Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Deutschland E U R O PA Unter Eierköppen Der Deutsche Martin Schulz spielt eine zentrale Rolle in Europa. Als Präsident des Straßburger Parlaments will er seiner Institution mehr Macht und vor allem größere Anerkennung verschaffen. Und sich selbst. Von Markus Feldenkirchen m 26. Juni 1980 sitzt Martin Schulz A nachts um vier am Schreibtisch seiner Wohnung in Würselen und denkt daran, sich umzubringen. Er ist sternhagelvoll heimgekommen, dort hat er sich noch eine halbe Flasche Martini reingezogen. Er ist 24 und ohne Arbeit, Freundin, Lebensmut, dafür hat er Schul- den und ein Alkoholproblem. „Es ging nix mehr“, wird er später erzählen. „In dieser Nacht wollte ich Schluss machen.“ Er ruft seinen älteren Bruder Erwin an. Um Abschied zu nehmen? Ein Hilferuf? Er weiß es selbst nicht. Gegen sechs ver- lässt Schulz seine Wohnung und läuft zu Erwin. Es ist der Versuch, seine Sucht hin- ter sich zu lassen – und die größte Her- ausforderung seines Lebens. 32 Jahre später, am 17. Januar 2012, steht Martin Schulz am Rednerpult des Europäischen Parlaments in Straßburg. Gerade wurde er zum Präsidenten von 754 Abgeordneten aus 27 Ländern ge- wählt. Sie sollen die Interessen von 500 Millionen Bürgern durchsetzen und wer- den doch meist belächelt. Das EU-Parla- ment wirkt neben den anderen farblosen Institutionen, dem Rat der Staats- und Regierungschefs und der Kommission, wie die graue Maus Europas. Schulz will ihm endlich Würde verleihen, es geht um Selbstbewusstsein und um Macht. „Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von Regierungschefs hinter ver- schlossenen Türen getroffen“, sagt er. „Das ist für mich ein Rückfall in einen lange überwunden geglaubten Zustand der europäischen Politik: Es erinnert an die Zeit des Wiener Kongresses im 19. Jahrhundert.“ Das Parlament werde dem nicht länger zusehen. Ein Hauch von Re- volution weht durch Straßburg. „Ich werde kein bequemer Präsident sein“, verspricht er. Er werde alles geben, „das verlorengegangene Vertrauen der Menschen in den europäischen Einigungs- prozess zurückzugewinnen. Ja, ich werde versuchen, wieder Begeisterung für Eu- ropa zu wecken!“ Es ist keine Antrittsrede, sondern eine Kampfansage. Schulz will Europa aufrüt- teln, es umkrempeln, demokratischer ma- chen. Es wird die zweite große Heraus- forderung seines Lebens. Parlamentarier Schulz: „Wir vertreten 500 Millionen Menschen, aber wir haben eine 30 D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3
darf. Dann ließe sich vielleicht sagen, ob hoch. Als Parlamentspräsident müsse er München, Restaurant Pfistermühle, seine Ziele realistisch sind. Ob sich endlich an den Sitzungen des Rats teil- 3. Februar 2012 Europa tatsächlich verändern lässt. nehmen. Man müsse an allen Gremien Die Tische sind gut besetzt, aber kein Schulz willigt ein. Es gebe nur ein Pro- zur Euro-Rettung beteiligt sein. Zeigefin- Gast erkennt ihn. Seit 18 Jahren gehört blem. Er sei, nun ja … etwas impulsiv. ger. Die Regierungschefs müssten viel öf- Schulz dem Europäischen Parlament an, Auf so schöne Ausdrücke wie „Pfeifen- ter nach Straßburg kommen und sich dort er ist der wichtigste Deutsche in Brüssel, heini“, „Rindvieh“, „dumme Gans“ oder erklären. Mittelfinger. Und dann brauche aber in der Heimat ist das kaum bekannt. „Armleuchter“ in Verbindung mit hohen man Aufmerksamkeit. „Wir vertreten 500 Niemand ärgert das mehr als Schulz. EU-Repräsentanten und Regierungschefs Millionen Menschen, aber wir haben eine „Wo soll ich sitzen?“, fragt er. „Unter muss daher in diesem Text verzichtet wer- Wahrnehmung wie der Kreistag von Pin- dem Ochsen?“ Er zeigt auf ein Gemälde den. Auf „Eierkopp“ hingegen nicht. neberg.“ Vier Finger stehen in der Luft. an der Wand. „Na gut, passt ja.“ Schulz sitzt unter dem Ochsen und be- „Die Mächtigen müssen Angst haben Die Frage ist, ob der SPIEGEL ihn ein stellt Ente, dazu Apfelschorle. Vier Dinge vor dem Parlament. Sonst machen wir Jahr durch seine Präsidentschaft begleiten will er verändern. Sein Daumen klappt Krawall. Ich schwitze den Machtanspruch ja aus jeder Pore.