Verlag die brotsuppe - Herbst 2020
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Vergessen in der Transitzone Johanna Lier studierte Schauspiel in Bern und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts in Zürich. Sie lebt als Dichterin und freie Journalistin in Zürich. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin arbeitete sie als Redak- teurin bei der Wochenzeitung WoZ. Sie Johanna Lier veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände und zwei ihrer Theaterstücke wurden WIE DIE uraufgeführt. Recherchen und politische MILCH AUS Projekte führten sie für längere Zeit DEM SCHAF in den Iran, die Ukraine, nach Nigeria, KOMMT Chile, Israel, Argentinien und Griechen- Roman land. Es ist das zweite Buch, das von Johanna Lier im verlag die brotsuppe erscheint. verlag die brotsuppe Kulturelle www.pillowbook.ch Auszeichnung der Stadt (Foto: Selene Magnolia) Zürich 2019 Leseprobe. Die Hitze staut sich zwischen der Moussa zu, nickt eifrig. Mina schneidet weitere Feuerstelle, dem kleinen Garten und dem Zelt, Birnen auf. das aus UNHCR Planen, Wolldecken und zer- Henny fragt: Was kocht ihr auf der Feuerstelle? rissenen Abfalltüten zusammengebaut ist. Die Gäste haben auf ihrem Weg Holz gesammelt, das Und Mina zählt auf: Gemüseeintöpfe, Reis, Ome- Moussa kunstvoll zerkleinert und ins knisternde letten. Feuer legt. Die Flammen lösen sich im grellen Omeletten, immer nur Omletten, ruft Moussa Mittagslicht auf. dazwischen und lacht. Moussa, aus der schlimmsten Schwärze der Und ja, Moria ist Griechenland, resümiert die Depression erwacht, redet ohne Unterlass, fasst kleine Teegesellschaft. Moria ist Griechenland Hennys Hände und drückt sie auf seinen Scheitel und Griechenland ist Asien und Asien ist Barba- und seine Arme, rollt das Shirt hoch und zeigt rei. Sind wir endlich in Europa, wird alles gut. den nackten Rücken und Bauch: Folternar- ben, wulstige, verhärtete Spuren von Schlägen, Henny drückt den Hinterkopf gegen die Zelt- Schnitten, Verbrennungen und Verätzungen. wand, legt die Beine übereinander, die Hände in den Schoss und schweigt. Hat gelernt auf diese Kayvan und Sami, die beiden Jungendlichen, Feststellung hin zu schweigen. Einfach den Mund schwitzen und schweigen. Jasmina schiebt die halten. Sonnenbrille vors Gesicht und döst. Shirin hört verlag die brotsuppe 2 Herbst 2020
Johanna Lier Amori. Die Inseln ca. 384 Seiten, gebunden ca. CHF 35 / Euro 33 ISBN 978-3-03867-031-5 Johanna Lier AMORI DIE INSELN verlag die brotsuppe »Bekomme ich in Europa keine Aufenthaltsbe- Neun Männer und Frauen aus dem Lager Moria willigung, gibt es kein einziges Land, das mich auf der Insel Lesbos, Geflüchtete und Aktivis- aufnimmt. Das ist verrückt. Und in Kabul töten tinnen, erzählen der Autorin (oder ihrem fiktiven sie mich. Trotzdem drohen sie mir mit Deporta Alter Ego Henny L.), was es braucht, um dort zu tion. Ich verstehe das nicht«, sagt ein junger überleben. Es geht um Hunger, Kälte, Hitze, War- Mann im Registrierungs- und Aufnahmezentrum ten, Gewalt und um den radikalen Kontrollverlust Moria auf der griechischen Insel Lesbos. über das eigene Leben. Sie fliehen vor Krieg, Diktatur, Hunger und den AMORI. DIE INSELN ist keine Chronik der Skan- Auswirkungen der Klimakatastrophe; manche dale, sondern ein dokumentarischer Bericht, sind auf der Suche nach einem besseren Leben; der mit literarischen Mitteln die grösstmögliche sie kommen aus dem mittleren Osten, aus Süd- Nähe zu den Beteiligten sucht. Jahrhunderte- ostasien, dem Maghreb und subsaharischen Län- alte, europäische Praxis wird dokumentiert: die dern. Allen ist gemein, dass sie in seeuntüchtigen Selektion und das Lager. Gummibooten das Ägäische Meer überqueren Die Protagonistinnen setzen ihr die ganz eigenen und auf den griechischen Inseln in Lagern gefan- Vorstellungen von persönlicher Erfüllung und gengehalten werden, bis entschieden ist, ob sie Freiheit entgegen. in Europa Asyl beantragen dürfen – oder ob sie in die Türkei deportiert werden. Das kann Jahre Die Autorin steht für Lesungen zur Verfügung. dauern. verlag die brotsuppe Herbst 2020 3
Die wilden Siebziger Jahre Die Autorin kam 1949 als zweites von fünf Kindern zur Welt. Der Beruf ihres Vaters als Bauingenieur bedingte immer wieder Umzüge, Arbeit fand er vorallem bei Kraftwerksbauten in den Schwei- zer Bergkantonen. Die Familie lebte im Goms, im Bergell und im Glarnerland. Die Autorin studierte, erwachsen geworden, Psychologie, arbeitete fast vier Jahrzehnte als Psychotherapeutin, hat zwei Kinder. Zum Schreiben kam sie spät zurück, veröffent- lichte mehrere Bücher, zuletzt die Biografie eines Schweizer Migranten aus dem 18. Jahrhundert, Christian Cahenzli, im Südostschweizer Buchver- lag, Glarus. Seit langem lebt sie mit ihrem Mann in Zürich an der Limmat, schreibt und nimmt an Landwirt- schaftsprojekten teil. (Foto: Alex Lerf) Leseprobe. Das Gebimmel des Signals ist ver- Milch und Fleisch, Gemüse, Obst, Wolle, Hanf und stummt, der kleine rote Zug mit den drei Wagen Leinen für die Kleider, Leder für die Schuhe. Bloss ist quietschend zum Stehen gekommen. Ich Salz und Eisenwaren mussten sie kaufen oder schaue mich um. Vor mir, etwas unterhalb, liegt tauschen. Heute brauchen wir alle Geld. Wir sind mein Dorf mit seiner alles überragenden Kirche, modern geworden. hinter mir braungebrannte kleinere Häuser und Als der Zug