Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...

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Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
Deutschland

                                                             E U R O PA

                                    Unter Eierköppen
          Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident
            des Straßburger Parlaments will er seiner Institution mehr Macht und vor
      allem größere Anerkennung verschaffen. Und sich selbst. Von Markus Feldenkirchen

         m 26. Juni 1980 sitzt Martin Schulz

A        nachts um vier am Schreibtisch
         seiner Wohnung in Würselen und
denkt daran, sich umzubringen. Er ist
sternhagelvoll heimgekommen, dort hat
er sich noch eine halbe Flasche Martini
reingezogen. Er ist 24 und ohne Arbeit,
Freundin, Lebensmut, dafür hat er Schul-
den und ein Alkoholproblem. „Es ging
nix mehr“, wird er später erzählen. „In
dieser Nacht wollte ich Schluss machen.“
   Er ruft seinen älteren Bruder Erwin an.
Um Abschied zu nehmen? Ein Hilferuf?
Er weiß es selbst nicht. Gegen sechs ver-
lässt Schulz seine Wohnung und läuft zu
Erwin. Es ist der Versuch, seine Sucht hin-
ter sich zu lassen – und die größte Her-
ausforderung seines Lebens.
   32 Jahre später, am 17. Januar 2012,
steht Martin Schulz am Rednerpult des
Europäischen Parlaments in Straßburg.
Gerade wurde er zum Präsidenten von
754 Abgeordneten aus 27 Ländern ge-
wählt. Sie sollen die Interessen von 500
Millionen Bürgern durchsetzen und wer-
den doch meist belächelt. Das EU-Parla-
ment wirkt neben den anderen farblosen
Institutionen, dem Rat der Staats- und
Regierungschefs und der Kommission,
wie die graue Maus Europas. Schulz will
ihm endlich Würde verleihen, es geht um
Selbstbewusstsein und um Macht.
  „Entscheidungen, die uns alle betreffen,
werden von Regierungschefs hinter ver-
schlossenen Türen getroffen“, sagt er.
„Das ist für mich ein Rückfall in einen
lange überwunden geglaubten Zustand
der europäischen Politik: Es erinnert an
die Zeit des Wiener Kongresses im 19.
Jahrhundert.“ Das Parlament werde dem
nicht länger zusehen. Ein Hauch von Re-
volution weht durch Straßburg.
  „Ich werde kein bequemer Präsident
sein“, verspricht er. Er werde alles geben,
„das verlorengegangene Vertrauen der
Menschen in den europäischen Einigungs-
prozess zurückzugewinnen. Ja, ich werde
versuchen, wieder Begeisterung für Eu-
ropa zu wecken!“
   Es ist keine Antrittsrede, sondern eine
Kampfansage. Schulz will Europa aufrüt-
teln, es umkrempeln, demokratischer ma-
chen. Es wird die zweite große Heraus-
forderung seines Lebens.                       Parlamentarier Schulz: „Wir vertreten 500 Millionen Menschen, aber wir haben eine

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darf. Dann ließe sich vielleicht sagen, ob                                  hoch. Als Parlamentspräsident müsse er
   München, Restaurant Pfistermühle,          seine Ziele realistisch sind. Ob sich                                       endlich an den Sitzungen des Rats teil-
   3. Februar 2012                            Europa tatsächlich verändern lässt.                                         nehmen. Man müsse an allen Gremien
   Die Tische sind gut besetzt, aber kein       Schulz willigt ein. Es gebe nur ein Pro-                                  zur Euro-Rettung beteiligt sein. Zeigefin-
   Gast erkennt ihn. Seit 18 Jahren gehört blem. Er sei, nun ja … etwas impulsiv.                                         ger. Die Regierungschefs müssten viel öf-
   Schulz dem Europäischen Parlament an, Auf so schöne Ausdrücke wie „Pfeifen-                                            ter nach Straßburg kommen und sich dort
   er ist der wichtigste Deutsche in Brüssel, heini“, „Rindvieh“, „dumme Gans“ oder                                       erklären. Mittelfinger. Und dann brauche
   aber in der Heimat ist das kaum bekannt. „Armleuchter“ in Verbindung mit hohen                                         man Aufmerksamkeit. „Wir vertreten 500
   Niemand ärgert das mehr als Schulz.        EU-Repräsentanten und Regierungschefs                                       Millionen Menschen, aber wir haben eine
      „Wo soll ich sitzen?“, fragt er. „Unter muss daher in diesem Text verzichtet wer-                                   Wahrnehmung wie der Kreistag von Pin-
   dem Ochsen?“ Er zeigt auf ein Gemälde den. Auf „Eierkopp“ hingegen nicht.                                              neberg.“ Vier Finger stehen in der Luft.
   an der Wand. „Na gut, passt ja.“             Schulz sitzt unter dem Ochsen und be-                                       „Die Mächtigen müssen Angst haben
      Die Frage ist, ob der SPIEGEL ihn ein stellt Ente, dazu Apfelschorle. Vier Dinge                                    vor dem Parlament. Sonst machen wir
   Jahr durch seine Präsidentschaft begleiten will er verändern. Sein Daumen klappt                                       Krawall. Ich schwitze den Machtanspruch
                                                                                                                          ja aus jeder Pore.“ Wieder ein Hauch von
                                                                                                                          Revolution, jetzt in der Pfistermühle.
                                                                                                                             Beim Nachtisch erzählt er von seinem
                                                                                                                          ersten EU-Gipfel vor vier Tagen, seiner
                                                                                                                          ersten Rede vor den Staats- und Regie-
                                                                                                                          rungschefs. Es ging darum, wer den Fis-
                                                                                                                          kalpakt aushandeln darf, die Schulden-
                                                                                                                          bremse für Europa. Das Parlament müsse
                                                                                                                          einbezogen werden, verlangte Schulz.