“ Wieder ein Hauch von Revolution, jetzt in der Pfistermühle. Beim Nachtisch erzählt er von seinem ersten EU-Gipfel vor vier Tagen, seiner ersten Rede vor den Staats- und Regie- rungschefs. Es ging darum, wer den Fis- kalpakt aushandeln darf, die Schulden- bremse für Europa. Das Parlament müsse einbezogen werden, verlangte Schulz. „Durch uns erhalten Entscheidungen der EU ihre demokratische Legitimation.“ Bei bisherigen Gipfeln musste der Par- lamentspräsident gleich nach seiner Rede den Raum verlassen. Sie war nicht mal ein Impulsreferat, eher ein Grußwort. Nach 20 Minuten waren die Mächtigen unter sich. „Bei mir gab es sofort acht Wortmeldungen“, sagt Schulz. Merkel und Sarkozy, alle Wichtigen. „Ich war ’ne gute Stunde drin. Das gab’s noch nie – eine echte Debatte!“ Es herrscht die Eu- phorie des Anfangs, Veränderung scheint möglich. Über die Regierungschefs sagt er: „Sie haben mich gewogen und für schwer genug befunden.“ Schulz, der kein Studium, kein Abitur hat, fühlte sich anderen lange Zeit unter- legen. Heute, sagt er, sei das Gefühl der Minderwertigkeit dem Stolz gewichen, es auf eigenem Wege geschafft zu haben. Athen, 28. Februar 2012 „Ach, Moment, mein Hippo“, ruft Schulz. Er kramt in seiner Tasche nach einem Plastik-Nilpferd und stellt es auf die Arm- lehne. „Mein Talisman. Das weitgereis- teste Hippo aller Zeiten.“ Für die Passagiere der Business Class ist es ein unruhiger Flug nach Athen. „Ar- min, Armin“, ruft Schulz, wann immer sein Sprecher Armin Machmer helfen soll. Er bezeichnet sich selbst als Perpetuum mobile, als eine Maschine, die, einmal in Gang gesetzt, ständig in Bewegung bleibt. Als Armin sich ein Frühstück servieren lässt, ruft er laut: „Der Eierkopp kriegt nichts. Dat is ein Fresskopp!“ Die Leute zucken. Schulz redet oft so mit seinen MAURICE WEISS / DER SPIEGEL Mitarbeitern, nichts ist böse gemeint, sein Lieblingsspruch lautet: „Ihr seid alle ent- lassen!“ In Wahrheit sind sie eine ver- schworene Gemeinschaft. Schulz ist der erste prominente EU- Politiker, der in diesem Jahr nach Grie- Wahrnehmung wie der Kreistag von Pinneberg“ chenland reist, seine Konkurrenten, Kom- D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3 31
Deutschland MAURICE WEISS / DER SPIEGEL Europapolitiker Schulz bei einem Empfang in der Eifel: „Sie haben mich gewogen und für schwer genug befunden“ missionschef José Manuel Barroso und Bubu.“ Am Hotelaufzug verabschiedet Provinz sogar die westdeutsche Vizemeis- Ratschef Herman Van Rompuy, waren er seine Mitarbeiter. „Wenn ihr noch was terschaft der B-Junioren, im Finale un- noch nicht da. Am Abend soll er eine hört von wegen Medienberichte, schickt terlag sie Schalke 04. Das Ziel, Profi zu Rede vor dem Parlament halten. mir unbedingt ’ne SMS. Gute Nacht!“ werden, schien zum Greifen nah. Er Das Vorhaben sei nicht risikofrei, es wohnte neben dem Sportplatz und hatte könne zu Tumulten kommen, sagt Schulz. *** nichts als Fußball im Kopf. Nach der elf- „Aber ich kann nicht den Anspruch erhe- In Schulz’ Wahlkreisbüro sitzt ein Pro- ten Klasse musste er die Schule verlassen, ben, Einfluss zu nehmen und dem Parla- fessor aus Aachen, der ein Buch heraus- weil er zweimal sitzengeblieben war. ment eine angemessene Rolle zu verschaf- geben will: „Klassiker des Europäischen Dann verletzte er sich auf einem Ra- fen, ohne mich ins Getümmel zu stürzen.“ Denkens“. Ob er zwei Beiträge über „Ko- senplatz in Würselen schwer am Knie- Es gehe beim Kampf um ein neues ryphäen Europas“ beisteuern könne? gelenk. Er ließ sich zum Buchhändler aus- Europa ja nicht nur um Inhalte. „Du „Bin ich da auch drin?“, fragt Schulz. bilden und hatte doch das Gefühl, seine musst heutzutage inszenieren.“ Seine Im Nebenraum wartet ein alter Freund, Chance auf Anerkennung vertan zu ha- Hand rührt in der Luft. der heute sein Heimatbüro leitet. Er er- ben. Die Leere in sich füllte er mit Alkohol. Vor dem Parlament in Athen wird wie- zählt, wie er 1994 das erste Mal mit ihm Er zog nach Bonn und arbeitete im der protestiert, es brennen EU-Flaggen. nach Straßburg gefahren sei. Da habe sich „Buchladen 46“. Dort verliebte er sich in Es gebe derzeit eine irre Situation in der Martin im leeren Sitzungssaal auf den eine Kollegin, bald träumten sie von ei- Europa, sagt Schulz auf dem Weg ins Par- Stuhl des Präsidenten gesetzt und gesagt: nem Leben zu zweit. Irgendwann verließ lament. 