Speicheldiagnostik und die erweiterte ökologische Plaquehypothese - Eine Standortbestimmung
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ZAHNERHALTUNG Speicheldiagnostik und die erweiterte ökologische Plaquehypothese – Eine Standortbestimmung Lutz Laurisch Indizes Erweiterte ökologische Plaquehypothese, Speicheltest, Kariesrisiko, Streptococcus mutans, Laktobazillen, diagnosebasierte Individualprophylaxe, funktionelle Speichelparameter, Kariesrisikodiagnostik Zusammenfassung Welche Faktoren spielen bei der Kariesentstehung eine relevante Rolle und wie lassen sie sich zum Nutzen der zahnmedizinischen Versorgung identifizieren? Die Entstehungshypothesen zur Ätiologie und Pathogenese der Karies (Plaquehypothesen) haben sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt. Parallel wurde kontinuierlich nach entsprechend geeigneten Risikoparametern gesucht, um im klinischen Alltag das Erkrankungsgeschehen vorhersagen zu können. Mikrobielle und funktionelle Speichelparameter werden in diesem Zusammenhang als Bestandteil einer Kariesrisikodiagnostik intensiv diskutiert. Die Weiterentwicklung der Plaquehypothesen hat dabei zwangsläufig auch Veränderungen in der Interpretation der Befunde zur Folge, die durch eine Speicheldiagnostik erlangt werden. Der Artikel fasst die Entwicklungen und Interpretationen der Speicheldiagnostik in den letzten Jahrzehnten zusammen und gibt Hinweise dazu, wie die erlangten Befunde im Konzept der erweiterten ökologischen Plaquehypothese zu interpretieren sind. Allein die Präsenz von Plaque kann nicht die alleinige Diagnose zur Indikation und Durchführung präventiver Maßnahmen sein. Eine umfassende Risikodiagnostik und Einbeziehung aller wichtigen Parameter sollte immer die Grundlage für die zu planenden Behandlungsmaßnahmen darstellen. Einleitung sigkeit, da der Patient, der klinisch sichtbare kariöse Läsionen hat, auch mit hoher Wahrscheinlichkeit Individualprophylaxe grenzt sich historisch gesehen neue Karies bekommen wird. zur Gruppenprophylaxe ab. Da sich letztere zuerst Doch genau die Entstehung einer neuen kariösen in der Zahnheilkunde etabliert hat, wurden mit Läsion soll durch die Individualprophylaxe ver der Einführung der Individualprophylaxe viele Ele hindert werden. Hier geht es um die Behand- mente der Gruppenprophylaxe in die zahnärztliche lung des Erkrankungsrisikos und nicht um die Praxis übernommen. Eine dieser übernommenen Behandlung der Erkrankung selbst16 (Tab. 1). In Strategien ist die Bestimmung der aktuellen Karies sofern sind die Kriterien der Deutschen Arbeits gefährdung anhand der vorliegenden Kariespräva gemeinschaft für Jugendzahnpflege e. V. (DAJ) lenz – ein Rückschluss aus der vergangenen Karies nicht hilfreich. Etwas ausführlicher sind die Defini erfahrung auf das gegenwärtige oder zukünftige tionen der „American Dental Association“ (ADA)88 Risiko. Dies gelingt mit einer relativ hohen Zuverläs (Tab. 2). 118 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch Tab. 1 Kariesrisikoeinteilung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e. V. (DAJ). Alter dmf(t) bzw. DMF(S) bis 3 Jahre dmf(t) > 0 bis 4 Jahre dmf(t) > 2 bis 5 Jahre dmf(t) > 4 6 bis 7 Jahre dmf(t) > 5, D(T) > 0 8 bis 9 Jahre dmf(t) > 7, D(T) > 2 10 bis 12 Jahre DMF(S) an Approximal-/Glattflächen > 0 Tab. 2 Kariesrisikodefinitionen der „American Dental Association“ (ADA). Niedriges Kariesrisiko bei Mittleres Kariesrisiko Hohes Kariesrisiko Jugendlichen • keine kariösen Läsionen im letzten • 1 kariöse Läsion im letzten Jahr • mehr als 2 kariöse Läsionen im letzten Jahr • tiefe Grübchen und Fissuren Jahr • morphologisch günstige Form der • mittelmäßige Mundhygiene • frühere Glattflächenkaries Grübchen und Fissuren • inadäquate Fluoridanwendung • erhöhte Streptoccocus-mutans- • gute Mundhygiene • weiße Flecken und/oder approximale Werte • angemessene Fluoridanwendung Radioluzenzen • tiefe Grübchen und Fissuren • regelmäßiger Zahnarztbesuch • unregelmäßiger Zahnarztbesuch • schlechte Mundhygiene • kieferorthopädische Behandlung • keine oder kaum Fluoridanwendung • weiße Flecken und/oder approximale Radioluzenz • häufiger Süßigkeitenverzehr • unregelmäßiger Zahnarztbesuch • zu geringer Speichelfluss • zu lange Babyflaschennahrung oder zu langes Stillen (Kleinkinder) Tab. 3 Kariesrisikodefinitionen bei Kleinstkindern laut aktueller Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses [G-BA] über die Früherkennungsuntersuchungen auf Zahn, Mund- und Kiefererkrankungen (FU-RL). Alter bis dmf(t) 3 Jahre dmf(t) > 0 4 Jahre dmf(t) > 2 5 Jahre dmf(t) > 4 6 Jahre dmf(t) > 5 Die aktuelle Richtlinie des gemeinsamen Bundes Wie sollen aber solche strukturierten Prophylaxe ausschusses über die Früherkennungsuntersuchun programme aussehen und auf welchen diagnosti gen auf Zahn, Mund- und Kiefererkrankungen (FU-RL) schen Grundlagen sollten sie aufbauen? Insbeson definiert das Kariesrisiko bei Kleinstkindern wie in dere wenn diese „das Ziel der Keimzahlreduktion Tabelle 3 angegeben24. Gleichzeitig bestätigt aber die durch geringeren Konsum zuckerhaltiger Speisen“ S2k-Leitlinie zur Kariesprophylaxe bei bleibenden haben24. Grundsätzlich ist auch zu hinterfragen, ob Zähnen, dass „insbesondere Patienten mit einem er es für die präventiv ausgerichtete Zahnarztpraxis höhtem Kariesrisiko die Teilnahme an strukturierten sinnvoll ist, das Kariesrisiko anhand des Karies Prophylaxeprogrammen empfohlen werden“ sollte. befalls in der Vergangenheit zu bestimmen18. QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 119
