V. SCHWELLE - EPOS - Brill
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V. SCHWELLE – EPOS Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
Das Epos gilt als eine der ältesten literarischen Gattungen und ihm haftet das Etikett des Archaischen und Unzeitgemäßen an; umso erstaunlicher mutet die Konstellation dieser Arbeit an, diese Gattung unter der Perspektive der ver- meintlich ‚jungen‘ Globalisierung in den Blick zu nehmen. Dabei findet das Bewusstsein von der Welt als Ganzheit gerade im Epos seinen literarischen Ausdruck, wie es Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Das Aleph (El Aleph) eindrücklich vor Augen führt. Darin arbeitet die Figur des Autors Carlos Argentino Daneri an einer Dichtung, welche er nur zu Ende bringen kann, weil und wenn er Zugang zum ‚Aleph‘ besitzt, einem „Ort, an dem, ohne sich zu ver- mischen, alle Orte der Welt sind [todos los lugares del orbe], aus allen Winkeln gesehen.“1 Die Sprache dieser Dichtung, von der einige Verse in der Erzählung abgedruckt sind, zeichnet sich durch einen hohen und manieristischen Stil sowie zahlreiche Anspielungen auf Homer und Hesiod aus. Dieses Epos erscheint letztlich aber durch seine überbordende Intertextualität, ebenso wie angesichts seines universalen Anspruchs, lächerlich; jedoch wirft es umso mehr die Frage nach Gestalt und Form des Epos auf. Was zeichnet überhaupt eine Gattung aus, deren Texte sich über Jahrtausende zurückverfolgen lassen? Und lassen sich hierfür konvergierende und stete formale wie inhaltliche Kriterien ausmachen? Einig sind sich alle Theorien und ästhetische Abhandlungen über das Epos allenfalls darin, dass über Form und Inhalt des Epos Uneinigkeit besteht. Überspitzt formuliert könnten sich alle Theorien auf die Ilias als Urbild des Epos festlegen, schon die Odyssee jedoch würde Anlass zum Widerspruch bieten.2 Setzt man ein formales Kriterium wie das Hexameter an, so fallen griechische und römische Epen unter diese Gattung, die Divina Commedia, die 1 Jorge Luis Borges, Das Aleph. (El Aleph). Erzählungen 1944–1952, übers. von Karl Horst, Gisbert Haefs, Frankfurt a. M.: Fischer 2017, S. 140. Herv. P. S. Die in eckigen Klammern eingefügten Zitate entstammen dem spanischen Original: Jorge Luis Borges, El Aleph [1949], Madrid: Alianza 1987, S. 166. Im Folgenden werden die eingefügten Passagen in eckigen Klammern hinter dem Nachweis der deutschen Ausgabe angefügt. 2 Vgl. Manuel Bauer, Nathanael Busch, Regine Reck: „Grundzüge der Epostheorie“, in: Manuel Bauer, Nathanael Busch, Regine Reck (Hg.): Texte zur Theorie des Epos, Stuttgart: Reclam 2015, S. 10. © Philipp Stelzer, 2022 | doi:10.30965/9783846767320_013 Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM This is an open access chaptervia distributed under the terms of the CC BY-NC-ND 4.0 license. Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
252 V. Schwelle – Epos Lusiaden, The Faerie Queene und allen voran natürlich ein Film nehmen sich selbstredend davon aus; und umgekehrt: Müsste man dann nicht die in Hexa- metern verfasste Lehrdichtung unter das Epos subsummieren?3 Legt man, wie Torquato Tasso, die Geschichte eines epischen Helden zugrunde,4 würde Space Odyssey in jeder Hinsicht zum Epos gerechnet, die Metamorphosen ließen sich jedoch nicht als ein solches verstehen. Erkennt man die Zeit des Epos in geschichtsphilosophischer Perspektive seit der Divina Commedia als überwunden an,5 dann fielen Epen von Miltons Paradise Lost über Klopstocks Messias bis Walcotts Omeros durch das Raster. Gerade weil das Epos trotz des geschichtsphilosophischen Abgesangs nicht verschwinden will, drängt sich geradezu die Frage nach der Fortsetzung und neuen Spielformen dieser Gattung auf – nach einem Modern Epic also. Hierfür liefert Franco Moretti zunächst eine Definition: ‚Epic‘, because of the many structural similarities binding it to a distant past […]. But ‚modern‘ epic, because there are certainly quite a few discontinuities: important enough, indeed, in one case – the supranational dimension of the represented space – to dictate the cognitive metaphor of the ‚world text‘ (which, in what is not just a verbal calque, recalls the ‚world-economy‘ of Braudel and Wallerstein).6 Moretti hebt hier einerseits den Bezug zur epischen Distanz hervor, anderer- seits die räumliche Dimension des Epos, die sich über die räumliche Einheit der Nation hinaus erstreckt. So überzeugend und konzise diese Bestimmung die Gattung Epos – auch mit Blick auf den Film in dieser Arbeit – trifft, so wenig überzeugend ist einerseits die Methodik, die sich auf eine darwinistische 3 Vgl. Hardie: „Ancient and modern theories of epic“, S. 30 f. Wie Hardie herausstellt gab es in der Antike noch keine differenzierende Begrifflichkeit, um zwischen ‚didaktischem‘ (Lehr- dichtung) und ‚heroisch-narrativem‘ Epos zu unterscheiden. 4 Vgl. Torquato Tasso: „Das Heldenepos (1587)“, in: Manuel Bauer, Nathanael Busch, Regine Reck (Hg.): Texte zur Theorie des Epos, Stuttgart: Reclam 2015, S. 44 f. 5 Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Bielefeld: Aisthesis 2009. 6 Franco Moretti, Modern epic. The world-system from Goethe to García Márquez, London: Verso 1996, S. 2. Morettis Suche nach dem modernen Epos setzt allerdings genau nicht an genannten Werken an, sondern beispielsweise an Goethes Faust oder Hundert Jahre Einsam- keit von García Márquez. In Auseinandersetzung mit Moretti sucht auch Wai Chee Dimock nach organisierenden und klassifizierenden Merkmalen literarischer Gattungen, jenseits von nationalen Zuschreibungen oder Versuchen der literaturgeschichtlichen Periodisierung. Mit Blick auf das Epos greift Dimock dabei auf die rekursive Struktur fraktaler Geometrie zurück, die sie in verschiedenen Skalierungen – von der Wort- bis hin zur Gattungsebene – im Epos am Werk sieht. Vgl. Wai Chee Dimock: „Genre as World System: Epic and Novel on Four Continents“, in: Narrative 14.1 (2006), S. 85 ff. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 253 Evolution der Gattungen stützt, andererseits die Umsetzung, als Moretti nicht etwa versucht, epische Werke jenseits ihres geschichtsphilosophischen Niedergangs für die Gattung zu retten, sondern dezidiert nicht-epische Werke ‚umzuetikettieren‘. Davon hebt sich die Methode vorliegender Arbeit inso- fern ab, als nicht nur „structural similarities“ im Fokus der Bestimmung des Epos stehen, sondern ein Zusammenspiel aus motivischen, narrativen und formalen Aspekten. Gänzlich verschieden ist also die Intention, nach den Bedingungen der Möglichkeit des Epos (auch) in einem anderen Medium zu suchen, als bestehende literarische Artefakte, wie Dramen und Romane, als Epos zu deklarieren. Die historisch wohl eindeutigste und klarste Bestimmung der literarischen Großform wird in der rota Vergilii zugrunde gelegt. Diese Klassifizierung ent- stammt der mittelalterlichen Stillehre der Rhetorik, die die Stilhöhen stilus humilis, stilus mediocris und stilus grande/sublime den drei vergilischen Dichtungen Bucolica, Georgica und Aeneis zuordnet: Diese biographische Abfolge der virgilischen Werke wurde vom Mittelalter als wesenhaft begründete Hierarchie dreier Dichtgattungen, aber auch dreier Stände (Hirt, Bauer, Krieger) und dreier Stilarten aufgefaßt. […] Diese Entsprechungen wurden in einem aus konzentrischen Kreisen bestehenden graphischen Schema untergebracht, das rota Virgilii hieß (das Rad Virgils).7 Einerseits erfindet diese Gegenüberstellung von Bukolik, Georgik und Epik das Rad in Bezug auf literarische Gattungen nicht neu, andererseits ist diese Ein- teilung, die sich bis in die Figurenbesetzung und Landschaftsbeschreibungen dieser Gattungen fortsetzt, angesichts der Vielzahl an Epen, welche Elemente aller drei Gattungen in sich aufnehmen, fraglich. Ja, selbst der Maßstab des hohen Stils wird, beispielsweise in Dantes Commedia, zugunsten einer eigen- tümlichen Stilmischung gekippt.8 Einen umfangreichen Versuch zur Bestimmung zumindest des antiken Epos unternehmen jüngst die Beiträge in Structures of Epic Poetry. Ihre thematisch- motivische und strukturelle Bestimmung des Epos, was die Herausgeberinnen, 7 Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 238. 8 „All diese Stellen wären, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang löst, in jeder gewöhnlichen Unterhaltung niederer Stillage denkbar. Daneben stehen Formungen von höchstem Pathos, auch sprachlich durchaus erhaben im antiken Sinne; […] [a]ber zugleich ist es unleugbar, daß sich Dantes Begriff vom Erhabenen ganz wesentlich von dem seiner antiken Vorbilder unterscheidet, im Gegenständlichen nicht minder als in der sprachlichen Formulierung. Die Gegenstände, die die Komödie vorführt, sind in einer nach antikischem Maß ungeheuer- lichen Weise aus Erhabenem und Niedrigem gemischt“. Erich Auerbach, Mimesis. Dar- gestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen: Francke 2001, S. 176 f. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
254 V. Schwelle – Epos in Anschluss an Eberhard Lämmert, unter dem Terminus der Bauform fassen,9 intendiert die Herstellung von Vergleichbarkeit zwischen den Exemplaren dieser Gattung: These structural elements are not restricted to single episodes, but they occur within epic poems, providing unity and coherence to the plot. On occasion they also comment on the narrative proper or offer the path for pro- and analeptic extensions of the storyline. Varied in kind, these structures characterise epic narratives and serve as genre markers.10 Neben Kampfszenen oder der Reise sind es vor allem sogenannte core structures, wie Ätiologie, Katalog oder Ekphrasis, die als „genre marker“ des Epos dienen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeit zeigt sich diese Methode zur Herstellung von Vergleichbarkeit im Hinblick auf den Anfang bzw. die Kosmogonie als einleuchtend und äußerst fruchtbar – umso erstaun- licher ist allerdings, dass ausgerechnet die Kosmogonie eine Leerstelle inner- halb der ausgemachten core structures bildet.11 Sei es, dass man formale und ästhetische Kriterien ansetzt, sei es, dass man geschichtsphilosophische Argumente anführt, oder sei es, dass man sich dem Epos über seine Bauformen annähert, für jedes gefundene Gattungsbeispiel ließen sich ebenso viele Gegenbeispiele zusammentragen. Deshalb wird das Epos in den theoretischen Annäherungen selten positiv, sondern immer schon aus einer Differenz heraus, als Gattungsunterschied, beispielsweise in der Abgrenzung zur Tragödie oder zum Roman, bestimmt.12 Die drei Werke des Korpus sind insofern Bestätigung für diese Beobachtungen, da sie alle – auf je verschiedene Art und Weise – an den Grenzen dieser Gattung rütteln. Für den Film ist das wohl am offensichtlichsten, da er geradezu die medialen Grenzen des Epos transzendieren muss; Paradise Lost fragt nach den Bedingungen 9 Vgl. Christiane Reitz, Simone Finkmann: „Introduction“, in: Christiane Reitz, Simone Finkmann (Hg.): Structures of Epic Poetry. Vol. I: Foundations. Vol. II.1/II.2: Configuration. Vol. III: Continuity, Berlin: De Gruyter 2019, S. 2. 10 Reitz, Finkmann: „Introduction“, S. 7. 11 In dem mehrbändigen Kompendium gibt es keinen Artikel zu Kosmogonie oder Anfang; im weiteren Sinne behandelt diese Fragen der Beitrag zu „Aetiology and geneology“ von Anke Walter. Vgl. Anke Walter: „Aetiology and geneology in ancient epic“, in: Christiane Reitz, Simone Finkmann (Hg.): Structures of Epic Poetry. Vol. I: Foundations. Vol. II.1/II.2: Configuration. Vol. III: Continuity, Berlin: De Gruyter 2019, S. 609 ff. 12 Attanucci spricht von einem „Medienunterschied“ in Bezug auf Epos und Roman, da dieser auf die Schriftlichkeit fixiert sei, jenes auf die Mündlichkeit hintendiere. Timothy Attanucci: „Streitigkeit im kosmischen Diskontinuum. Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey als Epos“, in: Reto Rössler, Tim Sparenberg, Philipp Weber (Hg.): Kosmos & Kontingenz. Eine Gegengeschichte, Paderborn: Fink 2016, S. 239. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 255 der Möglichkeit eines biblischen Epos; und sogar die Metamorphosen stellen einen Stein des Anstoßes für die Eposforschung dar: „Every scholar and reader of epic literature is confronted with the problem that in many respects Ovid’s Metamorphoses occupies an exceptional place in the epic tradition.