Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

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Lieven Raymaekers

                                   Vom mythischen Vehikel
                                   zum Paradigma gesellschaftlicher Themen
                                   Lothar-Günther Buchheims Das Boot
                                   oder die Latenz der U-Boot-Literatur

                                   Ever since the Second World War, submarines have been a favored theme in (popular) culture.
                                   The attraction of this stealthy, yet highly lethal naval vessel generated the “submarine myth”.
                                   Lothar-Günther Buchheim’s Das Boot (1973) in particular has contributed to this fascination
                                   and has spawned a stream of submarine novels that has remained unabated until today. Para-
                                   doxically, Buchheim had in fact tried to deconstruct the submarine myth by exposing its deceptive
                                   nature. Using Roland Barthes’ myth critical conceptual framework, this article explores how
                                   Buchheim (re)constructs the submarine myth in order to deconstruct it. Moreover, this article
                                   wants to come to an understanding as to why submarines are still omnipresent. In doing so, it
                                   argues that an analysis of the largely neglected body of submarine literature can shed a new light
                                   on pivotal sociopolitical and -cultural issues. It shows how the submarine functions as a meta-
                                   phorical screen on which themes such as risk, secrecy, security and surveillance to are critically
                                   reflected.
                                   Keywords: submarine literature – modern myths – submarine myth – Lothar-Günther
                                   Buchheim (1918-2007) – immunity paradigm

                                   Einführung
                                   „U-Boote sind und bleiben demnach allgegenwärtig – nicht nur in der
                                   Kriegsliteratur, nicht nur in den Medien, sondern auch in der ganzen
                                   Breite der heutigen Populärkultur.“1 Nicht nur in der ‚heutigen Populär-
                                   kultur‘, sondern schon seit dem Ersten Weltkrieg hat sich das U-Boot zu
                                   einem Mythos entwickelt: Von der Begeisterung für U-Boote zeugen Ro-
                                   mane (zwischen 1945 und 2000 wurden in der BRD 237 U-Boot-Romane

                                   1   Koldau, Linda Maria: Mythos U-Boot. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010. S. 95.

                                   Germanistische Mitteilungen 46 | 2020                                                       141
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                   © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Lieven Raymaekers

                                                                   veröffentlicht)2 und Filme, aber auch Musik (wie der Song Yellow Submarine
                                                                   von The Beatles) oder sogar Videogames (wie das fünfteilige Spiel Silent
                                                                   Hunter):3 „[…] man kann durch sie alles vermarkten, von T-Shirts über
                                                                   Schnapsgläser bis zu Büchern.“4
                                                                       Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mythos im Laufe der Zeit unver-
                                                                   ändert geblieben oder immer gleich begeistert aufgenommen worden wä-
            for personal use only / no unauthorized distribution

                                                                   re. Nachdem er durch die Propaganda im Zweiten Weltkrieg eine geradezu
                                                                   magische Faszination ausgeübt hatte, legte sich die Begeisterung nach dem
                                                                   Krieg; es folgte eine Periode, in der kaum U-Boot-Romane veröffentlicht
                                                                   wurden. 1973 fing dann mit der Veröffentlichung von Lothar-Günther
                              Winter Journals

                                                                   Buchheims Das Boot eine neue Veröffentlichungswelle – die sogenannte
                                                                   „Buchheim-Welle“5 – an. Sie ist revisionistisch geprägt: Die Autoren ver-
                                                                   werfen den verherrlichenden U-Boot-Mythos und versuchen ihn in allen sei-
                                                                   nen Aspekten zu dekonstruieren.
                                                                       In Das Boot setzte sich Buchheim auf fiktionale Weise mit seinen Er-
                                                                   fahrungen an Bord des U-96 im Zweiten Weltkrieg auseinander. Dabei            Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)

                                                                   tritt eine interessante Ambivalenz hervor: Einerseits sträubte sich der Au-
                                                                   tor gegen die Mythisierung des U-Boot-Kriegs und versuchte den damit
                                                                   zusammenhängenden Mythos zu entlarven. Andererseits gelang ihm das
                                                                   nur teilweise, denn der Roman erzeugte den Mythos auf eigene Weise er-
                                                                   neut und führte zu einer neuen „U-Boot-Welle“6 in Deutschland. Diese
                                                                   ‚Welle‘ wirkt sogar bis heute fort, wie Andreas Prochaskas Fernseh-Rema-
                                                                   ke von Das Boot (2018) bezeugt.
                                                                       Im Folgenden soll erörtert werden, was den U-Boot-Mythos bzw. seine
                                                                   Problematisierung in Das Boot ausmacht und wie sich seine fortdauernde
                                                                   Anziehungskraft erklären lässt. Dabei soll es aber auch darum gehen, wie

                                                                   2   Sutter, Nico: Der U-Boot Mythos in Deutschland. Ursachen, Gründe und Folgen. Hamburg:
                                                                       disserta Verlag 2013. S. 9.
                                                                   Frankfurt
                                                                   4   Hadley, Michael L.: Der Mythos der deutschen U-Bootwaffe. Hamburg: Mittler 2001. S. 164.
                                                                   5   Ebd., S. 123.
                                                                   6   Koldau: Mythos U-Boot, S. 21.

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                                                                                  © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   der U-Boot-Mythos mit Themen wie Immunität, Sicherheit und Überwa-
                                   chungsgesellschaft zusammenhängt.7

                                   Der Begriff Mythos
                                   Zunächst bedarf der schillernde und in den unterschiedlichsten theoreti-
                                   schen Kontexten auftauchende Begriff Mythos der Klärung. Wenn im Fol-
                                   genden von Mythos die Rede ist, handelt es sich nicht um eine „Ursprungs-,
                                   Götter- und Heldengeschichte einer prähistorischen Zeit“8, sondern um
                                   ‚Alltags-Mythen‘ im Sinne Roland Barthes’, also um „mentalitätsspezifi-
                                   sche Bilder, die kollektives Handeln und Erleben prägen.“9 Daraus entste-
                                   hen ‚Muster‘, die das Denken der Menschen gestalten und die, sobald sie
                                   zu „kollektiven Obsessionen“ werden, „Mythenkritik hervor[rufen].“10
                                   Ausgehend von der Semiologie bezeichnet Barthes den Mythos als ein se-
                                   miotisches System zweiten Grades: Der Mythos reduziert ein Zeichen aus
                                   einem ersten semiologischen System (zum Beispiel das U-Boot) zum bloßen
                                   Signifikanten und weist diesem ein neues Signifikat zu, das eine mythologi-
                                   sche Konnotation hat. In den Worten Barthes’:
                                       Doch der Mythos ist insofern ein besonderes System, als er auf einer se-
                                       miologischen Kette aufbaut, die schon vor ihm existiert: Er ist ein sekundä-
                                       res semiologisches System. Was im ersten System Zeichen ist […] wird im zwei-
                                       ten einfacher Signifikant. […] Alles verläuft so, als verschöbe der Mythos
                                       das formale System der ersten Bedeutungen um eine Raste. 11

                                   Wie gilt das nun für den U-Boot-Mythos? Anders gesagt: Welche im wie-
                                   testen Sinne mythologisch wirkenden Signifikate werden dem U-Boot zuge-

                                   7   Die hier angestellten Überlegungen sollen die Grundlage für eine Dissertation bilden,
                                       die die soziopolitischen und -kulturellen Implikationen der U-Boot-Literatur erforscht.
                                   8   Bock-Lindenbeck, Nicola: Letzte Welten – Neue Mythen. Köln: Böhlau 1999. S. 1.
                                   9   Zitat aus: Barner, Wilfried: Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart: Reclam 2003. S. 13.
                                   10 Ebd.
                                   11 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 258. Hervorhebung im
                                      Original.