ZAHNERHALTUNG Abb. 1 Aufbringen einer Speichelprobe mittels Holzspatel auf einen Agar (hier CRT bacteria, Fa. Ivoclar Vivadent, Ellwangen). Eine exakte Diagnose – Entwicklung des Nachweises von Basis aller zahnärztlichen Streptococcus mutans im Speichel Behandlungen Lange nach der Erstbeschreibung von SM durch Nachdem Willoughby Dayton Miller seine chemo Clarke13 entwickelte Gold einen selektiven Agar zum parasitäre Theorie der Kariesentstehung vorgestellt Nachweis von SM. Er setzte einem Mitis-Salivarius- hatte, beschäftigten sich wissenschaftliche Unter Agar Bacitracin (MSB-Agar) hinzu und nutzte so die suchungen mit der Plaque bzw. dem Biofilm und Tatsache aus, das SM unempfindlich gegenüber den darin vorkommenden Bakterien60. Daraus ent Bacitracin ist. Allerdings ist die Haltbarkeit eines wickelte sich die unspezifische Plaquetheorie, die solchen Agars begrenzt, da sich Bacitracin schnell postulierte, dass Plaque per se kariogen ist. Die un abbauen kann25. spezifische Plaquehypothese sah die Erkrankung als Zur Übertragung der Keime von der Mundhöhle ein Zusammenspiel aller Plaquemikroorganismen auf den Agar entwickelten Köhler und Bratthall die an, wobei mehr Biofilm auch mehr Erkrankung be sogenannte Holzspatelmethode, bei der mittels deutete. Kariespräventive Strategien zielten daher „Abklatschtechnik“ Speichel auf einen Nährboden auf die regelmäßige Plaqueentfernung. Dieses aufgebracht wurde39 (Abb. 1). Konzept spiegelt sich auch heute noch in der Tat Alaluusua und Jorden entwickelten 1984 einen sache wider, dass vielerorts der Patient angehalten Dipslide-Test, bei dem auf einen normalen Mitis- wird, regelmäßig zu einer professionellen Zahn Salivarius-Agar eine Bacitracin-Tablette gelegt wur reinigung – als alleinige Leistung – in der Praxis zu de. Aufgrund der Unempfindlichkeit gegenüber erscheinen. Bacitracin wuchsen in der bacitracinhaltigen Um Diese unspezifische Plaquetheorie wurde später gebung um die Tablette – dem sogenannten Hemm durch die spezifische Plaquehypothese abgelöst. hof – ausschließlich SM. Hiermit umging man die Sie postulierte, dass die bakterielle Zusammenset reduzierte Haltbarkeit des Mitis-Salivarius-Bacitracin- zung der Plaque entscheidend für die Kariesent Agars von nur einigen Wochen. Mittels eines Charts stehung ist und nicht die Plaque per se55,83,82. konnte die Konzentration an SM im Speichel eva Als maßgebliche und wichtigste Keime wurden luiert werden2 (Abb. 2 bis 5). Laktobazillen (LB) und Streptococcus mutans (SM) Laurisch adaptierte den allgemein bekannten identifiziert. Infolge dessen entwickelten sich verein 3-Ösen-Strich für den Nachweis von SM auf einer fachte bakteriologische Untersuchungen – gemein Agarplatte. Bei dem sogenannten 3-Ösen-Strich wird hin als „Speicheltest“ bezeichnet – mit dem Ziel, die mit einer Öse (1 µl) Speichel nach einer besonderen Keime auf einfache Art in ihrer Präsenz und Menge Technik auf einem Agar ausgestrichen. Anhand der nachzuweisen. „Keimverschleppung“ konnten Rückschlüsse auf den SM-Gehalt der Speichelprobe gezogen werden48 (Abb. 6 und 7). 120 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch Abb. 2 Deutlich sichtbarer Hemmhof. Abb. 3 Kein Hemmhof, hohe Koloniedichte an Streptococcus mutans (SM). a b a b Abb. 4a und b sowie 5a und b Auswertungschart. Abb. 6 Nachweis von Laktobazillen (LB) auf Rogosa-Agar (3-Ösen-Strich). Abb. 7 Nachweis von SM auf Mitis-Salivarius-Bacitracin (MSB)-Agar (3-Ösen-Strich). Aufgrund des von Alaluusua et al. nachgewies Produktion und Vertrieb dieses Testverfahrens wur enen Adhärenzvermögens von SM an Glasröhrchen den vor einiger Zeit eingestellt. und Plastikstäbchen entwickelten Jensen und Bratthall Durch weitere Modifikation des Agars ent- an der Universität in Malmö den Dentocult SM wickelte Laurisch 1997 einen hochselektiven Agar Strip Mutans, der anschließend von Fa. Orion für SM durch Anhebung der Zuckerkonzentration Diagnostica in Espoo (Finnland) produziert wurde. auf 41 %. Dieser wurde zusammen mit einem Hierbei wurde ein Plastikspatel über die Zunge Rogosa-Agar zum Nachweis von LB nach einem gestrichen und anschließend in einem Flüssig speziellen Verfahren auf einen folienversiegelten nährmedium bebrütet. Anhand der Kolonien (blau) „Double dip“ aufgebracht. Der folienversiegelte konnte ein Rückschluss auf die im Speichel enthal „Double dip“ ging zurück auf ein Patent der Fa. tene Menge an SM gemacht werden28 (Abb. 8 bis 11). Madaus in Köln. Die Folienversiegelung verlängerte QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 121