“13 Es kann und soll hier, nach diesem kurzen Überblick über einige theoretische Ansätze, keine allgemeine Bestimmung des Epos entwickelt, sondern auf drei Aspekte eingegangen werden, die es erlauben, sich dem Grenzwert Epos anzunähern und gleichzeitig Berührungspunkte mit dem Korpus der Arbeit zu finden. Mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie und die drei Lektüren leisten und leiten drei Bereiche deshalb im Folgenden die Annäherung an den Grenzwert dieser narrativen Großform: ihr Verhältnis zum Mythos, der einerseits Grundlage des Epos ist, andererseits ein spezi- fisches Zeitverhältnis installiert; ihre Relation zu Ganzheit und Totalität, durch die sich ein episches Weltverhältnis offenbart; schließlich, die ideologische Funktion des Epos, welche sich an seiner Beziehung zum Imperium zeigt und welche sich gleichermaßen aus dem epischen Zeit- und Weltverhältnis speist. Mythos „Von der Dichtkunst selbst [perì poiētikēs autēs] und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen [toùs mythous] zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll […] wollen wir hier handeln.“14 Aristoteles legt bereits zu Beginn seiner Poetik nahe, dass der mythos (gr. für ‚Wort, Rede, Erzählung‘ und dann auch ‚Fabel, Handlung‘15) allen literarischen Gattungen zugrunde liege – folglich auch dem Epos, das bei Aristoteles epopoiía genannt wird. Das Epos wäre also zunächst einmal die sprachliche Ausgestaltung und poetisch-ästhetische Überformung einer früheren (mündlichen) Erzählung oder Handlung. Dient der mythos in der aristotelischen Bestimmung noch als bloßer Plot des Epos sowie der Tragödie, der sich in dessen Anlage zu wohlproportionierten Teilen einer ganzen 13 Reitz, Finkmann: „Introduction“, S. 8. Herv. P. S. Die Herausgeberinnen ließen es den Beitragenden deshalb explizit offen, ob sie die Metamorphosen in ihre Betrachtungen einbeziehen oder nicht. Vgl. auch den Titel von Sharrock: „Ovid’s Metamorphoses: the naughty boy of the Graeco-Roman epic tradition“, S. 275 ff. 14 Aristoteles, Poetik, S. 4 f. Abschnitt 1. 15 Unter dem Lemma „Mythos“ der Ästhetischen Grundbegriffe wird aufgrund der Etymo- logie gerade die nahe Verwandtschaft zum lógos betont – man müsste ergänzen: auch zum épos (Wort, Rede, Erzählung). Vgl. Ernst Müller: „Mythos/mythisch/Mythologie“, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 4. Medien – Populär, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 311. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
256 V. Schwelle – Epos Handlung fügen soll,16 so richtet Hans Blumenberg sein Augenmerk auch darauf, was im Übergang von mündlicher Überlieferung zur schriftlichen Ver- fasstheit des Mythos geschieht. Er schlägt dabei in die Kerbe, die Aristoteles durch seine Bestimmung des Mythos als Fabel von Epos und Tragödie hinter- lassen hat. Blumenbergs Unterscheidung ist umso wichtiger, als viele Theorien Epos und Mythos in eins setzen oder darin lediglich eine graduelle Differenz erkennen. Das mündliche Erzählen des Mythos, das mython mytheisthai, unterscheidet sich allerdings qualitativ von der schriftlichen Verfasstheit, als Blumenberg darin „ein Stück Darwinismus der Verbalität“17 am Werk sieht, in dem das Primat der Prägnanz die Präzision schriftlicher Überlieferung schlägt: „Die Zeit der Mündlichkeit war die Phase der ständigen und unmittelbaren Rückmeldung des Erfolgs literarischer Mittel.“18 Nur was publikumswirksam erprobt und erfolgreich ist, wird weiter tradiert und überdauert unter dem mythischen Selektionsdruck. Dies ändert sich grundlegend durch die Ver- schriftlichung des Mythos: „Die Schriftform macht die Variante bezugsfähig. Das jeweils Neue tritt nicht an die Stelle des von ihm Überbotenen und läßt dieses verschwinden, sondern legt sich nur darüber und schafft – die Literatur- geschichte.“19 An die Stelle der mündlichen Arbeit am Mythos, die ihre nicht weiter tradierten Varianten vergessen macht, tritt die palimpsestartige Über- lagerung der Texte, namentlich Intertextualität,20 welche ältere Varianten des Mythos überschreibt. Die in dieser Arbeit analysierten Werke – die Meta- morphosen, Paradise Lost und auch Space Odyssey – sind also Teil dieser Spätform, die an den Mythen arbeitet, indem sie frühere Texte überlagern, überschreiben, und letztlich den Mythos ästhetisch rationalisieren.21 Denn, 16 Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 19. Abschnitt 6. „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse [tēn sýnthesin tōn pragmáton]“. Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 29. Abschnitt 8. „Demnach muß […] auch die Fabel [tòn mython], da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer ein- zigen [miás], und zwar einer ganzen [hólēs] Handlung sein.“ 17 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 176. 18 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 168. 19 Ebda. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist also weniger wichtig, wann sich der Über- gang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit vollzogen hat, sondern dass er sich vollzogen hat. 20 Zwar verwendet Blumenberg den durch Julia Kristeva geprägten Begriff meines Wissens nicht, jedoch lässt sich die schriftliche Arbeit am Mythos durchaus unter diesem Terminus fassen und wird im Wort „bezugsfähig“ sogar manifest. Eine intertextuelle Arbeit in Bezug auf die lateinische Epik legt Hinds vor: Vgl. Stephen Hinds, Allusion and intertext. Dynamics of appropriation in Roman poetry, Cambridge: Cambridge UP 1998. 21 „Nun ist die Entstehung des Epos nicht identisch mit der des Mythos; im Gegenteil, jene setzt als Arbeit am Mythos schon die lange Arbeit des Mythos am Urstoff der Lebenswelt voraus.“ Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 175. Diese Differenzierung zwischen Mythos Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 257 wie Horkheimer und Adorno am Beispiel der Odyssee herausgestellt haben, „der ehrwürdige Kosmos der sinnerfüllten homerischen Welt offenbart sich als Leistung der ordnenden Vernunft, die den Mythos zerstört gerade ver- möge der rationalen Ordnung, in der sie ihn spiegelt.