                                                                                                                               143
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Lieven Raymaekers

                                   schrieben, damit aus diesem Zeichen des semiotischen Systems ersten
                                   Grades (das materielle U-Boot) im semiotischen System zweiten Grades
                                   ein Mythos (der U-Boot-Mythos) entstehen kann? Folgen wir dieser Inter-
                                   pretation, so können die von Linda Maria Koldau vorgeschlagenen Merk-
                                   male des U-Boot-Mythos als Signifikate in Barthes’ Sinne betrachtet wer-
                                   den.12 Zunächst, so Koldau, spielt die Faszination für die Technik eine
                                   wichtige Rolle – wie die Bezeichnung des U-Boots als Wunderwaffe attes-
                                   tiert. Die Bezwingung der feindlichen Umgebung des Meeres erfordert
                                   nämlich eine bewundernswerte technische Leistung. Zweitens beflügelt
                                   die Tauchfähigkeit des Boots die Fantasie, was sich in der Darstellung des
                                   U-Boots als Monstrum aus der Tiefe zeigt, das jederzeit überall auftauchen
                                   und angreifen kann. Drittens spielt die Besatzung eine wichtige Rolle,
                                   denn das Boot – so hervorragend die Technik auch ist – kommt ohne sie
                                   nicht aus; es braucht Leute, die das Boot operieren lassen. Dadurch ent-
                                   steht im Boot ein Gefühl der Kameradschaft: Alle sind in der gleichen
                                   beengten Lage und müssen füreinander sorgen; sie leben also in einem
                                   gemeinsamen „U-Boot-Geist“13. Im weiteren Sinne umfasst dieser Geist
                                   auch feindliche Marineleute und konstituiert so die größere Marinefamilie.
                                       Zwei weitere Merkmale fallen in Beschreibungen der Besatzung auf.
                                   Zunächst tritt der Kommandant als Vaterfigur auf: Nur er ist imstande, die
                                   Besatzung immer wieder zu retten. Zweitens wird ständig die Jugend der
                                   Besatzung betont, wobei oft von einem ‚Kinderkreuzzug‘14 die Rede ist.
                                   Michael Salewski hat zum Beispiel errechnet, dass das Durchschnittsalter
                                   der Kommandanten 21 bis 22 und das der Wachoffiziere 19 bis 20 war;
                                   der Grund dafür sei, dass sich Jugendliche leichter durch die verherrli-
                                   chende Kriegspropaganda zum Dienst verleiten ließen.15 Ein letztes Merk-
                                   mal ist das Thema der sauberen Kriegsführung, als ob der U-Boot-Krieg

                                   12 Im Folgenden werden nur die Merkmale erwähnt, die Buchheim selbst hervorhebt
                                      bzw. verwirft. Für eine eingehende Besprechung: Koldau: Mythos U-Boot, S. 76-83.
                                   13 Koldau: Mythos U-Boot, S. 79.
                                   14 Sutter: Der U-Boot Mythos, S. 127.
                                   15 Salewski: Von der Wirklichkeit des Krieges, S. 29.

                                   144
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                   © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   immer mit Respekt vor dem Feind geführt wurde. Das Meer, so Salewski,
                                   sorge selbst dafür, dass keiner mehr genau wisse, wie eine Seeschlacht
                                   stattgefunden hat, da schon nach wenigen Stunden die Beweise wegge-
                                   spült seien und das Meer sich mithin ‚gesäubert‘ habe.16 Gerade diese Ver-
                                   gessenheit beflügelt die Fantasie und erzeugt Szenarien, in denen die
                                   Grausamkeit des Kriegs ausgespart wird.

                                   (De-)Konstruktion des U-Boot-Mythos in Das Boot
                                   Die Rezeption von Das Boot kennzeichnet sich durch eine Ambivalenz, die
                                   mit der zwiespältigen Auseinandersetzung mit dem U-Boot-Mythos zu-
                                   sammenhängt. Einerseits wurde die Detailtreue der Beschreibungen be-
                                   jubelt. Andererseits wurde das Buch wegen der entlarvenden Darstellung
                                   des U-Boot-Mythos und der für viele schockierenden Beschreibung der
                                   Besatzung verurteilt. Viele ehemalige Besatzungsmitglieder sahen sich
                                   durch den Roman verunglimpft.17 Diese politische Seite des Buchs hat
                                   mutmaßlich zu den Konflikten bei seiner Veröffentlichung beigetragen.
                                   Wenn also Hans Wagener später behaupten wird, Das Boot sei ein
                                   gelungener Versuch zur „Entheroisierung, ja Entmythologisierung des U-
                                   Boot-Krieges“,18 so ist zu fragen, wie genau Buchheim mit dem Mythos
                                   umgeht.
                                       In diesem Teil werden deshalb die rhetorisch-diskursiven Strukturen
                                   erforscht, mit denen Buchheim den U-Boot-Mythos konstruiert bezie-
                                   hungsweise dekonstruiert. Anhand der dem Zeichen des U-Boots zuge-
                                   schriebenen Signifikate (das heißt: die von Linda Maria Koldau beschriebe-
                                   nen charakteristischen Elemente, aus denen sich der U-Boot-Mythos
                                   zusammensetzt) konstruiert der Autor nämlich den Mythos, problemati-
                                   siert aber dessen Eigentümlichkeiten auf solche Weise, dass er ihn letzten

                                   16 Ebd., S. 15.
                                   17 Ebd., S. 45.
                                   18 Wagener, Hans: Zwischen Abenteuer und Zeugenschaft. Lothar-Günther Buchheim: ‚Das Boot‘
                                      (1973) und ‚Die Festung‘ (1995). In: Wagener, Hans (Hg.): Von Böll bis Buchheim. Deutsche
                                      Kriegsprosa nach 1945. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1997. S. 325-348. Hier: S. 334.