ZAHNERHALTUNG Abb. 8 Der Plastikspatel wird über die Zunge gestrichen. Abb. 9 Durch die leicht geschlossenen Lippen wird der mit Speichel beimpfte Plastikspatel herausgezogen. Abb. 10 Wenig Nachweis von SM (blaue Kolonien auf Abb. 11 Viel Nachweis von SM auf dem Plastikspatel. dem Spatel). Vertrieb des Testes eingestellt hat, wird dieser Test seit 2018 von der Fa. Aurosan (Essen) als Karies ScreenTest auf der ursprünglichen Produktions maschine von Fa. Madaus produziert32–34,51 (Abb. 12). Nach der Gewinnung einer Speichelprobe wird dieser mit einer Pipette auf die Nährböden des „Double dip“ verbracht. Nach einer Bebrütungszeit von 48 Stunden können die Keimzahlen anhand eines Chartdiagrammes abgelesen werden (Abb. 13 bis 15). 2009 brachte Fa. GC Germany (Bad Homburg) Saliva-Check Mutans zum Nachweis von SM unter Abb. 12 „Double dip“ zum Nachweis von SM und LB, Verwendung monoklonaler Antikörper auf den Rogosa-Agar (helle Seite) und SM-modifizierten MSB-Agar Markt. Das Ergebnis konnte innerhalb von 15 Min. (dunkle Seite, Abb. mit freundlicher Genehmigung von abgelesen werden. Allerdings lag die Nachweis Fa. Ivoclar Vivadent, Ellwangen). grenze bei 500.000 Keimen SM/ml Speichel. Damit war das Einsatzgebiet sehr beschränkt. Der Test war sowohl in der frühkindlichen Prophylaxe als auch die Haltbarkeit des MSB-Agars auf über 12 Monate, bei der Verlaufskontrolle von Patienten im Recall da sich das Bacitracin aufgrund des Luftabschlusses nicht einsetzbar. Der Vertrieb des Testverfahrens nicht abbauen konnte. Dieses Nachweisverfahren wurde inzwischen eingestellt (Abb. 16 und 17). wurde von Fa. Ivoclar Vivadent (Ellwangen) mit dem Angeboten wird nur noch der Saliva-Check Buffer Namen CRT bacteria in der Zahnheilkunde angebo (Fa. GC) zur Bestimmung funktioneller Speichel ten. Nachdem Ivoclar Vivadent die Produktion und parameter. Diese umfassen pH-Wert, die Sekretions 122 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch Bestimmung bakterieller Speichelparameter mit dem KariesScreenTest „Double dip“ beide Agare NaHCO3 auf zwei Tage entnehmen und vollständig mit Speichel den Boden des Inkubationszeit bei Folie abziehen benetzen Röhrchens legen 37° C mit Auswertungschart geringe Koloniedichte hohe Koloniedichte geringe Koloniedichte hohe Koloniedichte vergleichen Streptococcus mutans Laktobazillen Abb. 13 Auswertung der gewonnenen Speichelprobe mit dem vormals als CRT bacteria (Fa. Ivoclar Vivadent, Ellwangen) vertriebenen KariesScreenTest (Fa. Aurosan, Essen). Abb. 14 Auswertungschart für LB (von 1.000 bis Abb. 15 Auswertungschart für SM (von 1.000 bis 1.000.000, von links). 1.000.000, von links). rate und die Pufferkapazität des Speichels (Abb. 18). Bedeutung funktioneller Seit dem Jahr 2018 gibt es auch den Karies Speichelparameter ScreenTest + P (Fa. Aurosan). Dieser gestattet zu sätzlich zur Bestimmung der bakteriellen Speichel Sekretionsrate parameter SM und LB auch die Bestimmung der Durch die Bestimmung der Speichelfließrate wird funktionellen Speichelparameter. Erstmal ist somit erkennbar, ob ausreichend Speichel vorhanden ist. ein komplettes Diagnostik-Tool zur Bestimmung Die natürliche Schutzfunktion des Speichels, die Spül subklinischer Risikofaktoren verfügbar (Abb. 19 funktion, der Verdünnungseffekt bei einer Zucker und 20). aufnahme, der Abtransport und die Verfügbarkeit QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 123
ZAHNERHALTUNG Abb. 16 Saliva-Check Mutans (Fa. GC, Bad Homburg) hohes Risiko SM > 500.000 niedriges Risiko Abb. 17 Auswertungsmöglichkeiten innerhalb von 15 Min., Schwellen wert 500.000 CFU/ml. Abb. 18 Pufferkapazitätstest Saliva- Check Buffer (Fa. GC). Abb. 19a bis h KariesScreenTest + P a b c d e (Fa. Aurosan) als vollständiges Untersuchungs-Tool zur Bestimmung bakterieller und funktioneller Speichelparameter: „Double dips“ zum Nachweis von SM und LB (a), Röhrchen zum Sammeln des gewon- nenen Speichels mit gleichzeitiger Kalibrierung zur Bestimmung der Se- kretionsrate (b), Indikatorlösung zur Bestimmung der Pufferkapazität (c), 1-Milliliter-Pipette zur Aufnahme des Speichels aus der Speichelprobe (zur Vermischung mit der Testlösung (d), Paraffinkapseln zur Speichelstimula- tion (e); pH-Wert-Messstreifen zur Bestimmung des Speichel-pH-Wer- tes (f), pH-Wert-Messstreifen zur Bestimmung der Pufferkapazität (g), Natriumbikarbonattablette zur Schaf f g h fung eines mikroaerophilen Milieus bei der Bebrütung des „Double dips“ (h). 124 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch Abb. 20 KariesScreenTest + P (ehemals CRT bacteria). von Mineralien für die Remineralisation sowie die Sehr gute Pufferkapazitäten haben einen pH- Clearance-Rate hängen von der verfügbaren Spei Wert von > 6, gute liegen zwischen 5 und 6 und chelmenge ab40,41,44,49,50,52. Die Sekretionsrate sollte schlechte Pufferkapazitäten weisen einen pH-Wert bei etwa 1 ml/Min. liegen. Werte darunter vermin von < 5 auf. dern die Clearance-Rate und das Remineralisations Der Natriumbikarbonatgehalt des Speichels ist potenzial und sind somit kariesbegünstigend. auch abhängig von der Sekretionsrate. Hohe Se kretionsraten bedingen immer auch gute Puffer pH-Wert kapazitäten21. Der Ruhe-pH-Wert des Speichels kann mit Indikator- Testpapier ermittelt werden (z. B. in Saliva-Check Buffer, Veränderung in der Interpretation KariesScreenTest + P). Der Ruhe-pH-Wert sollte hö her oder gleich 7 liegen, vor allem bei freiliegenden Mit den sich immer weiter entwickelnden Kariesätio Wurzeloberflächen, bei denen die Demineralisation logiekonzepten veränderte sich auch die Interpreta bereits bei einem pH-Wert von 6,7 einsetzt. tion der durch das Testverfahren erlangten Daten. Die Akzeptanz der spezifischen Plaquehypothese Pufferkapazität führte dazu, dass das Kochsche Postulat auf die Ka Die Pufferkapazität stellt einen entscheidenden riesgenese übertragen wurde. Mithin glaubte man, Schutzmechanismus der Mundhöhle gegenüber dass der alleinige Nachweis von SM eine zuverläs Nahrungs- und Plaquesäuren