“22 Wenngleich das Epos durch ästhetische Überformung und Rationalisierung des Mythos versucht, sich seiner zu entledigen, zeigt sich der unbedingte Bezug zum Mythos darin, dass er dem Epos eine eigentümliche Zeitstruktur vorgibt. „Der Mythos ist ursprüngliches Denken, und er ist ein Denken des Ursprungs“, so schreibt Emil Angehrn: Er ist Ursprungsdenken seinem Ort und seinem Gegenstand nach. Auf der einen Seite steht der Mythos für das Denken der Frühzeit, er verkörpert die Vorgeschichte des rationalen Denkens, das sich in Anknüpfung an ihn wie in der Abhebung von ihm herausbildet. […] Auf der anderen Seite ist der Mythos Ursprungsdenken durch seinen Inhalt. Er ist seinem Thema nach Erinnerung; sein Gegenstand ist der Anfang, sei es als Entstehung der Welt und der Götter, als Ursprung seines Volks oder einer Tradition.23 In dieser Doppelbestimmung des Mythos als Ursprungsdenken – einmal systematisch, einmal inhaltlich – lässt er sich vom Epos unterscheiden, indem Mythos als Vorgeschichte epischer Rationalisierung bestimmt wird; er findet umgekehrt aber, als Modus des Denkens, Eingang in die literarische Gattung des Epos. Dies zeigt sich in der näheren Bestimmung der Funktion und Funktionsweise des Mythos: Der Mythos fungiert als eine Art historische Erinnerung, die ein Bild vom Gewordensein der Welt und der Herkunft einer Gemeinschaft entwirft; als eine Beschreibung der bestehenden Welt, die ein Verhältnis der bestimmenden Kräfte und Gesetze ermöglicht; als eine Darstellung, die sowohl Konstitution wie Medium der Aneignung ist. Er ist als Weltbeschreibung nicht bloßes Abbild, sondern Gliederung und Systematisierung, er gibt der Welt ein bestimmtes Profil; als verstehende Durchdringung ermöglicht er Orientierung. Er ist als Weltinterpretation zugleich Welterzeugung und in eins damit Medium mensch- licher Selbstbeschreibung und Selbstverständigung.24 und Epos erfassen, freilich mit anderer Funktion, auch Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung: „Die gewohnte Gleichsetzung von Epos und Mythos […] erweist sich vollends der philosophischen Kritik als Trug. Beide Begriffe treten auseinander.“ Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 50. 22 Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 50. 23 Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 46. 24 Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 37. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
258 V. Schwelle – Epos Weil es für einen philosophischen Begriff des Mythos nicht entscheidend scheint, übergeht Angehrn die Unterscheidung von Mythos und Epos, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass er seinen Ansatz zur Bestimmung des Mythos gerade mit epischen Beispielen illustriert und begründet. Für ihn stellt der Mythos vielmehr eine Form des Denkens dar, die über ihre enge Verbindung auch dem Epos inhärent ist. Indem Angehrn die mythische Denkform als „historische Erinnerung“ an das „Gewordensein der Welt“ und die „Herkunft der Gemeinschaft“ bestimmt, wodurch sie die Doppelfunktion von Weltinter- pretation und -erzeugung gleichermaßen übernimmt, erfüllt sie allerdings eben jene Kriterien „der hierarchischen Wertkategorie der Vergangenheit“, wie Michail Bachtin schreibt, die das epische Narrativ „in einem in eine Distanz gerückten, fernliegenden Bild […] organisiert.“25 Das Epos nimmt sich für Bachtin also – in Kontrast zum Roman – als Verhandlungsort der Vergangen- heit aus: „Die epische Welt wird in der Zone eines absolut fernliegenden Bildes errichtet, außerhalb der Sphäre des möglichen Kontakts mit der werdenden, unabgeschlossenen und deshalb Umdeutungen und Umwertungen aus- lösenden Gegenwart.“26 Sein Korrektiv erhält diese These daran, dass viele Epen durchaus den Kontakt zur Gegenwart herstellen: Man denke an die Prophetien und die Schildbeschreibung der Aeneis, an Ovids Diktum „ad mea […] tempora“ (M I,4), an die Engführung Adams und Evas mit der indigenen Bevölkerung Amerikas, wie sie in Paradise Lost vorgenommen wird, oder an den Rückblick vom Mond auf die Erde in Space Odyssey, wie er im Space Age unmittelbar in Szene gesetzt wurde. Gemeinsam ist diesen Bezügen auf die und zur Gegenwart jedoch ihre Adressierung aus einer zeitlichen Distanz heraus; erst dieses Zeitverhältnis epischer Distanz verhilft dem Epos zu seiner Wirkmacht. Vor diesem Hintergrund sollen nun die drei von Bachtin heraus- gearbeiteten Züge des Epos einer Revision unterzogen werden: 1. Gegenstand des Epos ist die nationale epische Vergangenheit, das „voll- kommen Vergangene“ in der Terminologie Goethes und Schillers; 2. Als Quelle des Epos dient die nationale Überlieferung (und nicht die persönliche Erfahrung und die aus ihr erwachsende freie Erfindung); 3. Die epische Welt ist von der Gegenwart, d. h. von der Zeit des Sängers (des Autors und seiner Zuhörer), durch eine absolute epische Distanz getrennt.27 Wie oben bereits gezeigt, bedient sich die epische Handlung am Mythos und installiert auf diese Weise ein Zeitverhältnis vollkommener Vergangenheit. 25 Bachtin: „Epos und Roman“, S. 509. 26 Bachtin: „Epos und Roman“, S. 506. 27 Bachtin: „Epos und Roman“, S. 500. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 259 Diese unüberbrückbare Distanz der Gegenwart zur epischen Handlung ist allerdings nur eine scheinbare: ist es doch gerade die (ideologische) Funktion und Intention des Epos, legitimierend auf und begründend für die Gegenwart zu wirken. Als zweites führt Bachtin die nationale Überlieferung an. Diese Bestimmung ist insofern problematisch, als die Bezeichnung Nation – wie auch in Hegels Prämisse vom „eigentlichen Epos [als] d[em] naive[n] Bewußtsein einer Nation“28 und der „totalen Welt einer Nation“,29 die im Epos zur Dar- stellung kommen solle – eine historische Signatur trägt, die nicht unein- geschränkt auf das Epos zutrifft. Erstens, da das Konzept der Nation im Sinne eines Staatskonstrukts sich erst mit Beginn der Neuzeit herausgebildet hat; zweitens, da das Epos als literarische Form an das Imperium geknüpft ist, also eine Herrschaftsform, die jenseits der Grenzen eines einzelnen