                                                                                                                         145
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Lieven Raymaekers

                                   Endes de-konstruiert. Die bekannten Merkmale des Mythos werden mit
                                   anderen Worten auf unübliche Weise aktualisiert und miteinander ver-
                                   knüpft. Die daraus folgenden Erwartungsbrüche regen den Leser zu einer
                                   kritischen und bewussten Haltung gegenüber den Mythisierungsverfahren
                                   an.
                                       Eine erste wichtige Konstruktionsstrategie (auf die der Titel des Buchs
                                   schon hinweist) ist die Faszination für die Technik. Lange technische Aus-
                                   führungen belegen immer wieder die Begeisterung für die Waffe und ihre
                                   technischen Besonderheiten. So kommen Szenen vor, in denen der Erzäh-
                                   ler akribisch beschreibt, wie das Boot taucht und aufsteigt oder wie seine
                                   Trimmzellen funktionieren.19 Der Erzähler bringt seine Faszination dann
                                   auch im Roman deutlich zum Ausdruck: „Die Tatsache, dass ein U-Boot
                                   seine Schwimmfähigkeit selber zunichte machen kann, um sie später wie-
                                   der zurückzugewinnen, fasziniert mich immer aufs neue.“ (B 92). Die Fas-
                                   zination für die Technik und damit für das Boot zeigt sich auch in folgen-
                                   der technisch genauer Beschreibung:
                                      Es ist ein VII C-Boot […]. Ich memoriere: Länge 67,1 Meter. Breite 6,2
                                      Meter. Wasserverdrängung 769 Kubikmeter über Wasser und 871 Kubik-
                                      meter unter Wasser – ein sehr geringer Unterschied: das Boot hat eben
                                      nur wenige aus dem Wasser ragende Teile. Tiefgang bei Überwasserfahrt
                                      4,8 Meter – eine Normzahl, denn in Wirklichkeit ist der Tiefgang variabel.
                                      (B 44)

                                   Das Boot spielt eine schützende Rolle für die Besatzung, denn bei Wasser-
                                   bombenangriffen hängt das Überleben der Besatzung von seiner Wider-
                                   standsfähigkeit ab: „Ich kann nur staunen […] dass das Boot noch nicht
                                   weich geworden ist. […] Die Technik widersteht – nur wir Menschen sind
                                   falsch konstruiert, nicht für diese Torturen eingerichtet“ (B 288). Auch
                                   dem Wasserdruck gegenüber zeigt sich das Boot als der Stärkere. U-Boote

                                   19 Trimmzellen sind mit Wasser gefüllte Behälter, mit denen das Boot unter Wasser auf
                                      ebenen Kiel gebracht werden kann. Der Erzähler benennt diese Funktion auch expli-
                                      zit: „[…] durch die Trimmzellen [kann] die Lage des Bootes im Wasser [verändert
                                      werden].“ Buchheim, Lothar-Günther: Das Boot. München: Piper Verlag 1973. S. 103.
                                      Im Folgenden mit der Sigle B abgekürzt.

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                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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                                   haben im Prinzip eine maximale Tauchtiefe, unterhalb deren sie durch den
                                   Wasserdruck zerquetscht würden (cf. B 70). In einer Szene erreicht das
                                   Boot eine Tiefe von 280 Meter (bei einer gesicherten Tiefe von 90 Metern)
                                   (vgl. B 506). Indem das Boot den Druck dieser Tiefe jedoch übersteht,
                                   befähigt es die Besatzung, die Technik in Ordnung zu bringen, damit es
                                   wieder auftauchen kann. Das Mythisierungsverfahren Buchheims zeigt
                                   sich also darin, dass die Besatzung die Feindfahrt überlebt, weil das Boot
                                   jedem Angriff und dem Wasserdruck standhält.
                                       Eine zweite bedeutsame Strategie ist die Auseinandersetzung mit dem
                                   Phänomen des Helden. Neben dem Boot nehmen nämlich auch bestimm-
                                   te Personen einen Heldenstatus an. Der Kommandant tritt im U-Boot-
                                   Mythos oft als eine Vaterfigur20 auf, weil er der einzige ist, der die Besatzung
                                   in Sicherheit bringen kann. Nebenbei erwähnt: Buchheim hat, so Thomas
                                   Schröder, mit dem Roman nach eigenem Bekunden dem realen Komman-
                                   danten des U-96 (Heinrich Lehmann-Willenbrock) ein „Denkmal“ setzen
                                   wollen, weil er ihm sein Leben verdanke.21 Die logische Konsequenz
                                   daraus war den Kommandanten zum Helden des Romans zu machen. So
                                   steht er am Anfang und am Ende im Zentrum der Beschreibung; der
                                   Erzähler verwechselt ihn am Ende gar mit Christus: „Wenn ich genau
                                   hingucke, ist das im bläulichen Gasstrumpflicht glühende Gesicht am
                                   Ende der Feuerallee auch gar nicht der Herr Jesus Christus, sondern unser
                                   Alter“ (B 548). Darüber hinaus ist die Besatzung sich sicher, dass alles
                                   wieder gut wird, solange der ‚Alte‘ an Bord ist: „Der Glaube der Leute an
                                   die Fähigkeit des Alten, uns hier herauszubringen, muss grenzenlos sein“
                                   (B 510). Er ist der Einzige, der die taktischen Entscheidungen treffen
                                   kann, um das Boot aus bedrohlichen Lagen zu retten: „Der Kommandant
                                   muss sekundenschnell reagieren. Von uns allen ist er der einzige, der
                                   kämpft. An der Richtigkeit seiner Befehle hängt unser Leben“ (B 221).

                                   20 Es überrascht daher nicht, dass der Kommandant in U-Boot-Romanen oft „der Alte“
                                      genannt wird.
                                   21 Schröder, Thomas: Literatur: Bomm-tsch-jwumm. In Der Spiegel 33 (1973). S. 97-98. Hier
                                      S. 98.