dar und steht in Be sige Aussage machen könnte über das Kariesrisiko ziehung zur Speichelfließrate. So zeigen sich bei ver des Patienten. Diese Meinung wurde jedoch weniger ringerter Speichelfließrate reduzierte Pufferkapazi in der Wissenschaft vertreten als in den Konzepten täten21 in Verbindung mit einem entsprechenden zur Vermarktung des Dentocult SM Strip Mutans- Kariesbefund. Testes. Mit der Einführung des Begriffes „Individuel Eine gute Pufferkapazität ist in der Lage, anfallen les Kariesrisiko“ hielten jedoch schon früh zeitig de Nahrungs- und Plaquesäuren in der Mundhöhle Konzepte Einzug, in denen die bakteriellen Speichel zu neutralisieren. Für die Stabilität des pH-Wert- parameter als nur ein Aspekt eines multikausalen Milieus in der Mundhöhle hat die Pufferkapazität Geschehens dargestellt wurden43,44,47. daher eine wichtige Funktion. Eine häufige Zufuhr Während sich die Interpretation der aufgefunde saurer Nahrungsmittel führt zu einem stärkeren pH- nen SM-Zahlen im Speichel in Abhängigkeit von der Wert-Abfall in der Mundhöhle. Die Pufferkapazität gültigen Kariesgenese änderte, blieb die Interpre des Speichels reicht für die Neutralisation dieser tation der gefundenen LB-Zahlen seit 80 Jahren größeren Säuremenge nicht mehr aus56,86. gleich27. QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 125
ZAHNERHALTUNG Damit steht seit 1975 der zahnärztlichen Praxis ein geeignetes diagnostisches, wissenschaftlich ab gesichertes Verfahren zur Verfügung, den Konsum fermentierbarer Kohlenhydrate des Patienten fest zustellen und vor allem im Rahmen einer Recall betreuung des Patienten wiederholt zu überprüfen. Damit besteht eine Möglichkeit, in der Ernährungs Abb. 21 Dentocult LB (Fa. Orion Diagnostica, Espoo, beratung die Compliance des Patienten zu ermit Finnland) nach Bebrütung. teln11,27,30,64. Seit 1997 ist der Nachweis von LB auf einem Rogo sa-Agar Bestandteil des „Double dips“ zum Modellchart: Laktobazillen Nachweis von SM und LB (KariesScreenTest, früher CRT bacteria). Zur Interpretation der Streptococcus mutans-Zahlen Grad 1 Die derzeit akzeptierte erweiterte ökologische Plaquehypothese berücksichtigt die Tatsache, dass auch Karies entstehen kann, ohne dass eine relevan te Menge an SM nachweisbar ist. Damit steht dieses Grad 2 ökologische Konzept im Widerspruch zur „Infektions theorie“ der spezifischen Plaquehypothese7,14,66,75. Von Interesse ist dennoch immer die Erstbe siedelung der kindlichen Mundhöhle in den ersten 2 Lebensjahren. Die Erstbesiedelung mit SM ist Grad 3 abhängig von der Keimzahl der Mutter bzw. dem Mikrobiom der Eltern8,9 oder Pflegepersonen. Als Schwellenwert von SM wurde von Berkowitz 500.000 CFU/ml Speichel ermittelt8. Eine Etablierung von SM in der kindlichen Mund Grad 4 höhle ist jedoch nur bei ausreichender Nahrungs grundlage in Form von fermentierbaren Kohle Abb. 22 Auswertungschart des Dentocult LB. hydraten möglich68. Hier ist also in erster Linie die Compliance der Eltern gefragt9,12,68. Thenisch konnte 2006 in einer systematischen Jay ermittelte 1947, dass eine Zuckerreduktion Übersichtsarbeit bei der Auswertung von 981 Ver zur Senkung der LB-Zahlen führte, nachdem er 1944 öffentlichungen zeigen, dass der Nachweis von SM schon auf die Zusammenhänge zwischen Ernährung im Speichel im Alter von 2 Jahren eine Verdop und Karies hingewiesen hatte26. Kitchin beobachtete pelung bzw. der Nachweis in der Plaque (Plaque das Gleiche bei einer über 3 Jahre laufenden Einzel abstrich) eine Vervierfachung des Kariesrisikos be fallstudie30. Die Entwicklung des Rogosa-Agars deutet. Bei Kindern, die mit 30 Monaten einen durch Rogosa 1951 vereinfachte den Nachweis von positiven Kariesbefund haben, wurde SM immer LB71. Larmas entwickelte 1975 dann den dazu pas frühzeitig nachgewiesen9,67,68,85. senden Dipslide zum weiter vereinfachten Nach Allein die Verdoppelung des Kariesrisikos bei weis. Als Referenz diente wiederum ein Auswer Nachweis von SM in der Plaque weist darauf hin, tungschart45 (Abb. 21 und 22). dass es ein Unterschied ist, ob SM nur im Speichel 126 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch vorhanden ist oder bereits in der Plaque. Im Spei chel hat SM zwar keinen direkten Einfluss auf die Kariesaktivität, gestattet aber Rückschlüsse auf die SM-Zahlen in der Plaque. Allerdings gibt es hier oft unerwartete Abweichungen. Diese Abweichungen können sich aber auch flächenspezifisch an den Zähnen ergeben. Dies ist abhängig von der Karies aktivität an der untersuchten Stelle, wobei die ka riesaktiven und die kariesinaktiven Stellen durchaus nahe beieinander liegen können19,74,76. Frühere Untersuchungen der oralen Mikrobiota stützten sich maßgeblich auf kulturbasierte Metho den zur Bestimmung der Keime. Somit ist es auch möglich, dass verfeinerte DNA- oder RNA-Untersu chungsmethoden größere Abweichungen in Zukunft Abb. 23 Plaqueabstrich bei Kindern. ergeben könnten. Das ändert aber im vorliegenden Fall nichts an der Tatsache, dass DNA-Sonden methoden oder auch Methoden unter Verwendung der „Polymerase chain reaction“ (PCR)-Technik er neut die Übertragung von Bakterien von der Mutter auf das Kind bestätigen konnten77. Dieser frühe Nachweis von SM im Speichel der kindlichen Mundhöhle scheint entscheidend zu sein für die Kariesprävalenz in den folgenden 15 Jahren. Abb. 24 Plaqueabstrich mehrerer Zähne nach