Staates reicht und per definitionem zum Transnationalen strebt. Bachtin trifft jedoch den Kern des Epos, wenn er in der ‚nationalen‘ Überlieferung eine Begründungs- funktion sieht, die die jeweilige Vergangenheit nicht in neutralem Licht schildert, sondern die der Zeit eine spezifische Wertigkeit aufprägt: Dieses vollkommen Vergangene ist eine spezifische (hierarchische) Wertkate- gorie. Für die epische Weltsicht sind „Anfang“, der „Allererste“, „Begründer“, „Vorfahre“, „einst Gewesene“ usw. keine reinen Zeitkategorien, sondern Wert- Zeit-Kategorien, ein Wert-Zeit-Superlativ, der in Bezug auf die Menschen wie auch in Bezug auf alle Dinge und Erscheinungen der epischen Welt realisiert wird: In diesem Vergangenen ist alles gut, und alles von Grund auf Gute (das „Allererste“) existiert nur in diesem Vergangenen.30 Obwohl hier die Wirkmacht der Anfänge in der Begrifflichkeit der „Wert-Zeit“ durchaus erfasst wird, betont Bachtin – auch im dritten Definiens des Epos – nur die epische Distanz, die für die Gegenwart unerreichbar ist; mit Blick auf die Nachträglichkeit des Anfangs ergibt sich jedoch eine komplexere Gemenge- lage: Das vollkommen Vergangene des Epos, in dem die Begründungen und Anfänge erzählt werden, wird aus der Gegenwart (der „Zeit des Sängers“, wie es bei Bachtin heißt) in die vollkommene Vergangenheit der epischen Handlung projiziert, die durch die epische Distanz scheinbar ohne jeden Kontakt zur Gegenwart ist; in dieser Konstruktion wirkt diese vollkommene Vergangenheit jedoch als mit den begründenden Werten aufgeladene Zeit auf die Gegenwart, die sie so adressiert und legitimiert. Diesen An- und Ausgriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit hat Klaus Heinrich für den Mythos bestimmt und mit Blick 28 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 332. 29 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 330. 30 Bachtin: „Epos und Roman“, S. 503. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
260 V. Schwelle – Epos auf die dargelegte Zeitstruktur auch für das Epos erweitert: „Die Funktion der Genealogie im Mythos ist es, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete.“31 Auf diese Weise schließt die mythische Erinnerung […] die Gegenwart mit einem Ursprungsgeschehen zusammen, aus dem aktuelle Verteilungen und gesellschaftliche Positionen ihre ontologische Absicherung beziehen; die Wiederholung von Gründungshandlungen oder kosmischen Schöpfungsakten ist eine Selbstvergewisserung bestehender Ordnungsver- hältnisse; gleichzeitig ist das periodische Auflösen und Wiederherstellen von Ordnung eine erlebensmäßige Auseinandersetzung mit dem Antagonismus von Chaos und Ordnung, Zerstörung und Aufbau.32 Die absolut unüberbrückbare epische Distanz ist demnach so unüberwind- bar nicht; vielmehr entsteigt ihren erzählten Anfängen und Gründungen die Legitimation und Begründung bestehender Ordnungsverhältnisse; der Mythos – im Film wie in der Literatur – ist damit „die Epoche, in der die Gegen- wart begründet wurde.“33 Totalität Wie eingangs angesprochen, versucht die fiktionale Dichtung Carlos Argentino Daneris, in Borges’ Erzählung Das Aleph, die gesamte Welt dar- zustellen, in Anlehnung an das wunderbar-mirakulöse ‚Aleph‘ im Keller eines Hauses: „Die Dichtung sei betitelt Die Erde [La Tierra]; es handle sich um eine Schilderung des Planeten [del planeta], die es natürlich nicht an pittoresken Abschweifungen und kühnen Apostrophen fehlen lasse.“34 Nach der Beschreibung Daneris – der Name kann als Kofferwort gedeutet werden, zusammengesetzt aus Dante und Alighieri – entspricht seine epische Dichtung damit exakt der Definition epischer Ganzheit und Totalität bei Hegel: „Der Inhalt des Epos ist, wie wir sahen, das Ganze einer Welt, in der eine individuelle Handlung geschieht. Hier treten deshalb die mannigfaltigsten Gegenstände 31 Heinrich, Parmenides und Jona, S. 12. 32 Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 38. 33 Hans-Thies Lehmann: „Die Raumfabrik. Mythos im Kino und Kinomythos“, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 575. „Wenn Mythos eine Form der Weltbewältigung vor und neben der begrifflichen Logik darstellt, so ist Faszination am imaginären Bildraum die dem Mythos vergleichbare Qualität des Mediums Film.“ Lehmann: „Die Raumfabrik“, S. 573. 34 Borges, Das Aleph, S. 133. [S. 158] Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 261 ein, die zu den Anschauungen, Taten und Zuständen einer Welt gehören.“35 Wie sich in der Beschreibung seiner Dichtung zeigt, scheint Daneri dabei aber einer fatalen Verwechslung anheimgefallen zu sein – derjenigen nämlich von Welt und Erde: Hatte er doch vor, die Gesamtrundung des Planeten [toda la redondez del planeta] in Verse zu bringen; im Jahre 1941 hatte er bereits einige Hektar des Staates Queensland erledigt und über einen Kilometer vom Lauf des Ob, einen Gaso- meter im Norden von Veracruz, die wichtigsten Geschäftshäuser der Gemeinde Concepción, das Landhaus von Mariana Cambáceres de Alvear in der Calle Once de Setiembre in Belgrano und ein Türkisches Bad unweit des berühmten Aquariums von Brighton. Er las mir ein paar besonders mühsame Stellen aus der australischen Zone seiner Dichtung vor […].36 Im Gegensatz – oder in größtmöglicher Nähe – zu Hegels Diktum vom Epos als der Verkörperung des ‚Ganzen einer Welt‘, erfasst und beschreibt Daneri in mikrologischer Perspektive die gesamte Oberfläche der Erde.37 Was als komisches Missverstehen epischer Gattungspoetik anmutet, wirft doch die Frage danach auf, was unter dem ‚Ganzen einer Welt‘ als Spezifikum des Epos zu verstehen sei. Dass es um die Auseinandersetzung mit ‚Ganzheit‘ und ‚Totalität‘ angesichts der unweigerlichen Assoziationen mit Totalitarismus und künstlerischer Hybris schlecht bestellt ist, zeigt beispielsweise das auffallende Fehlen dieser Lemmata im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe.38 Dabei bilden diese Kate- gorien die ästhetische Grundlage gleich mehrerer literarischer Formen: Totalität liegt als literarische Episteme bestimmten Gattungen zugrunde: dem Epos, dem Roman, der Biographie, der Historiographie, dem Geschichts- drama. Diesen Genres wurde einst die Fähigkeit, mindestens aber die Intention zugeschrieben, eine Ganzheit abzubilden.39 35 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 373. Herv. P. S. 36 Borges, Das Aleph, S. 136. [S. 161] 37 Zur differenzierten Betrachtung von Welt und Erde im Kontext der Globalisierung vgl. Robert Stockhammer: „Welt oder Erde? Zwei Figuren des Globalen“, in: Christian Moser, Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 47 ff. 38 Vgl. auch Achim Hölter: „Totalität“, in: Christian Moser, Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 90. 39 Hölter: „Totalität“, S. 92. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
