V. SCHWELLE - EPOS - Brill

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V.    SCHWELLE – EPOS

                                            Philipp Stelzer - 9783846767320
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Das Epos gilt als eine der ältesten literarischen Gattungen und ihm haftet das
Etikett des Archaischen und Unzeitgemäßen an; umso erstaunlicher mutet die
Konstellation dieser Arbeit an, diese Gattung unter der Perspektive der ver-
meintlich ‚jungen‘ Globalisierung in den Blick zu nehmen. Dabei findet das
Bewusstsein von der Welt als Ganzheit gerade im Epos seinen literarischen
Ausdruck, wie es Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Das Aleph (El Aleph)
eindrücklich vor Augen führt. Darin arbeitet die Figur des Autors Carlos
Argentino Daneri an einer Dichtung, welche er nur zu Ende bringen kann, weil
und wenn er Zugang zum ‚Aleph‘ besitzt, einem „Ort, an dem, ohne sich zu ver-
mischen, alle Orte der Welt sind [todos los lugares del orbe], aus allen Winkeln
gesehen.“1 Die Sprache dieser Dichtung, von der einige Verse in der Erzählung
abgedruckt sind, zeichnet sich durch einen hohen und manieristischen
Stil sowie zahlreiche Anspielungen auf Homer und Hesiod aus. Dieses Epos
erscheint letztlich aber durch seine überbordende Intertextualität, ebenso
wie angesichts seines universalen Anspruchs, lächerlich; jedoch wirft es umso
mehr die Frage nach Gestalt und Form des Epos auf. Was zeichnet überhaupt
eine Gattung aus, deren Texte sich über Jahrtausende zurückverfolgen lassen?
Und lassen sich hierfür konvergierende und stete formale wie inhaltliche
Kriterien ausmachen?
   Einig sind sich alle Theorien und ästhetische Abhandlungen über das Epos
allenfalls darin, dass über Form und Inhalt des Epos Uneinigkeit besteht.
Überspitzt formuliert könnten sich alle Theorien auf die Ilias als Urbild des
Epos festlegen, schon die Odyssee jedoch würde Anlass zum Widerspruch
bieten.2 Setzt man ein formales Kriterium wie das Hexameter an, so fallen
griechische und römische Epen unter diese Gattung, die Divina Commedia, die

1 Jorge Luis Borges, Das Aleph. (El Aleph). Erzählungen 1944–1952, übers. von Karl Horst, Gisbert
  Haefs, Frankfurt a. M.: Fischer 2017, S. 140. Herv. P. S. Die in eckigen Klammern eingefügten
  Zitate entstammen dem spanischen Original: Jorge Luis Borges, El Aleph [1949], Madrid:
  Alianza 1987, S. 166. Im Folgenden werden die eingefügten Passagen in eckigen Klammern
  hinter dem Nachweis der deutschen Ausgabe angefügt.
2 Vgl. Manuel Bauer, Nathanael Busch, Regine Reck: „Grundzüge der Epostheorie“, in: Manuel
  Bauer, Nathanael Busch, Regine Reck (Hg.): Texte zur Theorie des Epos, Stuttgart: Reclam 2015,
  S. 10.

© Philipp Stelzer, 2022 | doi:10.30965/9783846767320_013                       Philipp Stelzer - 9783846767320
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Lusiaden, The Faerie Queene und allen voran natürlich ein Film nehmen sich
selbstredend davon aus; und umgekehrt: Müsste man dann nicht die in Hexa-
metern verfasste Lehrdichtung unter das Epos subsummieren?3 Legt man,
wie Torquato Tasso, die Geschichte eines epischen Helden zugrunde,4 würde
Space Odyssey in jeder Hinsicht zum Epos gerechnet, die Metamorphosen
ließen sich jedoch nicht als ein solches verstehen. Erkennt man die Zeit des
Epos in geschichtsphilosophischer Perspektive seit der Divina Commedia als
überwunden an,5 dann fielen Epen von Miltons Paradise Lost über Klopstocks
Messias bis Walcotts Omeros durch das Raster. Gerade weil das Epos trotz
des geschichtsphilosophischen Abgesangs nicht verschwinden will, drängt
sich geradezu die Frage nach der Fortsetzung und neuen Spielformen dieser
Gattung auf – nach einem Modern Epic also. Hierfür liefert Franco Moretti
zunächst eine Definition:

      ‚Epic‘, because of the many structural similarities binding it to a distant past
      […]. But ‚modern‘ epic, because there are certainly quite a few discontinuities:
      important enough, indeed, in one case – the supranational dimension of the
      represented space – to dictate the cognitive metaphor of the ‚world text‘ (which,
      in what is not just a verbal calque, recalls the ‚world-economy‘ of Braudel and
      Wallerstein).6

Moretti hebt hier einerseits den Bezug zur epischen Distanz hervor, anderer-
seits die räumliche Dimension des Epos, die sich über die räumliche Einheit
der Nation hinaus erstreckt. So überzeugend und konzise diese Bestimmung
die Gattung Epos – auch mit Blick auf den Film in dieser Arbeit – trifft, so
wenig überzeugend ist einerseits die Methodik, die sich auf eine darwinistische

3 Vgl. Hardie: „Ancient and modern theories of epic“, S. 30 f. Wie Hardie herausstellt gab es in
  der Antike noch keine differenzierende Begrifflichkeit, um zwischen ‚didaktischem‘ (Lehr-
  dichtung) und ‚heroisch-narrativem‘ Epos zu unterscheiden.
4 Vgl. Torquato Tasso: „Das Heldenepos (1587)“, in: Manuel Bauer, Nathanael Busch, Regine
  Reck (Hg.): Texte zur Theorie des Epos, Stuttgart: Reclam 2015, S. 44 f.
5 Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die
  Formen der großen Epik, Bielefeld: Aisthesis 2009.
6 Franco Moretti, Modern epic. The world-system from Goethe to García Márquez, London:
  Verso 1996, S. 2. Morettis Suche nach dem modernen Epos setzt allerdings genau nicht an
  genannten Werken an, sondern beispielsweise an Goethes Faust oder Hundert Jahre Einsam-
  keit von García Márquez. In Auseinandersetzung mit Moretti sucht auch Wai Chee Dimock
  nach organisierenden und klassifizierenden Merkmalen literarischer Gattungen, jenseits
  von nationalen Zuschreibungen oder Versuchen der literaturgeschichtlichen Periodisierung.
  Mit Blick auf das Epos greift Dimock dabei auf die rekursive Struktur fraktaler Geometrie
  zurück, die sie in verschiedenen Skalierungen – von der Wort- bis hin zur Gattungsebene –
  im Epos am Werk sieht. Vgl. Wai Chee Dimock: „Genre as World System: Epic and Novel on
  Four Continents“, in: Narrative 14.1 (2006), S. 85 ff.