                                                                                                                       147
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                                   Schon seine Stimme reicht, um die Besatzung zu beruhigen. Dazu genügt
                                   beispielsweise schon das Wörtchen ‚Na‘: „Der Alte lässt nun ein fragend
                                   ansteigendes: ‚Naaa?‘ hören. Dann nickt er, und Pilgrim nickt beflissen
                                   zurück. Auch er ist getröstet“ (B 508).
                                       Trotzdem ist der ‚Alte‘ nicht frei von Fehlern oder Sorgen: So meint
                                   er, dass der Krieg aussichtslos sei (vgl. B 308); er ist auch der Einzige, der
                                   während Angriffen über die Sicherheit der Besatzung wacht und außer-
                                   dem hat er sich mit einer „Nazizicke“ (B 110) verlobt, um die er sich
                                   Sorgen macht. Am Ende gerät sein Heldenstatus sogar in Gefahr, denn er
                                   torpediert – nach einer Fehlmeldung durch den ersten Wachoffizier – fast
                                   einen neutralen Dampfer und hätte so beinahe ein Kriegsverbrechen be-
                                   gangen. Als dies dank des Obersteuermanns, der den Fehler rechtzeitig
                                   entdeckt, vermieden werden kann, kommt es nicht zu einer „Charakter-
                                   wandlung des ‚Alten‘“22; „[d]er Held kann also Held bleiben.“23
                                       Sowohl der Kommandant wie auch das Boot benötigt jedoch eine
                                   dritte Instanz: Der Kommandant braucht eine Besatzung, die seine Befeh-
                                   le ausführt, und das Boot braucht sie, um überhaupt operieren zu können.
                                   Die Bemannung wird mithin zur dritten Hauptfigur. Ihre Beschreibung ist
                                   jedoch ambivalent: Einerseits kann der Roman als Hommage an die ehe-
                                   malige Crew betrachtet werden, mit der Buchheim seine Patrouille über-
                                   lebt hat, wie etwa aus dem Lob des Kommandanten hervorgeht („Eben
                                   gut, wenn man nur richtig ausgebildete Spezialisten an Bord hat!“ B 510).
                                   Die Männer charakterisiert denn auch eine erstaunliche Ausdauer: Sie sind
                                   imstande, unter allen Umständen die Nerven zu behalten, so dass das Boot
                                   weiter einsatzbereit bleibt. Ihr Können verwundert den Erzähler auch: „So
                                   was schafft nur der alte Kriechbaum. Der passt auf und der denkt“
                                   (B 589).
                                       Andererseits werden die Besatzungsmitglieder als „Knöpfchendrü-
                                   cker“24 umschrieben, als ob sie nur ein Rädchen in der Technik des Boots

                                   22 Wagener: Zwischen Abenteuer und Zeugenschaft, S. 335.
                                   23 Salewski: Von der Wirklichkeit, S. 40.
                                   24 Ebd., S. 64.

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                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                  © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   wären, das nicht selbstständig operieren kann. So beschreibt es der Er-
                                   zähler: „Jeder der Männer hat seine Aufgabe: Einer prüft, ob die Antriebs-
                                   maschine anspringt, ein anderer, ob alle Lager und Wellen leichtgängig
                                   geblieben sind“ (B 112). Auch die Idee des ‚U-Boot-Geists‘ entlarvt der
                                   Roman, indem er die Besatzungsmitglieder nie beim Namen nennt (abge-
                                   sehen von einigen Spitznamen wie „der Bibelforscher“ (B 411)). Sie wer-
                                   den meistens bloß anhand ihrer technischen Funktion angeredet und
                                   scheinen keine eigene Geschichte zu haben. Das entlockt dem Erzähler
                                   die Bemerkung: „Man weiß überhaupt zuwenig von seinem Nächsten“
                                   (B 177). Dadurch liegt die Folgerung nahe, dass es nicht wichtig ist, wer
                                   Teil der Besatzung ist, solange seine Funktion im Boot von irgendjeman-
                                   dem erfüllt wird. Überdies wird die Besatzung als ein Häufchen sexuell
                                   frustrierter Männer dargestellt: Wenn sie miteinander reden, geht es fast
                                   ausschließlich um das sogenannte „Thema Nummer eins“ (B 318). Tat-
                                   sächlich erzählen sich die Männer ständig ihre sexuellen Erfahrungen und
                                   Fantasien. Diese Fantasien spielen jedoch eine wichtige Rolle für die
                                   Diensttauglichkeit der Männer, denn nur so können sie ihre Nervenruhe
                                   behalten und zeitweilig „einen inneren Ersatz für ihre Lage“25 schaffen,
                                   um mit ihrer „Angst, Verzweiflung, Hochmut, Arroganz“26 sowie mit „der
                                   Langeweile, Isolierung“27 fertig zu werden. In den Worten des Erzählers:
                                   „[…] und dabei quatschen sie doch nur ihre Angst nieder“ (B 210). Diese
                                   Beschreibung der Besatzung war für Buchheim von hohem Wert, denn
                                   die Anspielungen auf das „Thema Nummer eins“ „tragen […] zur
                                   Entmythologisierung eines verklärenden Selbstbildes der U-Boot-Fahrer
                                   und des U-Boot-Krieges bei.“28 Das von Buchheim geschilderte Bild der
                                   Besatzung stimmt also nicht überein mit der verklärten Selbstauffassung der
                                   damaligen Besatzungen und dekonstruiert somit eine weitere Seite des
                                   Mythos.

                                   25 Wagener: Zwischen Abenteuer und Zeugenschaft, S. 338.
                                   26 Salewski: Von der Wirklichkeit, S. 50.
                                   27 Wagener: Zwischen Abenteuer und Zeugenschaft, S. 338.
                                   28 Ebd., S. 339.

                                                                                                                  149
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Lieven Raymaekers

                                       Das Aufeinander-angewiesen-Sein aller Figuren und die gegenseitige
                                   Abhängigkeit von Boot und Mannschaft macht es schwer von einem Pro-
                                   tagonisten zu sprechen: Der Kommandant gibt Befehle, braucht aber eine
                                   Besatzung, die sie ausführt. Die Besatzung braucht den Kommandanten,
                                   weil sie selber nicht weiß, wie sie zum Beispiel einem Angriff entkommen
                                   kann. Das Boot braucht die Besatzung, um operieren zu können, aber die
                                   Besatzung und der Kommandant wiederum brauchen die schützende
                                   Widerstandsfähigkeit des Boots. Indem der Roman die Heldenrolle
                                   problematisiert, dekonstruiert er den Mythos des einzelnen Helden. Der
                                   Leser darf nicht eine bestimmte Figur als Identifikationsobjekt betrachten,
                                   sondern muss einsehen, dass „der einzelne, und gerade auch der
                                   Kommandant, in der losgelassenen Kriegsfurie nur ‚ein ganz kleines Licht‘
                                   sei […].“29 Buchheim verleiht den Figuren zwar heroische Züge, macht
                                   aber gleichzeitig deutlich, dass die Protagonisten zu gespalten sind, um als
                                   reine Helden zu erscheinen. Der Autor wehrt sich mithin gegen den
                                   Mythos des Soldaten als Kriegshelden und stellt den Soldaten folglich auf
                                   eine andere, entlarvende Weise dar: als Opfer des Oberkommandos und
                                   des Feindes.30
                                       Zur Dekonstruktion des Mythos in Das Boot tragen mehrere Strategien
                                   bei, von denen im Folgenden einige ausführlicher nachgezeichnet werden.
                                   Eine erste Strategie besteht in der Demontage des Mythos einer ‚sauberen‘
                                   Kriegsführung, die im Roman durch die grausamen Beschreibungen der
                                   Folgen eines U-Boot-Angriffs geleistet wird.31 Diese Szenen zeigen, dass
                                   „es auf und unter Wasser nicht so ‚sauber‘ zuging, wie viele ‚Saubermän-
                                   ner‘ […] behaupten.“32 Buchheim erörtert die schlimmen Folgen einer

                                   29 Salewski: Von der Wirklichkeit, S. 67-68.
                                   30 Holloway, Dustin: Depravity at Sea. ‘Das Boot’ and the Challenge of Coming to Terms with the
                                      Past. Haverford College 2011. S. 3.
                                   31 Thompson, David G.: Villains, Victims, and Veterans: Buchheim’s Das Boot and the Problem
                                      of the Hybrid Novel-Memoir as History. In: Twentieth Century Literature 39 (1993). S. 59-78.
                                      Hier S. 64.
                                   32 Salewski: Von der Wirklichkeit, S. 40.