zu ruckeln beginnt, schaue ich Ställe. Wie böse Geister kauern sie am steilen zurück, sehe eine Gruppe Kinder mit Taschen- Hang, starren auf mich und meinen Koffer aus tüchern winken. Mein jüngerer Bruder Arnold geflochtenem Bast, der von zwei Lederriemen zu- und vier meiner kleinen Schwestern stehen auf sammengehalten wird. Ich packe ihn am Holzgriff, dem Kirchplatz vor unserem Elternhaus, das vom hieve ihn die zwei Stufen hoch auf die Plattform, Pfarrhaus fast verdeckt wird. In diesem Haus steige hinterher und verstaue ihn im Gepäcknetz. wurden wir alle geboren. Schnell stehe ich auf, Dann setze ich mich in Fahrtrichtung hin, be- ziehe das Fenster herunter, so weit wie möglich, trachte die anderen Passagiere, die ich alle kenne winke zurück. Ich werde sie vermissen, doch die und sie mich. Es sind Arbeiterbauern, die in die Erleichterung überwiegt. Ich werde mich nicht Düngemittelfabrik Lonza fahren, um zusätzliches mehr um sie zu kümmern brauchen. Als das Haus Geld zu verdienen. Noch vor zwanzig Jahren ging hinter der nächsten Kurve verschwindet, setze niemand in eine Fabrik arbeiten, alle Lebensmit- ich mich wieder hin. Von nun an schaue ich nur tel und einen grossen Teil der Gebrauchsgüter noch nach vorn. stellten meine Vorfahren selber her, Getreide, verlag die brotsuppe 4 Herbst 2020
Franziska Löpfe La Catherine Stadt Land Roman Franziska Löpfe La Catherine ca. 160 Seiten, gebunden ca. CHF 26 / Euro 24 ISBN 978-3-03867-032-2 Stadt Land Roman verlag die brotsuppe Die aus der Ich-Perspektive erzählte Geschichte Sie wird mit anderen Lebensformen konfrontiert, handelt von einer jungen Frau, die 1970 aus dem lernt die Liebe kennen und sucht ihren eigenen Walliser Bergdorf Fiesch nach Genf auswandert. Weg. In einer ersten Lehre lernt sie kopieren, berech- Die wilden Siebziger Jahre in der Schweiz und nen und Kaffee kochen. wie sie eine junge Frau erlebte, die vom Land in die Grossstadt kam, werden mit Distanz und Nach einem Ferienaufenthalt in Finnland ent- Leichtfüssigkeit auf beeindruckende Art erzählt. deckt sie ihr Interesse für Architektur und findet anschliessend eine Lehrstelle in einem Architek- Die Autorin steht für Lesungen zur Verfügung. turbüro in Genf. Das soziale Leben der jungen Frau vom Dorf än- dert sich in der anonymen Grossstadt radikal. verlag die brotsuppe Herbst 2020 5
Locker verschraubt Thomas Sandoz, geboren 1967, ist Schriftsteller, Erkenntnisthe- oretiker und Psychologe. Er lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen bekommen. Ins- Thomas Sandoz besondere 2011 den Schillerpreis für »Même en terre« (Grasset). Das Ruhe sanft Buch erschien 2018 ins Deutsche Roman übersetzt als »Ruhe sanft« eben- falls im verlag die brotsuppe. »La balade des perdus« erschien 2018 (Grasset) und erhielt 2019 den »Prix übersetzt de littérature« der interkantonalen von Yves Raeber Literaturkommission der Kantone verlag die brotsuppe Bern und Jura. (Foto: M.F. Schorro) Leseprobe. Beschwingt fahren wir an diesem spä- »Schon jetzt?«, wettert Julia. »Wir sind noch kei- ten Juninachmittag Richtung Norden. Mein Scha- ne hundert Kilometer gefahren.« lensitz ist am Fussboden des Castel-Minibusses Meine Heimgenossin bricht in Tränen aus, wirkt festgezurrt. Julia, unsere Betreuerin, konzentriert noch zerknitterter als zuvor. Sie kann nichts da- sich ganz und gar auf den Verkehr. Neben ihr sitzt für, dass die Krankheit sie immer mehr auszehrt. Pauline und nestelt versunken an ihrem T-Shirt. Unsere Erzieherin schimpft weiter. Bierrot dreht Vor mir streiten Goon und Bierrot auf der Sitzbank mir sein Vogelgesichtchen zu. wegen eines zwischen ihnen liegenden Ninja Turtles-Rucksacks. Ab und zu drehen sie sich »Juula Katze im Beehaaa?« zurück und werfen mir vorwurfsvolle Blicke zu. Goon grölt zum Wiener Walzer, der aus seinem Ich habe meine Prothesen im Heim vergessen und Kopfhörer schwappt. Was Julia nur noch mehr wir mussten deshalb früher von Steevys Geburts- nervt. tagsparty weg. »Verdammt, kann er nicht zwei Minuten die Der Verkehr tost. Motorräder schlängeln sich Schnauze halten?« zwischen rappelvollen SUVs und Kleinwagen mit Bikes auf den Dächern. Zum dritten Mal innerhalb Goons Walkman ist auf voller Lautstärke, er hört einer halben Stunde spuckt das Radio für all jene, nur bruchstückhaft, was über ihn gesagt wird. die ihr Wochenende vorwiegend auf den Strassen Was angesichts seiner extremen Reizbarkeit so verbringen werden, die aktuelle Verkehrslage aus. ganz gut passt. Pauline zappelt, sie muss aufs Klo. verlag die brotsuppe 6 Herbst 2020
Thomas Sandoz Luc und das Glück Thomas Roman Sandoz übersetzt von Yves Raeber Luc ca. 240 Seiten, gebunden ca. CHF 27 / Euro 25 und das ISBN 978-3-03867-033-9 Glück Prix de littérature 2019 übersetzt von der Kantone Yves Raeber Bern und Jura verlag die brotsuppe »Endlich keine Werbeplakate mehr, die uns ein- Doch der Transporter schleppt sich durchs laden, ›das pralle Leben‹ auszukosten. Niemand, Gebirge, dass es zum Verzweifeln ist. Ein Ende der uns freundlich daran erinnert, dass wir nur der Irrfahrt ist nicht in Sicht. Und inzwischen ist Müll sind.