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Evolution der Gattungen stützt, andererseits die Umsetzung, als Moretti
nicht etwa versucht, epische Werke jenseits ihres geschichtsphilosophischen
Niedergangs für die Gattung zu retten, sondern dezidiert nicht-epische Werke
‚umzuetikettieren‘. Davon hebt sich die Methode vorliegender Arbeit inso-
fern ab, als nicht nur „structural similarities“ im Fokus der Bestimmung des
Epos stehen, sondern ein Zusammenspiel aus motivischen, narrativen und
formalen Aspekten. Gänzlich verschieden ist also die Intention, nach den
Bedingungen der Möglichkeit des Epos (auch) in einem anderen Medium zu
suchen, als bestehende literarische Artefakte, wie Dramen und Romane, als
Epos zu deklarieren.
   Die historisch wohl eindeutigste und klarste Bestimmung der literarischen
Großform wird in der rota Vergilii zugrunde gelegt. Diese Klassifizierung ent-
stammt der mittelalterlichen Stillehre der Rhetorik, die die Stilhöhen stilus
humilis, stilus mediocris und stilus grande/sublime den drei vergilischen
Dichtungen Bucolica, Georgica und Aeneis zuordnet:

      Diese biographische Abfolge der virgilischen Werke wurde vom Mittelalter als
      wesenhaft begründete Hierarchie dreier Dichtgattungen, aber auch dreier Stände
      (Hirt, Bauer, Krieger) und dreier Stilarten aufgefaßt. […] Diese Entsprechungen
      wurden in einem aus konzentrischen Kreisen bestehenden graphischen Schema
      untergebracht, das rota Virgilii hieß (das Rad Virgils).7

Einerseits erfindet diese Gegenüberstellung von Bukolik, Georgik und Epik das
Rad in Bezug auf literarische Gattungen nicht neu, andererseits ist diese Ein-
teilung, die sich bis in die Figurenbesetzung und Landschaftsbeschreibungen
dieser Gattungen fortsetzt, angesichts der Vielzahl an Epen, welche Elemente
aller drei Gattungen in sich aufnehmen, fraglich. Ja, selbst der Maßstab des
hohen Stils wird, beispielsweise in Dantes Commedia, zugunsten einer eigen-
tümlichen Stilmischung gekippt.8
   Einen umfangreichen Versuch zur Bestimmung zumindest des antiken Epos
unternehmen jüngst die Beiträge in Structures of Epic Poetry. Ihre thematisch-
motivische und strukturelle Bestimmung des Epos, was die Herausgeberinnen,

7 Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 238.
8 „All diese Stellen wären, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang löst, in jeder gewöhnlichen
  Unterhaltung niederer Stillage denkbar. Daneben stehen Formungen von höchstem Pathos,
  auch sprachlich durchaus erhaben im antiken Sinne; […] [a]ber zugleich ist es unleugbar,
  daß sich Dantes Begriff vom Erhabenen ganz wesentlich von dem seiner antiken Vorbilder
  unterscheidet, im Gegenständlichen nicht minder als in der sprachlichen Formulierung. Die
  Gegenstände, die die Komödie vorführt, sind in einer nach antikischem Maß ungeheuer-
  lichen Weise aus Erhabenem und Niedrigem gemischt“. Erich Auerbach, Mimesis. Dar-
  gestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen: Francke 2001, S. 176 f.

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in Anschluss an Eberhard Lämmert, unter dem Terminus der Bauform fassen,9
intendiert die Herstellung von Vergleichbarkeit zwischen den Exemplaren
dieser Gattung:

       These structural elements are not restricted to single episodes, but they occur
       within epic poems, providing unity and coherence to the plot. On occasion they
       also comment on the narrative proper or offer the path for pro- and analeptic
       extensions of the storyline. Varied in kind, these structures characterise epic
       narratives and serve as genre markers.10

Neben Kampfszenen oder der Reise sind es vor allem sogenannte core
structures, wie Ätiologie, Katalog oder Ekphrasis, die als „genre marker“ des
Epos dienen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeit zeigt sich diese
Methode zur Herstellung von Vergleichbarkeit im Hinblick auf den Anfang
bzw. die Kosmogonie als einleuchtend und äußerst fruchtbar – umso erstaun-
licher ist allerdings, dass ausgerechnet die Kosmogonie eine Leerstelle inner-
halb der ausgemachten core structures bildet.11
   Sei es, dass man formale und ästhetische Kriterien ansetzt, sei es, dass man
geschichtsphilosophische Argumente anführt, oder sei es, dass man sich dem
Epos über seine Bauformen annähert, für jedes gefundene Gattungsbeispiel
ließen sich ebenso viele Gegenbeispiele zusammentragen. Deshalb wird das
Epos in den theoretischen Annäherungen selten positiv, sondern immer schon
aus einer Differenz heraus, als Gattungsunterschied, beispielsweise in der
Abgrenzung zur Tragödie oder zum Roman, bestimmt.12 Die drei Werke des
Korpus sind insofern Bestätigung für diese Beobachtungen, da sie alle – auf je
verschiedene Art und Weise – an den Grenzen dieser Gattung rütteln. Für den
Film ist das wohl am offensichtlichsten, da er geradezu die medialen Grenzen
des Epos transzendieren muss; Paradise Lost fragt nach den Bedingungen

9		    Vgl. Christiane Reitz, Simone Finkmann: „Introduction“, in: Christiane Reitz, Simone
       Finkmann (Hg.): Structures of Epic Poetry. Vol. I: Foundations. Vol. II.1/II.2: Configuration.
       Vol. III: Continuity, Berlin: De Gruyter 2019, S. 2.
10		   Reitz, Finkmann: „Introduction“, S. 7.
11		   In dem mehrbändigen Kompendium gibt es keinen Artikel zu Kosmogonie oder Anfang;
       im weiteren Sinne behandelt diese Fragen der Beitrag zu „Aetiology and geneology“ von
       Anke Walter. Vgl. Anke Walter: „Aetiology and geneology in ancient epic“, in: Christiane
       Reitz, Simone Finkmann (Hg.): Structures of Epic Poetry. Vol. I: Foundations. Vol. II.1/II.2:
       Configuration. Vol. III: Continuity, Berlin: De Gruyter 2019, S. 609 ff.
12		   Attanucci spricht von einem „Medienunterschied“ in Bezug auf Epos und Roman, da
       dieser auf die Schriftlichkeit fixiert sei, jenes auf die Mündlichkeit hintendiere. Timothy
       Attanucci: „Streitigkeit im kosmischen Diskontinuum. Stanley Kubricks 2001: A Space
       Odyssey als Epos“, in: Reto Rössler, Tim Sparenberg, Philipp Weber (Hg.): Kosmos &
       Kontingenz. Eine Gegengeschichte, Paderborn: Fink 2016, S. 239.