26 von 27 Ländern seien für zu- „Hier sitze ich eines Tages.“ ihn die Frau, weil es mit ihm, dem Dau- sätzliche Hilfen für Griechenland. Eine Die Frage ist, wo all das herrührt, die- erbetrunkenen, nicht auszuhalten war. Er sei dagegen. Er meint Angela Merkel. ser unbändige Ehrgeiz, die ewige Sorge, zog in die kleine Wohnung in Würselen Über Merkel kann er fluchen wie ein zu kurz zu kommen? Der Freund zuckt und glaubte, alles verloren zu haben, was Rohrspatz und tut das fast täglich. Ebenso mit den Schultern. ihm einmal wichtig gewesen war. oft telefoniert er mit ihr, er ist stolz, ihre Nach der Sprechstunde spaziert Schulz Handy-Nummer zu haben. „Die anderen durch die Innenstadt von Würselen. Hier Brüssel, Europäischer Rat, wissen, dass ich sie habe.“ Das hilft. in der Nähe saß er in den frühen Stunden 28. Juni 2012 Im Parlament hält Schulz eine kluge, des 26. Juni 1980 mit der Flasche Martini, Schulz ist einer der Ersten an diesem Tag, leidenschaftliche Rede, er sagt: „Nie darf als ihn der Lebensmut verließ. er trägt einen grauen Anzug mit roter die Hilfe des einen die Würde des ande- Als Jugendlicher spielte er als linker Krawatte. Am Eingang des Saals steht ren in Frage stellen.“ Es ist die Rede, die Verteidiger bei Rhenania 05 Würselen Ratschef Van Rompuy und empfängt die sich die anderen Politiker Europas bislang und träumte davon, Fußballprofi zu wer- Spitzen Europas wie ein Hausbesitzer sei- nicht zu halten trauten. den. „Er war nicht gerade ein Filigran- ne Gäste zum Essen. Danach lädt ihn der Präsident zum Es- techniker“, sagt sein früherer Mann- Vorher hat Schulz erzählt, dass er „so sen ein. Bevor sich Schulz an den Tisch schaftskollege Franz-Josef Hansen. „Aber einen Hals“ habe. Um künftige Krisen zu setzt, fragt er Armin, ob die „Tagesschau“ er war die Lokomotive, die uns alle mit- vermeiden, wurde eine Vierergruppe be- etwas gebracht habe. Offenbar nicht, er gerissen hat.“ Man komme zwar aus dem auftragt, einen Masterplan zur Zukunft ist enttäuscht. Auf der Rückfahrt sagt Ar- kleinen Würselen, habe der Martin den Europas zu entwickeln. Mitglieder sind min, das „heute journal“ habe eine Eloge Leuten eingebläut, aber man dürfe keine die Chefs des Rats, der Kommission, der gesendet. „Na bitte“, sagt Schulz. „Kin- Angst vor den großen Vereinen haben. Zentralbank und der Euro-Gruppe. Das der, wisst ihr was? Der Martin macht jetzt So erkämpfte seine Mannschaft aus der Parlament ist nicht vorgesehen. 32 D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3
„Die haben mich wieder ausgeschlos- kum gesessen, nun will sie gratulieren. sen“, sagt Schulz. „Eine Unverschämt- Er erkennt sie zunächst nicht. Erst als sie heit! Wenn Sie mich fragen, hat das die ihren Namen nennt, erinnert er sich. Sie Merkel veranlasst.“ ist seine große Liebe aus Bonn, ein Wie- Das tiefere Problem heißt Krise. Um dersehen nach über 30 Jahren. den Euro zu retten und die Verschuldung Nach der Trennung hing Schulz in in den Griff zu bekommen, haben die Re- Würselen rum. Er schämte sich, weil er gierungen immer neue Maßnahmen und die Finger nicht vom Alkohol lassen Gremien entwickelt, an denen weder die konnte. Und trank dann aus Scham. Die nationalen Parlamente noch das Europa- Jusos, denen er sich mit 19 angeschlossen parlament beteiligt sein sollen. hatte, setzten ihn als Anführer ab. Krisenzeiten sind Belastungsproben für Erwin, der Bruder, ist Arzt. Am Mor- die Demokratie. In der Krise muss man gen nach der Nacht, in der Schulz be- schnell und entschieden handeln, Parla- schlossen hatte, sein Leben zu ändern, mente aber wollen gründlich sein, disku- gab er ihm Pillen, falls der Entzug zu hef- tieren, sie haben ihre Verfahren, Fristen, tig würde. Bald darauf begann Schulz Rituale, das macht sie langsamer. Sie wir- eine viermonatige Therapie in einer Kli- ken wie Störenfriede der Effizienz. nik. Ein Freund schrieb ihm: „Du hast Bislang ist offen, wie viel Krise die De- jetzt die einmalige Chance, Dich nur mit mokratie verträgt. Aber wenn Europa Dir selbst zu beschäftigen. Nutze sie!