Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds

Die Seite wird erstellt Georg-Thomas Menzel
 
WEITER LESEN
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com       25 Feb 2022 23:42:57

    Vom Turbo-Folk der Mafia
    zum Polit-Rap des
    Untergrunds
    by Thomas Burkhalter

    Vier Jahre nach dem Sturz von Milosevic zeigt die junge
    Belgrader Musikszene unterschiedliche Seiten. Während das
    ehemalige Oppositions-Radio B92 vor allem nach Sponsoren
    sucht, parodiert eine junge Rapper-Generation die Mafia- und
    Macho-Gesellschaft des «nationalistischen» Turbo-Folks und
    knüpft überregionale Netzwerke. Die Roma-Musiker
    versuchen derweil, sich auf dem Weltmusikmarkt
    durchzusetzen.
    Vom sumpfigen Belgrader Niemandsland kommen wir her, vom Roma-
    Partyschiff «Black Panther», am Ufer der Save. Unter Deck gab es «pivo
    domestik», Bier von hier, und dazu Akkordeon- und Synthesizer-Versionen
    von Stücken wie Dizzy Gillespies «A Night in Tunisia» oder Simon and
    Garfunkels «El Condor Pasa». Bis dann unser Sitznachbar, ein dubioser
    italienischer Handelsreisender, plötzlich seltsame Ranglisten herunterleiert:
    «Russland – Nummer eins; Serbien – Nummer zwei; Kroatien – Problema;

https://norient.com/stories/belgrad2004                                             Page 1 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com      25 Feb 2022 23:42:57

    Mazedonien – Problema.» Und dann: «Für einen Serben zählt erstens Herz,
    zweitens Freunde, drittens Geld.» Oder: «Erstens Tanzen, zweitens Frauen,
    drittens Bier.» Das reicht. Zeit für uns zu gehen.

    Am Donauufer, gegenüber der Belgrader Burg, stehen wir am frühen Morgen
    endlich wieder auf festem Boden. Die Schuhe schlammverschmiert, die
    Socken nass. Es ist verdammt kalt. Ein paar Bier trinkende Teenager lungern
    herum. Und klären uns auf: Noch vor vier Jahren hätten sich hier die Mafia-
    Freunde von Slobodan Milosevic mit ihren Flittchen amüsiert, in den rund
    zwanzig beleuchteten Booten vor uns. Auch heute stehen teure Autos vor den
    wackligen Bootsstegen parkiert. Überlaut dröhnt Techno und Rock mit
    türkisch-arabischem Einschlag in die Flusslandschaft hinaus. In einigen
    Schiffen amüsieren sich Teens und Twens, in anderen die älteren Semester.
    Mit Silikon bewehrte Frauen produzieren sich in Leopardenkostümen und
    kurzen Jupes vor ihren saufenden Freunden. Mit gelangweilten Mienen heizen
    die Partymusiker ein; die Sängerin setzt auf gekünstelte Orientalismen und
    laszives Stöhnen. Mafia – ein Teil von Belgrad.

    «Es ist hart, hier zu leben»
    Seit dem 5. Oktober 2000 ist Slobodan Milosevic in Serbien nicht mehr an
    der Macht. Aus dem ganzen Land war die Bevölkerung an jenem
    denkwürdigen Tag nach Belgrad geströmt, um den ungeliebten Diktator zu
    stürzen. Bereits acht Jahre zuvor hatte die Opposition in der 2-Millionen-
    Stadt 840 000 Unterschriften zu seiner Absetzung gesammelt – ohne Erfolg.
    Viele junge Männer versteckten sich danach in fremden Häusern, um nicht in
    den Krieg eingezogen zu werden. Junge Intellektuelle und Künstler verliessen
    das Land oder wurden in ihrer «No Future»-Depression Opfer von Drogen, die
    in Belgrad leicht erhältlich waren. Heute fehlt die Generation der 30-Jährigen
    im städtischen Kulturleben weitgehend. Und viele der Gebliebenen wollen von
    Politik, etwa vom jüngsten Wahl-Hickhack, nichts mehr wissen. Gestiegen ist
    die Arbeitslosigkeit. «Es ist hart, hier zu leben», kommentiert der 24-jährige
    Rapper Bori Se alias MC Shorty: «Im Ausland gelten wir Serben als Killer.
    Dabei sind es die Politiker, die Kriege führen. Milosevic hat in den neunziger
    Jahren systematisch Kriminelle aus den Gefängnissen entlassen und in
    leitende Staatspositionen gehoben.» Shorty möchte Grafikdesign studieren
    und ein sogenannt normales Leben führen. Wie er mit seinen monatlichen
    200 Euro die Kursgebühren bezahlen soll, weiss er nicht. «Ich lebe alleine in
    dieser verdammten Welt. Eigentlich sollte ich ins Ausland ziehen. Aber
    irgendwie brauche ich meine Stadt.»