« auch die Presse hinter Dr. Goodluck her. Je schneller Luc wieder im Heim zurück ist, des- »Luc und das Glück« ist die aberwitzige Heim to besser. Dann kann er hoffentlich als virtueller reise eines hochkarätigen Behinderten-Quar- Dr. Goodluck seinen Klienten, den Gesundheits- tetts, ein beklemmender Spiessrutenlauf durch minister, in letzter Minute noch dazu bringen, die eine überall lauernde Normalität, die gnadenlose absurdeste Sozialreform aller Zeiten zu kippen. Schilderung eines virtuosen Eiertanzes um aller- Gelingt ihm das nicht, sieht die Zukunft für alle, lei Fettnäpfchen herum. die als locker verschraubt gelten, düster aus. Thomas Sandoz hat eine beissende Satire über Und das tun sie alle vier, die von einer bärbeissi- den Leistungswahn geschrieben. Und ein biss- gen Betreuerin im ausgeleierten Minibus durch chen versteckt, die zarte, unmögliche Liebesge- die Nacht chauffiert werden; das libidinöse schichte zweier ungleicher Menschen. Mondgesicht Bierrot, die spindeldürre, ewig kränkelnde Pauline, der cholerische Muskelprotz Aus dem Französischen übersetzt hat Yves Goon mit seinem Faible für André Rieu, und auch Raeber. der feinsinnige Luc, der aus gutem Grund vor- Autor und Übersetzer stehen für Lesungen zur gibt, seine Gehhilfe verloren zu haben. Verfügung. verlag die brotsuppe Herbst 2020 7
Wer auch immer du bist Christoph Schneeberger tanzte unter verschiedenen Namen auf vielen Hochzeiten. Die über Jahre an den Morgen danach entstandenen Texte aus dem Untergrund der Raves, aus dem Leben als politischer Aktivist und Drag Queen flossen in sei- nen ersten Roman »Neon Pink & Blue« ein. (Foto: Ruben Wyttenbach) Leseprobe. Man tanzte in der Stadt, als ginge es in Kellertheatern und an privaten Künstlerinnen- ums Leben. Und genau darum sei es gegangen. festen in Abbruchhäusern mit helfender, ausglei- Kind eher künstlicher, denn natürlicher Gestalt, chender, ja, zugegebenermassen korrigierender eine Rückgratverkrümmung mechanisch korri- musikalischer Begleitung, meist des treuen, giert im weichen Säuglingsknochen; sozusagen verspielten Phils. Dem besten Pianisten weit und ein aufrechtes Menschlein aus Lehm, Knätt in breit, sein Studio gerade neben dem eigenen Ate- anderen Händen. Un, deux, trois. Ein Kunststückli. lier im stillgelegten Starkstromlabor gelegen. Sein Betäubungsmittel habe es derzeit keine gege- Gesicht habe mindestens die Hälfte des Liedes ben für Säuglinge – in der Erinnerung sei diese gespielt, seine Hände die andere, man habe ganz Zeit wüst und leer. Manipulationen am lebenden eigene, aufgetakelte Wenigkeit spielen dürfen, Objekt seien notwendig, gar existenziell gewesen, dabei. Den Text mitsprechen, mithauchen, mit- sonst wären richtig gehen und richtig stehen, schreien, wie vermeintlich allein vor dem Bade- richtig liegen und richtig sitzen unmöglich vor zimmerspiegel. Einmal habe man so gegen sieben lauter Verdrehtheit. Man tanzte aber. Um sein Kostümwechsel an einem Abend geschafft. Und Leben … Vom krummen Rückgrat sei ein krummer etwa zehn Lieder. Das Publikum sei der Badezim- Phantomschmerz geblieben, den man nur tief merspiegel. Oder, tiefer gespiegelt, jener vom Klei- schlafend oder lange tanzend nicht empfunden. derschrank im Elternzimmer, in Mamas Kleidern und Schuhen. Und mit dem Nagellack des Hüte- Eher untergründig unterwegs, hätten sich über die mädchens aus der Fabrikkantine. Zeit wie von selbst kleine, poetische Diseusenauf- tritte ergeben, in illegalen Bars, in Industrieruinen, verlag die brotsuppe 8 Herbst 2020
X Schneeberger Neon Pink & Blue Roman ca. 368 Seiten, gebunden ca. CHF 35 / Euro 33 ISBN 978-3-03867-027-8 X schneeberger Neon Pink & Blue verlag die brotsuppe In »Neon Pink & Blue« findet sich ein Transvestit in einem Klimasommer obdach- und papierlos am Zürisee wieder. Ohne Garderobe out the closet, ohne Badezimmerspiegel und Kostüme ergreift X ein Gefühl der Nacktheit. Geschichten zu in Frage gestellter Identität und schwer belegbarer Herkunft drängen sich ins un- tergehende Postkartenbild des Alpenpanoramas. »… ein wunderbares Machwerk, gemacht von Menschenhand.« Annina Haab »Es geht um ein Dirigieren von verschwundenen oder verdunkelten Körpern, um einen Kutscher der Schatten des Körpers.« Stefan Humbel Der Autor steht für Lesungen zur Verfügung. verlag die brotsuppe Herbst 2020 9
Er kam von weither Romain Buffat, 1989 in Yverdon- les-Bains geboren, lebt in Lau- sanne. Er gehört zum »collectif d’auteur·e·s Hétérotrophes«. Sein erster Roman »Schumacher« wurde 2018 mit dem Prix littéraire chênois und 2019 mit dem Preis Terra Nova der schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. (Foto: Stéfanie Brändly) Prix littéraire chênois 2018 & Terra Nova 2019 Leseprobe. Wenn sie ihre Spätnachmittage und eine berauschende Zeit, in der Joseph nicht mehr die Strassen ausgeschöpft hatten, wenn ihnen trank, um die giftigen Vorwürfe von Pierrette zu von der Eiscreme fast übel war und sie ihr Ver- vergessen, sondern um diese sonnigen Märztage langen gestillt hatten, begleitete Schumacher zu feiern. Colette nach Hause. Sie verabschiedeten sich Colette wurde im Frühling volljährig. während zwanzig langen Minuten und mit eben- so vielen endlosen Küssen. Dann machte sich Am Abend ihres Geburtstags führte Schumacher Schumacher auf den Weg zur Luftwaffenbasis, Colette ins Hotel du Grand Cerf zum Essen aus. Er während sie summend die Treppe hinaufstieg. war nicht in Uniform, sie trug eine duftige Hemd- bluse. Nach dem Essen bezogen sie ein Zimmer Pierrette lockerte ihre Prinzipien; sie lebte in mit einem Fenster zur Strasse hin. Doch die ihrem Armsessel, in irgendwelche Bibelverse oder Geräusche weder der Autos noch der Stimmen Todesanzeigen vertieft. oder der Schritte auf dem Pflaster, nichts vom Joseph glitt in eine Unbekümmertheit, die ihn Lärm der Stadt vermochte ihre Nacht zu stören, fröhlich, charmant und unternehmungslustig über die ich nicht berichten werde. Es genügt zu machte. Man segnete Schumacher; beim Bra- sagen, dass sie intensiv war und Schumacher und ten sagte Joseph zu ihm: »Das Leben ist schön, Colette in dieser vollendeten Harmonie glücklich wenn du zu uns kommst, Amerikaner.« Es war waren. verlag die brotsuppe 10 Herbst 2020