262 V. Schwelle – Epos Die prominentesten Verfechter der epischen Totalität, um die es hier ja aus schließlich geht, sind sicherlich Hegel und Lukács.40 Ihre geschichtsphilo- sophisch informierte Ästhetik bestimmt das Epos als „einheitsvolle Totalität“,41 in der sich allgemeiner Welthintergrund und individuelle Begebenheit in einem epischen Ganzen zusammenschließen.42 In Lukács’ Version wird das „Weltzeitalter des Epos“43 zum verlorenen Bild der Vergangenheit, in dem sich die Welt jedem Einzelnen noch zum geschlossenen Kreis fügte: Unsere Welt ist unendlich groß geworden und in jedem Winkel reicher an Geschenken und Gefahren als die griechische, aber dieser Reichtum hebt den tragenden und positiven Sinn ihres Lebens auf: die Totalität. Denn Totalität als formendes Prius jeder Einzelerscheinung bedeutet, daß etwas Geschlossenes vollendet sein kann; vollendet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist; vollendet, weil alles in ihm zur eigenen Vollkommenheit reift und sich erreichend sich der Bindung fügt.44 Mit dieser Bestimmung schließt Lukács an Hegels Diktum vom Epos als einheit- svoller Totalität an, gibt darüber hinaus die Grenzbestimmung des Epos dahin- gehend vor, dass die Welt unendlich groß geworden sei, weshalb die zirkuläre Totalität nicht mehr geschlossen werden könne und das Epos deshalb seinen gattungsgeschichtlichen Zenit überschritten habe – zugunsten des Romans.45 40 Vgl. Theo Kobusch, Orrin F. Summerell: „Totalität“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie online, Basel: Schwabe Verlag 2017, abrufbar unter: >DOI: 10.24894/HWPh.5495< [zuletzt aufgerufen am: 02.03.2021]. Besonders einschlägig hierfür ist der Abschnitt 2. Darin wird nach Kant – und stellvertretend für den gesamten deutschen Idealismus – Totalität in Form von „Vielheit, als Einheit betrachtet“ bestimmt. 41 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 373. 42 Vgl. Ebda. 43 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 22. 44 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 25. 45 Sowohl Hegel, Lukács wie auch Bachtin geben das Epos als Gattung unwiederbringlich verloren – neben der geschichtsphilosophischen Anlage ihrer Abhandlungen, ist dies aber auch auf deren Erkenntnisinteresse zurückzuführen: Weniger Hegel, so doch Lukács und Bachtin wollen eine Bestimmung des Romans abgeben und benutzen das Epos ledig- lich als negative Vergleichsfolie. An diesem Punkt setzt deshalb auch Dimocks Versuch an, Bachtins Ansatz zu aktualisieren: „Bakhtin, of course, has his own reasons for defining the epic in this way, as a genre that has already run its course, that can have no further meaning, no further development in the modern world. The point of the exercise is to show that there is only one genre that is truly alive right now – the novel – an autonomous genre, not indebted to the epic and indeed completely replacing it, taking over the literary field at just that point where the epic is consigned to oblivion. According to him, only the novel is adequate to the competing languages of the modern world; only the novel can Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 263 Wie aber erreicht das Epos überhaupt seinen Abschluss zur einheitsvollen Totalität? Und auf welcher Ebene kommt Totalität im Epos zur Darstellung? Totalität an sich kann nicht unmittelbar hergestellt werden, ihre Darstellung im Epos bedarf der medialen Vermittlung durch zwei Strategien: einmal der Reihung, einmal der rhetorischen Trope des pars pro toto. Das additive Ver- fahren findet seinen epostheoretischen Niederschlag in einem Abschnitt bei Friedrich Schlegel Über die homerische Poesie, welchem die einzelnen Episoden des Epos als in sich geschlossene Ganzheiten erscheinen, die potenziell unendlich aneinandergereiht werden könnten: „Daher ist auch der Umfang des epischen Gedichts durchaus unbegrenzt: denn jede Begebenheit ist ein Glied einer endlosen Reihe, die Folge früherer und der Keim künftiger Begeben- heiten.“46 Exemplarisch für den enzyklopädischen Zug einer potenziell unendlich fortsetzbaren Reihung einzelner Elemente wie Episoden steht der epische Katalog, wie im zweiten Gesang der Ilias47 oder in der Aufzählung von Ländern und Herrschern der Erde am Ende von Paradise Lost. Unter Verweis auf das 26. Kapitel der Poetik des Aristoteles führt Schlegel zur Beschreibung der unbegrenzten Mannigfaltigkeit und Vielheit des Epos eine Metapher ein: [D]enn das epische Gedicht ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein poetischer Polyp, wo jedes kleinere oder größere Glied (das sich ohne Verstümmelung oder Auflösung in schlechthin einfach, nicht mehr poetische und epische Bestand- teile von dem zusammengewachsenen Ganzen abtrennen läßt) für sich eignes Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat.48 Diesem „poetischen Polyp“ sind die einzelnen Teile ebenso harmonisch abge rundet wie das Ganze, die einzelne Episode so in sich geschlossen wie das Epos insgesamt. Dieser Geschlossenheit der Form in ihren Teilen wie im Ganzen trägt das Epos Rechnung, das schon an seiner Textoberfläche signalisiert, wie es darauf abzielt, eine ganze Geschichte von Anfang bis Ende zu berichten, mit allen zugehörigen Details, aus- drücklich auch um den Preis der Langatmigkeit. Das Epos demonstriert dies in seiner textlichen Gestalt durch dichte Verskolonnen, die Anzahl der Bücher, […] give voice to the heteroglossia that reflects human diversity. And yet […] this cannot be true.” Dimock: „Genre as World System: Epic and Novel on Four Continents“, S. 96. 46 Friedrich Schlegel: „Studien des klassischen Altertums“, in: Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erster Band, hg. von Ernst Behler, Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner, Paderborn: Schöningh 1979, S. 124. Herv. P. S. 47 Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 79. Abschnitt 23. Aristoteles wählt gerade den Schiffskatalog der Ilias, um den Effekt epischer Breite durch die Aneinanderreihung von einzelnen Episoden aufzuzeigen. 48 Schlegel: „Studien des klassischen Altertums“, S. 131. Herv. P. S. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