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der Möglichkeit eines biblischen Epos; und sogar die Metamorphosen stellen
einen Stein des Anstoßes für die Eposforschung dar: „Every scholar and reader
of epic literature is confronted with the problem that in many respects Ovid’s
Metamorphoses occupies an exceptional place in the epic tradition.“13
   Es kann und soll hier, nach diesem kurzen Überblick über einige theoretische
Ansätze, keine allgemeine Bestimmung des Epos entwickelt, sondern auf
drei Aspekte eingegangen werden, die es erlauben, sich dem Grenzwert
Epos anzunähern und gleichzeitig Berührungspunkte mit dem Korpus der
Arbeit zu finden. Mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie und
die drei Lektüren leisten und leiten drei Bereiche deshalb im Folgenden die
Annäherung an den Grenzwert dieser narrativen Großform: ihr Verhältnis
zum Mythos, der einerseits Grundlage des Epos ist, andererseits ein spezi-
fisches Zeitverhältnis installiert; ihre Relation zu Ganzheit und Totalität, durch
die sich ein episches Weltverhältnis offenbart; schließlich, die ideologische
Funktion des Epos, welche sich an seiner Beziehung zum Imperium zeigt und
welche sich gleichermaßen aus dem epischen Zeit- und Weltverhältnis speist.

Mythos
„Von der Dichtkunst selbst [perì poiētikēs autēs] und von ihren Gattungen,
welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen [toùs mythous]
zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll […] wollen wir hier
handeln.“14 Aristoteles legt bereits zu Beginn seiner Poetik nahe, dass der
mythos (gr. für ‚Wort, Rede, Erzählung‘ und dann auch ‚Fabel, Handlung‘15)
allen literarischen Gattungen zugrunde liege – folglich auch dem Epos, das
bei Aristoteles epopoiía genannt wird. Das Epos wäre also zunächst einmal
die sprachliche Ausgestaltung und poetisch-ästhetische Überformung einer
früheren (mündlichen) Erzählung oder Handlung. Dient der mythos in der
aristotelischen Bestimmung noch als bloßer Plot des Epos sowie der Tragödie,
der sich in dessen Anlage zu wohlproportionierten Teilen einer ganzen

13		   Reitz, Finkmann: „Introduction“, S. 8. Herv. P. S. Die Herausgeberinnen ließen es den
       Beitragenden deshalb explizit offen, ob sie die Metamorphosen in ihre Betrachtungen
       einbeziehen oder nicht. Vgl. auch den Titel von Sharrock: „Ovid’s Metamorphoses: the
       naughty boy of the Graeco-Roman epic tradition“, S. 275 ff.
14		   Aristoteles, Poetik, S. 4 f. Abschnitt 1.
15		   Unter dem Lemma „Mythos“ der Ästhetischen Grundbegriffe wird aufgrund der Etymo-
       logie gerade die nahe Verwandtschaft zum lógos betont – man müsste ergänzen: auch
       zum épos (Wort, Rede, Erzählung). Vgl. Ernst Müller: „Mythos/mythisch/Mythologie“, in:
       Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 4. Medien –
       Populär, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 311.

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Handlung fügen soll,16 so richtet Hans Blumenberg sein Augenmerk auch
darauf, was im Übergang von mündlicher Überlieferung zur schriftlichen Ver-
fasstheit des Mythos geschieht. Er schlägt dabei in die Kerbe, die Aristoteles
durch seine Bestimmung des Mythos als Fabel von Epos und Tragödie hinter-
lassen hat. Blumenbergs Unterscheidung ist umso wichtiger, als viele Theorien
Epos und Mythos in eins setzen oder darin lediglich eine graduelle Differenz
erkennen. Das mündliche Erzählen des Mythos, das mython mytheisthai,
unterscheidet sich allerdings qualitativ von der schriftlichen Verfasstheit, als
Blumenberg darin „ein Stück Darwinismus der Verbalität“17 am Werk sieht, in
dem das Primat der Prägnanz die Präzision schriftlicher Überlieferung schlägt:
„Die Zeit der Mündlichkeit war die Phase der ständigen und unmittelbaren
Rückmeldung des Erfolgs literarischer Mittel.“18 Nur was publikumswirksam
erprobt und erfolgreich ist, wird weiter tradiert und überdauert unter dem
mythischen Selektionsdruck. Dies ändert sich grundlegend durch die Ver-
schriftlichung des Mythos: „Die Schriftform macht die Variante bezugsfähig.
Das jeweils Neue tritt nicht an die Stelle des von ihm Überbotenen und läßt
dieses verschwinden, sondern legt sich nur darüber und schafft – die Literatur-
geschichte.“19 An die Stelle der mündlichen Arbeit am Mythos, die ihre nicht
weiter tradierten Varianten vergessen macht, tritt die palimpsestartige Über-
lagerung der Texte, namentlich Intertextualität,20 welche ältere Varianten
des Mythos überschreibt. Die in dieser Arbeit analysierten Werke – die Meta-
morphosen, Paradise Lost und auch Space Odyssey – sind also Teil dieser
Spätform, die an den Mythen arbeitet, indem sie frühere Texte überlagern,
überschreiben, und letztlich den Mythos ästhetisch rationalisieren.21 Denn,

16		   Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 19. Abschnitt 6. „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos.
       Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse [tēn sýnthesin
       tōn pragmáton]“. Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 29. Abschnitt 8. „Demnach muß […] auch die
       Fabel [tòn mython], da sie Nachahmung von Handlung ist, die Nachahmung einer ein-
       zigen [miás], und zwar einer ganzen [hólēs] Handlung sein.“
17		   Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 176.
18		   Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 168.
19		   Ebda. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist also weniger wichtig, wann sich der Über-
       gang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit vollzogen hat, sondern dass er sich vollzogen
       hat.
20		   Zwar verwendet Blumenberg den durch Julia Kristeva geprägten Begriff meines Wissens
       nicht, jedoch lässt sich die schriftliche Arbeit am Mythos durchaus unter diesem
       Terminus fassen und wird im Wort „bezugsfähig“ sogar manifest. Eine intertextuelle
       Arbeit in Bezug auf die lateinische Epik legt Hinds vor: Vgl. Stephen Hinds, Allusion and
       intertext. Dynamics of appropriation in Roman poetry, Cambridge: Cambridge UP 1998.
21		   „Nun ist die Entstehung des Epos nicht identisch mit der des Mythos; im Gegenteil, jene
       setzt als Arbeit am Mythos schon die lange Arbeit des Mythos am Urstoff der Lebenswelt
       voraus.“ Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 175. Diese Differenzierung zwischen Mythos

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V. Schwelle – Epos                                                                       257

wie Horkheimer und Adorno am Beispiel der Odyssee herausgestellt haben,
„der ehrwürdige Kosmos der sinnerfüllten homerischen Welt offenbart sich
als Leistung der ordnenden Vernunft, die den Mythos zerstört gerade ver-
möge der rationalen Ordnung, in der sie ihn spiegelt.“22 Wenngleich das Epos
durch ästhetische Überformung und Rationalisierung des Mythos versucht,
sich seiner zu entledigen, zeigt sich der unbedingte Bezug zum Mythos darin,
dass er dem Epos eine eigentümliche Zeitstruktur vorgibt. „Der Mythos ist
ursprüngliches Denken, und er ist ein Denken des Ursprungs“, so schreibt Emil
Angehrn:

       Er ist Ursprungsdenken seinem Ort und seinem Gegenstand nach. Auf der
       einen Seite steht der Mythos für das Denken der Frühzeit, er verkörpert die
       Vorgeschichte des rationalen Denkens, das sich in Anknüpfung an ihn wie in
       der Abhebung von ihm herausbildet. […] Auf der anderen Seite ist der Mythos
       Ursprungsdenken durch seinen Inhalt. Er ist seinem Thema nach Erinnerung;
       sein Gegenstand ist der Anfang, sei es als Entstehung der Welt und der Götter, als
       Ursprung seines Volks oder einer Tradition.23

In dieser Doppelbestimmung des Mythos als Ursprungsdenken – einmal
systematisch, einmal inhaltlich – lässt er sich vom Epos unterscheiden, indem
Mythos als Vorgeschichte epischer Rationalisierung bestimmt wird; er findet
umgekehrt aber, als Modus des Denkens, Eingang in die literarische Gattung
des Epos. Dies zeigt sich in der näheren Bestimmung der Funktion und
Funktionsweise des Mythos:

       Der Mythos fungiert als eine Art historische Erinnerung, die ein Bild vom
       Gewordensein der Welt und der Herkunft einer Gemeinschaft entwirft; als
       eine Beschreibung der bestehenden Welt, die ein Verhältnis der bestimmenden
       Kräfte und Gesetze ermöglicht; als eine Darstellung, die sowohl Konstitution
       wie Medium der Aneignung ist. Er ist als Weltbeschreibung nicht bloßes Abbild,
       sondern Gliederung und Systematisierung, er gibt der Welt ein bestimmtes
       Profil; als verstehende Durchdringung ermöglicht er Orientierung. Er ist als
       Weltinterpretation zugleich Welterzeugung und in eins damit Medium mensch-
       licher Selbstbeschreibung und Selbstverständigung.24

       und Epos erfassen, freilich mit anderer Funktion, auch Horkheimer und Adorno in der
       Dialektik der Aufklärung: „Die gewohnte Gleichsetzung von Epos und Mythos […] erweist
       sich vollends der philosophischen Kritik als Trug. Beide Begriffe treten auseinander.“
       Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 50.
22		   Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 50.
23		   Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 46.
24		   Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 37.

                                                                     Philipp Stelzer - 9783846767320
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Weil es für einen philosophischen Begriff des Mythos nicht entscheidend
scheint, übergeht Angehrn die Unterscheidung von Mythos und Epos, was sich
nicht zuletzt darin zeigt, dass er seinen Ansatz zur Bestimmung des Mythos
gerade mit epischen Beispielen illustriert und begründet. Für ihn stellt der
Mythos vielmehr eine Form des Denkens dar, die über ihre enge Verbindung
auch dem Epos inhärent ist. Indem Angehrn die mythische Denkform als
„historische Erinnerung“ an das „Gewordensein der Welt“ und die „Herkunft
der Gemeinschaft“ bestimmt, wodurch sie die Doppelfunktion von Weltinter-
pretation und -erzeugung gleichermaßen übernimmt, erfüllt sie allerdings
eben jene Kriterien „der hierarchischen Wertkategorie der Vergangenheit“, wie
Michail Bachtin schreibt, die das epische Narrativ „in einem in eine Distanz
gerückten, fernliegenden Bild […] organisiert.“25 Das Epos nimmt sich für
Bachtin also – in Kontrast zum Roman – als Verhandlungsort der Vergangen-
heit aus: „Die epische Welt wird in der Zone eines absolut fernliegenden Bildes
errichtet, außerhalb der Sphäre des möglichen Kontakts mit der werdenden,
unabgeschlossenen und deshalb Umdeutungen und Umwertungen aus-
lösenden Gegenwart.“26 Sein Korrektiv erhält diese These daran, dass viele
Epen durchaus den Kontakt zur Gegenwart herstellen: Man denke an die
Prophetien und die Schildbeschreibung der Aeneis, an Ovids Diktum „ad mea
[…] tempora“ (M I,4), an die Engführung Adams und Evas mit der indigenen
Bevölkerung Amerikas, wie sie in Paradise Lost vorgenommen wird, oder an
den Rückblick vom Mond auf die Erde in Space Odyssey, wie er im Space Age
unmittelbar in Szene gesetzt wurde. Gemeinsam ist diesen Bezügen auf die
und zur Gegenwart jedoch ihre Adressierung aus einer zeitlichen Distanz
heraus; erst dieses Zeitverhältnis epischer Distanz verhilft dem Epos zu seiner
Wirkmacht. Vor diesem Hintergrund sollen nun die drei von Bachtin heraus-
gearbeiteten Züge des Epos einer Revision unterzogen werden:

       1. Gegenstand des Epos ist die nationale epische Vergangenheit, das „voll-
       kommen Vergangene“ in der Terminologie Goethes und Schillers; 2. Als Quelle
       des Epos dient die nationale Überlieferung (und nicht die persönliche Erfahrung
       und die aus ihr erwachsende freie Erfindung); 3. Die epische Welt ist von der
       Gegenwart, d. h. von der Zeit des Sängers (des Autors und seiner Zuhörer), durch
       eine absolute epische Distanz getrennt.27

Wie oben bereits gezeigt, bedient sich die epische Handlung am Mythos und
installiert auf diese Weise ein Zeitverhältnis vollkommener Vergangenheit.

25		   Bachtin: „Epos und Roman“, S. 509.
26		   Bachtin: „Epos und Roman“, S. 506.
27		   Bachtin: „Epos und Roman“, S. 500.

                                                                     Philipp Stelzer - 9783846767320
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V. Schwelle – Epos                                                                       259

Diese unüberbrückbare Distanz der Gegenwart zur epischen Handlung ist
allerdings nur eine scheinbare: ist es doch gerade die (ideologische) Funktion
und Intention des Epos, legitimierend auf und begründend für die Gegenwart
zu wirken. Als zweites führt Bachtin die nationale Überlieferung an. Diese
Bestimmung ist insofern problematisch, als die Bezeichnung Nation – wie auch
in Hegels Prämisse vom „eigentlichen Epos [als] d[em] naive[n] Bewußtsein
einer Nation“28 und der „totalen Welt einer Nation“,29 die im Epos zur Dar-
stellung kommen solle – eine historische Signatur trägt, die nicht unein-
geschränkt auf das Epos zutrifft. Erstens, da das Konzept der Nation im Sinne
eines Staatskonstrukts sich erst mit Beginn der Neuzeit herausgebildet hat;
zweitens, da das Epos als literarische Form an das Imperium geknüpft ist, also
eine Herrschaftsform, die jenseits der Grenzen eines einzelnen Staates reicht
und per definitionem zum Transnationalen strebt. Bachtin trifft jedoch den
Kern des Epos, wenn er in der ‚nationalen‘ Überlieferung eine Begründungs-
funktion sieht, die die jeweilige Vergangenheit nicht in neutralem Licht
schildert, sondern die der Zeit eine spezifische Wertigkeit aufprägt:

       Dieses vollkommen Vergangene ist eine spezifische (hierarchische) Wertkate-
       gorie. Für die epische Weltsicht sind „Anfang“, der „Allererste“, „Begründer“,
       „Vorfahre“, „einst Gewesene“ usw. keine reinen Zeitkategorien, sondern Wert-
       Zeit-Kategorien, ein Wert-Zeit-Superlativ, der in Bezug auf die Menschen wie
       auch in Bezug auf alle Dinge und Erscheinungen der epischen Welt realisiert
       wird: In diesem Vergangenen ist alles gut, und alles von Grund auf Gute (das
       „Allererste“) existiert nur in diesem Vergangenen.30

Obwohl hier die Wirkmacht der Anfänge in der Begrifflichkeit der „Wert-Zeit“
durchaus erfasst wird, betont Bachtin – auch im dritten Definiens des Epos –
nur die epische Distanz, die für die Gegenwart unerreichbar ist; mit Blick auf
die Nachträglichkeit des Anfangs ergibt sich jedoch eine komplexere Gemenge-
lage: Das vollkommen Vergangene des Epos, in dem die Begründungen und
Anfänge erzählt werden, wird aus der Gegenwart (der „Zeit des Sängers“, wie es
bei Bachtin heißt) in die vollkommene Vergangenheit der epischen Handlung
projiziert, die durch die epische Distanz scheinbar ohne jeden Kontakt zur
Gegenwart ist; in dieser Konstruktion wirkt diese vollkommene Vergangenheit
jedoch als mit den begründenden Werten aufgeladene Zeit auf die Gegenwart,
die sie so adressiert und legitimiert. Diesen An- und Ausgriff der Vergangenheit
auf die übrige Zeit hat Klaus Heinrich für den Mythos bestimmt und mit Blick

28		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 332.
29		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 330.
30		   Bachtin: „Epos und Roman“, S. 503.

                                                                       Philipp Stelzer - 9783846767320
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auf die dargelegte Zeitstruktur auch für das Epos erweitert: „Die Funktion der
Genealogie im Mythos ist es, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen
auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete.“31 Auf diese Weise
schließt die mythische Erinnerung

       […] die Gegenwart mit einem Ursprungsgeschehen zusammen, aus dem aktuelle
       Verteilungen und gesellschaftliche Positionen ihre ontologische Absicherung
       beziehen; die Wiederholung von Gründungshandlungen oder kosmischen
       Schöpfungsakten ist eine Selbstvergewisserung bestehender Ordnungsver-
       hältnisse; gleichzeitig ist das periodische Auflösen und Wiederherstellen von
       Ordnung eine erlebensmäßige Auseinandersetzung mit dem Antagonismus von
       Chaos und Ordnung, Zerstörung und Aufbau.32

Die absolut unüberbrückbare epische Distanz ist demnach so unüberwind-
bar nicht; vielmehr entsteigt ihren erzählten Anfängen und Gründungen
die Legitimation und Begründung bestehender Ordnungsverhältnisse; der
Mythos – im Film wie in der Literatur – ist damit „die Epoche, in der die Gegen-
wart begründet wurde.“33

Totalität
Wie eingangs angesprochen, versucht die fiktionale Dichtung Carlos
Argentino Daneris, in Borges’ Erzählung Das Aleph, die gesamte Welt dar-
zustellen, in Anlehnung an das wunderbar-mirakulöse ‚Aleph‘ im Keller
eines Hauses: „Die Dichtung sei betitelt Die Erde [La Tierra]; es handle sich
um eine Schilderung des Planeten [del planeta], die es natürlich nicht an
pittoresken Abschweifungen und kühnen Apostrophen fehlen lasse.“34 Nach
der Beschreibung Daneris – der Name kann als Kofferwort gedeutet werden,
zusammengesetzt aus Dante und Alighieri – entspricht seine epische Dichtung
damit exakt der Definition epischer Ganzheit und Totalität bei Hegel: „Der
Inhalt des Epos ist, wie wir sahen, das Ganze einer Welt, in der eine individuelle
Handlung geschieht. Hier treten deshalb die mannigfaltigsten Gegenstände

31		   Heinrich, Parmenides und Jona, S. 12.
32		   Angehrn, Die Überwindung des Chaos, S. 38.
33		   Hans-Thies Lehmann: „Die Raumfabrik. Mythos im Kino und Kinomythos“, in: Karl Heinz
       Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M.:
       Suhrkamp 1988, S. 575. „Wenn Mythos eine Form der Weltbewältigung vor und neben der
       begrifflichen Logik darstellt, so ist Faszination am imaginären Bildraum die dem Mythos
       vergleichbare Qualität des Mediums Film.“ Lehmann: „Die Raumfabrik“, S. 573.
34		   Borges, Das Aleph, S. 133. [S. 158]

                                                                      Philipp Stelzer - 9783846767320
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ein, die zu den Anschauungen, Taten und Zuständen einer Welt gehören.“35
Wie sich in der Beschreibung seiner Dichtung zeigt, scheint Daneri dabei aber
einer fatalen Verwechslung anheimgefallen zu sein – derjenigen nämlich von
Welt und Erde:

       Hatte er doch vor, die Gesamtrundung des Planeten [toda la redondez del planeta]
       in Verse zu bringen; im Jahre 1941 hatte er bereits einige Hektar des Staates
       Queensland erledigt und über einen Kilometer vom Lauf des Ob, einen Gaso-
       meter im Norden von Veracruz, die wichtigsten Geschäftshäuser der Gemeinde
       Concepción, das Landhaus von Mariana Cambáceres de Alvear in der Calle
       Once de Setiembre in Belgrano und ein Türkisches Bad unweit des berühmten
       Aquariums von Brighton. Er las mir ein paar besonders mühsame Stellen aus der
       australischen Zone seiner Dichtung vor […].36

Im Gegensatz – oder in größtmöglicher Nähe – zu Hegels Diktum vom Epos
als der Verkörperung des ‚Ganzen einer Welt‘, erfasst und beschreibt Daneri
in mikrologischer Perspektive die gesamte Oberfläche der Erde.37 Was als
komisches Missverstehen epischer Gattungspoetik anmutet, wirft doch die
Frage danach auf, was unter dem ‚Ganzen einer Welt‘ als Spezifikum des Epos
zu verstehen sei.
   Dass es um die Auseinandersetzung mit ‚Ganzheit‘ und ‚Totalität‘ angesichts
der unweigerlichen Assoziationen mit Totalitarismus und künstlerischer
Hybris schlecht bestellt ist, zeigt beispielsweise das auffallende Fehlen dieser
Lemmata im Lexikon Ästhetische Grundbegriffe.38 Dabei bilden diese Kate-
gorien die ästhetische Grundlage gleich mehrerer literarischer Formen:

       Totalität liegt als literarische Episteme bestimmten Gattungen zugrunde:
       dem Epos, dem Roman, der Biographie, der Historiographie, dem Geschichts-
       drama. Diesen Genres wurde einst die Fähigkeit, mindestens aber die Intention
       zugeschrieben, eine Ganzheit abzubilden.39

35		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 373. Herv. P. S.
36		   Borges, Das Aleph, S. 136. [S. 161]
37		   Zur differenzierten Betrachtung von Welt und Erde im Kontext der Globalisierung vgl.
       Robert Stockhammer: „Welt oder Erde? Zwei Figuren des Globalen“, in: Christian Moser,
       Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur,
       Kunst und Medien, Göttingen: V&R Unipress 2014, S. 47 ff.
38		   Vgl. auch Achim Hölter: „Totalität“, in: Christian Moser, Linda Simonis (Hg.): Figuren des
       Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: V&R
       Unipress 2014, S. 90.
39		   Hölter: „Totalität“, S. 92.