Romain Buffat SCHUMACHER Roman Romain Buffat übersetzt von SCHUMACHER Gabriela Zehnder ca. 120 Seiten, gebunden ca. CHF 25 / Euro 23 ISBN 978-3-03867-029-2 Roman übersetzt von Gabriela Zehnder verlag die brotsuppe Über ihn weiss man fast nichts, nur gerade was Ein bemerkenswerter erster Roman. nötig ist, um aus ihm einen Mythos zu machen. Er wurde 2018 mit dem Prix littéraire chênois Man weiss, dass er aus den Staaten kam, dass und 2019 mit Terra Nova der Schweizerischen er Ende der Fünfzigerjahre in der Luftwaffenba- Schillerstiftung ausgezeichnet. sis der US Air Force von Évreux in der Normandie Übersetzt aus dem Französischen hat Gabriela stationiert war, und dass er dort eine Französin Zehnder. namens Colette kennenlernte. Autor und Übersetzerin stehen für Lesungen zur Der Rest ist Spekulation. Verfügung. Eine dichte Geschichte über den amerikanischen Traum, eine unmögliche Liebe und nicht einge- löste Versprechen. verlag die brotsuppe Herbst 2020 11
Ein Spaziergänger Jürgen Theobaldy, geboren 1944 in Straßß- burg, lebt nach verschiedenen Jobs und Studien in Mannheim, Freiburg, Heidelberg, Köln und Berlin (West) seit 1984 in der Schweiz und wohnt in Ostermundigen. Sein erster Gedichtband »Sperrsitz« er- schien 1973 in Köln, sein erster Roman »Sonntags Kino« 1978 in Berlin. Seitdem hat er vier weitere Romane veröffentlicht, zu- letzt »Rückvergütung« 2015, dazu über ein Dutzend Gedichtbände, zuletzt »Auf dem unberührten Tisch« 2019. Die Literarische Kommission der Stadt Bern hat ihm 2006 den Literaturpreis für sein Gesamtwerk verliehen. (Foto: Naomi Mihara) Leseprobe. Wer taugt besser zum Erzähler? Der- einer Mitte Juli üppig blühenden Gartensiedlung, jenige, der in den Landstrich hineingeboren und wieder mal in den Sinn, dass den Bernern der unter den Menschen herangewachsen ist, deren zweifelhafte, zum Klischee verdickte Ruf gleich- Eigenheiten er gestalten will, oder derjenige, der sam auf einem Bein vorauslahmt, sie seien lang- sich, irgendwann zugereist, seinen liebevoll bis sam, auffallend langsamer als ihre Zeitgenossen unerbittlich fremden Blick bewahrt, mit dem er in welcher Gegend der Welt auch immer. Lange Mitteilenswertem nachspürt? Vermutlich wird, habe ich das gegenüber unwissenden Freunden wer schreibt, das jeweils zu seinen Gunsten be- und Besuchern aus dem nördlichen Nachbarland antworten. So jedenfalls halte ich es mit meinem bestritten, ihnen ein klischiertes Denken vor- Handwerk und meiner Fantasie, um in innerste gehalten. Aber jetzt stehe ich vor einem sauber Bezirke einzudringen wie auch zu äußersten ausgedruckten Plakat, auf Augenhöhe an einem eigenen Grenzbastionen vorzustoßen. Das muss Zaun aus Maschendraht befestigt und in einer kein unstetes, rücksichtslos selbstbezogenes Plastikhülle vor Regengüssen, Tau und Gewitter Fühlen und Forschen, Irren und Finden sein. geschützt, mit einem Farbfoto versehen und Manchmal ist es ein besonnenes Umhergehen, womöglich auch an mich gerichtet: bei dem ich aus den Augen verliere, wonach ich suche, und etwas entdecke, das ich gar nicht fin- SCHILDKRÖTE ENTLAUFEN! den wollte. Also kam mir vorhin, zu Fuß entlang verlag die brotsuppe 12 Herbst 2020
Jürgen Theobaldy Geschichten im Vorübergehen 272 Seiten, gebunden Jürgen Theobaldy CHF 29 / Euro 26 ISBN 978-3-03867-026-1 IM VORÜBERGEHEN GESCHICHTEN verlag die brotsuppe Jürgen Theobaldy hat eine Sammlung locker ver- knüpfter Kurzgeschichten, Anekdoten, Berichte und Kürzestnovellen eines namenlosen, in Bern seine Tage zubringenden Ich-Erzählers geschrie- ben. Aufmerksam für alltägliche, skurrile bis beklem- mende Vorfälle in der Bundesstadt, nimmt er auch die höhere Wahrheit des frei Erfundenen, gar Erträumten in Anspruch oder schweift mal auf ferne Kontinente aus, schliesslich geht es nicht um Heimatliteratur. Der Autor steht für Lesungen zur Verfügung. verlag die brotsuppe Herbst 2020 13
Robert Walser Skulptur Jean-Pierre Rochat, 1953 geboren, in Basel und Biel aufgewachsen, hat sich mit seiner Familie als Ausstei- ger, Bergbauer und Pferdezüchter in Vauffelin im Berner Jura nieder gelassen. Er hat viele Erzählungen und einen Jean-Pierre Rochat Gedichtband veröffentlicht. NEBELSTREIF Im Verlag sind bisher zwei Romane erschienen: »Melken mit Stil« und »NEBELSTREIF«, Yla M. von Dach hat ins Deutsche übersetzt. (Photo: Tanja Pete) verlag die brotsuppe Roman Le Roman des Romands übersetzt von Yla M. von Dach 2019 Leseprobe. Seit ich diesen öffentlichen Ort Und wenn couragierte Leser jeden Tag vor dem besuche, höre ich immer wieder, wie kritische Bahnhofplatz mitten unter den unbeteiligten Pas- Stimmen sagen, dass ein öffentlicher Ort einem santen sitzen und Walsers Worte in den Strassen- so diskreten und zurückhaltenden Menschen wie verkehr, in die brodelnde Stadt hineinschleudern, Walser gar nicht entspreche. Falsch, ich finde es finde ich das unglaublich mutig und bewegend, falsch, den Walser zu beschönigen, um ihm dann und ich sag dem Walser, he kannst du sie hören? Worte gegen die Walser Skulptur in den Mund Du bist doch erfroren, wird dir dabei nicht warm legen. Erstens: Alle wie auch immer gestrickten ums Herz? Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellen Zweitens weiss man inzwischen, dass nicht im- mit ihrer Einwilligung, publiziert zu werden, mer alle mit dem Walser zimperlich umgegangen ihre Worte der Öffentlichkeit zur Verfügung und sind und dass seine Internierung, habe ich mir gehen damit das Risiko ein, von irgendjemandem sagen lassen, viel von einer Zwangsmassnahme interpretiert zu werden. Auch wenn ein Teil von hatte, wofür sich die politische Klasse heute bei Walsers Werk erst nach seinem Tod publiziert all denen entschuldigt, die unter dem Ordnungs- wurde, wird immer er es bleiben, der seine drei zwang und dem moralischen Sauberkeitsfimmel Romanmanuskripte den Verlagen vorgelegt und einer Zeit gelitten haben, die uns so nahe ist, seine Erzählungen unter die Presse gestreut hat; dass noch viele unter uns weilen. Ich vertrete es ist überhaupt kein Sakrileg, wie einige behaup- deshalb nur meine eigene, persönliche Meinung ten, sie wieder publik zu machen. und will niemanden bekehren. verlag die brotsuppe 14 Herbst 2020
Jean-Pierre Rochat Jeden Tag eine Geschichte Jean-Pierre Rochat Chaque jour une histoire zweisprachige Ausgabe Chaque jour (französisch und deutsch) une histoire deutsch von Yves Raeber ca. 176 Seiten, gebunden Jeden Tag ca. CHF 25 / Euro 23 eine Geschichte ISBN 978-3-03867-028-5 französisch/deutsch übersetzt von Yves Raeber verlag die brotsuppe Jean-Pierre Rochat hat vom 15. Juni bis 18. Sep- Engel und halb Hexe.« Robert Walser in »Jakob tember 2019 das »Institut Benjamenta« auf der von Gunten« Robert Walser Skulptur von Thomas Hirschhorn »Die Walser Skulptur ist ein vergängliches Monu- in Biel mit Leben gefüllt und jeden Tag eine Ge- ment, ich betone vergänglich, etwas ganz anderes schichte geschrieben, die er abends dem Pub- als die Freiheitsstatue, sie ist eine Freiheits- likum vorgetragen hat. Das Buch enthält alle in skulptur, eine Skulptur der vergänglichen Freiheit, dieser Zeit in Hefte geschriebenen Texte. einer sozialen, volksnahen, emanzipatorischen, »… Jakob von Gunten läutet an der Türe des Ins- plötzlich erschienenen Alternative in unserem tituts Benjamenta, einer Schule für Dienstboten, standardisierten Schicksal.« Jean-Pierre Rochat wo er seinen Beruf erlernen will. Bald macht er Wir veröffentlichen diese zum Vorlesen geschrie- die Bekanntschaft seiner Schulkollegen, die aus benen Geschichten in zwei Sprachen: die fran- allen Ecken der Welt kommen, und der Leute, zösischen Originale und die deutschen Überset- die sich um das Institut kümmern, darunter Herr zungen, die Yves Raeber verfasst hat. Johannes Benjamenta, der Direktor, der sein Institut noch nie verlassen zu haben scheint, und Autor und Übersetzer stehen für Lesungen zur Fräulein Lisa, dessen jüngere Schwester, halb Verfügung. verlag die brotsuppe Herbst 2020 15
Black History in der Schweiz FORK BURKE ist Künstlerin und Lyrikerin und FRANZISKA SCHUTZBACH kam als Kind aus wurde in Detroit (USA) geboren. Sie hat in New Deutschland in die Schweiz, als eingebürgerte York Literaturwissenschaften und Creative weisse Schweizerin lebt sie mit ihrer Familie Writing an der New School University studiert. aktuell in Basel, zuvor lebte sie in Biel. Sie ist Von ihr erschienen sind unter anderem der Band Soziologin und Geschlechterforscherin, Aktivis- »Licking Glass«, poetische Essays, das Spoken tin und Autorin und lehrt an verschiedenen Uni- Word Projekt »Durch die Blumen« so wie jüngst versitäten. Zuletzt erschienen ist ihr Buch »Die »33« A Journal of Checklist. Sie ist zudem Mit- Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Dis- gründerin der Onlineplattform www.lpressl.com kursstrategien im Überblick« (Xanthippe). Fran- und beschäftigt sich intensiv mit Schwarzer ziska Schutzbachs Forschungsschwerpunkte Geschichte, dem alten Afrika (ancient, pre-co- sind reproduktive Gesundheit und Rechte sowie lonial Africa) und dem Afrofuturism. Fork Burke Antifeminismus und Rechtspopulismus. ist zudem Mutter und lebt seit sieben Jahren in Biel. MYRIAM DIARRA ist Bewegungspädagogin und »Es gibt über 519 Millionen 870 Tausend Bewegungstherapeutin. Ihr Studium hat sie in Schwarze Frauen auf diesem Planeten. Basel absolviert. Sie ist eine der ersten in Biel Mehr oder weniger. Es gibt sie auf allen sieben geborenen Schwarzen Schweizerinnen aus einer Kontinenten, in fast jedem Land. so genannten »Mischehe«. Ihr Vater kam in den Also egal, wohin wir gehen, eine von uns war 1970er-Jahren als Student aus Mali (über Russ- schon dort.« Sandra Sharp land) in die Schweiz, ihre Mutter ist Bielerin. Myriam Diarra ist neben ihrer pädagogischen Tätigkeit in verschiedene Tanz- und Theaterpro- »If I didn’t define myself for myself, I would be jekte involviert und war eine der ersten weibli- crunched into other people’s fantasies for me chen DJanes in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in and eaten alive.« Audre Lorde Biel. verlag die brotsuppe 16 Herbst 2020