                                                                                                                          „Durch uns erhalten Entscheidungen der
                                                                                                                          EU ihre demokratische Legitimation.“
                                                                                                                             Bei bisherigen Gipfeln musste der Par-
                                                                                                                          lamentspräsident gleich nach seiner Rede
                                                                                                                          den Raum verlassen. Sie war nicht mal
                                                                                                                          ein Impulsreferat, eher ein Grußwort.
                                                                                                                          Nach 20 Minuten waren die Mächtigen
                                                                                                                          unter sich. „Bei mir gab es sofort acht
                                                                                                                          Wortmeldungen“, sagt Schulz. Merkel
                                                                                                                          und Sarkozy, alle Wichtigen. „Ich war ’ne
                                                                                                                          gute Stunde drin. Das gab’s noch nie –
                                                                                                                          eine echte Debatte!“ Es herrscht die Eu-
                                                                                                                          phorie des Anfangs, Veränderung scheint
                                                                                                                          möglich. Über die Regierungschefs sagt
                                                                                                                          er: „Sie haben mich gewogen und für
                                                                                                                          schwer genug befunden.“
                                                                                                                             Schulz, der kein Studium, kein Abitur
                                                                                                                          hat, fühlte sich anderen lange Zeit unter-
                                                                                                                          legen. Heute, sagt er, sei das Gefühl der
                                                                                                                          Minderwertigkeit dem Stolz gewichen, es
                                                                                                                          auf eigenem Wege geschafft zu haben.
                                                                                                                          Athen, 28. Februar 2012
                                                                                                                          „Ach, Moment, mein Hippo“, ruft Schulz.
                                                                                                                          Er kramt in seiner Tasche nach einem
                                                                                                                          Plastik-Nilpferd und stellt es auf die Arm-
                                                                                                                          lehne. „Mein Talisman. Das weitgereis-
                                                                                                                          teste Hippo aller Zeiten.“
                                                                                                                             Für die Passagiere der Business Class
                                                                                                                          ist es ein unruhiger Flug nach Athen. „Ar-
                                                                                                                          min, Armin“, ruft Schulz, wann immer
                                                                                                                          sein Sprecher Armin Machmer helfen soll.
                                                                                                                          Er bezeichnet sich selbst als Perpetuum
                                                                                                                          mobile, als eine Maschine, die, einmal in
                                                                                                                          Gang gesetzt, ständig in Bewegung bleibt.
                                                                                                                          Als Armin sich ein Frühstück servieren
                                                                                                                          lässt, ruft er laut: „Der Eierkopp kriegt
                                                                                                                          nichts. Dat is ein Fresskopp!“ Die Leute
                                                                                                                          zucken. Schulz redet oft so mit seinen
                                                                                            MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

                                                                                                                          Mitarbeitern, nichts ist böse gemeint, sein
                                                                                                                          Lieblingsspruch lautet: „Ihr seid alle ent-
                                                                                                                          lassen!“ In Wahrheit sind sie eine ver-
                                                                                                                          schworene Gemeinschaft.
                                                                                                                             Schulz ist der erste prominente EU-
                                                                                                                          Politiker, der in diesem Jahr nach Grie-
Wahrnehmung wie der Kreistag von Pinneberg“                                                                               chenland reist, seine Konkurrenten, Kom-
                                                    D E R   S P I E G E L   1 1 / 2 0 1 3                                                                         31
Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
Deutschland

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Europapolitiker Schulz bei einem Empfang in der Eifel: „Sie haben mich gewogen und für schwer genug befunden“

missionschef José Manuel Barroso und             Bubu.“ Am Hotelaufzug verabschiedet           Provinz sogar die westdeutsche Vizemeis-
Ratschef Herman Van Rompuy, waren                er seine Mitarbeiter. „Wenn ihr noch was      terschaft der B-Junioren, im Finale un-
noch nicht da. Am Abend soll er eine             hört von wegen Medienberichte, schickt        terlag sie Schalke 04. Das Ziel, Profi zu
Rede vor dem Parlament halten.                   mir unbedingt ’ne SMS. Gute Nacht!“           werden, schien zum Greifen nah. Er
   Das Vorhaben sei nicht risikofrei, es                                                       wohnte neben dem Sportplatz und hatte
könne zu Tumulten kommen, sagt Schulz.                              ***                        nichts als Fußball im Kopf. Nach der elf-
„Aber ich kann nicht den Anspruch erhe-             In Schulz’ Wahlkreisbüro sitzt ein Pro-    ten Klasse musste er die Schule verlassen,
ben, Einfluss zu nehmen und dem Parla-           fessor aus Aachen, der ein Buch heraus-       weil er zweimal sitzengeblieben war.
ment eine angemessene Rolle zu verschaf-         geben will: „Klassiker des Europäischen          Dann verletzte er sich auf einem Ra-
fen, ohne mich ins Getümmel zu stürzen.“         Denkens“. Ob er zwei Beiträge über „Ko-       senplatz in Würselen schwer am Knie-
Es gehe beim Kampf um ein neues                  ryphäen Europas“ beisteuern könne?            gelenk. Er ließ sich zum Buchhändler aus-
Europa ja nicht nur um Inhalte. „Du                 „Bin ich da auch drin?“, fragt Schulz.     bilden und hatte doch das Gefühl, seine
musst heutzutage inszenieren.“ Seine                Im Nebenraum wartet ein alter Freund,      Chance auf Anerkennung vertan zu ha-
Hand rührt in der Luft.                          der heute sein Heimatbüro leitet. Er er-      ben. Die Leere in sich füllte er mit Alkohol.