                                                                      Philipp Stelzer - 9783846767320
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Die prominentesten Verfechter der epischen Totalität, um die es hier ja aus­
schließlich geht, sind sicherlich Hegel und Lukács.40 Ihre geschichtsphilo-
sophisch informierte Ästhetik bestimmt das Epos als „einheitsvolle Totalität“,41
in der sich allgemeiner Welthintergrund und individuelle Begebenheit in
einem epischen Ganzen zusammenschließen.42 In Lukács’ Version wird das
„Weltzeitalter des Epos“43 zum verlorenen Bild der Vergangenheit, in dem sich
die Welt jedem Einzelnen noch zum geschlossenen Kreis fügte:

       Unsere Welt ist unendlich groß geworden und in jedem Winkel reicher an
       Geschenken und Gefahren als die griechische, aber dieser Reichtum hebt den
       tragenden und positiven Sinn ihres Lebens auf: die Totalität. Denn Totalität als
       formendes Prius jeder Einzelerscheinung bedeutet, daß etwas Geschlossenes
       vollendet sein kann; vollendet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen
       wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist; vollendet, weil alles in ihm zur
       eigenen Vollkommenheit reift und sich erreichend sich der Bindung fügt.44

Mit dieser Bestimmung schließt Lukács an Hegels Diktum vom Epos als einheit-
svoller Totalität an, gibt darüber hinaus die Grenzbestimmung des Epos dahin-
gehend vor, dass die Welt unendlich groß geworden sei, weshalb die zirkuläre
Totalität nicht mehr geschlossen werden könne und das Epos deshalb seinen
gattungsgeschichtlichen Zenit überschritten habe – zugunsten des Romans.45

40		   Vgl. Theo Kobusch, Orrin F. Summerell: „Totalität“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer,
       Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie online, Basel: Schwabe
       Verlag 2017, abrufbar unter: >DOI: 10.24894/HWPh.5495< [zuletzt aufgerufen am:
       02.03.2021]. Besonders einschlägig hierfür ist der Abschnitt 2. Darin wird nach Kant – und
       stellvertretend für den gesamten deutschen Idealismus – Totalität in Form von „Vielheit,
       als Einheit betrachtet“ bestimmt.
41		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 373.
42		   Vgl. Ebda.
43		   Lukács, Die Theorie des Romans, S. 22.
44		   Lukács, Die Theorie des Romans, S. 25.
45		   Sowohl Hegel, Lukács wie auch Bachtin geben das Epos als Gattung unwiederbringlich
       verloren – neben der geschichtsphilosophischen Anlage ihrer Abhandlungen, ist dies
       aber auch auf deren Erkenntnisinteresse zurückzuführen: Weniger Hegel, so doch Lukács
       und Bachtin wollen eine Bestimmung des Romans abgeben und benutzen das Epos ledig-
       lich als negative Vergleichsfolie. An diesem Punkt setzt deshalb auch Dimocks Versuch
       an, Bachtins Ansatz zu aktualisieren: „Bakhtin, of course, has his own reasons for defining
       the epic in this way, as a genre that has already run its course, that can have no further
       meaning, no further development in the modern world. The point of the exercise is to
       show that there is only one genre that is truly alive right now – the novel – an autonomous
       genre, not indebted to the epic and indeed completely replacing it, taking over the literary
       field at just that point where the epic is consigned to oblivion. According to him, only the
       novel is adequate to the competing languages of the modern world; only the novel can

                                                                      Philipp Stelzer - 9783846767320
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   Wie aber erreicht das Epos überhaupt seinen Abschluss zur einheitsvollen
Totalität? Und auf welcher Ebene kommt Totalität im Epos zur Darstellung?
Totalität an sich kann nicht unmittelbar hergestellt werden, ihre Darstellung
im Epos bedarf der medialen Vermittlung durch zwei Strategien: einmal der
Reihung, einmal der rhetorischen Trope des pars pro toto. Das additive Ver-
fahren findet seinen epostheoretischen Niederschlag in einem Abschnitt bei
Friedrich Schlegel Über die homerische Poesie, welchem die einzelnen Episoden
des Epos als in sich geschlossene Ganzheiten erscheinen, die potenziell
unendlich aneinandergereiht werden könnten: „Daher ist auch der Umfang
des epischen Gedichts durchaus unbegrenzt: denn jede Begebenheit ist ein
Glied einer endlosen Reihe, die Folge früherer und der Keim künftiger Begeben-
heiten.“46 Exemplarisch für den enzyklopädischen Zug einer potenziell
unendlich fortsetzbaren Reihung einzelner Elemente wie Episoden steht der
epische Katalog, wie im zweiten Gesang der Ilias47 oder in der Aufzählung von
Ländern und Herrschern der Erde am Ende von Paradise Lost. Unter Verweis
auf das 26. Kapitel der Poetik des Aristoteles führt Schlegel zur Beschreibung
der unbegrenzten Mannigfaltigkeit und Vielheit des Epos eine Metapher ein:

       [D]enn das epische Gedicht ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein poetischer
       Polyp, wo jedes kleinere oder größere Glied (das sich ohne Verstümmelung oder
       Auflösung in schlechthin einfach, nicht mehr poetische und epische Bestand-
       teile von dem zusammengewachsenen Ganzen abtrennen läßt) für sich eignes
       Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat.48

Diesem „poetischen Polyp“ sind die einzelnen Teile ebenso harmonisch abge­
rundet wie das Ganze, die einzelne Episode so in sich geschlossen wie das Epos
insgesamt. Dieser Geschlossenheit der Form in ihren Teilen wie im Ganzen
trägt das Epos Rechnung,

       das schon an seiner Textoberfläche signalisiert, wie es darauf abzielt, eine ganze
       Geschichte von Anfang bis Ende zu berichten, mit allen zugehörigen Details, aus-
       drücklich auch um den Preis der Langatmigkeit. Das Epos demonstriert dies in
       seiner textlichen Gestalt durch dichte Verskolonnen, die Anzahl der Bücher, […]

       give voice to the heteroglossia that reflects human diversity. And yet […] this cannot be
       true.” Dimock: „Genre as World System: Epic and Novel on Four Continents“, S. 96.
46		   Friedrich Schlegel: „Studien des klassischen Altertums“, in: Friedrich Schlegel: Kritische
       Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erster Band, hg. von Ernst Behler, Jean-Jacques Anstett, Hans
       Eichner, Paderborn: Schöningh 1979, S. 124. Herv. P. S.
47		   Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 79. Abschnitt 23. Aristoteles wählt gerade den Schiffskatalog
       der Ilias, um den Effekt epischer Breite durch die Aneinanderreihung von einzelnen
       Episoden aufzuzeigen.
48		   Schlegel: „Studien des klassischen Altertums“, S. 131. Herv. P. S.