264 V. Schwelle – Epos durch die berühmten Mittel der epischen Integration, durch Wiederholungen, [oder] Rückgriffe […].49 Durch die Reihung einzelner Episoden wird also der Effekt der epischen Breite erwirkt, denn [d]as Epos unterscheidet sich von der Tragödie in der Ausdehnung des Hand- lungsgefüges und im Versmaß. Die richtige Begrenzung der Ausdehnung ist die angegebene: man muß das Werk von Anfang bis Ende überblicken können.50 Gerade diese Unterscheidung rührt, nach Aristoteles, von der Länge der Episoden: „In den Dramen sind die Szenen [epeisódia] kurz; das Epos hingegen erhält erst durch sie seine Breite.“51 Die Ausdehnung der einzelnen Episoden ist somit Spezifikum für das Handlungsgefüge des Epos, das auf diese Weise – im Gegensatz zur Tragödie – an Handlungsvielfalt und Qualität gewinnt. Wie alles sich im Epos zum Ganzen webt, vollzieht sich also einerseits in der Form einer Reihung, die sich potenziell ins Unendliche fortsetzen lässt; andererseits macht sich das Epos die Geschlossenheit seiner einzelnen Episoden zu eigen, indem diese als Teil für das Ganze stehen. Wie Hegel fest- stellt, ist es insbesondere die Gattung des Epos, die „[…] dem Ganzen wie den einzelnen Teilen den Anspruch zuteilt, durch sich und für sich selber dazusein.“52 Als schlagendes Beispiel hierfür steht freilich der Schild des Achilles im 18. Gesang der Ilias, dessen Status als cosmic icon,53 als „Inbild […] der epischen Totalität“,54 Nachahmung in zahlreichen Ekphraseis, wie der Schildbeschreibung in der Aeneis oder dem Relief des Sonnenpalasts in den Metamorphosen, gefunden hat. Aber auch der wiederholte Einsatz der Totalen, wie beispielsweise der in Space Odyssey dargestellte Earthrise, suggeriert durch die Kadrierung die Abbildung von Ganzheit, den Überblick über eine ganze Szenerie.55 Die Betonung liegt hier weniger auf der möglichen Reihung einzelner Teile, sondern auf der Abgeschlossenheit des Ganzen wie des Teils. Erst durch den Abschluss und die Geschlossenheit der Episode – bei Schlegel klingt dies in der möglichen Abtrennbarkeit des einzelnen Gliedes vom Polypen an – kann der Teil für das Ganze stehen, beziehungsweise das Ganze 49 Hölter: „Totalität“, S. 92 f. 50 Aristoteles, Poetik, S. 81. Abschnitt 24. 51 Aristoteles, Poetik, S. 57. Abschnitt 17. 52 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 385. 53 Vgl. Hardie, Virgil’s Aeneid, S. 336 ff. 54 R. Schönhaar: „Epos“, in: Gert Ueding, Gregor Kalivoda u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 2. Bie – Eul, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 1334. 55 Vgl. Hölter: „Totalität“, S. 92. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 265 für den Teil. Darunter ist also etwas unter Lukács’ Prämisse von der „Totalität als formende[m] Prius jeder Einzelerscheinung“56 zu verstehen, die auf kein Außen verweist und in sich vollkommen ist. Unter der Totalität des Epos, wie sie Hegel und Lukács herausstellen, ist somit ein poetisches Weltverhältnis zu begreifen, das auf Einheit und Geschlossenheit zielt. Trotzdem dieses Weltver- hältnis geschichtsphilosophisch – unter dem Verdikt Hegels zu einer „Prosa der Verhältnisse“57 einerseits, im Lichte Lukács’ ob der „transzendentalen Obdachlosigkeit“58 andererseits – zugunsten des Romans aufgelöst worden ist, gewinnt diese Gattung jüngst wieder an Konjunktur, sowohl in theoretischer Perspektive als auch durch künstlerische Reminiszenzen. Indiz dafür kann ein verstärktes Nachdenken über globale Prozesse sein, in dem die Form des Epos, mit seinem ästhetischen Postulat und Ideal nach Abgeschlossenheit und Totalität, an Relevanz gewinnt. Diesem gesteigerten Bedürfnis nach Dar- stellung von Ganzheit kommt das Epos insofern nach, als es schon der Form nach die Funktion dieser Gattung ist, die Totalität der Welt abzubilden: „Die Literatur entwickelt eine Poetik des Globalen. Sie kann dabei auf etablierte Formen zurückgreifen, die seit jeher der Darstellung von Totalität verpflichtet sind, etwa auf Epos und Roman“.59 Nicht nur im Hinblick auf die Debatte um Weltliteratur, sondern vor allem mit Blick auf die Form dieser Gattung, wird dem Epos der Status des ‚Weltgenres‘ bescheinigt.60 Da sich Vorstellungen der ganzen Welt, denen in Zeiten zunehmender erdumspannender Prozesse gesteigerte Aufmerksamkeit zukommt, der direkten Wahrnehmung entziehen, springt die künstlerische Vorstellungswelt ein, um diese Prozesse medial zu vermitteln und zur Darstellung zu bringen. Vor diesem Hintergrund liest sich Hegels Bestimmung des Epos wie das Programm einer Poetik des Globalen avant la lettre: Denn nur dadurch, daß ein Epos eine total in sich beschlossene und hiermit erst selbständige Welt schildert, ist es überhaupt ein Werk der freien Kunst, im Unter- schiede der teils zerstreuten, teils in einem endlosen Verlaufe von Abhängig- keiten, Ursachen, Wirkungen und Folgen sich fortziehenden Wirklichkeit.61 56 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 25. 57 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 393. Vgl. dazu Inka Mülder-Bach: „Einleitung“, in: Inka Mülder-Bach, Jens Kersten, Martin Zimmermann (Hg.): Prosa schreiben. Literatur – Geschichte – Recht, Paderborn: Fink 2019, S. 1 ff. 58 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 30. 59 Moser, Simonis: „Einleitung: Das globale Imaginäre“, S. 15. 60 Vgl. Moser, Simonis: „Einleitung: Das globale Imaginäre“, S. 18. 61 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 386. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