Fork Burke, Myriam Diarra, Franziska Schutzbach (Eds.) I WILL BE DIFFERENT EVERY TIME SCHWARZE FRAUEN IN BIEL FEMMES NOIRES À BIENNE BLACK WOMEN IN BIEL mit deutschen, französischen und englischen Texten ca. 296 Seiten, gebunden ca. CHF 35 / Euro 30 ISBN 978-3-03867-025-4 I WILL BE DIFFERENT EVERY TIME SCHWARZE FRAUEN IN BIEL FEMMES NOIRES À BIENNE BLACK WOMEN IN BIEL FORK BURKE, MYRIAM DIARRA & FRANZISKA SCHUTZBACH (EDS.) (Cover von Sasha Huber) Dieses Buch erzählt ein Stück »Black History« in Menschen gehören zum Alltag und prägen die der Schweiz. Es macht Frauen mit ihren Stim- Schweiz mit. Biel ist durch die Zweisprachig- men, Biographien, Denkweisen, Perspektiven keit ein zentraler Ort Schwarzer Schweizer und Lebenswelten sichtbar, die in der Schweiz Geschichte, Migration und Leben. Schwarze selten zur Kenntnis genommen werden. Menschen kamen und kommen aus den unter schiedlichsten Ländern und Gründen. Viele Mehr als 60 Jahre ist es her, als der afroame- wurden hier bereits als Schweizerinnen geboren, rikanische Schriftsteller James Baldwin in andere kommen aus Amerika, Afrika, viele sind die Schweiz kam und feststellte: Die meisten Asylbewerberinnen. Schweizerinnen und Schweizer hatten noch nie einen Schwarzen Menschen gesehen. Baldwin Kaum jemand aber kennt ihre Geschichten. Mit kam sich vor wie eine Sehenswürdigkeit: »Wenn diesem Buch soll sich das ändern. Frauen aus ich länger als fünf Minuten in der Sonne sass, der afrikanischen Diaspora in Biel – mit unter- kam bestimmt irgendein besonders mutiges schiedlichen Hintergründen und aus verschie- Geschöpf zu mir und legte ängstlich seine Hand denen Generationen – berichten über ihr Leben auf meine Hand und wunderte sich, dass die und ihre Erfahrungen. Ihre Texte werden durch Farbe nicht abging«, schrieb er 1955 in »Stranger die aktuelle Forschung zur Geschichte Schwar- in The Village«. zer Menschen in der Schweiz ergänzt. Vieles hat sich seither verändert, die Schwei- Die Herausgeberinnen stehen für Lesungen zur zer Gesellschaft wird immer pluraler, Schwarze Verfügung. verlag die brotsuppe Herbst 2020 17
Louis Soutter, unangepasst Michel Layaz, geboren 1963 in Fribourg, lebt in Lausanne und Paris. Seit 1993 hat er in regel- mässiger Folge Romane und Erzählungen veröffentlicht. Er ist einer der wichtigsten Westschweizer Autoren seiner Generation. Auf Deutsch zu lesen sind bisher »Die fröhliche Moritat von der Bleibe« und »Auf dem Laufband«. Beide Bücher sind im verlag die brotsuppe er- schienen und wurden von Yla M. von Dach übersetzt. (Foto: Fabrice Profit) Leseprobe. In weniger als fünfzehn Jahren hatte für sich den Titel, skandierte ihn, jede Silbe von Louis ein graphisches Oeuvre geschaffen, das der anderen trennend: Si le soleil ne revenait pas. zu den eindrücklichsten des zwanzigsten Jahr- Henry-Louis Mermod, Ramuz’ Schweizer Verleger, hunderts gehört. Er hatte das Beste gezeichnet, hatte Louis dazu angeregt es zu illustrieren. Wenn was er zeichnen konnte, aber dieses Beste war Sie mir eine goldene Feder schenken, hatte Louis, nicht ausgeschöpft, es wollte erneuert, über das den Kopf leicht rückwärts geneigt, mit einem Leiden und die Bezauberung hinausgetrieben Blick von unten herauf geantwortet. Das war im werden. Andere Konstellationen, an deren Jung- April dieses Jahres gewesen, ein paar Wochen fräulichkeit es zu rühren galt, andere Territorien, nach der Ausstellung, die während zehn Tagen in in denen man sich verirren konnte, Zeichnen der Galerie Vallotton gezeigt worden war. Mer- und Leben in inniger Verbindung, nicht mehr zu mod, wohlhabender Dandy, liebevoller Ästhet, trennen, von ein und derselben Substanz, ein und hatte, weil er sich von der Kunst gern verunsi- demselben Atem, und bis zum Tod. Louis richtete chern liess, mehrere Zeichnungen gekauft, sein sich auf, trat wieder ans Fenster. Die Nacht kühlte Auge hatte wohl bemerkt, welche Leuchtkraft aus sich nur wenig ab und sein Bewusstsein wurde Glut und Leidenschaft die ausgestellten Werke kaum klarer. Er griff nach dem Buch, das auf dem beseelte. Tisch lag, strich über den Umschlag, wiederholte verlag die brotsuppe 18 Herbst 2020
Michel Layaz Louis Soutter, sehr wahrscheinlich Roman übersetzt von Louis Soutter, Yla M. von Dach 248 Seiten, gebunden sehr CHF 28 / Euro 26 ISBN 978-3-03867-024-7 wahrscheinlich Schweizer Literaturpreis 2017 verlag die brotsuppe Wer war Louis Soutter? Vielen Menschen, die Und die Gesellschaft war hilflos und hart: Solche heute eine seiner Fingerzeichnungen zu Gesicht Leute wurden eingesperrt, in Heimen, nicht in bekommen, ist diese archaisch anmutende Gefängnissen, was aber beinahe aufs selbe Handschrift, die etwas Tiefes in uns berührt, hinauslief. Adolf Wölfli und Robert Walser teilten nicht ganz unbekannt. Sie ist einzigartig, unver- dieses Schicksal. kennbar. Tatsächlich gehört Louis Soutter, der Mit grosser Behutsamkeit zeichnet Michel Layaz einen grossen Teil seines Lebens als Insasse das Lebensdrama dieses ungewöhnlichen Men- in einem Altersheim verbrachte, heute zu den schen nach. Er bringt ihn uns nahe, ohne ihm zu Künstlern, die weit über die Grenzen der Schweiz nahe zu treten, er hat zwischen poetischer Frei- hinaus Anerkennung gefunden haben. heit und biografischer Faktentreue eine Sprache Zu seinen Lebzeiten jedoch eckte der hochbe- gefunden, in der Louis Soutter etwas von dem gabte Louis Soutter überall an. Er hätte eine zuteil wird, was ihm sein Leben lang schmerzlich Karriere als Geiger machen können, er war eine gefehlt hat: einfühlsame Anerkennung. Weile Vorsteher der Kunstabteilung des Colo- Der Roman wurde 2017 mit dem Schweizer Lite- rado Spring Colleges in den USA, er hatte einen raturpreis ausgezeichnet. berühmten Cousin, Le Corbusier, der früh sein zeichnerisches Talent erkannte – doch hoch- Übersetzt aus dem Französischen hat Yla M. von empfindlich und zugleich hochintelligent wie er Dach aus Biel/Bienne und Paris. war, vermochte sich Louis Soutter den starren Normen der bürgerlichen Gesellschaft, in die er 1871 hineingeboren wurde, nie anzupassen. verlag die brotsuppe Herbst 2020 19