“ nicht aufpasst, könnten sich die autoritä- Schulz lernte über sich, dass er zur ren Staaten Asiens oder der Golfregion Selbstüberschätzung neigt. Er steckte sich bald als überlegene Modelle erweisen. zu hohe Ziele, wollte immer mit den Gro- Bevor die Sitzung beginnt, plaudert ßen mitspielen, auch in der lokalen Poli- Schulz mit Frankreichs Präsident Hol- tik, obwohl ihm dazu noch die Fähigkei- lande. Er ist froh, dass sein Freund Fran- ten fehlten. „Ich musste lernen, beschei- çois gerade Nicolas Sarkozy besiegt hat, dener zu werden“, sagt er heute. Und sie kennen sich lange. Schulz hat über Jah- dass man sich Erfolge erst erarbeiten re ein Netzwerk aufgebaut und Kontakte muss, bevor man sie einfordern kann. zu Politikern aus allen Ländern gepflegt. Sie sei stolz auf ihn, sagt die Frau, die Aus Kontakten wurden Regierungschefs ihn einst an den Alkohol verlor. und Partner für seinen Kampf. Er selbst sagt: „Wenn du so lange in Europa dabei Dublin, Hotel Merrion, 3. Oktober 2012 bist wie ich, kennst du jedes Schwein.“ In einem antiken Zimmer soll der Ablauf Er nimmt neben dem Ratspräsidenten seines Irland-Besuchs besprochen werden. Platz. „Es ist nicht akzeptabel, dass die Schulz beugt sich über den Tisch und liest: einzige direkt gewählte EU-Institution, „Erster Punkt: Arrival Dublin Airport. die Stimme der Bürgerinnen und Bürger Das ham wir schon mal geschafft.“ Später in Europa, von der Debatte über die Zu- soll er eine Rede im irischen Parlament kunft der EU ausgeschlossen wird“, warnt halten. „Wissen Sie, wer das als letzter er die Regierungschefs. Er habe kein Ver- Gast durfte?“, fragt Schulz. Geheimnis- ständnis dafür, dass die Krise ausgenutzt volle Pause. „Bill Clinton!“ Seine Augen werde, um im Herzen des neuen Europas leuchten. „Das ist ein starkes Signal! Das zeigt das Upgrading des Parlaments.“ Dann kommt er wieder auf seine Lieb- Als junger Mann träumte linge zu sprechen, die Staats- und Regie- Schulz davon, Fußballprofi rungschefs. „Bei denen kannst du dich auf nix mehr verlassen. Weil irgendeine zu werden. Das Ziel von den 27 Regierungen immer im Wahl- kampf ist und glaubt, irgendeinen Scheiß erschien zum Greifen nah. erzählen zu müssen.“ Ein Beispiel ist der Ire Enda Kenny, mit einen Autoritarismus zu installieren. dem er später vor die Presse treten wird. „Der Notfall wird zur Regel erklärt.“ Die meisten EU-Mitgliedstaaten favori- Wenn das so weitergehe, werde er sieren eine Finanztransaktionsteuer, um beim nächsten Gipfel stur sitzen bleiben, die Spekulanten an den Kosten der Krise sagt er später mal. „Und wenn die mich zu beteiligen, aber Kenny spricht sich da- rausschmeißen, setz ich mich vor die Tür gegen aus, die Briten wollen schließlich mit einem Schild: ,Das ist das Demokra- auch nicht mitmachen. Beide Länder ha- tieverständnis von Angela Merkel!‘“ ben der Finanzindustrie eine attraktive Heimat geboten. Dass Irland wie kaum Berlin, Hamburgische Landesvertretung, ein anderes Land von der EU profitiert 28. August 2012 hat, scheint Kenny egal zu sein. Die EU Die Schwarzkopf-Stiftung verleiht ihm ist für viele Staaten wie der Geldspeicher an diesem Nachmittag ihren Europapreis. von Dagobert Duck, aus dem man mög- „Er ist der Einzige“, so die Laudatio, „der lichst viel mitnehmen möchte, ohne selbst mit Europa den Saal rocken kann.“ etwas zu geben. Nach der Ehrung kommt eine Frau in Solches Denken bringt Schulz zur Ver- seinem Alter auf ihn zu. Sie hat im Publi- zweiflung, er schüttelt den Kopf. „Es gibt D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3 33