                                   150
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   Torpedierung, nicht nur den eigentlichen Angriff, sondern auch das
                                   Schicksal der Besatzung. Die Opfer des Angriffs sind dazu verurteilt im
                                   Meer umherzutreiben, bis sie durch Unterkühlung sterben und von
                                   Möwen aufgefressen werden. Wie das folgende Beispiel zeigt, wird hier
                                   nichts geschönt:
                                      Einer der toten Seeleute treibt aufgequollen in Rückenlage auf dem Was-
                                      ser. Kein Fleisch mehr auf den Gesichtsknochen. Die Möwen haben ihm
                                      alles Weiche aus dem Gesicht gehackt. Auf dem Knochenschädel ist nur
                                      ein kleines Stück Skalp mit schwarzen Haaren übriggeblieben. Das sind
                                      keine Menschen mehr, eher Gespenster wie von der Geisterbahn, grausige
                                      Chimären – alles, nur keine Menschen. (B 414-415)

                                   Die Besatzung weiß, dass es auch für sie so enden kann: „Jeder an Bord
                                   weiß, wie gering die Chancen sind, dass ein Floß mit Schiffbrüchigen in
                                   diesem Seegebiet entdeckt wird, und wie das Schicksal abläuft, auch wenn
                                   die See ruhig ist“ (B 416). Die enorme psychologische Belastung, die dies
                                   mit sich bringt, wird noch durch die Vorstellung von der Marinefamilie
                                   verstärkt. Der Laconia-Befehl33 verbietet es nämlich, feindliche Schiff-
                                   brüchige aufzunehmen; sie bleiben jedoch Leidensgenossen, da sie jener
                                   größeren Marinefamilie angehören. Die Spannung zwischen Humanität oder
                                   Befehlsverweigerung und soldatischer Ehre spitzt sich in solchen Momen-
                                   ten zu: „Er [der Alte] kämpft um einen Entschluss“ (B 394). Da das Meer
                                   die Spuren einer Seeschlacht rasch wieder wegspült, kann jeder seine
                                   Fantasie für diese Szenarien verwenden. Das Bild, das Buchheim jedoch
                                   bietet, ist keineswegs verklärend und entspricht also nicht dem Mythos.
                                   Indem der Autor immer wieder auf die Grausamkeit des Kriegs hinweist,
                                   arbeitet er verherrlichenden Vorstellungen entgegen und dekonstruiert
                                   damit den Mythos.

                                   33 Der Laconia-Befehl war eine Verordnung, die U-Booten verbot, Besatzungen feindli-
                                      cher Schiffe aufzunehmen, wenn die Kommandanten die Gefahr der Lage nicht ein-
                                      schätzen konnten. Vgl. Mason, David: Duikbootoorlog. Übers. D.L. Uyt den Bogaard.
                                      Antwerpen: Standaard Uitgeverij 1976. S. 94.

                                                                                                                  151
                                              Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Lieven Raymaekers

                                       Die zweite Dekonstruktionsstrategie ist die enttarnende Darstellung
                                   des Oberkommandos. Als Oberbefehlshaber der U-Boot-Flotte war Karl
                                   Dönitz für alle ihre Einsätze zuständig. Während des Zweiten Weltkriegs
                                   und auch danach umgab ihn der sogenannte ‚Dönitz-Mythos‘, der unlös-
                                   lich mit dem U-Boot-Mythos verknüpft ist, denn „[w]er heute diese Figur
                                   in Frage stellt, sie gar negativ wertet, lässt das gesamte Gebäude aus Ver-
                                   gangenheitsbewältigung, Selbstverständnis und Glauben ins Schwanken
                                   geraten.“34 Mit der aufdeckenden Beschreibung dieser historischen Figur
                                   dekonstruiert Buchheim den Mythos auf eine weitere Weise. Dönitz wird
                                   nämlich ein „verrückter Einpeitscher“ (B 483) genannt; ihm wird vorge-
                                   worfen, dass er nicht mehr rechtzeitig erkenne, wann jemand psychisch
                                   am Ende sei: „Der sieht nicht, ob einer fertig ist. Oder wills nicht sehen“
                                   (B 16; Hervorhebung im Original). Er hat dazu den Kontakt mit den
                                   Besatzungen verloren: „Hier im Grünen sieht eben alles anders aus als in
                                   Kernével beim Stab“ (B 308).35 Die Besatzungen sahen sich zu Nummern
                                   reduziert: „In Kernével sind wir nichts als eine Nummer. Ein Strich durch:
                                   aus. Die Werft baut ein neues Boot“ (B 468). Viel mehr wird jedoch nicht
                                   über Dönitz gesagt, wohl aber über die (militärische und politische) Füh-
                                   rung. Dabei wird auch die Propagandasprache entlarvt:
                                       […] Indem der Propaganda des Dritten Reiches die Realität des U-Boot-
                                       Krieges entgegengesetzt wird, hat Buchheim mit Das Boot einen Roman
                                       geschrieben, in dem das Leben der U-Boot-Männer nicht verherrlicht,
                                       sondern entmythologisiert wird.36

                                   Anhand der Persiflage von Kriegsphrasen demaskiert Buchheim also die
                                   Propagandasprache. So heißt es im Roman, den Satz ‚Führer befiehl, wir
                                   folgen!‘ parodierend: „Führer befiehl, wir tragen die Folgen!“ (B 407)37

                                   34 Salewski: Von der Wirklickeit, S. 70.
                                   35 Kernével in Bretagne war der weiter landeinwärts gelegene Standort des Oberkom-
                                      mandos, in sicherer Distanz zu den U-Boot-Auslaufbunkern in Saint-Nazaire oder
                                      Brest.
                                   36 Wagener: Zwischen Abenteuer und Zeugenschaft, S. 339-340.
                                   37 Ebd., S. 331.