Neugier und ungeschriebene Regeln Leontina Lergier-Caviezel (1956) ist in Vrin in der Val Lumnezia aufge- wachsen und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Bern. Sie hat Erzählungen und Gedichte in ihrer Muttersprache Sursilvan in verschiedenen rätoromanischen Reihen veröffentlicht und schreibt regelmässig Kolumnen für die Tageszeitung »La Quotidiana«. Ihr erster Roman »Romana« ist 2006 erschienen, 2011 folgte »Nus duas«. Mit »Davos ils mugrins« (2018) liegt nun erstmals ein Roman von Leon- tina Lergier-Caviezel in deutscher Übersetzung vor. Leseprobe. Urschla ist aufgebahrt, nur ganz we- der Tragödie, die das Dorf in seinen Grundfesten nige haben sich zu ihrer Beerdigung in der Kirche erschüttert hatte. Schlimmer als ein Erdbeben. versammelt. Mitten im Raum lehnt ein einsamer Was passiert war, hatte alle verstört, entsetzt Kranz am Sarg und alle fragen sich: Von wem ist hatten sich die Leute wie Schafe zusammenge- er? Von ihrem Sohn? Der, kaum aus der Schule, drängt und versucht, es zu verstehen. Mutter und Elternhaus verlassen hat? Und nie Als Pieder, der Nachbar, eines Abends im Mai vom mehr zurückgekehrt ist? Die wenigen Angehöri- Maiensäss ins Dorf herabstieg, eine Tanse Milch gen der Stummen, Cousins oder noch entferntere für seine Familie auf dem Rücken, sah er Urschlas Verwandte, wüssten nicht mal, wohin der Kerl Bub auf der Treppe vor der Haustür sitzen, ganz verschwunden sei. Heisst es im Dorf. Sogar die verloren. Antwort gab der Junge nicht, und sobald Tante, die einzige Schwester seines längst ver- Pieder bei ihm war, wurde ihm klar, dass etwas storbenen Vaters, habe keine Ahnung. Was aber geschehen sein musste. Er ging ins Haus und nicht weiter verwunderlich sei, habe sie doch nie fand Urschla im Flur, am unteren Ende der Stiege, engeren Kontakt mit dem Sohn der Stummen ge- die hinauf ins Schlafzimmer führte. Bewusstlos habt. Auch damals nicht, als er noch im Dorf zur und blutüberströmt. Sie musste die Stufen hinun- Schule gegangen sei. Seit dem Unglückstag vor tergestürzt sein, schwer zu sagen, wie lange sie vielen Jahren habe sie sich keinen Deut mehr um schon da lag. die Schwägerin oder den Neffen geschert. Nach verlag die brotsuppe 20 Herbst 2020
Leontina Lergier-Caviezel Hinter dem Gwätt Roman übersetzt von Leontina Jano Felice Pajarola Lergier-Caviezel 208 Seiten, gebunden CHF 28 / Euro 25 ISBN 978-3-03867-023-0 Hinter dem Gwätt Roman übersetzt von Jano Felice Pajarola verlag die brotsuppe Ein Bergdorf im romanischsprachigen Grau- Die Frau komme zu kurz in der von Männern bünden der 1960er-Jahre. Andrea, eine junge dominierten rätoromanischen Literatur, findet Eingeheiratete aus dem Unterland, versucht den Leontina Lergier-Caviezel. Ihre Romane sollen seltsamen Bann um die alte Urschla zu brechen, dieses Missverhältnis ein Stück weit ausglei- »die Stumme«, wie sie von den Einheimischen chen, mit Frauenfiguren aus Frauenschreibhand. nur genannt wird. Jeder weiss, wann sie ihre In dieser Hinsicht ist »Hinter dem Gwätt« – 2018 Sprache verloren hat, doch um das Warum hat unter dem Originaltitel »Davos ils mugrins« sich ein Mantel aus Schweigen, Unwissenheit erschienen – eine logische Fortsetzung ihrer bis- und Gerüchten gelegt. Um herauszufinden, was herigen literarischen Arbeit, denn auch in ihrem am Tag des Unglücks vor vielen Jahren tatsäch- jüngsten Roman spielen Frauen die letztlich lich geschehen ist, wagt Andrea Opposition zentralen Rollen. gegen die ungeschriebenen Regeln einer dörfli- Übersetzt aus dem Surselvischen hat Jano chen Gemeinschaft – und bricht damit auch die Felice Pajarola aus Cazis. Gesetze, die in der Familie ihres eigenen Mannes gelten. verlag die brotsuppe Herbst 2020 21
Matteo Terzaghi: Die Erde und ihr Trabant. Sabine Gisin: Teneber Vid. Roman Übersetzt von Barbara Sauser. 104 Seiten, gebunden mit Samtumschlag; 136 Seiten gebunden; CHF 27 / Euro 25 CHF 25 / Euro 22 ISBN 978-3-03867-020-9 ISBN 978-3-03867-019-3 Dieses Buch spielt in den Schuljahren – einer Schule »Das Mädchen kauerte sich zusammen, Arme um jedoch, die ein Leben lang dauert – und erzählt von die Knie geschlungen. Es war kalt. Ich werde mir eine zoologischen, musikalischen und filmischen Versu- Krankheit einfangen. Ich habe mich für unverwundbar chen, von imaginären Häusern, lunaren Schnurrbärten gehalten, gedacht, ich müsse mich dem Leben nur und rollenden Pflanzen, von Sprüngen ins Wasser, immer schön aussetzen, dann würde ich wachsen und sprachlichem Erfindungsreichtum und anderen Wider- verwegen und stark werden … Teneber Vid, hatte Va- standshandlungen, vom Regen und seinem »Gegen- ter gesagt, ist der schrecklichste aller Geister, denn lied«, dem Feuer. Alltagsabenteuer verwandeln sich er ist die Leere.