Bebrütung: Diese ist immer höher als bei späterem Nachweis Untersuchung auf SM (KariesScreenTest). von SM in der Mundhöhle. Hierbei ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass sich die dafür mit ursächli chen etablierten Ernährungsweisen nur im Laufe der Zeit verändern lassen20 und manchmal eben über haupt nicht1,3,5,15,20,35,36. Tenovuo konnte zeigen, dass die generelle Karies prävalenz abhängig ist vom Zeitpunkt des ersten Nachweises von SM in der Plaque der kindlichen Abb. 25 Plaqueabstrich mehrerer Zähne nach Bebrütung: Mundhöhle. Die Untersuchung erfolgte durch den Untersuchung auf LB (KariesScreenTest). Nachweis von Serum-Antikörpern gegenüber SM84. Aus einer extrem ungünstigen Ernährungssitua tion und anderen die Kolonisation fördernden Ver hierauf auch Hefepilze wachsen. Differenzialdiag haltensweisen heraus etablieren sich schon früh nostisch können diese durch eine positive Katalase zeitig hohe Keimzahlen von SM in der kindlichen reaktion nachgewiesen werden (Abb. 26). Mundhöhle. Dies wiederum ist immer ein starker Da grundsätzlich eine Kolonisierung der kindli Risikoindikator für das Auftreten von „Early child chen Mundhöhle mit SM nur bei ausreichender hood caries“ (ECC)17,18,63,70 (Abb. 23 bis 25). Substratzufuhr möglich ist, zeigt sich die Wichtigkeit In Fällen hoher Zufuhr fermentierbarer Kohlen der Beratung der Schwangeren bzw. der jungen hydrate verstärkt Candida albicans das kariogene Mutter über richtiges Ernährungsverhalten sowie Potenzial von SM in der Plaque29,72. adäquate altersgerechte Zahnpflege und ein darauf Da die beim KariesScreenTest verwendeten Agar abgestimmtes Fluoridierungskonzept. Hier knüpfen zum Nachweis von SM nicht fungizid sind, können gleichzeitig aber auch die Ansätze an, rechtzeitig QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 127
ZAHNERHALTUNG nahmen ein unverzichtbarer Bestandteil der Be handlung sein sollten37,57,69. Ein hoher Anteil an LB in der Plaque spricht immer für eine mögliche Kariesprogression. Eine Analyse der Plaquesituation in einem Approximal raum ist mit Hilfe einer Abstrichtechnik möglich (Abb. 27 und 28). Abb. 26 Aufschäumen der Hefekolonien bei Zusatz von Diese über Jahrzehnte gewonnenen wissen H2O2. schaftlichen Erkenntnisse bilden teilweise auch die Grundlage für die erweiterte ökologische Plaque hypothese (Abb. 29). Die homöostatische Situation des gesunden Mikrobioms ist gekennzeichnet durch ein Gleichge wicht von potenziell pathogenen und apathogenen Keimen – mit einer ausgeprägten Diversifikation. Durch den anhaltenden Verzehr von fermentierba ren Kohlenhydraten kommt es zu einer Vermehrung azidogener und säurebildender Keime, die zuneh mend die apathogene Flora verdrängen. Klinisch sichtbar (in Abb. 29 hellgrau unterlegt) bleibt die konstante Zunahme an Plaque und die insuffiziente Mund hygiene. Klinisch nicht sichtbar (in Abb. 29 gelb unterlegt) vermehren sich säurebildende und Abb. 27 Plaqueabstrich aus dem Approximalraum 26m. säuretolerante Keime bei stetig in der Plaque ab sinkendem pH-Wert. Die Säuretoleranz und die sich daran anschlie ßende Selektion von Non-SM mit niedrigem pH-Wert scheinen eine entscheidende Rolle zu spielen für die Destabilisierung der Homöostase der Plaque. Entsprechend der pH-Wert-Absenkung unter scheidet man eine azidogene Phase (pH-Wert < 6,5 Abb. 28 Ein Nachweis hoher LB-Zahlen im Approximal sowie Destabilisierung der Homöostase), eine azi raum spricht für eine erhöhte Kariesgefährdung durische Phase, in der es zu einer weiteren Selek- (KariesScreenTest). tion azidophiler Keime kommt, und die dysbiotische Phase (pH-Wert < 5,5)80. In dieser sauren Umgebung können SM und an das Biom der Mutter bzw. der Eltern durch einen dere säurebildende Bakterien, insbesondere auch „Speicheltest“ zu klassifizieren und damit das Über LB, durch übermäßiges Wachstum die Läsionsent tragungsrisiko zu definieren. So führen präventive wicklung fördern, indem sie ein Milieu aufrechter Therapien der Eltern zu einer Reduktion karies halten, das durch einen anhaltend niedrigen pH- relevanter Keime – in diesem Fall insbesondere von Wert gekennzeichnet ist. LB und SM verdrängen so SM – und verringern so das Übertragungsrisiko38. die wenig Säure produzierenden Non-SM, welche In der Regel lässt sich SM bei Kariespatienten im die anfängliche pH-Absenkung initiierten. Die Plaque mer in höheren Anteilen nachweisen als bei karies wird nun von starken Säurebildnern bei abnehmen freien Patienten. Da hohe Keimzahlen die weitere der Diversifikation dominiert79. Daher können hohe Kariesprävalenz begünstigen, wird klar, dass neben Anteile von SM und LB als Biomarker für Stellen konservierenden Maßnahmen präventive Maß mit besonders schnellem Kariesverlauf angesehen 128 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch Gleichgewicht kommensaler und apathogener Keime mit pathogenen Keimen, hohe Diversifikation des Mikrobioms homöostatischer Zustand Vermehrung hochfrequenter pathogener Keime Konsum intraoraler fermentierbarer Befund zunehmende Keimvermehrung säuretoleranter Keime und Veränderung von Speichelqualitäten Kohlenhydrate Vermehrung säurebildender pathogener Keime, Verdrängung apathogener Keime Selektionsvorteil anhaltender Konsum fermentierbare Kohlenhydrate azidogener/ kariogener S. Gordoni Bakterien durch S. Oralis kontinuierliches vermehrte Plaqueakkumulation S. Mitis Absinken des S. Salivarius pH-Wertes zunehmende Actinomyces spp schlechte Veillonella spp Mundhygiene azidogene Phase, Vermehrung von S. Mutans (EPS) Säurebildnern S. Sobrinus Laktobazillen azidurische Phase (Anreicherung von ungünstiger SM und LB auf Speichel-pH-Wert, Kosten der ungünstige Normalflora) Pufferkapazität, Veränderung der Sekretionsrate insuffiziente Speichelqualität und -quantität dysbiotischer Übergewicht hochazidophiler Bakterien, Zustand Verlust der Diversifikation, hohe Kariesaktivität Abb. 29 Die erweiterte ökologische Plaquehypothese nach Laurisch, modifiziert nach Conrads14, Marsh58 und Zijnge89. QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 129