https://norient.com/stories/belgrad2004                                              Page 2 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com   25 Feb 2022 23:42:57

    In den Kriegsjahren unter Milosevic (1990 bis 2000) agierten die Medien als
    verlängerter Arm des Regimes. Via Pink TV avancierte der sogenannte Turbo-
    Folk, der noch heute auf den Partybooten in einer Light-Form gespielt wird,
    zum medialen Ausdruck der Macho- und Mafia-Kultur Belgrads. Fast alle
    Starsängerinnen des Genres waren mit Mafiabossen liiert – was ihre
    Popularität nur steigerte. Svetlana «Ceca» Raznatovic, Königin des Genres,
    heiratete den berühmt-berüchtigten «Arkan», Kriegsverbrecher und Anführer
    der Tiger-Miliz. Nach der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten
    Zoran Djindjic am 12. März letzten Jahres verbrachte die Starsängerin vier
    Monate hinter Gittern: Der Mordhauptverdächtige soll in ihrer Villa ein und
    aus gegangen sein.

    Es ist elf Uhr. Im schicken Café Plato treffen wir Ksenija Stevanovic. Die
    Musikwissenschafterin sucht nach Erklärungen für den Turbo-Folk: «Mit
    Partymusik und Silikonbusen wurden unter Milosevic Gefühle einer heilen
    Welt produziert», erzählt sie. «Das Motto: Wir Serben habens gut. Was
    kümmert uns der Rest der Welt.» In den Kriegsjahren seien die mafiösen
    Neureichen die Einzigen mit Geld gewesen: «So zwängten sich junge
    Serbinnen in engste und kürzeste Kleidchen, schmierten zu viel Make-up ins
    Gesicht und schmissen sich an die Ganoven ran.» Meistens wurde in den
    Turbo-Folk-Songs die Liebe besungen. Ab und an mussten sich Europäer und
    Amerikaner in den Gesangstexten als Faschisten bezeichnen lassen. Und
    immer wieder sollte die serbische Armee zu Heldentaten angestachelt
    werden. Noch nach dem Sturz Milosevics brachte eine Band namens Srpski
    Talibani eine Kassette in Umlauf, auf der die Anschläge vom 11. September
    2001 glorifiziert und Carla Del Ponte sowie der Haager Gerichtshof

https://norient.com/stories/belgrad2004                                           Page 3 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com        25 Feb 2022 23:42:57

    abgekanzelt wurden. Heute aber wolle der Turbo-Folk sein nationalistisches
    Image los werden, erzählt Stevanovic. Die Musik klinge stärker nach MTV und
    weniger orientalisch: «Stars wie Jelena Karleusa, in den Neunzigerjahren
    Partnerin eines bekannten Drogendealers und Autoschmugglers, produzieren
    heute aufwändige internationale Alben und finden auch in Bosnien und
    Kroatien ein Publikum. Ihr künstliches Aussehen hat Karleusa gar zum
    Kultobjekt der Homosexuellenszene werden lassen.» Stevanovic lacht – und
    fügt sogleich hinzu, dass der Turbo-Folk heute bei vielen Zwanzigjährigen
    äusserst beliebt sei. «Diese Kids waren nie im Ausland. Sie saugen mit dieser
    Musik zweifelhafte Werte auf. Bedenklich.»

    Ein Besuch im Glastempel von City Records, dem Musiklabel von Pink TV,
    bestätigt die Aussagen von Stevanovic: Turbo-Folk ist aus dem Katalog
    gestrichen. Statt dessen werden geschliffener Retortenpop sowie Techno-,
    Trance- und Kommerzialrock-Ware auf CD gebrannt. Unter Vertrag stehen
    neu die grossen Stars aus Kroatien, Bosnien und Mazedonien. Ihre CDs sollen
    in Belgrad bis zu 100 000 Mal über den Ladentisch gehen. Für ihre Produkte
    scheinen die beiden Talentspäher des Labels, Aleksandar Pavic und Goran
    Tomanovic, allerdings wenig Feuer gefangen zu haben. Tomanovic, früher
    Leader einer populären Underground-Rockband, macht hier, wie er sagt,
    bloss seinen Job: «Damit verdiene ich den Lebensunterhalt: für mich und
    meine kleine Tochter.»