                                                                      Philipp Stelzer - 9783846767320
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       durch die berühmten Mittel der epischen Integration, durch Wiederholungen,
       [oder] Rückgriffe […].49

Durch die Reihung einzelner Episoden wird also der Effekt der epischen Breite
erwirkt, denn

       [d]as Epos unterscheidet sich von der Tragödie in der Ausdehnung des Hand-
       lungsgefüges und im Versmaß. Die richtige Begrenzung der Ausdehnung ist die
       angegebene: man muß das Werk von Anfang bis Ende überblicken können.50

Gerade diese Unterscheidung rührt, nach Aristoteles, von der Länge der
Episoden: „In den Dramen sind die Szenen [epeisódia] kurz; das Epos hingegen
erhält erst durch sie seine Breite.“51 Die Ausdehnung der einzelnen Episoden
ist somit Spezifikum für das Handlungsgefüge des Epos, das auf diese Weise –
im Gegensatz zur Tragödie – an Handlungsvielfalt und Qualität gewinnt.
    Wie alles sich im Epos zum Ganzen webt, vollzieht sich also einerseits in
der Form einer Reihung, die sich potenziell ins Unendliche fortsetzen lässt;
andererseits macht sich das Epos die Geschlossenheit seiner einzelnen
Episoden zu eigen, indem diese als Teil für das Ganze stehen. Wie Hegel fest-
stellt, ist es insbesondere die Gattung des Epos, die „[…] dem Ganzen wie
den einzelnen Teilen den Anspruch zuteilt, durch sich und für sich selber
dazusein.“52 Als schlagendes Beispiel hierfür steht freilich der Schild des
Achilles im 18. Gesang der Ilias, dessen Status als cosmic icon,53 als „Inbild […]
der epischen Totalität“,54 Nachahmung in zahlreichen Ekphraseis, wie der
Schildbeschreibung in der Aeneis oder dem Relief des Sonnenpalasts in den
Metamorphosen, gefunden hat. Aber auch der wiederholte Einsatz der Totalen,
wie beispielsweise der in Space Odyssey dargestellte Earthrise, suggeriert
durch die Kadrierung die Abbildung von Ganzheit, den Überblick über eine
ganze Szenerie.55 Die Betonung liegt hier weniger auf der möglichen Reihung
einzelner Teile, sondern auf der Abgeschlossenheit des Ganzen wie des Teils.
Erst durch den Abschluss und die Geschlossenheit der Episode – bei Schlegel
klingt dies in der möglichen Abtrennbarkeit des einzelnen Gliedes vom
Polypen an – kann der Teil für das Ganze stehen, beziehungsweise das Ganze

49		   Hölter: „Totalität“, S. 92 f.
50		   Aristoteles, Poetik, S. 81. Abschnitt 24.
51		   Aristoteles, Poetik, S. 57. Abschnitt 17.
52		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 385.
53		   Vgl. Hardie, Virgil’s Aeneid, S. 336 ff.
54		   R. Schönhaar: „Epos“, in: Gert Ueding, Gregor Kalivoda u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch
       der Rhetorik. Band 2. Bie – Eul, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 1334.
55		   Vgl. Hölter: „Totalität“, S. 92.

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V. Schwelle – Epos                                                                             265

für den Teil. Darunter ist also etwas unter Lukács’ Prämisse von der „Totalität
als formende[m] Prius jeder Einzelerscheinung“56 zu verstehen, die auf kein
Außen verweist und in sich vollkommen ist. Unter der Totalität des Epos, wie
sie Hegel und Lukács herausstellen, ist somit ein poetisches Weltverhältnis zu
begreifen, das auf Einheit und Geschlossenheit zielt. Trotzdem dieses Weltver-
hältnis geschichtsphilosophisch – unter dem Verdikt Hegels zu einer „Prosa
der Verhältnisse“57 einerseits, im Lichte Lukács’ ob der „transzendentalen
Obdachlosigkeit“58 andererseits – zugunsten des Romans aufgelöst worden ist,
gewinnt diese Gattung jüngst wieder an Konjunktur, sowohl in theoretischer
Perspektive als auch durch künstlerische Reminiszenzen. Indiz dafür kann
ein verstärktes Nachdenken über globale Prozesse sein, in dem die Form des
Epos, mit seinem ästhetischen Postulat und Ideal nach Abgeschlossenheit
und Totalität, an Relevanz gewinnt. Diesem gesteigerten Bedürfnis nach Dar-
stellung von Ganzheit kommt das Epos insofern nach, als es schon der Form
nach die Funktion dieser Gattung ist, die Totalität der Welt abzubilden: „Die
Literatur entwickelt eine Poetik des Globalen. Sie kann dabei auf etablierte
Formen zurückgreifen, die seit jeher der Darstellung von Totalität verpflichtet
sind, etwa auf Epos und Roman“.59 Nicht nur im Hinblick auf die Debatte um
Weltliteratur, sondern vor allem mit Blick auf die Form dieser Gattung, wird
dem Epos der Status des ‚Weltgenres‘ bescheinigt.60 Da sich Vorstellungen
der ganzen Welt, denen in Zeiten zunehmender erdumspannender Prozesse
gesteigerte Aufmerksamkeit zukommt, der direkten Wahrnehmung entziehen,
springt die künstlerische Vorstellungswelt ein, um diese Prozesse medial zu
vermitteln und zur Darstellung zu bringen. Vor diesem Hintergrund liest sich
Hegels Bestimmung des Epos wie das Programm einer Poetik des Globalen
avant la lettre:

       Denn nur dadurch, daß ein Epos eine total in sich beschlossene und hiermit erst
       selbständige Welt schildert, ist es überhaupt ein Werk der freien Kunst, im Unter-
       schiede der teils zerstreuten, teils in einem endlosen Verlaufe von Abhängig-
       keiten, Ursachen, Wirkungen und Folgen sich fortziehenden Wirklichkeit.61

56		   Lukács, Die Theorie des Romans, S. 25.
57		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 393. Vgl. dazu Inka Mülder-Bach: „Einleitung“, in:
       Inka Mülder-Bach, Jens Kersten, Martin Zimmermann (Hg.): Prosa schreiben. Literatur –
       Geschichte – Recht, Paderborn: Fink 2019, S. 1 ff.
58		   Lukács, Die Theorie des Romans, S. 30.
59		   Moser, Simonis: „Einleitung: Das globale Imaginäre“, S. 15.
60		   Vgl. Moser, Simonis: „Einleitung: Das globale Imaginäre“, S. 18.
61		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 386.

