sandberg & Marshall Infrastruktur von Alter dar, denn sie sollen vor 2017; Schroeter 2018), bleibt die Analyse jener institutio- allem alte Menschen auch mit mehreren Handicaps neller Spielräume, in denen Alter ausgesetzt oder irrele- im Sinne eines „ageing-in-place“ (u. a. Andrews & vant gemacht werden kann, in der Altersforschung bisher Phillips 2005) dazu befähigen, längst möglich in ausgeblendet. Dort stehen eher die individuellen Möglich- den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben (Schill- keiten zum Verleugnen, Negieren, Reversieren von Alter meier & Domenech 2010). Welchem Geschlecht diese bzw. zum Abweichen und Unterlaufen von Altersnormen Menschen angehören, ist bei der Verwendung der in im Zentrum. den Wohnräumen installierten Kameras und bei der Der Fokus auf das Individuum, der in altersbezogenen Nutzung der Sensoren, die diesen Menschen um den undoing-Ansätzen vorherrscht, kann durch die oben be- Hals hängen oder die sie als Uhr tragen, unwichtig. schriebene Komplexität und Dynamik des Alters als Diffe- – Infrastrukturen des latenten Relevantsetzens von renzmerkmal bedingt sein – Infrastrukturen scheinen auf Alter im Sinne eines undoing age bei gleichzeiti- den ersten Blick zu statisch, um diese Dynamik zu fassen. gem manifesten Relevantsetzen von Geschlecht: Hier kann es hilfreich sein, auf Hirschauers (2017: 15) Kon- In Bezug auf situierte Praktiken des Konsums wird zeption von Aggregatzuständen, in denen sich Geschlecht Alter weniger explizit gemacht als Geschlecht: So manifestiert, zurückzugreifen. Aggregatzustände erkennt wird beim Friseur zwischen einem Damen- und einem man daran, wo, wie stark und wie weitreichend sie sich Herrenschnitt unterschieden und es gibt Frauen- in der sozialen Welt materialisieren. Sehen wir uns diese und Männerabteilungen in Bekleidungsgeschäften, Materialisierungen in Bezug auf Alter und im Vergleich während dieselben klaren Trennungslinien nach Alter zu Geschlecht an, so sehen wir etwa, dass Alter sich in nicht gezogen werden.9 Das heißt aber nicht, dass manchen der genannten Bereiche expliziter manifestiert Alter beim Friseur oder beim Kleidungskauf irrelevant als Geschlecht, in anderen impliziter verhandelt wird und gemacht wird – im Gegenteil. Die Alterskodierungen in wieder anderen irrelevant gemacht wird. Diese Graduie- sind jedoch impliziter als in Bezug auf Geschlecht, rung im ‚Manifestationsgrad‘ von Alter zeigt sich etwa an und häufig spielen beide Differenzierungen intersek- folgenden Beispielen: tional zusammen (z. B. Kleidungsnormen für ältere – Infrastrukturen des manifesten Relevantsetzens Frauen versus ältere Männer, vgl. Twigg 2015). Ähn- von Alter im Sinne eines doing age bei zwischen- liches gilt auch in Bezug auf Paarbeziehungen, bei zeitlichem Irrelevantsetzen von Geschlecht: Deut- denen Altersdifferenzen je nachdem, wer der oder lich explizit gemacht wird Alter im Praxisrahmen der Erwerbsarbeit: Hier bestehen, sowohl nach „unten“ als auch nach „oben“, explizite Altersbegrenzungen 9 Man denke hier etwa an einen günstigen „Altenschnitt“ oder eine Unterwäscheabteilung für 70+. Eine Ausnahme stellt dabei die Le- im Sinne eines Verbots von Kinderarbeit und eines bensphase Kindheit dar, deren Konsumgüter klare Altersbeschrän- gesetzlichen Rentenantrittsalters. Auch andere ge- kungen aufweist: So gibt es Spielzeug für 3-jährige, Kleidung für setzliche Rechte, Pflichten und Vorgaben – etwa das 12-jährige, Haarschnitte für Kinder und altersabhängige Konsumver- aktive und passive Wahlrecht, das Recht zu heiraten, bote für Zigaretten und Alkohol.
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