   Vor dem Parlament in Athen wird wie-          zählt, wie er 1994 das erste Mal mit ihm         Er zog nach Bonn und arbeitete im
der protestiert, es brennen EU-Flaggen.          nach Straßburg gefahren sei. Da habe sich     „Buchladen 46“. Dort verliebte er sich in
Es gebe derzeit eine irre Situation in           der Martin im leeren Sitzungssaal auf den     eine Kollegin, bald träumten sie von ei-
Europa, sagt Schulz auf dem Weg ins Par-         Stuhl des Präsidenten gesetzt und gesagt:     nem Leben zu zweit. Irgendwann verließ
lament. 26 von 27 Ländern seien für zu-          „Hier sitze ich eines Tages.“                 ihn die Frau, weil es mit ihm, dem Dau-
sätzliche Hilfen für Griechenland. Eine             Die Frage ist, wo all das herrührt, die-   erbetrunkenen, nicht auszuhalten war. Er
sei dagegen. Er meint Angela Merkel.             ser unbändige Ehrgeiz, die ewige Sorge,       zog in die kleine Wohnung in Würselen
   Über Merkel kann er fluchen wie ein           zu kurz zu kommen? Der Freund zuckt           und glaubte, alles verloren zu haben, was
Rohrspatz und tut das fast täglich. Ebenso       mit den Schultern.                            ihm einmal wichtig gewesen war.
oft telefoniert er mit ihr, er ist stolz, ihre      Nach der Sprechstunde spaziert Schulz
Handy-Nummer zu haben. „Die anderen              durch die Innenstadt von Würselen. Hier       Brüssel, Europäischer Rat,
wissen, dass ich sie habe.“ Das hilft.           in der Nähe saß er in den frühen Stunden      28. Juni 2012
   Im Parlament hält Schulz eine kluge,          des 26. Juni 1980 mit der Flasche Martini,    Schulz ist einer der Ersten an diesem Tag,
leidenschaftliche Rede, er sagt: „Nie darf       als ihn der Lebensmut verließ.                er trägt einen grauen Anzug mit roter
die Hilfe des einen die Würde des ande-             Als Jugendlicher spielte er als linker     Krawatte. Am Eingang des Saals steht
ren in Frage stellen.“ Es ist die Rede, die      Verteidiger bei Rhenania 05 Würselen          Ratschef Van Rompuy und empfängt die
sich die anderen Politiker Europas bislang       und träumte davon, Fußballprofi zu wer-       Spitzen Europas wie ein Hausbesitzer sei-
nicht zu halten trauten.                         den. „Er war nicht gerade ein Filigran-       ne Gäste zum Essen.
   Danach lädt ihn der Präsident zum Es-         techniker“, sagt sein früherer Mann-            Vorher hat Schulz erzählt, dass er „so
sen ein. Bevor sich Schulz an den Tisch          schaftskollege Franz-Josef Hansen. „Aber      einen Hals“ habe. Um künftige Krisen zu
setzt, fragt er Armin, ob die „Tagesschau“       er war die Lokomotive, die uns alle mit-      vermeiden, wurde eine Vierergruppe be-
etwas gebracht habe. Offenbar nicht, er          gerissen hat.“ Man komme zwar aus dem         auftragt, einen Masterplan zur Zukunft
ist enttäuscht. Auf der Rückfahrt sagt Ar-       kleinen Würselen, habe der Martin den         Europas zu entwickeln. Mitglieder sind
min, das „heute journal“ habe eine Eloge         Leuten eingebläut, aber man dürfe keine       die Chefs des Rats, der Kommission, der
gesendet. „Na bitte“, sagt Schulz. „Kin-         Angst vor den großen Vereinen haben.          Zentralbank und der Euro-Gruppe. Das
der, wisst ihr was? Der Martin macht jetzt       So erkämpfte seine Mannschaft aus der         Parlament ist nicht vorgesehen.
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Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
„Die haben mich wieder ausgeschlos- kum gesessen, nun will sie gratulieren.
sen“, sagt Schulz. „Eine Unverschämt- Er erkennt sie zunächst nicht. Erst als sie
heit! Wenn Sie mich fragen, hat das die ihren Namen nennt, erinnert er sich. Sie
Merkel veranlasst.“                          ist seine große Liebe aus Bonn, ein Wie-
   Das tiefere Problem heißt Krise. Um dersehen nach über 30 Jahren.
den Euro zu retten und die Verschuldung         Nach der Trennung hing Schulz in
in den Griff zu bekommen, haben die Re- Würselen rum. Er schämte sich, weil er
gierungen immer neue Maßnahmen und die Finger nicht vom Alkohol lassen
Gremien entwickelt, an denen weder die konnte. Und trank dann aus Scham. Die
nationalen Parlamente noch das Europa- Jusos, denen er sich mit 19 angeschlossen
parlament beteiligt sein sollen.             hatte, setzten ihn als Anführer ab.