Deutschland heftige Kritik leid war. Eines Tages traf Schulz Marcello Dell’Utri, einen Vertrau- ten Berlusconis, im Fahrstuhl. „Sie fahren Aufzug?“, fragte Dell’Utri. „Sieht man doch“, antwortete Schulz. „Das ist gut. Denn auf der Treppe stürzt man so leicht.“ Schulz kam sich vor wie bei der Mafia, aber er ließ sich nicht einschüchtern. Später wollte Ber- lusconi sich versöhnen. „Aber ich bin da stur geblieben.“ Stur sein kann er gut. Autobahn A 5, 19. November 2012 „Kinners, ich muss mal kurz ein Nicker- chen machen“, sagt er auf dem Weg von Frankfurt nach Straßburg. Er lehnt den Kopf gegen das Fenster und schließt die MAURICE WEISS / DER SPIEGEL Augen. Nach 30 Sekunden öffnet er sie wieder. „Ich könnte was singen. Oder soll ich ein Gedicht aufsagen?“ Niemand rea- giert. „Dann kommt jetzt das Gedicht ,Bauernabschied‘ von Martin Schulz.“ Er macht eine kurze Pause: „Sense.“ Lokalpatriot Schulz in Würselen: „Da ham wir’s doch – ich bin die Nummer eins!“ Schulz saust mit seinem Hippo durch Europa wie der Trommelhase aus der eigentlich nur eine einzige Lösung: Ich Später rollt sein Wagen durch Herzo- Werbung. Seine Tage haben 18 Stunden, muss an die Macht. Alle Macht zu mir!“ genrath, die deutsche Grenzstadt zu Kerk- die Wochenenden fallen oft aus. Die meis- rade. „Schwupps“, ruft Schulz, „schon ist ten Fahrer aus dem Pool des Parlaments *** man in den Niederlanden.“ In seiner lehnen es ab, für ihn zu arbeiten, weil ih- Schulz öffnet die Tür zu einem Klin- Kindheit wohnten die Verwandten in der nen sein Programm zu anstrengend ist. kerbau an der Kaiserstraße von Würselen Nähe und doch auf drei Länder verteilt: Die Sucht, die ihn zu zerstören drohte, und steht in einem Buchladen. Vorn sta- Deutschland, Niederlande und Belgien. hat er überwunden, aber der Drang nach peln sich Romane bis zur Decke, hinten Für Familientreffen mussten sie an der dem Kick und dem großen Vergessen ist Kinderbücher, fast wie damals, als er den Grenze Schlange stehen. Sein Großvater geblieben. Die bietet jetzt die Politik. Für Laden gründete, kurz nach der Therapie. kämpfte im Ersten Weltkrieg gegen die sein Parlament, das oft vergessen wird, Als Buchhändler wurde Schulz zum eigenen Cousins aus Belgien und Holland. ist er keine schlechte Besetzung. Autodidakten, er wollte seinem Ehrgeiz Während viele seiner Kollegen in Straß- Nach dem Bauerngedicht ruft ein endlich ein Fundament legen. Er verkauf- burg sitzen, weil sie von ihrer Partei ab- Mann vom Nobelpreis-Komitee auf sei- te Bücher und las wie ein Besessener, Ro- geschoben wurden, wollte Schulz nie et- nem Handy an. Die EU soll den Friedens- mane aus Lateinamerika, USA, Europa was anderes sein als Europapolitiker. Als nobelpreis erhalten, die Frage ist, wer ihn und unzählige Geschichtsbücher. sein Freund Sigmar Gabriel ihn im Som- entgegennehmen darf. Kommissionschef In dieser Zeit lernte er seine heutige mer 2010 bat, er solle in die Bundespolitik Barroso? Ratspräsident Van Rompuy? Frau kennen, sie bekamen einen Sohn Oder er selbst? „Die eitlen Herren woll- und eine Tochter. Nebenbei engagierte ten ohne mich nach Norwegen fahren“, er sich wieder in der Politik, mit 31 wurde Während viele Kollegen sagt Schulz. „Ich fand es aber unter mei- er Bürgermeister von Würselen. 1994 brach er auf nach Europa. nach Europa abgeschoben ner Würde, darum zu betteln, dass ich mitfahren darf.“ Vor der Buchhandlung steigt Schulz ins wurden, wollte er nie Sie werden nun doch zu dritt nach Oslo Auto, er hat Hunger. „Wir könnten zum reisen. Es wird ein Podest geben, auf dem Restaurant des Golfplatzes fahren.“ Kur- etwas anderes machen. sie gemeinsam sitzen. „Ich bin also auf ze Irritation. Spielt er Golf? „Um Gottes Augenhöhe. Das ist das Entscheidende.“ willen. Ich bin doch ein kleiner Prolet.“ wechseln, sagte er: „Kommt nicht in die Van Rompuy und Barroso werden Reden Er zeigt aus dem Fenster. „Da vorne, Tüte. Ich bleibe in Europa.“ halten, Schulz bekommt die Medaille, das dat Kaff, da komm ich her.“ Kurz darauf Im nächsten Jahr will er als europawei- ist der Kompromiss. „Jetzt mal ehrlich“, hält sein Wagen vor einem Fünfziger-Jah- ter Spitzenkandidat der Sozialdemokra- sagt er. „Deren Reden interessieren am re-Bau. „In dem Zimmer, wo die Rolllade ten antreten. Sein Ziel ist der Vorsitz der Ende niemanden. Aber die Bilder mit der runter ist, bin ich geboren.“ Sein Vater Kommission. Der würde ihm endlich jene Medaille, die gehen um die Welt!“ war der einzige Polizist im Dorf Hehlrath, Macht und Aufmerksamkeit sichern, nach Sein Kabinettschef reicht ihm die Ein- die Familie wohnte in der Polizeistation. der er sich sehnt. ladungsliste des Protokolls. „Ha, da ham Am Ende der Straße klaffte früher das Im Restaurant Seehof von Herzogen- wir’s doch! Ich bin die Nummer eins!