    Die alternative Musikszene

    Am späten Abend setzt ein Sturm ein. Wir sind auf dem Weg zurück ins
    Stadtzentrum. In einem kalten Übungskeller schreien die beiden Frauen der
    Gruppe E-Play so laut ins Mikrofon, als wollten sie allen Frust ihres Belgrader
    Lebens auf einmal loswerden – ein lauter Protest gegen den Kitsch des
    Turbo-Folks. In der Nähe des Übungskellers steht Klub neben Klub. Im
    Akademija, einem Underground-Kultklub der achtziger Jahre, klingen
    abstrakte elektronische Sounds und Beats durchs dunkle, unterirdische
    Labyrinth. Gleich gegenüber, im «Basement», tanzt die Partygemeinde zu
    einem Verschnitt aus Retro-Techno und Alternativ-Rock. Schräg vis-a-vis
    wiederum spielt eine Jazzrock-Combo, derweil im «Anderground», in den
    Katakomben der Weissen Burg, Punks und Popper zu stampfendem Techno
    ihre Glieder verrenken und ein Show-Friseur auf einem violett
    ausgeleuchteten Podium Haare schneidet.

    Belgrads alternative Musikszene gilt als legendär. Rockgruppen wie
    Eyesburn, Darkwood Dub, Jarboli, Block Out, Flip Out, Elektronikkünstler wie
    Belgradyard Sound System und DJs wie Marco Nastic und Bojan Mitrovic
    haben nichts mit Turbo-Folk am Hut. Ihr wichtigster Partner bleibt bis heute
    die Radiostation B92. Viermal war der Oppositionssender in den neunziger
    Jahren verboten worden, und doch rief er im Oktober 2000 mit zu jener
    Demonstration auf, die Milosevic stürzen sollte. Mit dem anschliessenden
    Abzug zahlreicher internationaler Friedens- und Medienorganisationen verlor

https://norient.com/stories/belgrad2004                                               Page 4 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com      25 Feb 2022 23:42:57

    der Sender jedoch wichtige Geldgeber; heute muss er sich neu vermarkten.
    Mittlerweile verfügt B92 über einen eigenen TV-Kanal, ein Musiklabel und
    einen Internet-Provider. «Früher kämpften wir gegen das Regime, heute für
    Sponsorengelder», fasst das B92-Urgestein Gordan Paunovic die jüngsten
    Entwicklungen zusammen. Der Sender, der seit 1989 mit nationalem und
    internationalem Indie-Rock, Punk, New Wave und Hip-Hop schockierte, ist in
    den letzten Jahren gefälliger geworden. «Am Tag läuft eine Play-List.
    Speziellere Sounds gibt’s bloss noch am Abend. Darum arbeite ich auch hier
    nicht mehr als Musikredaktor», sagt Paunovic.

    Hip-Hop parodiert Turbo-Folk

    Die Musikergeneration der Zwanzigjährigen steht den Entwicklungen bei B92
    kritisch gegenüber. Viele schwärmen von SKC, dem alternativen Radiosender
    vom Studenten-Kulturzentrum. «B92 unterscheidet sich kaum mehr von Pink
    TV», ist zu hören. Doch immer wird nachgeschoben, dass ohne B92 bis heute
    kulturell und politisch weniger laufen würde. Viele Jugendliche hören heute
    Rap. Ein paar wenige produzieren ihn. «In den Kriegsjahren hatten wir Rapper
    einen schweren Stand», erinnert sich der 27-jährige Djordje Jovanovic von
    Beogradski Sindikat: «Die alternativen Rockgruppen predigten in ihren
    Liedern, man solle in Belgrad ausharren, die Zeiten würden besser. Wir
    hingegen rappten über die Schandtaten von Milosevic.» Nach seinem Sturz
    machte Beogradski Sindikat mit der Hitsingle «Beef» Furore. Das Rapper-
    Kollektiv zählte Politiker aller Lager auf, die krumme Geschäfte gemacht
    hatten. Es wurde daraufhin gemeinsam mit dem damaligen jugoslawischen
    Präsidenten Vojislav Kostunica in eine TV-Talkshow eingeladen. Seither
    geniesst Beogradski Sindikat Kultstatus.