   Krisenzeiten sind Belastungsproben für       Erwin, der Bruder, ist Arzt. Am Mor-
die Demokratie. In der Krise muss man gen nach der Nacht, in der Schulz be-
schnell und entschieden handeln, Parla- schlossen hatte, sein Leben zu ändern,
mente aber wollen gründlich sein, disku- gab er ihm Pillen, falls der Entzug zu hef-
tieren, sie haben ihre Verfahren, Fristen, tig würde. Bald darauf begann Schulz
Rituale, das macht sie langsamer. Sie wir- eine viermonatige Therapie in einer Kli-
ken wie Störenfriede der Effizienz.          nik. Ein Freund schrieb ihm: „Du hast
   Bislang ist offen, wie viel Krise die De- jetzt die einmalige Chance, Dich nur mit
mokratie verträgt. Aber wenn Europa Dir selbst zu beschäftigen. Nutze sie!“
nicht aufpasst, könnten sich die autoritä-      Schulz lernte über sich, dass er zur
ren Staaten Asiens oder der Golfregion Selbstüberschätzung neigt. Er steckte sich
bald als überlegene Modelle erweisen.        zu hohe Ziele, wollte immer mit den Gro-
   Bevor die Sitzung beginnt, plaudert ßen mitspielen, auch in der lokalen Poli-
Schulz mit Frankreichs Präsident Hol- tik, obwohl ihm dazu noch die Fähigkei-
lande. Er ist froh, dass sein Freund Fran- ten fehlten. „Ich musste lernen, beschei-
çois gerade Nicolas Sarkozy besiegt hat, dener zu werden“, sagt er heute. Und
sie kennen sich lange. Schulz hat über Jah- dass man sich Erfolge erst erarbeiten
re ein Netzwerk aufgebaut und Kontakte muss, bevor man sie einfordern kann.
zu Politikern aus allen Ländern gepflegt.       Sie sei stolz auf ihn, sagt die Frau, die
Aus Kontakten wurden Regierungschefs ihn einst an den Alkohol verlor.
und Partner für seinen Kampf. Er selbst
sagt: „Wenn du so lange in Europa dabei Dublin, Hotel Merrion, 3. Oktober 2012
bist wie ich, kennst du jedes Schwein.“      In einem antiken Zimmer soll der Ablauf
   Er nimmt neben dem Ratspräsidenten seines Irland-Besuchs besprochen werden.
Platz. „Es ist nicht akzeptabel, dass die Schulz beugt sich über den Tisch und liest:
einzige direkt gewählte EU-Institution, „Erster Punkt: Arrival Dublin Airport.
die Stimme der Bürgerinnen und Bürger Das ham wir schon mal geschafft.“ Später
in Europa, von der Debatte über die Zu- soll er eine Rede im irischen Parlament
kunft der EU ausgeschlossen wird“, warnt halten. „Wissen Sie, wer das als letzter
er die Regierungschefs. Er habe kein Ver- Gast durfte?“, fragt Schulz. Geheimnis-
ständnis dafür, dass die Krise ausgenutzt volle Pause. „Bill Clinton!“ Seine Augen
werde, um im Herzen des neuen Europas leuchten. „Das ist ein starkes Signal! Das
                                             zeigt das Upgrading des Parlaments.“
                                                Dann kommt er wieder auf seine Lieb-
Als junger Mann träumte                      linge zu sprechen, die Staats- und Regie-
Schulz davon, Fußballprofi                   rungschefs. „Bei denen kannst du dich
                                             auf nix mehr verlassen. Weil irgendeine
zu werden. Das Ziel                          von den 27 Regierungen immer im Wahl-
                                             kampf ist und glaubt, irgendeinen Scheiß
erschien zum Greifen nah.                    erzählen zu müssen.“
                                                Ein Beispiel ist der Ire Enda Kenny, mit
einen Autoritarismus zu installieren. dem er später vor die Presse treten wird.
„Der Notfall wird zur Regel erklärt.“        Die meisten EU-Mitgliedstaaten favori-
   Wenn das so weitergehe, werde er sieren eine Finanztransaktionsteuer, um
beim nächsten Gipfel stur sitzen bleiben, die Spekulanten an den Kosten der Krise
sagt er später mal. „Und wenn die mich zu beteiligen, aber Kenny spricht sich da-
rausschmeißen, setz ich mich vor die Tür gegen aus, die Briten wollen schließlich
mit einem Schild: ,Das ist das Demokra- auch nicht mitmachen. Beide Länder ha-
tieverständnis von Angela Merkel!‘“          ben der Finanzindustrie eine attraktive
                                             Heimat geboten. Dass Irland wie kaum
Berlin, Hamburgische Landesvertretung,       ein anderes Land von der EU profitiert
28. August 2012                              hat, scheint Kenny egal zu sein. Die EU
Die Schwarzkopf-Stiftung verleiht ihm ist für viele Staaten wie der Geldspeicher
an diesem Nachmittag ihren Europapreis. von Dagobert Duck, aus dem man mög-
„Er ist der Einzige“, so die Laudatio, „der lichst viel mitnehmen möchte, ohne selbst
mit Europa den Saal rocken kann.“            etwas zu geben.
   Nach der Ehrung kommt eine Frau in           Solches Denken bringt Schulz zur Ver-
seinem Alter auf ihn zu. Sie hat im Publi- zweiflung, er schüttelt den Kopf. „Es gibt
                             D E R   S P I E G E L   1 1 / 2 0 1 3                    33
Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
Deutschland

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                                                                                                                         Schulz Marcello Dell’Utri, einen Vertrau-
                                                                                                                         ten Berlusconis, im Fahrstuhl.
                                                                                                                           „Sie fahren Aufzug?“, fragte Dell’Utri.
                                                                                                                           „Sieht man doch“, antwortete Schulz.
                                                                                                                           „Das ist gut. Denn auf der Treppe
                                                                                                                         stürzt man so leicht.“ Schulz kam sich
                                                                                                                         vor wie bei der Mafia, aber er ließ sich
                                                                                                                         nicht einschüchtern. Später wollte Ber-
                                                                                                                         lusconi sich versöhnen. „Aber ich bin da
                                                                                                                         stur geblieben.“ Stur sein kann er gut.