“ Loch des Braunkohletagebaus. Die Kum- rath erreicht ihn eine SMS aus Italien. pel in der Nachbarschaft und sein Groß- „Sie müssen mal mit mir nach Italien kom- Straßburg, Büro des Präsidenten, vater, auch ein Bergarbeiter, lehrten den men“, sagt er. „Weil ich da ein Volksheld 21. November 2012 kleinen Martin den Stolz des Arbeiters. bin. Nicht wie in Deutschland.“ Schulz sitzt am gedeckten Frühstücks- Es hat sich diesen Stolz bis heute bewahrt, Am 2. Juli 2003 war es zur Konfronta- tisch, als sein Handy klingelt, der silberne die Lust am Aufbegehren gegen die da tion mit Silvio Berlusconi in Straßburg Nokia-Klassiker aus dem Jahr 2002. oben. Wenn er über Regierungschefs gekommen. Schulz könne prima den „Ahh, der Barroso. Darf ich kurz?“ spricht, klingt es, als redete er über Fa- Kapo in einem Nazi-Film spielen, Es beginnt der wichtigste Kampf seiner brikbesitzer, die ihre Arbeiter kleinhalten. schimpfte der Italiener, weil er dessen Amtszeit. Die EU muss sich auf den Fi- 34 D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3
nanzrahmen bis 2020 einigen. Der briti- sche Premier David Cameron will ihr deutlich die Mittel kürzen, Barrosos Kom- mission und Schulz’ Parlament verlangen dagegen eine Aufstockung. „Okay, ich ruf den Hollande an, du Juncker und Monti“, sagt Schulz ins Te- lefon. Er und Barroso mögen über Oslo streiten, in der Budget-Frage aber sind sie Partner. „Das ist echt dreist!“, sagt er, als er aufgelegt hat. „Die Merkel dealt mit ’nem Typen wie dem Cameron.“ 30 Milliarden weniger hätten sie vereinbart. „So machen die die EU kaputt!“ Schulz stürmt die endlosen Flure ent- lang, er muss jetzt mit den Fraktionschefs reden. Dank des Vertrags von Lissabon MAURICE WEISS / DER SPIEGEL muss das Parlament dem Sieben-Jahres- Budget zustimmen – das gibt ihm größere Macht. Schulz könnte mit einem Veto dro- hen, aber dafür muss er eine Mehrheit sei- nes Parlaments hinter sich wissen. „Was ist unsere Strategie?“, fragt er, als er den Fraktionschefs gegenübersitzt. Sozialdemokrat Schulz bei einem EU-Förderprojekt in Dortmund: „Man kennt jedes Schwein“ „Wenn wir 30 Milliarden kürzen, werde ich das Parlament bitten, die Arbeit ein- Am nächsten Tag hält er im Café des Kontinent ist. Sie wird entscheiden, was zustellen.“ Er fragt alle einzeln ab, ob sie Hotels eine Schatulle mit der goldenen niemandem weh tut. die Zustimmung ihrer Abgeordneten für Medaille neben sein Gesicht und klappt In den Verträgen stehe nun mal: Sitz seinen Kurs garantieren können. Nur mit sie auf und zu wie das Maul eines Kroko- des Parlaments ist Straßburg, antwortet deren Rückhalt kann er in die Schlacht dils. Er könne nicht glauben, tatsächlich Schulz. „Wir reisen also gar nicht von gegen die Regierungschefs ziehen. Es sind dieses Ding in der Hand zu halten, sagt Brüssel nach Straßburg. Wenn, dann rei- diese Runden, in denen er Politik macht. er. „Wenn ich daran denke, wo ich in mei- sen wir von Straßburg nach Brüssel.“ Es Am Ende der Sitzung hat er die ge- nem Leben auch mal war, nämlich mal ist schwer, für einen Koloss zu werben, wünschte Unterstützung. „Okay, Leute, ganz unten, und dass ich jetzt, pfffff …“ über den die meisten den Kopf schütteln. sehr ernste Ansage.“ Er richtet sich auf. Zum Kellner sagt er: „Für mich einen Am Abend stehen Hunderte Menschen „Das ist ein großes Spiel. Was wir jetzt vierstöckigen Cognac bitte!“ Aufgekratzt vor dem Grand Hotel. Sie haben Fackeln entscheiden, kann ein großer Moment in erzählt er, dass er und Angela Merkel sich in der Hand, sie wollen die Friedensno- der Geschichte des Parlaments sein. Ich eben im Rathaus angesehen hätten, als belpreisträger feiern, wie jedes Jahr. Um zähle auf euch! Ich spiele das hart. Nicht am Ende der Zeremonie das Lied „Dein 19 Uhr treten die drei Herren von der EU dass es am Ende heißt: April, April.“ ist mein ganzes Herz“ gesungen wurde. auf den Balkon. Die Menge applaudiert „Und ich dachte: Ne, du nicht. Du gewiss verhalten, kein Vergleich mit den Vorjah- Oslo, Grand Hotel, 9. Dezember 2012 nicht.