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                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                  © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   Auch die Phrase ‚Gefallen für Führer, Volk und Vaterland‘ wird ironisch
                                   verwendet, indem sie immer einem wenig glorreichen Tod gleichgesetzt
                                   wird. „Vor vierzehn Tagen erschoss sich einer im ‚Majestic‘, weil er sich
                                   die Syphilis geholt hatte. ‚Gefallen für Volk und Vaterland‘, wurde der
                                   Braut mitgeteilt“ (B 13). Diese Tendenz zeigt sich auch in der Verspottung
                                   der ‚Propagandakompagnie‘: Ihre Aufsätze werden als „Klischeeartikel“
                                   (B 21) oder auch „Gequatsche“ (B 24) bezeichnet; der Erzähler nennt
                                   ihren Schreibstil „aufgebläht“ (B 364). Buchheim macht sich mit anderen
                                   Worten „in einer Art Galgenhumor über die Propagandaphrasen des Drit-
                                   ten Reiches lustig.“38
                                       Der Kommandant erläutert, warum die Aufdeckung der Propaganda
                                   so wichtig ist. Als der Erzähler ihn nämlich fragt, warum sich „trotz der
                                   hohen Verluste“ (B 129) immer noch Leute freiwillig zur Marine melden,
                                   antwortet dieser: „Wir sind doch sozusagen das Feinste vom Feinen: Frei-
                                   korps Dönitz. Die Propaganda tut da sicher auch das Ihre [sic]…“ (Ebd.).
                                   Die Propaganda (und damit zusammenhängend: Dönitz und das Ober-
                                   kommando) bietet ein verherrlichendes Bild und weiß damit die Jugend
                                   zu verführen. Dieses Bild hat auch zu Buchheims Zeit den U-Boot-My-
                                   thos mit gestützt, und deshalb bemüht sich der Autor darum, diese Spra-
                                   che zu entlarven und die verklärte Vorstellung des Mythos zu dekonstru-
                                   ieren: „[…] Es geht Buchheim um eine Entlarvung der Verlogenheit der
                                   deutschen Propaganda und der Inkompetenz der obersten Kriegführung
                                   […].“39
                                       Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Buchheim versucht, den
                                   U-Boot-Mythos zu dekonstruieren, indem er die Propagandasprache ent-
                                   larvt und die Idee einer ‚sauberen‘ Kriegsführung als verlogen darstellt.
                                   Auch Dönitz und das Oberkommando werden in diesem Rahmen ange-
                                   griffen, weil sie aus Buchheims Sicht die hohe Zahl der Todesopfer zu
                                   verantworten haben. Indem Buchheim jedoch andererseits die Technik
                                   des U-Boots minuziös darlegt und den Protagonisten heroische Merkmale

                                   38 Ebd.
                                   39 Ebd.

                                                                                                              153
                                             Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Lieven Raymaekers

                                   zuschreibt, zeigt sich gleichzeitig die Begeisterung des Autors für diese
                                   Waffe. Er kann den Mythos also nicht ganz überwinden. Oder andersher-
                                   um formuliert: Trotz seiner tendenziellen Verherrlichung der U-Boot-
                                   Flotte beschönigt Buchheim nicht die Verheerungen, die diese Waffe
                                   anrichten kann. Vielleicht ist es diese Kombination von Ablehnung und
                                   Faszination, die zur Beliebtheit des Buchs in der Öffentlichkeit geführt
                                   hat, denn „[d]iese Ambivalenz zwischen Desavouierung des Propaganda-
                                   bildes vom U-Boot-Krieg einerseits und der [sic] Hinweis auf ein mögli-
                                   ches, ja existierendes Heldentum des Trotzdem andererseits bestimmen
                                   den Roman.“40

                                   Ausblick
                                   Die revisionistische Welle in der U-Boot-Literatur, an deren Anfang Buch-
                                   heims Roman steht, war gekennzeichnet von einer kritischen Auseinan-
                                   dersetzung mit dem verklärenden U-Boot-Mythos, die sich aufmachte, die
                                   grausame historische Realität des U-Boot-Kriegs aufzudecken, die Ver-
                                   logenheit des Bilds der deutschen Marinesoldaten als ‚Seehelden‘ zu ent-
                                   larven und mit ihrer Darstellung als Kriegsopfer zu korrigieren. Dabei hat
                                   sich herausgestellt, dass es Buchheim nur teilweise gelungen ist, sich von
                                   diesem Mythos zu verabschieden, denn sein Roman führte gerade zum
                                   erneuten Interesse für das U-Boot-Thema in der Öffentlichkeit. Diese
                                   Ambivalenz gilt nicht nur für Buchheim: Einerseits versuchten Autoren
                                   der Begeisterung für den U-Boot-Krieg entgegenzuwirken, andererseits ist
                                   die Faszination dafür seit Mitte der 70er Jahre in der Öffentlichkeit gegen-
                                   wärtig wie nie.
                                       Nico Sutter hat versucht, die Gründe für die aktuelle Begeisterung für
                                   das U-Boot zu benennen. Nach seiner Analyse bestimmen die Materie, die
                                   psychologische und sexuelle Thematik und letztlich die Metaphorik des
                                   Boots das Fortwirken des Mythos. Sein „Erklärungsversuch“41 lässt je-
                                   doch einiges außer Betracht und reicht deshalb nicht aus, die dauernde

                                   40 Ebd., S. 337.
                                   41 Sutter: Der U-Boot Mythos, S. 95.

                                   154
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   Anziehungskraft zu verstehen. Auch Linda Maria Koldau hat versucht,
                                   eine Antwort zu formulieren:
                                       Auch vollkommen pazifistisch eingestellte Menschen kennen Alpträume
                                       vom Eingeschlossensein, vom Ertrinken, von heimlich heranschleichen-
                                       den Ungeheuern, von einem aussichtslosen Wettlauf gegen die Zeit.42

                                   Der U-Boot-Mythos, so könnte man es paraphrasieren, verarbeitet typi-
                                   sche Aspekte des menschlichen Lebens: Er setzt sich mit bekannten Äng-
                                   sten auseinander und erlaubt so Einfühlung in die fiktionalen Szenarien.
                                   Michael Hadley stimmt dem zu, indem er sagt, dass „das Thema deshalb
                                   eine solche Anziehungskraft besitzt, weil es Gefühle weckt […].“43 Die Fas-
                                   zination mag aber tiefere Gründe haben. U-Boot-Narrative scheinen näm-
                                   lich ein ideales Medium für Künstler und Autoren zu sein, um sich mit
                                   Thematiken zu befassen, die an grundsätzliche Fragen über die Gesell-
                                   schaft appellieren. Das U-Boot wirkt mit anderen Worten als metaphori-
                                   sche Projektionsfläche für die zentralen soziopolitischen und kulturellen
                                   Themen der Gesellschaft. Die genrespezifischen diskursiv-metaphori-
                                   schen Merkmale von U-Boot-Romanen eignen sich insbesondere für Pro-
                                   blematiken, die mit Geheimhaltung, Risiko, Sicherheit und Überwachung
                                   zusammenhängen. Hier seien einige Ansätze zu einer weiteren Erfor-
                                   schung dieser Themen genannt.
                                       Johannes Voelz hat die These formuliert, dass „the logic of security
                                   has come to pervade virtually all areas of life.”44 Drohungen, Gefahren
                                   und ein generelles Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft bestimmen
                                   folglich den Sicherheitsdiskurs, den Literatur für ihre fiktionalen Szenarien
                                   ausnutzt. Jeder will sich in der Gesellschaft sicher fühlen und verwendet
                                   deshalb Strategien, um ein Sicherheitsgefühl zu konstruieren. Bereits Bar-
                                   thes wies in diesem Zusammenhang auf die Parallele mit Schiffen hin, die

                                   42 Koldau: Mythos U-Boot, S. 75.
                                   43 Hadley, Mythos der deutschen U-Bootwaffe, S. 155. Hervorhebung im Original.
                                   44 Voelz, Johannes: The Poetics of Insecurity. American Fiction and the Uses of Threat. Cambrid-
                                      ge: Cambridge University Press. S. 4.