ZAHNERHALTUNG werden4,14,79. Letztlich entsteht ein dysbiotischer Es ist zu sehen, dass die Risikokriterien sowohl Zustand, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die klinische als auch subklinische Risikoparameter um Diversifikation des Mikrobioms verloren gegangen fassen. Zusätzliche Faktoren sind insbesondere die ist und azidogene und azidurische Keime in der funktionellen Speichelparameter. Befunde zwischen Plaque dominieren. hohem Karies- und keinem Kariesrisiko unterschei Die erweiterte ökologische Plaquehypothese den sich in der Anzahl und Schwere der einzelnen unterstreicht wiederholt die bekannte Tatsache, Risikoparameter. Die Zwischenbefunde nach Axels dass es zu einer Vermehrung kariesrelevanter Keime son sind in Tabelle 5 wiedergegeben. beim regelmäßigen Konsum fermentierbarer Koh König definierte die einzelnen Risikobereiche, lenhydrate kommt23,62. indem er für 4 Parameter – nämlich den Zahn- Die Rolle von SM erschöpft sich nicht in der status, die Speichelsekretion, die Ernährungssitua Säurebildung alleine: Er ist Hauptproduzent bei der tion und die Mikroorganismen – einzelne Risiko Bildung von extrazellulären Polysacchariden und bewertungen aufstellte41 (Abb. 30 bis 33). damit der Garant für ein ungestörtes „Quorum sen Das Cariogram10,73 ergänzt die bisher erklärten Ri sing“ in der Plaque, da die von ihm gebildete Matrix sikoparameter durch weitere Risikoparameter und das zahnaufliegende Biotop vor den natürlichen Ab das existierende Fluoridierungskonzept. Es ist ein wehrfunktionen der Mundhöhle – Sekretionsrate Verfahren, das bereits Ende der 1990er-Jahre u. a. und Pufferkapazität – schützt42,83. von Bratthall vorgestellt wurde, und ermöglicht eine Das bedeutet, dass SM für das Kariesrisiko und Interpretation und gewichtete Analyse der verschie die Kariesaktivität immer noch eine Schlüssel denen an der Kariesentstehung beteiligten Faktoren10. position inne hat. Darüber hinaus sorgt er für die Das Cariogram bietet die idealen Voraussetzungen Aufrechterhaltung des sauren Milieus, in dem wie für ein systematisiertes Vorgehen: Es illustriert gra derum LB das System überwuchern können. Tat fisch das Kariesrisiko bzw. die Chance, neue Karies sächlich sind LB in der Lage, bis zum pH-Wert von 3 in Zukunft zu vermeiden. Das Cariogram kann im Säure zu produzieren, während SM bei einem pH- Internet heruntergeladen werden, allerdings steht es Wert zwischen 4 und 5 die Säureproduktion einstellt. nur in der englischsprachigen 64-Bit-Version zur LB – selbst nicht am Plaqueaufbau aktiv beteiligt – Verfügung. Die mobile Version ist auch als App ver nutzen so das von SM geschaffene pH-Milieu, um fügbar. die Kariesprogredienz voranzutreiben. Daher sind Die Abbildung 34 erklärt alle im Cariogram er sie auch in aktiven kariösen Läsionen entsprechend hobenen Risikoparameter. Nach entsprechender präsent54,59,78,87. Gewichtung zeigt die grüne Fläche die Wahrschein Es ist zu sehen, dass die erweiterte ökologische lichkeit an, dass keine neue Karies zu erwarten ist. Plaquehypothese Elemente der unspezifischen und In der abschließenden, digital erstellten Risikoer spezifischen Plaquetheorie enthält, aber beides mit mittlung werden einzelne Risikofaktoren in Kom klinischem Verlauf und präventivem Verständnis plexen zusammengefasst (Tab. 6). besser in Einklang bringt. Für das Verständnis ist Anhand der dunkelblauen Flächen ist deutlich zu wichtig, dass man nicht nur weiß, welche Keime erkennen, welche Bedeutung bakterielle Speichel vorhanden sind, sondern dass man sich auch darü parameter für die Risikodiagnostik haben. Von ber im Klaren ist, was diese Keime bewirken31,79. daher ist es einleuchtend, dass die Vorhersage Da aber die Anzahl von SM und LB nicht der ein wertigkeit von Ergebnissen der Cariogram-Software zige Prädiktor für Karies ist, kommt es in der Risiko höher ist, wenn Speichelparameter und die Anzahl diagnostik darauf an, weitere Faktoren zu ermitteln53. der SM ermittelt und in die Auswertung mit ein- Verschiedene Konzepte ergänzten daher schon früh bezogen werden65. zeitig bakterielle Speichelparameter durch klini Alle vorgestellten Konzepte ermitteln eine stati sche43,50,44. 