    Vielversprechende Rapgruppen wie Skabo, Ajs Nigrutin, Bad Copy und
    Bitcharke Na Travi politisieren lieber indirekt. Auf Serbisch – «Fuck English»
    – parodieren sie die Mafia- und Porno-Gesellschaft des Turbo-Folks und
    freuen sich – so Timbe von Bad Copy -, «wenn die Neureichen in ihren Villen
    unsere Refrains mitsingen, ohne zu merken, dass wir sie verarschen.» Wenn
    die Rapperinnen Una und Marija vom Duo Bitcharke Na Travi öfter von
    männlichen und weiblichen Genitalien als von Politik rappen, lehnen sie sich
    nicht an die kommerzielle Hip-Hop-Kultur der USA an, sondern
    kommentieren lokale gesellschaftliche Realitäten. «Unsere verbalen Attacken
    zielen auf die Sponsoren-Chicks des Turbo-Folks, die mit den alten
    Neureichen alles tun», grinst die 21-jährige Una: «Wir hinterfragen
    Geschlechterrollen und markieren die starke Frau.»

    Transnationale Netzwerke
    Konkrete Ziele verfolgen auch Andreja Milkic und Sandra Pajovic vom etwas
    kommerzielleren Rap-Label Bassivity Music: «Wir wollen Hip-Hop in den
    Mainstream bringen», erklären sie selbstbewusst. Einfach ist das nicht: Die
    grossen TV-Stationen spielen nur die Videoclips ihrer eigenen Labels – ausser

https://norient.com/stories/belgrad2004                                              Page 5 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com       25 Feb 2022 23:42:57

    man zahlt oder hat Beziehungen. Und die neu ansässigen internationalen
    Majorlabels kämpfen zurzeit vor allem verbissen dafür, dass das neue
    serbische Antipiraterie-Gesetz seine Wirkung entfaltet. «Die Piraten sind
    derweil ins Internet abgewandert», grinst der Musikjournalist Dragan Kremer.
    «Mindestens ein Drittel aller Produkte findet noch immer auf Raubkopien den
    Weg zum Käufer.» Für Bassivity Music bleibt der Alleingang: «Wir lassen
    unsere Konzerte auch mal von McDonalds oder Reebok sponsern, laden
    unsere Software gratis aus dem Netz herunter und setzen auf überregionale
    Kontakte», erklären die Label-Betreiber. MC Shorty, V.I.P und Marcello, drei
    der hauseigenen Shootingstars, treten denn auch mal im näheren Ausland,
    etwa in Kroatien, auf: «Nationalismus interessiert hier niemanden», sagen sie
    einhellig. «Wir wollen Teil dieser Welt sein. Wir wollen ohne Visum ins Ausland
    reisen.»

    Dass Kulturexport und -austausch in den Belgrader Musikszenen mehr sind
    als leere Worte, erfahren wir immer wieder. So danken zum Beispiel Darkwood
    Dub den Kassettenpiraten, die die kroatische Fangemeinde in den
    Kriegsjahren immer mit den neuesten Songs der Band versorgt hätten. Und
    Relja Bobic von Belgradyard Sound System sowie Ksenija Stevanovic setzen
    unter anderem mit der serbisch-kroatischen Webplattform «Explicit Music»

https://norient.com/stories/belgrad2004                                               Page 6 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com       25 Feb 2022 23:42:57

    auf interkulturellen Dialog via Internet. Zum jährlichen Dispatch-Festival lädt
    Bobic Elektronikkünstler aus dem nahen und fernen Ausland nach Belgrad ein
    und kooperiert mit internationalen Kulturinstitutionen. Selbst das Ministerium
    für Kultur habe für einmal eine Defizitgarantie gesprochen, erzählt Bobic, auf
    das versprochene Geld habe er dann aber fast ein Jahr warten müssen.

    Ethno-Boom und Balkan-Klischees

    Ein Konzert im Kino Akademija 28; gemeinsam mit einem Belgrader
    Intellektuellenpublikum wohnen wir der Darbietung des Roma-Ensembles Kal
    bei. Die sieben gut gekleideten Roma-Herren, die ständig gefilmt und
    fotografiert werden, lassen mit wenigen Akkorden eine eingängige Musik
    erklingen. Eine Bauchtänzerin ohne Bauch wirbelt über die Bühne. Die
    Zuschauer freuen sich – bis sie zum Mittanzen aufgefordert werden. Die erste
    Reihe verweigert sich: Das Publikum will nicht dazugehören; es konsumiert.
    Bereits den Hauptstädtern mutet der ländliche Balkan exotisch an.