« in Reflexionen und mentale Abschweifungen in kleine »Teneber Vid« ist die Geschichte über das Mädchen, Abenteuergeschichten. das sich erwachsen werdend in die Welt wirft. Auf seiner Reise begegnet es merkwürdigen Schlossbe- »Matteo Terzaghi gehört gegenwärtig zu den besten wohnern, mitunter bedrohlichen Männern und einem Schriftstellern italienischer Sprache. […] Man kann Jungen, der ganz anders zu sein scheint. Die Erde und ihr Trabant, wie das Buch an mehreren »Teneber Vid« ist ihr erstes Buch. Stellen fast selbst suggeriert, als eine Art Fortsetzung von Fritz Kochers Aufsätze betrachten – kleine Schul- aufsätze in der Tradition Robert Walsers, in denen auf »Bei diesem Mädchen und in dem Roman, durch den vordergründig schlichte, tatsächlich aber äusserst Sabine Gisin es begleitet, wirkt vieles zusammen: tiefsinnige Weise von allem Leben erzählt wird.« eine höchst eigenwillige, dennoch klare Sicht Francesco M. Cataluccio, »La domenica dei libri«, auf Menschen und Orte, stilistische Originalität, Radio popolare, Mailand komische Melancholie, unbändiger Überlebensmut und eine gar nicht sentimentale und deswegen so berührende Sehnsucht nach jener traumwandlerisch sicheren Nähe, die es mal gab in den wahrhaftigen Märchen der Kindheit.« Katja Lange-Müller verlag die brotsuppe 22 Herbst 2020
Gunstein Bakke Maud und Aud Ein Roman über Verkehr übersetzt von Sabine Gisin Schweizer Europäischer Literaturpreis Literaturpreis 2020 2013 verlag die brotsuppe Noëmi Lerch: Willkommen im Tal der Tränen. Gunstein Bakke: Maud und Aud. Ein Roman Mit Bildern vom Duo Walter Wolff über Verkehr, übersetzt von Sabine Gisin 288 Seiten, gebunden mit Leinenumschlag; 278 Seiten, gebunden; CHF 29 / Euro 27 CHF 29 / Euro 27; ISBN 978-3-03867-015-5 ISBN 978-3-03867-022-3 Ein Mann verlässt sein Dorf am Meer. Auf einer Alp in »Maud und Aud« ist ein vielschichtiger Roman über der Schweiz hat er Arbeit gefunden. Tuinar sagen die neue Technologien und westliche Modernität, über anderen zu ihm. Der Mann für alles. Die anderen, das das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft. sind Zoppo und der Lombard. Sie weihen den Tuinar in Im Zentrum steht ein Autounfall, der die Familie ihre Welt ein, in ihre Sprache der Arbeit. der Zwillinge Maud und Aud auseinanderreisst: Die Romantisch ist das Alpleben nur für Touristen. Der Mutter stirbt, der Vater kann nur dank moderner Tuinar ist stolz, einer der drei wahren Hüter des eigen- Medizin und künstlichen Körperteilen weiterleben, sinnigen Lebens am Rande der weiten Ebene zu sein. die Zwillinge überleben mit unterschiedlich schweren Die weite Ebene, das ist ihre Kirche. Einen Sommer Verletzungen an Körper und Seele. lang folgen sie ihren Rindern auf unsichtbaren Wegen, Gunstein Bakke verwebt seine Erzählung mit einem entlang einer scheinbar äusseren und einer unschein- Netz essayistischer Reflexionen über den Stellenwert bar inneren Logik der Erde. des Rohstoffs Öl, das Verhältnis von Natur und Doch die weite Ebene hat ihre eigenen Gesetze. Sie Maschine, von Künstlichkeit und Körperlichkeit; er ist Geheimnis und Gefahr zugleich. Je tiefer die drei stellt Überlegungen an zum Verkehr und zur Rolle des Männer in ihre Stille vordringen, umso weiter und un- menschlichen Körpers in einer Gesellschaft, in der die wegsamer wird sie. Die Sprache als Mittel der Verstän- Technologie einen immer wichtigeren Platz einnimmt. digung droht verlorenzugehen. Dabei findet er eine präzise, bildreiche Sprache »Ich bin wie du. Weites Grasland. Rote Flüsse durch und verbindet mit unvergleichlicher Leichtigkeit ädern mich. Fast durchsichtig bin ich. Und zart und Alltagsfragen des Verkehrswesens mit Reflexionen zäh und zarter und zäher, noch viel zäher, unheimlich und Spekulationen der existentiellsten Art. zäh und unendlich zart ziehen die Jahre durch mich »In seinem nachdenklich stimmenden Buch hindurch. Machen mich immer mehr zu dem, was ich kombiniert er poetische Sprache, eine vielstimmige bin. Alt. Und doch. Ich beginne an keinem Ort. Und an Erzählweise und scharfsinnige Analysen.« keinem Ort höre ich je wieder auf zu sein.« Aus der Begründung zum Preis Das Buch, an eine Graphic Novel erinnernd, haben Alexandra Kaufmann und Hanin Lerch (Duo Walter verlag die brotsuppe Wolff) bebildert. Herbst 2020 23
verlag die brotsuppe Ab 2020: Auslieferung Auslieferung in Narzissenweg 19 in der Schweiz Deutschland/Österreich CH-2504 Biel/Bienne Buchzentrum AG Lambertus Verlag GmbH Telefon +41 (0) 32 323 36 31 Industriestr. Ost 10 Mitscherlichstr. 8 Telefax +41 (0) 32 323 36 33 CH-4614 Hägendorf D-79108 Freiburg Telefon +41 62 209 25 25 Telefon +49 761 368 25-0 info@diebrotsuppe.ch Fax +41 62 209 26 27 Telefax +49 761 368 25-33 www.diebrotsuppe.ch kundendienst@buchzentrum.ch info@lambertus.de Der Verlag ist Mitglied beim SBVV www.lambertus.de Vertreterin: und bei SWIPS (einem Zusammen- Manuela Umberg schluss unabhängiger Schweizer Buchzentrum AG Verlage). Industriestr. Ost 10 CH-4614 Hägendorf www.swips.ch Telefon +41 62 209 25 25 Fax +41 62 209 26 27 manuela.umberg@buchzentrum.ch www.buchzentrum.ch Der verlag die brotsuppe wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2016 – 2020 unterstützt. www.diebrotsuppe.ch
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