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Zwar zielt Hegel – wie oben bereits dargestellt – mit ‚Welt‘ in erster Linie auf die
„total[e] Welt einer Nation“,62 allerdings stellt sich die Frage danach, ob erstens
nicht mit der zunehmenden Infragestellung nationaler Grenzen auch die
Gattung Epos diese Grenzziehung transzendiert, ob zweitens diese literarische
Großform den Rückzug auf die Nation nicht seit jeher überschritten hat.

       In dieser Rücksicht liegt die Abrundung und Ausgestaltung des Epos nicht nur
       in dem besonderen Inhalt der bestimmten Handlung, sondern ebensosehr in
       der Totalität der Weltanschauung, deren objektive Wirklichkeit sie zu schildern
       unternimmt; und die epische Einheit ist in der Tat erst dann vollendet, wenn die
       besondere Handlung einerseits für sich beschlossen, andererseits aber in ihrem
       Verlaufe auch die in sich totale Welt, in deren Gesamtkreis sie sich bewegt, in
       voller Totalität zur Anschauung gebracht ist und beide Hauptsphären dennoch
       in lebendiger Vermittlung und ungestörter Einheit bleiben.63

Fand die „Weltanschauung“, die im Epos seinen poetischen Ausdruck finden
soll, für Hegel ihr Telos noch in der Nation, so kann dies unter der Perspektive
von Prozessen der Globalisierung nicht allein darauf reduziert bleiben. Wie
aus den Lektüren dieser Arbeit hervorgeht, geht es im Epos seit jeher ums
Ganze – das Weltganze ist hier sowohl Schauplatz als auch Anspruch. Es gilt
also nicht, nach der Existenz von ‚Welt‘ im Epos zu fragen, sondern nach der
spezifischen Relation und dem Verhältnis von ‚Welt‘ zur ‚totalen Welt‘ des
Epos: „In early modern Europe, the world’s horizon was always in view, but
was always just out of reach. It is therefore in the hybrid space of epic – at
once fictional and historical – that we find the sharpest investigations of the
imagined relations among nation, empire, and world.“64 Was Ramachandran für
das Epos der europäischen Neuzeit herausstellt, gilt es in den Lektüren auch
für die Weltvorstellungen des Korpus dieser Arbeit zu extrapolieren: In ihrem
jeweiligen Weltverhältnis bildet sich in der einen Richtung das ästhetische
Kriterium nach Totalität ab, in der anderen Richtung stellt sich ‚Welt‘, wie sie
im Epos zur Darstellung kommt, als Sondierung ihres jeweiligen historischen
und semantischen Aggregats der Wirklichkeit dar.

Imperium
Die zentralen Topoi des Epos sind, seit der Ilias und der Odyssee, Reise und
Krieg.65 Es nimmt zunächst also nicht weiter wunder, dass epische Helden
vornehmlich Krieger oder Seefahrer waren und sind, was das Epos zu einer

62		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 330.
63		   Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 3, S. 390. Herv. im Original.
64		   Ramachandran, The Worldmakers, S. 107 f. Herv. P. S.
65		   Vgl. die Gliederung von Christiane Reitz, Simone Finkmann (Hg.), Structures of Epic Poetry.
       Vol. I: Foundations. Vol. II.1/II.2: Configuration. Vol. III: Continuity, Berlin: De Gruyter 2019.
                                                                        Philipp Stelzer - 9783846767320
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V. Schwelle – Epos                                                                         267

männlich konnotierten und dominierten Gattung macht. Dies zeigt sich nicht
zuletzt in der Geschlechterdifferenz, die sich daraus ergibt, denn anders als
bei dem männlichen Helden, wird den weiblichen oder weiblich konnotierten
Figuren im Epos eine passive Rolle zugewiesen: Männer ziehen als Helden
in den Krieg oder fahren zur See, Frauen bleiben zuhause oder werden mit
dem Land erobert.66 Hier schreibt sich die Machtstruktur des Imperiums auf
den Körpern der Eroberer wie der Eroberten ein und wird so im Epos sicht-
und lesbar. Was viele Mythos- und Epostheorien weitgehend ausklammern
und andere Theorien, die vom „Nationalgeist“ sprechen, gar affirmieren, ist
die damit einhergehende politisch-ideologische Vereinnahmung der Gattung
Epos. David Quint hat den Zusammenhang von Epic and Empire als zentrales
Definiens des Epos herausgestellt und zeigt dies unter anderem auch anhand
der Darstellung von Frauenfiguren auf:

       Woman’s place or displacement is therefore in the East, and epic features a
       series of oriental heroines whose seductions are potentially more perilous than
       Eastern arms: Medea [in der Argonautika], Dido [in der Aeneis], Angelica [im
       Orlando furioso], Armida [in Gerusalemme liberata], and Milton’s Eve [in Para-
       dise Lost, alle Herv. P. S.].67

Am Beispiel der Schlacht von Actium in der Aeneis, worin für ihn die imperiale
Umwertung aller epischen Werte am deutlichsten zutage tritt, zeigt er auf,
wie dieser Projektion das Konstrukt eines starken, disziplinierten, männ-
lichen Westens in Verkörperung von Aeneas und Augustus gegenübergestellt
wird. In der Ekphrasis des Aeneasschildes, welches die Schlacht von Actium
prophetisch vorwegnimmt, stehen sich so nicht nur die Armeen von Antonius
mit Kleopatra und Octavian/Augustus gegenüber, sondern gleichsam wilde
Horden und militärische Einheit, Ost und West, weiblich und männlich, Chaos
und (kosmisch-imperiale) Ordnung:

       The Western armies are portrayed as ethnically homogeneous, disciplined, and
       united, while the forces of the East are a loose aggregate of nationalities prone
       to internal discord and fragmentation. The West, in fact comes to embody the
       principle of coherence and the East that of disorder.68

66		   Allen voran Klaus Theweleit hat dieses Muster in seinem Buch der Königstöchter heraus-
       gearbeitet und spricht von den „Fälle[n] realen, mythologisch ‚verbrämten‘ kolonistischen
       Landraubs, durchgeführt über den Körper von Königstöchtern, die von Göttermännern
       bzw. vom Kolonistenführer beschlafen werden; was dieser Spezies zur Legitimierung
       ihres Landraubs dient.“ Theweleit, Buch der Königstöchter, S. 11.
67		   Quint: „Epic and Empire“, S. 9.
68		   Quint: „Epic and Empire“, S. 7. Vgl. auch die tabellarische Gegenüberstellung auf S. 4.
                                                                      Philipp Stelzer - 9783846767320
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