                                                                                                                         Autobahn A 5, 19. November 2012
                                                                                                                         „Kinners, ich muss mal kurz ein Nicker-
                                                                                                                         chen machen“, sagt er auf dem Weg von
                                                                                                                         Frankfurt nach Straßburg. Er lehnt den
                                                                                                                         Kopf gegen das Fenster und schließt die

                                                                                           MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
                                                                                                                         Augen. Nach 30 Sekunden öffnet er sie
                                                                                                                         wieder. „Ich könnte was singen. Oder soll
                                                                                                                         ich ein Gedicht aufsagen?“ Niemand rea-
                                                                                                                         giert. „Dann kommt jetzt das Gedicht
                                                                                                                         ,Bauernabschied‘ von Martin Schulz.“ Er
                                                                                                                         macht eine kurze Pause: „Sense.“
Lokalpatriot Schulz in Würselen: „Da ham wir’s doch – ich bin die Nummer eins!“                                             Schulz saust mit seinem Hippo durch
                                                                                                                         Europa wie der Trommelhase aus der
eigentlich nur eine einzige Lösung: Ich        Später rollt sein Wagen durch Herzo-                                      Werbung. Seine Tage haben 18 Stunden,
muss an die Macht. Alle Macht zu mir!“      genrath, die deutsche Grenzstadt zu Kerk-                                    die Wochenenden fallen oft aus. Die meis-
                                            rade. „Schwupps“, ruft Schulz, „schon ist                                    ten Fahrer aus dem Pool des Parlaments
                    ***                     man in den Niederlanden.“ In seiner                                          lehnen es ab, für ihn zu arbeiten, weil ih-
   Schulz öffnet die Tür zu einem Klin-     Kindheit wohnten die Verwandten in der                                       nen sein Programm zu anstrengend ist.
kerbau an der Kaiserstraße von Würselen     Nähe und doch auf drei Länder verteilt:                                         Die Sucht, die ihn zu zerstören drohte,
und steht in einem Buchladen. Vorn sta-     Deutschland, Niederlande und Belgien.                                        hat er überwunden, aber der Drang nach
peln sich Romane bis zur Decke, hinten      Für Familientreffen mussten sie an der                                       dem Kick und dem großen Vergessen ist
Kinderbücher, fast wie damals, als er den   Grenze Schlange stehen. Sein Großvater                                       geblieben. Die bietet jetzt die Politik. Für
Laden gründete, kurz nach der Therapie.     kämpfte im Ersten Weltkrieg gegen die                                        sein Parlament, das oft vergessen wird,
   Als Buchhändler wurde Schulz zum         eigenen Cousins aus Belgien und Holland.                                     ist er keine schlechte Besetzung.
Autodidakten, er wollte seinem Ehrgeiz         Während viele seiner Kollegen in Straß-                                      Nach dem Bauerngedicht ruft ein
endlich ein Fundament legen. Er verkauf-    burg sitzen, weil sie von ihrer Partei ab-                                   Mann vom Nobelpreis-Komitee auf sei-
te Bücher und las wie ein Besessener, Ro-   geschoben wurden, wollte Schulz nie et-                                      nem Handy an. Die EU soll den Friedens-
mane aus Lateinamerika, USA, Europa         was anderes sein als Europapolitiker. Als                                    nobelpreis erhalten, die Frage ist, wer ihn
und unzählige Geschichtsbücher.             sein Freund Sigmar Gabriel ihn im Som-                                       entgegennehmen darf. Kommissionschef
   In dieser Zeit lernte er seine heutige   mer 2010 bat, er solle in die Bundespolitik                                  Barroso? Ratspräsident Van Rompuy?
Frau kennen, sie bekamen einen Sohn                                                                                      Oder er selbst? „Die eitlen Herren woll-
und eine Tochter. Nebenbei engagierte                                                                                    ten ohne mich nach Norwegen fahren“,
er sich wieder in der Politik, mit 31 wurde Während viele Kollegen                                                       sagt Schulz. „Ich fand es aber unter mei-
er Bürgermeister von Würselen. 1994
brach er auf nach Europa.
                                            nach Europa abgeschoben                                                      ner Würde, darum zu betteln, dass ich
                                                                                                                         mitfahren darf.“
   Vor der Buchhandlung steigt Schulz ins   wurden, wollte er nie                                                           Sie werden nun doch zu dritt nach Oslo
Auto, er hat Hunger. „Wir könnten zum                                                                                    reisen. Es wird ein Podest geben, auf dem
Restaurant des Golfplatzes fahren.“ Kur-    etwas anderes machen.                                                        sie gemeinsam sitzen. „Ich bin also auf
ze Irritation. Spielt er Golf? „Um Gottes                                                                                Augenhöhe. Das ist das Entscheidende.“
willen. Ich bin doch ein kleiner Prolet.“ wechseln, sagte er: „Kommt nicht in die                                        Van Rompuy und Barroso werden Reden
   Er zeigt aus dem Fenster. „Da vorne, Tüte. Ich bleibe in Europa.“                                                     halten, Schulz bekommt die Medaille, das
dat Kaff, da komm ich her.“ Kurz darauf        Im nächsten Jahr will er als europawei-                                   ist der Kompromiss. „Jetzt mal ehrlich“,
hält sein Wagen vor einem Fünfziger-Jah- ter Spitzenkandidat der Sozialdemokra-                                          sagt er. „Deren Reden interessieren am
re-Bau. „In dem Zimmer, wo die Rolllade ten antreten. Sein Ziel ist der Vorsitz der                                      Ende niemanden. Aber die Bilder mit der
runter ist, bin ich geboren.“ Sein Vater Kommission. Der würde ihm endlich jene                                          Medaille, die gehen um die Welt!“
war der einzige Polizist im Dorf Hehlrath, Macht und Aufmerksamkeit sichern, nach                                           Sein Kabinettschef reicht ihm die Ein-
die Familie wohnte in der Polizeistation. der er sich sehnt.                                                             ladungsliste des Protokolls. „Ha, da ham
   Am Ende der Straße klaffte früher das       Im Restaurant Seehof von Herzogen-                                        wir’s doch! Ich bin die Nummer eins!“
Loch des Braunkohletagebaus. Die Kum- rath erreicht ihn eine SMS aus Italien.