                                                                                                                             155
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Lieven Raymaekers

                                   sich auch auf U-Boote übertragen lässt: „Die Liebe zu Schiffen ist immer
                                   das Vergnügen, sich vollkommen einzuschließen, die größtmögliche An-
                                   zahl von Gegenständen unter Kontrolle zu haben, über einen absolut end-
                                   lichen Raum zu verfügen.“45 Charakteristisch für U-Boot-Romane ist die
                                   Spannung zwischen einem sicheren Mikrokosmos und einem gefährlichen
                                   Makrokosmos. Diese Spannung wird auf zwei Ebenen thematisiert: Einer-
                                   seits gibt es den Gegensatz zwischen dem U-Boot (Mikrokosmos) und
                                   den unendlichen und unbekannten Gefahren des Meers (Makrokosmos).
                                   Dabei handelt es sich nicht nur um den Kampf zwischen U-Booten und
                                   feindlichen Schiffen, sondern auch um den zwischen dem U-Boot und
                                   dem Meer (wie dem Wasserdruck). Andererseits gibt es die Spannung zwi-
                                   schen jedem Einzelnen an Bord (Mikrokosmos) und den ihn überwachenden
                                   anderen, die seine Individualität und psychische Stabilität bedrohen (Ma-
                                   krokosmos).
                                       Innerhalb des Mikrokosmos herrscht dadurch ein Sicherheitsgefühl,
                                   dass jedes Mitglied der Besatzung sein Boot und seine Rolle darin kennt.
                                   Diese innere Gesellschaft verstehen und kontrollieren sie. Diese Sicherheit
                                   aber ist prekär, denn sie wird andauernd durch undefinierbare Drohungen
                                   gefährdet. Die größte Kraft des Boots besteht darin, dass es sich unsicht-
                                   bar machen kann, und so vor den Gefahren des Meeres schützt. Das Boot
                                   ist aber nur ein sicherer Ort, solange es nicht entdeckt wird. Um diese
                                   Sicherheit zu gewährleisten, setzt die Besatzung eine Reihe von Immuni-
                                   sierungsstrategien ein, die das Boot vor der unsichtbaren/unbekannten
                                   Drohung schützen. Der Ausguck, der den Alarm auslöst, wenn Gefahr
                                   droht, ist nur ein konkretes Beispiel dafür. Die Trennlinie aber, die zwi-
                                   schen Immunisierungsstrategien verläuft, die schützen, und solchen, die
                                   zu einer destruktiven Autoimmunität führen, erweist sich als äußerst fragil.
                                   Wendy Brown hat gezeigt, wie Staaten immer mehr Grenzen konstruieren,
                                   um sich vor dem Unsichtbaren/Unbekannten zu schützen. Letztlich führt

                                   45 Barthes: Mythen des Alltags, S. 105.

                                   156
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   dies aber dazu, dass Staaten sich selbst einschließen.46 In der U-Boot-Lite-
                                   ratur zeigt sich diese Autodestruktivität im nervlichen Zusammenbruch
                                   der Figuren, die die Drohung des Unbekannten nicht mehr verkraften
                                   können.
                                       Diese Spannung muss gleichzeitig von der anderen Seite her betrachtet
                                   werden, denn Nationen wollen sich ebenso vor feindlichen U-Booten
                                   schützen. Im Kalten Krieg konnten nukleare U-Boote zum Beispiel etwa
                                   20 atomare Flugkörper mit sich tragen, die ganze Städte vernichten konn-
                                   ten, und darüber hinaus scheinbar endlos – solange Süßwasser und Nah-
                                   rung vorhanden waren – unter der Wasseroberfläche (und damit unsicht-
                                   bar) bleiben. Andererseits gab es keinen offenen Krieg; die Boote wurden
                                   vorwiegend als politisches Druckmittel verwendet. Hier zeigt sich auch
                                   das Motiv der Geheimhaltung: Nationen überwachen ständig das Meer, um
                                   feindliche Boote zu finden. Offiziell weiß nur das Land, dem das Boot
                                   gehört, wo es sich befindet und was seine Aufgaben sind. Durch Spionage
                                   kennen auch die feindlichen Nationen die Position des Bootes, was sie
                                   aber nicht öffentlich machen. Sie können hingegen nur raten, was die Auf-
                                   gaben des Bootes sind, und daraus entsteht eine besonders unheimliche
                                   Lage.
                                       Diese kennzeichnende Spannung von U-Boot-Narrativen verbindet
                                   sich mit dem Thema der Sicherheit des Staates und des Individuums. Ro-
                                   berto Espositos47 Immunitätsparadigma bietet einen konzeptuellen Rahmen,
                                   mit dem sich die literarischen Darstellungen des Sicherheitsthemas in U-
                                   Boot-Romanen beschreiben lassen. Mit diesem Paradigma bezeichnet er
                                   das Verfahren, in dem – genauso wie beim medizinischen Eingriff der
                                   Inokulation – ein an sich ungefährlicher Anteil einer Gefahr in die Gesell-
                                   schaft eingebracht wird, damit sich die Gesellschaft schützen kann, wenn
                                   die Gefahr in voller Kraft erscheinen sollte. Johannes Türk zufolge gilt das

                                   46 Brown, Wendy: Walled States, Waning Sovereignty. New York: Zone Books, distributed
                                      by the MIT Press ²2017.
                                   47 Esposito, Roberto: Bíos. Biopolitics and Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota
                                      Press 2008.