“ Den Cognac bestellt er wieder ab. ren. Die Herren versuchen es mit Winken. Am späten Abend lässt sich Schulz in ei- „War nur ein Witz.“ Barroso geht als Erster wieder rein. nen Sessel der Limelight Bar fallen, er Eine Stunde später sitzen Barroso, Van Schulz dreht nun auf. Er bewegt die kommt vom Abendessen mit dem Nobel- Rompuy und er einem CNN-Moderator Arme, als würde er ein Baby schaukeln, Komitee. „Feines Rumsitzen. Gepflegtes gegenüber. „Warum sitzen hier eigentlich tanzt auf der Stelle, reckt beide Daumen Im-Essen-Rumpicken.“ Er macht vor, wie drei Präsidenten rum?“, fragt der Journa- in die Luft, strahlt, als hätte er ein Siegtor man mit spitzen Fingern Messer und Ga- list und bemüht sich, das Konstrukt der geschossen. Plötzlich schwappt seine bel hält. „Nä, das ist nix für mich.“ EU zu erklären. Später wird darauf hin- Freude auf den Platz über, die Leute joh- Morgen wird im Rathaus der Preis ver- gewiesen, dass die Pendelei des Parla- len, skandieren „EU, EU“. Schulz diri- geben, aber er wirkt so deprimiert wie ments zwischen Brüssel und Straßburg giert sie, faltet die Hände zum Megafon, nie zuvor in diesem Jahr. „Ich habe 19 200 Millionen Dollar im Jahr koste. „Das brüllt: „Norway, Norway.“ Van Rompuy Jahre in die Europapolitik investiert. macht doch keinen Sinn“, sagt der Mo- ist längst geflüchtet. Die Leute mögen Aber mit der Zeit habe ich das Vertrauen, derator. „Warum machen Sie das?“ Schulz nicht kennen, aber sie lieben ihn dass es gut wird mit Europa, verloren.“ „Wenn Sie das ändern wollen, brau- jetzt. Es scheint, als sei er der Einzige in Leider gebe es keine Politiker mehr, chen Sie einen einstimmigen Beschluss dieser grauen, unterkühlten EU-Welt, der die bereit seien, ihr persönliches Schicksal des Rats“, sagt Schulz. Er schaut Van sich die Leidenschaft bewahrt hat. mit dem Europas zu verknüpfen. „Ich Rompuy, den Ratspräsidenten, an, aber „Wissen Sie, was das Schönste an die- habe mir als alter Sozi niemals träumen der wirft nur die Hände in die Luft. sem Tag war?“, fragt er später. Dann prä- lassen, dass ich einmal Sehnsucht nach Die Wahrheit ist, dass Frankreich den sentiert er eine SMS von seiner Frau: „Ich Helmut Kohl haben würde.“ Standort Straßburg vor Jahrzehnten aus- war so aufgeregt wegen Dir, mir sind heu- Er hat viel Zeitung gelesen die letzten gehandelt hat und ihn niemals aufgeben te fünf Frikadellen angebrannt.“ Tage. Aus den Kommentaren sprach würde, nur weil es Sinn ergeben könnte. reichlich Häme, dass ausgerechnet die Es ist wie mit Irland und der Finanztrans- Brüssel, Parlamentsgebäude, 9. Januar 2013 Europäische Union den Nobelpreis be- aktionsteuer oder den Briten mit der Die Euphorie über den Preis ist verflogen, kommt. Das hat ihn frustriert. Als Schulz Budgetkürzung. Solange die EU in ent- Schulz ist zurück im Alltag Europas, drau- ins Bett geht, bleibt der Eindruck zurück, scheidenden Fragen einstimmige Be- ßen ist es grau, drinnen überheizt. keiner Jubelfeier beizuwohnen, sondern schlüsse aller 27 Mitglieder verlangt, wird Drei Leute vom Parlaments-TV stehen einer Beerdigung. sie selten entscheiden, was gut für den in seinem Büro. Ein Jahr Präsident, eine D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3 35
Deutschland Bilanz. „Welche Sprache?“, fragt Schulz. handlungen auf das Veto-Recht des Parla- Er spricht Englisch, Französisch, Spanisch, ments hinweisen, bläut er ihnen ein. Italienisch, Niederländisch, Rheinisch, al- Nach seiner Rede verlassen die Regie- les fließend, in manchen Konferenzen rungschefs mit ihm den Saal für ein Grup- wechselt er in zwei Minuten fünfmal die penfoto. Danach lassen sie ihn stehen und Sprache. Die Redakteure überlegen. ziehen sich zur Entscheidung zurück. „Jut, dann mache mer datt op Kölner Schulz fährt runter ins Erdgeschoss, um Platt“, sagt Schulz, grinst und stellt sich eine Pressekonferenz zu geben. Er steht selbst die Fragen. „Ein Johr als Präsident, am Pult, entschlossener Blick. „Ich sage wie wor datt? Jut! Un sons? Och jut!“ Ihnen ganz klar: Ich unterschreibe keinen Seine wahre Bilanz ist ebenfalls nicht Defizithaushalt.