pel in der Nachbarschaft und sein Groß- „Sie müssen mal mit mir nach Italien kom-                                        Straßburg, Büro des Präsidenten,
vater, auch ein Bergarbeiter, lehrten den men“, sagt er. „Weil ich da ein Volksheld                                      21. November 2012
kleinen Martin den Stolz des Arbeiters. bin. Nicht wie in Deutschland.“                                                  Schulz sitzt am gedeckten Frühstücks-
Es hat sich diesen Stolz bis heute bewahrt,    Am 2. Juli 2003 war es zur Konfronta-                                     tisch, als sein Handy klingelt, der silberne
die Lust am Aufbegehren gegen die da tion mit Silvio Berlusconi in Straßburg                                             Nokia-Klassiker aus dem Jahr 2002.
oben. Wenn er über Regierungschefs gekommen. Schulz könne prima den                                                         „Ahh, der Barroso. Darf ich kurz?“
spricht, klingt es, als redete er über Fa- Kapo in einem Nazi-Film spielen,                                                 Es beginnt der wichtigste Kampf seiner
brikbesitzer, die ihre Arbeiter kleinhalten. schimpfte der Italiener, weil er dessen                                     Amtszeit. Die EU muss sich auf den Fi-
34                                                 D E R   S P I E G E L   1 1 / 2 0 1 3
Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
nanzrahmen bis 2020 einigen. Der briti-
sche Premier David Cameron will ihr
deutlich die Mittel kürzen, Barrosos Kom-
mission und Schulz’ Parlament verlangen
dagegen eine Aufstockung.
   „Okay, ich ruf den Hollande an, du
Juncker und Monti“, sagt Schulz ins Te-
lefon. Er und Barroso mögen über Oslo
streiten, in der Budget-Frage aber sind
sie Partner. „Das ist echt dreist!“, sagt er,
als er aufgelegt hat. „Die Merkel dealt
mit ’nem Typen wie dem Cameron.“ 30
Milliarden weniger hätten sie vereinbart.
„So machen die die EU kaputt!“
   Schulz stürmt die endlosen Flure ent-
lang, er muss jetzt mit den Fraktionschefs
reden. Dank des Vertrags von Lissabon
                                                MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

muss das Parlament dem Sieben-Jahres-
Budget zustimmen – das gibt ihm größere
Macht. Schulz könnte mit einem Veto dro-
hen, aber dafür muss er eine Mehrheit sei-
nes Parlaments hinter sich wissen.
  „Was ist unsere Strategie?“, fragt er, als
er den Fraktionschefs gegenübersitzt.                                         Sozialdemokrat Schulz bei einem EU-Förderprojekt in Dortmund: „Man kennt jedes Schwein“
„Wenn wir 30 Milliarden kürzen, werde
ich das Parlament bitten, die Arbeit ein-                              Am nächsten Tag hält er im Café des                  Kontinent ist. Sie wird entscheiden, was
zustellen.“ Er fragt alle einzeln ab, ob sie                        Hotels eine Schatulle mit der goldenen                  niemandem weh tut.
die Zustimmung ihrer Abgeordneten für                               Medaille neben sein Gesicht und klappt                     In den Verträgen stehe nun mal: Sitz
seinen Kurs garantieren können. Nur mit                             sie auf und zu wie das Maul eines Kroko-                des Parlaments ist Straßburg, antwortet
deren Rückhalt kann er in die Schlacht                              dils. Er könne nicht glauben, tatsächlich               Schulz. „Wir reisen also gar nicht von
gegen die Regierungschefs ziehen. Es sind                           dieses Ding in der Hand zu halten, sagt                 Brüssel nach Straßburg. Wenn, dann rei-
diese Runden, in denen er Politik macht.                            er. „Wenn ich daran denke, wo ich in mei-               sen wir von Straßburg nach Brüssel.“ Es
   Am Ende der Sitzung hat er die ge-                               nem Leben auch mal war, nämlich mal                     ist schwer, für einen Koloss zu werben,
wünschte Unterstützung. „Okay, Leute,                               ganz unten, und dass ich jetzt, pfffff …“               über den die meisten den Kopf schütteln.
sehr ernste Ansage.“ Er richtet sich auf.                              Zum Kellner sagt er: „Für mich einen                    Am Abend stehen Hunderte Menschen
„Das ist ein großes Spiel. Was wir jetzt                            vierstöckigen Cognac bitte!“ Aufgekratzt                vor dem Grand Hotel. Sie haben Fackeln
entscheiden, kann ein großer Moment in                              erzählt er, dass er und Angela Merkel sich              in der Hand, sie wollen die Friedensno-
der Geschichte des Parlaments sein. Ich                             eben im Rathaus angesehen hätten, als                   belpreisträger feiern, wie jedes Jahr. Um
zähle auf euch! Ich spiele das hart. Nicht                          am Ende der Zeremonie das Lied „Dein                    19 Uhr treten die drei Herren von der EU
dass es am Ende heißt: April, April.“                               ist mein ganzes Herz“ gesungen wurde.                   auf den Balkon. Die Menge applaudiert
                                                                    „Und ich dachte: Ne, du nicht. Du gewiss                verhalten, kein Vergleich mit den Vorjah-
Oslo, Grand Hotel, 9. Dezember 2012                                 nicht.“ Den Cognac bestellt er wieder ab.               ren. Die Herren versuchen es mit Winken.