1990 fasste Axelsson den damaligen sche Situation des Mundmilieus zum Zeitpunkt der Kenntnisstand in einem Risikokonzept zusammen, Untersuchung. Die dynamische Komponente der welches in Tabelle 4 abgebildet ist Veränderungen im Biotop Mundhöhle wird dadurch 130 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch Mikroorganismen Ernährungssituation 4,0 4,0 3,5 3,5 3,0 3,0 2,5 2,5 2,0 2,0 1,5 1,5 1,0 1,0 0,5 0,5 0,0 0,0 Karies Parodontitis Erosion Karies Parodontitis Erosion Plaquemenge Viele säuretolerante Organismen Zuckergehalt Frequenz grambewegliche Organismen Gehalt an freien Säuren Abb. 30 Bedeutung der Mikroorganismen. Abb. 31 Bedeutung der Ernährungssituation. Speichelsekretion Zahnstatus 4,0 4,0 3,5 3,5 3,0 3,0 2,5 2,5 2,0 2,0 1,5 1,5 1,0 1,0 0,5 0,5 0,0 0,0 Karies Parodontitis Erosion Karies Parodontitis Erosion reduzierte Menge Engstand retentive Füllungen/Kronen reduzierte Pufferung Demineralistionen Zahnstein Abb. 32 Bedeutung der Speichelsekretion. Abb. 33 Bedeutung des Zahnstatus. Tab. 4 Risikokonzept nach Axelsson6. Die subklinischen Risikoparameter sind gelb markiert. kein Kariesrisiko hohes Kariesrisiko SM negativ SM-Werte > 500.000 ml/Min. hervorragende Mundhygienegewohnheiten sehr schlechte Mundhygienegewohnheiten niedrige LB-Werte LB-Werte > 100.000 ml/Min. sehr niedriger DMF- beziehungsweise DMF-T-Index sehr hoher DMF-T-Wert mit bukkalen/lingualen DFS keine aktive initiale Karies sehr viel initiale Karies ausreichende Speichelsekretion Speichelsekretionsrate < 0,7 ml/Min. geringer Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte starker Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte Pufferkapazität mit einem pH-Wert > 5,5 Pufferkapazität mit einem pH-Wert < 4,5 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 131
ZAHNERHALTUNG Tab. 5 Zwischenbefunde des Risikokonzeptes nach Axelsson6. Die subklinischen Risikoparameter sind ebenfalls gelb markiert. geringes Kariesrisiko Kariesrisiko SM positiv SM positiv gute Mundhygienegewohnheiten schlechte Mundhygienegewohnheiten niedrige LB-Werte hohe LB-Werte niedriger DMF- beziehungsweise DMF-T-Index hoher approximaler DMF wenig initiale Karies viel initiale Karies Speichelsekretionsrate > 1 ml/Min. Speichelsekretionsrate 1 ml/Min. geringer Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte starker Konsum klebriger, zuckerhaltiger Produkte Pufferkapazität mit einem pH-Wert < 5,5 Pufferkapazität mit einem pH-Wert < 5 Tab. 6 Risikoermittlung anhand der einzelnen Risikofaktoren Ernährung, Bakterien, Empfänglichkeit und Umstände. Ernährung Bakterien Empfänglichkeit Begleitumstände Frequenz der Plaquemenge und qualitative Resistenz der Zahnsubstanz kariöse Zahnschäden in der Nahrungsaufnahme und Zusammensetzung der (Fluoridierung) und Qualität Vergangenheit und genereller Zusammensetzung der Plaque (Anzahl SM/LB) des Speichels (Sekretionsrate, Gesundheitszustand Nahrung Pufferkapazität, Speichel-pH- Wert) Die Fläche ist im Cariogram Die Fläche ist im Cariogram Die Fläche ist im Cariogram Die Fläche ist im Cariogram dunkelblau dargestellt. rot dargestellt. hellblau dargestellt. gelb dargestellt (Abb. 35 bis 37). nicht erfasst. Eine wiederholte Risikoanalyse im Sin Keimen mit einer großen Diversifikation. Für die ne eines Monitoring nach Durchführung präventiver Entstehung einer pathogenen Plaque ist in erster Maßnahmen ermöglicht jedoch eine dynamischere Linie nicht der Genotyp der Bakterien, sondern der Interpretation61,81. Phänotyp entscheidend. Dieser entwickelt sich aus den individuellen Gegebenheiten, die einen poten Schlussfolgerungen ziell kariogenen Keim zu einem kariogenen Keim werden lassen können. Dieser Vorgang ist für die Die Bedeutung und Interpretation von Speichel- präventiven Konzepte der Zahnarztpraxis von Be tests bzw. der Bestimmung bakterieller und funk deutung, da dieser Vorgang reversibel ist, wenn es tioneller Risikoparameter hat sich in Abhängigkeit gelingt die azidogenen bzw. azidurischen Be- von der aktuell gültigen Kariesätiologie im Laufe der dingungen in der Plaque zu verändern. Leider liegt Zeit verändert. Die erweiterte ökologische Plaque hier der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie hypothese enthält Elemente der unspezifischen und gerade in einem Bereich, der oft am schwierigsten spezifischen Plaquetheorie, bringt aber den klini zu verändern ist: in der Ernährungssituation20. schen Verlauf und unser präventives Verständnis in SM ist aufgrund seiner ausgeprägten Fähigkeit einen besseren Einklang. Für dieses Verständnis ist zur Bildung extrazellulärer Polysaccharide ein ent wichtig, dass man nicht nur weiß, welche Keime da scheidender Bestandteil der Plaque, der zudem das sind, sondern dass man sich auch darüber im Klaren saure pH-Milieu für die LB schafft. Ein Nachweis die ist, was diese Keime bewirken. Die Plaque besteht ser Keime in der Plaque ist mit einer hohen Karies aus potenziell pathogenen und aus apathogenen aktivität an dieser Stelle verbunden. Ein Nachweis 132 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