266 V. Schwelle – Epos Zwar zielt Hegel – wie oben bereits dargestellt – mit ‚Welt‘ in erster Linie auf die „total[e] Welt einer Nation“,62 allerdings stellt sich die Frage danach, ob erstens nicht mit der zunehmenden Infragestellung nationaler Grenzen auch die Gattung Epos diese Grenzziehung transzendiert, ob zweitens diese literarische Großform den Rückzug auf die Nation nicht seit jeher überschritten hat. In dieser Rücksicht liegt die Abrundung und Ausgestaltung des Epos nicht nur in dem besonderen Inhalt der bestimmten Handlung, sondern ebensosehr in der Totalität der Weltanschauung, deren objektive Wirklichkeit sie zu schildern unternimmt; und die epische Einheit ist in der Tat erst dann vollendet, wenn die besondere Handlung einerseits für sich beschlossen, andererseits aber in ihrem Verlaufe auch die in sich totale Welt, in deren Gesamtkreis sie sich bewegt, in voller Totalität zur Anschauung gebracht ist und beide Hauptsphären dennoch in lebendiger Vermittlung und ungestörter Einheit bleiben.63 Fand die „Weltanschauung“, die im Epos seinen poetischen Ausdruck finden soll, für Hegel ihr Telos noch in der Nation, so kann dies unter der Perspektive von Prozessen der Globalisierung nicht allein darauf reduziert bleiben. Wie aus den Lektüren dieser Arbeit hervorgeht, geht es im Epos seit jeher ums Ganze – das Weltganze ist hier sowohl Schauplatz als auch Anspruch. Es gilt also nicht, nach der Existenz von ‚Welt‘ im Epos zu fragen, sondern nach der spezifischen Relation und dem Verhältnis von ‚Welt‘ zur ‚totalen Welt‘ des Epos: „In early modern Europe, the world’s horizon was always in view, but was always just out of reach. It is therefore in the hybrid space of epic – at once fictional and historical – that we find the sharpest investigations of the imagined relations among nation, empire, and world.“64 Was Ramachandran für das Epos der europäischen Neuzeit herausstellt, gilt es in den Lektüren auch für die Weltvorstellungen des Korpus dieser Arbeit zu extrapolieren: In ihrem jeweiligen Weltverhältnis bildet sich in der einen Richtung das ästhetische Kriterium nach Totalität ab, in der anderen Richtung stellt sich ‚Welt‘, wie sie im Epos zur Darstellung kommt, als Sondierung ihres jeweiligen historischen und semantischen Aggregats der Wirklichkeit dar. Imperium Die zentralen Topoi des Epos sind, seit der Ilias und der Odyssee, Reise und Krieg.65 Es nimmt zunächst also nicht weiter wunder, dass epische Helden vornehmlich Krieger oder Seefahrer waren und sind, was das Epos zu einer 62 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 330. 63 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 390. Herv. im Original. 64 Ramachandran, The Worldmakers, S. 107 f. Herv. P. S. 65 Vgl. die Gliederung von Christiane Reitz, Simone Finkmann (Hg.), Structures of Epic Poetry. Vol. I: Foundations. Vol. II.1/II.2: Configuration. Vol. III: Continuity, Berlin: De Gruyter 2019. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
V. Schwelle – Epos 267 männlich konnotierten und dominierten Gattung macht. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Geschlechterdifferenz, die sich daraus ergibt, denn anders als bei dem männlichen Helden, wird den weiblichen oder weiblich konnotierten Figuren im Epos eine passive Rolle zugewiesen: Männer ziehen als Helden in den Krieg oder fahren zur See, Frauen bleiben zuhause oder werden mit dem Land erobert.66 Hier schreibt sich die Machtstruktur des Imperiums auf den Körpern der Eroberer wie der Eroberten ein und wird so im Epos sicht- und lesbar. Was viele Mythos- und Epostheorien weitgehend ausklammern und andere Theorien, die vom „Nationalgeist“ sprechen, gar affirmieren, ist die damit einhergehende politisch-ideologische Vereinnahmung der Gattung Epos. David Quint hat den Zusammenhang von Epic and Empire als zentrales Definiens des Epos herausgestellt und zeigt dies unter anderem auch anhand der Darstellung von Frauenfiguren auf: Woman’s place or displacement is therefore in the East, and epic features a series of oriental heroines whose seductions are potentially more perilous than Eastern arms: Medea [in der Argonautika], Dido [in der Aeneis], Angelica [im Orlando furioso], Armida [in Gerusalemme liberata], and Milton’s Eve [in Para- dise Lost, alle Herv. P. S.].67 Am Beispiel der Schlacht von Actium in der Aeneis, worin für ihn die imperiale Umwertung aller epischen Werte am deutlichsten zutage tritt, zeigt er auf, wie dieser Projektion das Konstrukt eines starken, disziplinierten, männ- lichen Westens in Verkörperung von Aeneas und Augustus gegenübergestellt wird. In der Ekphrasis des Aeneasschildes, welches die Schlacht von Actium prophetisch vorwegnimmt, stehen sich so nicht nur die Armeen von Antonius mit Kleopatra und Octavian/Augustus gegenüber, sondern gleichsam wilde Horden und militärische Einheit, Ost und West, weiblich und männlich, Chaos und (kosmisch-imperiale) Ordnung: The Western armies are portrayed as ethnically homogeneous, disciplined, and united, while the forces of the East are a loose aggregate of nationalities prone to internal discord and fragmentation. The West, in fact comes to embody the principle of coherence and the East that of disorder.68 66 Allen voran Klaus Theweleit hat dieses Muster in seinem Buch der Königstöchter heraus- gearbeitet und spricht von den „Fälle[n] realen, mythologisch ‚verbrämten‘ kolonistischen Landraubs, durchgeführt über den Körper von Königstöchtern, die von Göttermännern bzw. vom Kolonistenführer beschlafen werden; was dieser Spezies zur Legitimierung ihres Landraubs dient.“ Theweleit, Buch der Königstöchter, S. 11. 67 Quint: „Epic and Empire“, S. 9. 68 Quint: „Epic and Empire“, S. 7. Vgl. auch die tabellarische Gegenüberstellung auf S. 4. Philipp Stelzer - 9783846767320 Downloaded from Brill.com 04/22/2024 03:05:14PM via Open Access. Dies ist ein Open-Access-Titel, der unter den Bedingungen der CC BY-NC-ND 4.0-Lizenz veröffentlicht wird. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/
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