                                                                                                                          157
                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
                                                  © 2020 Universitätsverlag WINTER GmbH Heidelberg

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Lieven Raymaekers

                                   Gleiche für Literatur, wenn er schreibt, dass Inokulation die Basis der mo-
                                   dernen Literatur bilde: „Ähnlich wie bei der Pockenimpfung werden Zu-
                                   mutungen bewältigt, indem man sie heraufbeschwört.“48 Autoren bringen
                                   mit anderen Worten eine ungefährliche Menge Negativität (wie eine sozio-
                                   politische/-kulturelle Problematik) in die Literatur ein, mit der sich die Le-
                                   ser auseinandersetzen müssen, um sich vor der wirklichen Negativität zu
                                   schützen: „Wir erfahren, um gegen den Stimulus der Erfahrung geschützt
                                   zu sein.“49 Dieses Immunisierungsverfahren verbindet sich auch mit dem
                                   heute omnipräsenten Risikodiskurs. Ulrich Beck spricht in diesem Rah-
                                   men von einer „Weltrisikogesellschaft“, in der Menschen andauernd vor
                                   irgendeiner nicht definierbaren Gefahr in der Zukunft Angst haben.50 Ihm
                                   zufolge hat sich die Allgegenwart dieses Risikodenkens auch in der
                                   Literatur durchgesetzt. Er legt dabei nahe, dass sich Espositos Immu-
                                   nitätsparadigma in Romanen in der Form von Risikobewältigung wieder-
                                   findet, indem er sagt, dass „auch der Romancier […] die Ambivalenzen
                                   der Risikomoderne [erkundet].“51 Autoren beschreiben mit anderen Wor-
                                   ten eine mögliche Auswirkung eines bestimmten Risikos, damit die Leser
                                   lernen können, sich davor zu schützen. Auf das U-Boot-Motiv angewen-
                                   det: Was würde beispielsweise passieren, wenn ein Besatzungsmitglied we-
                                   gen der andauernden psychologischen Spannung ‚durchdreht‘?
                                       Auch das Thema der Überwachung spielt in doppelter Hinsicht eine
                                   wesentliche Rolle. Zunächst ist es die wichtigste Aufgabe eines Boots,
                                   trotz der ständigen Überwachung durch feindliche Nationen unentdeckt
                                   zu bleiben. Andererseits müssen 40 bis 50 Männer in einem Boot auf en-
                                   gem Raum zusammenleben – in einem nuklearen U-Boot sogar bis zu 100
                                   Männer. Das bedeutet also, dass jeder ständig von jedem beobachtet wird
                                   und dass von einem Privatbereich nicht die Rede sein kann. Die Parallele

                                   48 Türk, Johannes: Die Immunität der Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer 2011. S. 10.
                                   49 Ebd., S. 11.
                                   50 Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M:
                                      Suhrkamp 2007. S. 27-28.
                                   51 Ebd., S. 21.

                                   158
                                                Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Vom mythischen Vehikel zum Paradigma gesellschaftlicher Themen

                                   mit der Prekarität der Privatsphäre in der modernen Gesellschaft ist leicht
                                   erkennbar, wie Zygmunt Baumans Idee der „Liquid Surveillance“52 deut-
                                   lich macht. Mit diesem Begriff meint Bauman, dass es heute unmöglich
                                   geworden ist, nicht irgendwie von irgendjemandem überwacht zu werden.
                                   Kameras, Mikrochips in Bankkarten und ähnliche Technologien verfolgen
                                   jeden jederzeit. Die in modernen Gesellschaften allgegenwärtigen Beob-
                                   achtungs- und Tracking-Techniken finden sich auch in U-Boot-Narrati-
                                   ven, wie die ständige Präsenz des überwachenden Anderen bezeugt.
                                        Zur gleichen Zeit befinden sich alle Besatzungsmitglieder in derselben
                                   Lage und müssen versuchen in diesem Raum der Gleichheit eine eigene
                                   Identität zu erzeugen. Das Boot ist dabei ein überaus männlicher
                                   Gegenstand:53 Seine phallische Form und die Tatsache, dass es lange nur
                                   Männer an Bord gab (Nico Sutter spricht von einer „verschworenen Män-
                                   nergemeinschaft“54), weisen darauf hin, dass die Männer versuchen müs-
                                   sen, ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Ähnlich wie Klaus Thewe-
                                   leit in Männerphantasien55 in Bezug auf die Freikorpssoldaten darlegt, mani-
                                   festiert sich dieses Streben nach einer eigenen Identität als ständige Über-
                                   bietung (aber damit auch allmähliche Dekonstruktion) eines stereotypen
                                   Männlichkeitsideals. Das oben erwähnte „Thema Nummer eins“ sorgt
                                   nämlich nicht nur dafür, dass die Marineleute ihre Nervenruhe behalten
                                   können, sondern auch, dass sie sich dem (fast klischeehaften) Bild des
                                   männlichen, patriotischen, opferbereiten, aber auch angeberischen und
                                   machohaften Soldaten anpassen können.56 Darüber hinaus verdrängen die

                                   52 Bauman, Zygmunt und David Lyon: Liquid Surveillance. A Conversation. Cambridge:
                                      Polity Press 2012.
                                   53 Das Hineinschieben der Torpedos in die Rohre wird im Roman zum Beispiel mit Pe-
                                      netration verglichen: „Schön Vaseline drauf und dann rein in die Fotze!“ (B 388).
                                   54 Sutter: Der U-Boot Mythos, S. 79.
                                   55 Theweleit, Klaus. Männerphantasien. Berlin: Matthes & Seitz 2019.
                                   56 Auch wenn die Besatzung in Das Boot die Wasserbombenangriffe zum Beispiel zutiefst
                                      fürchtet, darf sie diese Angst nicht zeigen, weil dies nicht dem Ideal des machohaften

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                                               Germanistische Mitteilungen, Jahrgang 46 (2020), Ausgabe 46
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Lieven Raymaekers

                                   Soldaten alles, was diesem Ideal nicht entspricht (wie Schwule, Religiöse
                                   oder Kinder von reichen Eltern).57 Daraus entsteht das Bild des uner-
                                   schrockenen Soldaten, der sich nie seinen persönlichen Ängsten hingibt,
                                   sondern immer „bolzengerade in der Brücke“ steht und so tut „als wäre
                                   die ganze Unternehmung nichts Besonderes gewesen“ (B 16). In diesem
                                   Rahmen könnte man von einem Theatermotiv in U-Boot-Romanen
                                   sprechen: Die Besatzungsmitglieder müssen ständig ein Theaterstück
                                   aufführen, indem sie ihre Ängste verbergen und nie zeigen, wie sie sich
                                   wirklich fühlen. Sie tragen nämlich die Uniform eines U-Boot-Soldaten
                                   und dürfen die damit einhergehende symbolische Macht, die auf dem
                                   besagten klischeehaften Bild basiert, nicht durchbrechen.

                                   Der vorliegende Beitrag hat zu zeigen versucht, dass eine Analyse der
                                   Strategien, mit denen eine Gesellschaft an Bord des Boots konstruiert
                                   wird, Analogien zum Umgang der zeitgenössischen Gesellschaft mit The-
                                   men wie Geheimhaltung, Risiko, Sicherheit und Überwachung aufweist.
                                   Die hier nur kurz umrissenen Erklärungsansätze und Hypothesen wären
                                   ein vielversprechender Ausgangspunkt für künftige Forschung.

                                      Soldaten entsprechen würde: „Aufgeführt wird in unserem seegängigen Laientheater
                                      ein Stück von Unerschrockenheit, Kaltschnäuzigkeit und Heldenmut […]“ (B 210).
                                   57 So sind der reiche erste Wachoffizier und der Bibelforscher in Das Boot immer wieder
                                      Zielscheiben des Spotts.

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