Lutz Laurisch 0 = kariesfrei 0 = keine Erkrankungen 1 = besser als der Durchschnitt 1 = geringen Ausmaßes 2 = normal für diese Altersgruppe 2 = schweren Ausmaßes (Diabetes, 3 = schlechter als der Durchschnitt umfangreiche Medikation) Konsum fermentierbarer Kohlenhydrate 0 = sehr geringe Frequenz (max. 3 ZI) 0 = sehr wenig (LB Klasse 1) 1 = geringe Frequenz (max. 5 ZI) 1 = wenig (LB Klasse 2) 2 = moderate Frequenz (max. 7 ZI) 2 = moderater (LB Klasse 3) 3 = hohe Frequenz (> 7 ZI) 3 = hoher (LB Klasse 4) Anzahl MS im Speichel (KariesScreenTest) 0 = extrem gute Mundhygiene 0 = SM Kl 0 (< 10.000 CFU/ml) 1 = gute Mundhygiene 1 = SM Kl 1 (> 10.000 CFU/ml) 2 = moderate Mundhygiene 2 = SM Kl 2 (> 100.000 CFU/ml) 3 = schlechte Mundhygiene 3 = SM Kl 3 (> 500.000 CFU/ml)) 0 = gutes Fluoridierungskonzept Sekretionsrate (KariesScreenTest + P) (regelmäßig fluorihaltige Creme, F-Gel, F-Spülung) 2 ml/Min. sehr gut 1 = Fluoridierungskonzept (regelmäßig fluoridhaltige Creme, weniger F-Gelee, Spülung) 1 bis 2 ml/Min. gut 2 = nur fluoridhaltige Creme < 1ml/Min. ungünstig 3 = keine Fluoridzufuhr < 0,7 ml/Min. Hyposalivation Pufferkapazität (PK) (KariesScreenTest + P) 0 = besser als erwartet pH > 6,0 sehr gute PK 1 = wie zu erwarten war pH > 5,0 gute PK 2 = schlechter als zu erwarten war pH < 5,0 ungünstige PK 3 = sehr schlecht, viel Karies zu erwarten pH < 4,0 extrem schlechte PK Abb. 34 Ermittelte Risikoparameter im Cariogram. tatsächliche Chance, neue Karies zu vermeiden Diät Bakterien Empfänglichkeit Abb. 35 Kennzeichnung der zusammengefassten Begleitumstände Risikofaktoren mit entsprechenden Farben. 15 % 19 % 76 % 13 % 6% 9% 29 % 24 % 6% 4% Abb. 36 Geringes Kariesrisiko: Die Wahrscheinlichkeit, Abb. 37 Hohes Kariesrisiko: Die Wahrscheinlichkeit, dass dass keine Karies auftritt, beträgt 76 % (grüne Fläche). keine Karies auftritt, beträgt nur 13 % (grüne Fläche). QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021 133
ZAHNERHALTUNG der Keime im Speichel in hoher Anzahl korreliert bestimmen. Damit allein ist es aber nicht getan. Die nicht unbedingt mit der Kariesaktivität an be viel entscheidendere Frage ist die nach dem Warum. stimmten Zahnflächen, gibt aber deutliche Hinweise Nur aus der Beantwortung dieser Frage können sich darauf, dass das Mundhöhlenbiotop sich nicht in adäquate, dem wissenschaftlichen Kenntnisstand einem homöostatischen Zustand befindet. Die entsprechende präventive Therapien ergeben. Abstrichtechnik gibt uns allerdings genauere Infor Risikodiagnostik unter Einbeziehung klinischer und mationen über die vermutete Kariesaktivität an der subklinischer Risikoparameter ermöglicht eine diag entsprechenden Zahnfläche. nosebasierte Prävention. Das wiederum ist nicht nur Ein guter Speichel-pH-Wert sowie eine gute eine medizinische Notwendigkeit, sondern beein Sekretionsrate und Pufferkapazität sind ebenfalls flusst auch den Erfolg unserer präventiven Bemü wichtige Faktoren einer homöostatischen Situation. hungen positiv22,46,90. Daher können bakterielle und funktionelle Speichel Das Vorhandensein von Plaque – Schlüsselbe parameter ein wichtiger Bestandteil der Kariesrisiko fund der unspezifischen Plaquetheorie – sollte nicht diagnostik sein. Sie sind auch in allen hier zitierten die alleinige Grundlage einer Diagnostik sein, auf die Risikokonzepten ein integraler Bestandteil. Ihre wir unsere präventiven Leistungskonzepte gründen. Wichtigkeit resultiert nicht nur aus ihrer Bedeutung in der Diagnostik. Darüber hinaus geben uns wieder Hinweis holte Untersuchungen subklinischer Risikopara meter im Recall auch frühzeitig objektivierbare Hin Der Autor ist Entwickler des von Fa. Ivoclar Vivadent weise auf sich verändernde Risikoparameter sowie bis 2018 produzierten und vertriebenen CRT bacte die Compliance des Patienten. ria. In Zusammenarbeit mit der Fa. Aurosan hat er Aufgrund der Multikausalität der Erkrankung ist das Nachfolgeprodukt KariesScreenTest bzw. den es unverzichtbar, die relevanten Risikoparameter zu KariesScreenTest + P entwickelt. Literatur 1. Aas JA, Griffen AL, Dardis SR 5. Anderson MH, Shi W. A probiotic interpreted. Concluding remarks et al. Bacteria of dental caries in approach to caries management. and cariography. Eur J Oral Sci primary and permanent teeth in Pediatr Dent 2006;28(2):151–153. 1996;104:486–491. children and young adults. 6. Axelsson P. Methode zur 11. Burt BA, Pai S. Sugar J Clin Microbiol 2008;46(4): Bestimmung des Kariesrisikos. consumption and caries risk: 1407–1417. Phillip J 1990;7;181–187. A systematic review. J Dent 2. Alaluusua S, Savolainen J, 7. Banas JA, Drake DR. Are the Educ 2001;65(10):1017–1023. Tuompo H, Grönroos L. Slide- mutans streptococci still 12. Caufield PW, Griffen AL. Dental scoring method for estimation of considered relevant to caries. An infectious and trans Streptococcus mutans levels in understanding the microbial missible disease. Pediatr Clin saliva. Eur J Oral Sci 1984;92(2): etiology of ental caries? North Am 2000;47(5):1001–1019. 127–133. BMC Oral Health 2018;18:129. 13. Clarke JK. On the bacterial 3. Alaluusua S. Longitudinal study 8. Berkowitz RJ, Turner J, Green P. factor in the Ætiology of dental of salivary IgA in children from Maternal salivary levels of Strepto- caries. Br J Exp Pathol 1924;5(3): 1 to 4 years old with reference coccus mutans and primary oral 141–147. todental caries. Scand J Dent infection of infants. Arch Oral 14. Conrads G. Das orale Mikrobiom Res 1983;91(3):163–168. Biol 1981;26(2):147–149. und seine kariogenen Spezies. 4. Anderson AC, Rothballer M, 9. Berkowitz RJ. Acquisition and ZM 2020;23/24:2294–2296. Altenburger MJ et al. In-vivo shift transmission of mutans 15. Corby PM, Lyons-Weiler J, of the microbiota in oral biofim in streptococci. J Calif Dent Assoc Bretz WA et al. Microbial risk response to frequent sucrose 2003;31(2):135–138. indicators of early childhood consumption. Sci Rep 2018; 10. Bratthall D. Dental caries: caries. J ClinMicrobiol 2005;43 8142020. Intervened – interrupted – (11):5753–5759. 134 QUINTESSENZ ZAHNMEDIZIN | Jahrgang 72 • Ausgabe 2 • Februar 2021
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