Am späten Abend lässt sich Schulz in ei-                            „War nur ein Witz.“                                     Barroso geht als Erster wieder rein.
nen Sessel der Limelight Bar fallen, er                                Eine Stunde später sitzen Barroso, Van                  Schulz dreht nun auf. Er bewegt die
kommt vom Abendessen mit dem Nobel-                                 Rompuy und er einem CNN-Moderator                       Arme, als würde er ein Baby schaukeln,
Komitee. „Feines Rumsitzen. Gepflegtes                              gegenüber. „Warum sitzen hier eigentlich                tanzt auf der Stelle, reckt beide Daumen
Im-Essen-Rumpicken.“ Er macht vor, wie                              drei Präsidenten rum?“, fragt der Journa-               in die Luft, strahlt, als hätte er ein Siegtor
man mit spitzen Fingern Messer und Ga-                              list und bemüht sich, das Konstrukt der                 geschossen. Plötzlich schwappt seine
bel hält. „Nä, das ist nix für mich.“                               EU zu erklären. Später wird darauf hin-                 Freude auf den Platz über, die Leute joh-
   Morgen wird im Rathaus der Preis ver-                            gewiesen, dass die Pendelei des Parla-                  len, skandieren „EU, EU“. Schulz diri-
geben, aber er wirkt so deprimiert wie                              ments zwischen Brüssel und Straßburg                    giert sie, faltet die Hände zum Megafon,
nie zuvor in diesem Jahr. „Ich habe 19                              200 Millionen Dollar im Jahr koste. „Das                brüllt: „Norway, Norway.“ Van Rompuy
Jahre in die Europapolitik investiert.                              macht doch keinen Sinn“, sagt der Mo-                   ist längst geflüchtet. Die Leute mögen
Aber mit der Zeit habe ich das Vertrauen,                           derator. „Warum machen Sie das?“                        Schulz nicht kennen, aber sie lieben ihn
dass es gut wird mit Europa, verloren.“                                „Wenn Sie das ändern wollen, brau-                   jetzt. Es scheint, als sei er der Einzige in
   Leider gebe es keine Politiker mehr,                             chen Sie einen einstimmigen Beschluss                   dieser grauen, unterkühlten EU-Welt, der
die bereit seien, ihr persönliches Schicksal                        des Rats“, sagt Schulz. Er schaut Van                   sich die Leidenschaft bewahrt hat.
mit dem Europas zu verknüpfen. „Ich                                 Rompuy, den Ratspräsidenten, an, aber                      „Wissen Sie, was das Schönste an die-
habe mir als alter Sozi niemals träumen                             der wirft nur die Hände in die Luft.                    sem Tag war?“, fragt er später. Dann prä-
lassen, dass ich einmal Sehnsucht nach                                 Die Wahrheit ist, dass Frankreich den                sentiert er eine SMS von seiner Frau: „Ich
Helmut Kohl haben würde.“                                           Standort Straßburg vor Jahrzehnten aus-                 war so aufgeregt wegen Dir, mir sind heu-
   Er hat viel Zeitung gelesen die letzten                          gehandelt hat und ihn niemals aufgeben                  te fünf Frikadellen angebrannt.“
Tage. Aus den Kommentaren sprach                                    würde, nur weil es Sinn ergeben könnte.
reichlich Häme, dass ausgerechnet die                               Es ist wie mit Irland und der Finanztrans-              Brüssel, Parlamentsgebäude, 9. Januar 2013
Europäische Union den Nobelpreis be-                                aktionsteuer oder den Briten mit der                    Die Euphorie über den Preis ist verflogen,
kommt. Das hat ihn frustriert. Als Schulz                           Budgetkürzung. Solange die EU in ent-                   Schulz ist zurück im Alltag Europas, drau-
ins Bett geht, bleibt der Eindruck zurück,                          scheidenden Fragen einstimmige Be-                      ßen ist es grau, drinnen überheizt.
keiner Jubelfeier beizuwohnen, sondern                              schlüsse aller 27 Mitglieder verlangt, wird                Drei Leute vom Parlaments-TV stehen
einer Beerdigung.                                                   sie selten entscheiden, was gut für den                 in seinem Büro. Ein Jahr Präsident, eine
                                                                                    D E R   S P I E G E L   1 1 / 2 0 1 3                                              35
Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
Deutschland

Bilanz. „Welche Sprache?“, fragt Schulz.        handlungen auf das Veto-Recht des Parla-
Er spricht Englisch, Französisch, Spanisch,     ments hinweisen, bläut er ihnen ein.
Italienisch, Niederländisch, Rheinisch, al-        Nach seiner Rede verlassen die Regie-
les fließend, in manchen Konferenzen            rungschefs mit ihm den Saal für ein Grup-
wechselt er in zwei Minuten fünfmal die         penfoto. Danach lassen sie ihn stehen und
Sprache. Die Redakteure überlegen.              ziehen sich zur Entscheidung zurück.