“ Es ist der vorerst letzte schlecht. Er ist der stärkste Präsident, den Versuch, die Staats- und Regierungschefs das Parlament je hatte. Immer mehr Re- das Fürchten zu lehren. gierungschefs reisen nach Straßburg, wol- Gegen halb zwölf steht Schulz vor sei- len dort reden, sich erklären, zusammen- ner Limousine und fragt sein Team, wo arbeiten. Mit einigen, wie seinem Freund es noch etwas zu essen gebe. Allgemeines François Hollande, versuchte er, Bünd- Achselzucken. „Ihr Eierköppe, ihr wohnt nisse gegen dessen Kollegen im Rat zu doch alle hier. Ihr seid alle entlassen.“ schmieden, häufig auch gegen Merkel. Kurz vor Mitternacht sitzt er in der Die Vierergruppe zur Zukunft Europas Brasserie L’Esprit de Sel am Place Jour- heißt jetzt „4 plus 1“. Kleine Erfolge. dan, bestellt ein halbes Hühnchen mit Pommes und wirkt zufrieden. „Wir wur- Würselen, 7. Februar 2013 den zum ersten Mal ernst genommen“, Am Tag des Showdowns verlässt Schulz sagt er. „Darauf habe ich seit Jahren hin- um zehn ein verklinkertes Haus im Ma- gearbeitet. Das ist mein größter Erfolg.“ gnolienweg. Auf nach Brüssel. Heute soll Als das Huhn serviert ist, erreicht ihn im Rat der Regierungschefs die Entschei- eine SMS von Österreichs Kanzler Fay- dung über das Budget fallen. Schulz wird mann mit dem Stand der Verhandlungen. wieder die Auftaktrede halten. Man mag ihn vor die Tür gesetzt haben, Auf der Autobahn sucht er Barrosos aber er hat dafür gesorgt, dass er trotz- SMS vom Vorabend. Sichere Quellen sa- dem ein wenig mit am Tisch sitzt. „Nicht gen, dass Cameron und Merkel einen letz- hinnehmbar“, sagt er und isst weiter. ten Deal gemacht hätten, schreibt der Um 0.21 Uhr vibriert sein Handy, ein Kommissionschef: 908 Milliarden. „Ich Anruf. „Der Werner!“ Während Schulz beschwöre Dich, das zurückzuweisen!“ telefoniert, malt er Zahlen auf seine Ser- viette, dann sagt er. „Ihr müsst in die Schlussfolgerungen schreiben: Das ist ein Seine Frau schickt ihm Angebot an das Europäische Parlament. eine SMS: „Ich war Das ist ganz wichtig. Nicht dass ihr rein- schreibt: Das ist es jetzt. Dann gibt’s ein so aufgeregt, mir sind fünf Nein! Aber kämpft erst mal für die 930.“ Am Ende werden es 908 Milliarden. Frikadellen angebrannt.“ Bei diesem Ergebnis werde er nicht zu- stimmen, hatte er zuvor getönt. Da könne Schulz hat die Information gleich an man „den Laden dichtmachen“. Hollande weitergesimst. „Ich kann das Am Mittwoch dieser Woche wird das nicht akzeptieren“, kam als Antwort zu- Parlament das Angebot wohl zurückwei- rück. Schulz informiert jetzt seine ande- sen, es wird dann weiterverhandelt, alles ren Freunde unter den Regierungschefs. läuft auf einen Kompromiss hinaus, der Es wird überhaupt viel gesimst in Europa. weder Gewinner noch Verlierer kennt. Er holt das Manuskript seiner Rede her- Nach ein Uhr nachts schließt Schulz vor und übt: „Sie alle wissen, dass Sie zu die Tür zu seiner Brüsseler Wohnung auf. Hause für Ihre Beschlüsse die Zustim- Er steht in einem kahlen Raum, ein Tisch, mung des Parlaments brauchen“, ruft er ein Sofa, links geht das kleine Schlafzim- in den Wagen, sein Fahrer nickt instinktiv. mer ab. Er knipst das Licht an, schaut auf „Sie müssen lernen, dass das in Europa die Uhr und schüttelt den Kopf. auch so ist. Das Parlament braucht nicht So erschöpft hat er das ganze Jahr nicht die Gnade der Exekutive. Die Exekutive gewirkt. Die EU hat viel von seiner Ener- muss die Zustimmung des Parlaments ge- gie geschluckt, sie ist irgendwo versickert, winnen.“ Seine Hände stoßen gegen das ohne dass Europa sich groß verändert hät- Fahrzeugdach. „Hier im Auto darf ich ja te. Um das zu erreichen, müsste es wohl ausflippen.“ Nachher im Rat müsse er mehr von seinem Kaliber geben. „Ich bin wieder den Staatsmann spielen. hundemüde“, ruft er in das leere Wohn- Schulz betritt das Ratsgebäude lange zimmer. vor seiner Rede, um Einzelgespräche mit seinen Vertrauten zu führen, mit Hollande, Video: Markus Feldenkirchen dem Belgier Elio di Rupo, Mario Monti über Martin Schulz aus Italien, dem österreichischen Kanzler spiegel.de/app112013schulz Werner Faymann. Sie sollen in den Ver- oder in der App DER SPIEGEL D E R S P I E G E L 1 1 / 2 0 1 3 37
Sie können auch lesen