  „Jut, dann mache mer datt op Kölner              Schulz fährt runter ins Erdgeschoss, um
Platt“, sagt Schulz, grinst und stellt sich     eine Pressekonferenz zu geben. Er steht
selbst die Fragen. „Ein Johr als Präsident,     am Pult, entschlossener Blick. „Ich sage
wie wor datt? Jut! Un sons? Och jut!“           Ihnen ganz klar: Ich unterschreibe keinen
   Seine wahre Bilanz ist ebenfalls nicht       Defizithaushalt.“ Es ist der vorerst letzte
schlecht. Er ist der stärkste Präsident, den    Versuch, die Staats- und Regierungschefs
das Parlament je hatte. Immer mehr Re-          das Fürchten zu lehren.
gierungschefs reisen nach Straßburg, wol-          Gegen halb zwölf steht Schulz vor sei-
len dort reden, sich erklären, zusammen-        ner Limousine und fragt sein Team, wo
arbeiten. Mit einigen, wie seinem Freund        es noch etwas zu essen gebe. Allgemeines
François Hollande, versuchte er, Bünd-          Achselzucken. „Ihr Eierköppe, ihr wohnt
nisse gegen dessen Kollegen im Rat zu           doch alle hier. Ihr seid alle entlassen.“
schmieden, häufig auch gegen Merkel.               Kurz vor Mitternacht sitzt er in der
Die Vierergruppe zur Zukunft Europas            Brasserie L’Esprit de Sel am Place Jour-
heißt jetzt „4 plus 1“. Kleine Erfolge.         dan, bestellt ein halbes Hühnchen mit
                                                Pommes und wirkt zufrieden. „Wir wur-
Würselen, 7. Februar 2013                       den zum ersten Mal ernst genommen“,
Am Tag des Showdowns verlässt Schulz            sagt er. „Darauf habe ich seit Jahren hin-
um zehn ein verklinkertes Haus im Ma-           gearbeitet. Das ist mein größter Erfolg.“
gnolienweg. Auf nach Brüssel. Heute soll           Als das Huhn serviert ist, erreicht ihn
im Rat der Regierungschefs die Entschei-        eine SMS von Österreichs Kanzler Fay-
dung über das Budget fallen. Schulz wird        mann mit dem Stand der Verhandlungen.
wieder die Auftaktrede halten.                  Man mag ihn vor die Tür gesetzt haben,
  Auf der Autobahn sucht er Barrosos            aber er hat dafür gesorgt, dass er trotz-
SMS vom Vorabend. Sichere Quellen sa-           dem ein wenig mit am Tisch sitzt. „Nicht
gen, dass Cameron und Merkel einen letz-        hinnehmbar“, sagt er und isst weiter.
ten Deal gemacht hätten, schreibt der              Um 0.21 Uhr vibriert sein Handy, ein
Kommissionschef: 908 Milliarden. „Ich           Anruf. „Der Werner!“ Während Schulz
beschwöre Dich, das zurückzuweisen!“            telefoniert, malt er Zahlen auf seine Ser-
                                                viette, dann sagt er. „Ihr müsst in die
                                                Schlussfolgerungen schreiben: Das ist ein
Seine Frau schickt ihm                          Angebot an das Europäische Parlament.
eine SMS: „Ich war                              Das ist ganz wichtig. Nicht dass ihr rein-
                                                schreibt: Das ist es jetzt. Dann gibt’s ein
so aufgeregt, mir sind fünf                     Nein! Aber kämpft erst mal für die 930.“
                                                   Am Ende werden es 908 Milliarden.
Frikadellen angebrannt.“                        Bei diesem Ergebnis werde er nicht zu-
                                                stimmen, hatte er zuvor getönt. Da könne
   Schulz hat die Information gleich an         man „den Laden dichtmachen“.
Hollande weitergesimst. „Ich kann das              Am Mittwoch dieser Woche wird das
nicht akzeptieren“, kam als Antwort zu-         Parlament das Angebot wohl zurückwei-
rück. Schulz informiert jetzt seine ande-       sen, es wird dann weiterverhandelt, alles
ren Freunde unter den Regierungschefs.          läuft auf einen Kompromiss hinaus, der
Es wird überhaupt viel gesimst in Europa.       weder Gewinner noch Verlierer kennt.
   Er holt das Manuskript seiner Rede her-         Nach ein Uhr nachts schließt Schulz
vor und übt: „Sie alle wissen, dass Sie zu      die Tür zu seiner Brüsseler Wohnung auf.
Hause für Ihre Beschlüsse die Zustim-           Er steht in einem kahlen Raum, ein Tisch,
mung des Parlaments brauchen“, ruft er          ein Sofa, links geht das kleine Schlafzim-
in den Wagen, sein Fahrer nickt instinktiv.     mer ab. Er knipst das Licht an, schaut auf
„Sie müssen lernen, dass das in Europa          die Uhr und schüttelt den Kopf.
auch so ist. Das Parlament braucht nicht           So erschöpft hat er das ganze Jahr nicht
die Gnade der Exekutive. Die Exekutive          gewirkt. Die EU hat viel von seiner Ener-
muss die Zustimmung des Parlaments ge-          gie geschluckt, sie ist irgendwo versickert,
winnen.“ Seine Hände stoßen gegen das           ohne dass Europa sich groß verändert hät-
Fahrzeugdach. „Hier im Auto darf ich ja         te. Um das zu erreichen, müsste es wohl
ausflippen.“ Nachher im Rat müsse er            mehr von seinem Kaliber geben. „Ich bin
wieder den Staatsmann spielen.                  hundemüde“, ruft er in das leere Wohn-
   Schulz betritt das Ratsgebäude lange         zimmer.
vor seiner Rede, um Einzelgespräche mit
seinen Vertrauten zu führen, mit Hollande,                     Video: Markus Feldenkirchen
dem Belgier Elio di Rupo, Mario Monti                          über Martin Schulz
aus Italien, dem österreichischen Kanzler                      spiegel.de/app112013schulz
Werner Faymann. Sie sollen in den Ver-                         oder in der App DER SPIEGEL

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Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ... Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ... Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
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