    Die grössten Exportchancen werden zurzeit der serbischen Ethno- und
    Roma-Musik zugeschrieben. «Zum Glück hat sich der Turbo-Folk nie bei der
    traditionellen serbischen Volksmusik bedient, sondern vor allem Elemente
    des volkstümlichen Schlagers in ein poppiges Gewand verpackt, der ab dem
    Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien populär geworden war», freut sich die
    Musikethnologin Iva Nenic: «Unsere Volksmusik wird so eigentlich nicht als
    nationalistisches Instrument der Politik betrachtet. Seit kurzem ist es in
    Belgrad sogar schick, Volksmusik zu hören. Jedoch eher ihre zugänglicheren
    Varianten.» Mitverantwortlich für den Boom ist Bojan Djordjevic, der für B92
    die beiden CDs Serbia: Sounds Global zusammengestellt hat und zu seinem
    «Ring Ring»-Festival» jährlich Volksmusik-Ensembles aus aller Welt nach
    Belgrad einlädt. Dank seinen guten Kontakten hat er auch das Boban
    Markovic Orkestar in die internationale Weltmusik-Szene einschleusen
    können. Einfach war das nicht: «Die grossen Labels diktieren, was auf den
    Markt kommen soll.»

    Roma-Musiker, etwa der legendäre Olah Vince, geben sich kämpferisch: «Es
    wird Zeit, dass wir selber ins Rampenlicht treten – nicht immer Musiker wie
    Goran Bregovic, die unsere Musik stehlen und mit ihr mächtig Kohle
    machen.» Bregovic habe überhaupt noch nie mit Roma-Musikern gespielt,
    obwohl er dies immer wieder behaupte, meint Vince. Sein Fazit: «Die Serben
    mögen uns nicht. Ich sehe für uns Roma für die nächsten tausend Jahre
    schwarz. Mit unserer Musik können wir uns höchstens im Ausland
    durchsetzen.»

    Vince kämpft seit Jahren für die Rechte der Roma. Er hat bisher aber
    vergeblich versucht, eine Roma-Radiostation zu gründen. In Workshops will er
    Roma-Musikern nun beibringen, die eigene Musik weiterzuentwickeln und

https://norient.com/stories/belgrad2004                                               Page 7 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com             25 Feb 2022 23:42:57

    nicht bloss die alten Hits zu interpretieren. «Selbst die Roma denken, dass ich
    spinne», lacht er. Immer wieder kommen sarkastische Witze über seine
    Lippen.

    Auch für den neuesten Balkan-Disco-Trend in Europa mag sich Vince nicht
    erwärmen: Seit einigen Monaten vermengen europäische DJ den Sound ost-
    und südosteuropäischer Roma-Kapellen mit elektronischen Beats – sie
    stehen bei spezialisierten Weltmusiklabels Schlange, um die Remixrechte für
    östliche Roma-Musik zu erwerben. «Techno kombiniert mit Roma-Musik? Das
    geht doch nicht. Unsere Musik ist voll warmer Lebensfreude. Techno
    hingegen ist kalt», findet Vince und vermutet, dass gewiefte Produzenten
    wieder einmal viel Geld mit Roma-Musik verdienen. – Auch die alternativen
    Musikszenen finden den Ethno-Boom nicht nur positiv: Mit diesen Exporten
    würden die alten Klischees aus den Kusturica-Filmen aufgewärmt, fürchten
    einige. Andere meinen, dass sich die neuen «Ethno-Enthusiasten» bloss nach
    den Wünschen und Geldern der internationalen Kulturförderer richteten.
    Denn eigentlich würden viele junge Musiker Belgrads gerne der Welt zeigen,
    dass Serbien mehr zu bieten habe als Nationalismus, Schmalz-Pop und
    Ethno-Musik.

    Letzteres jedenfalls ist unbestritten, auch in der Stadt, die sonst nicht einfach
    zu fassen ist. Die Belgrader Musikszene ist vielseitig, und sie hat Potenzial.
    Man darf auf einen musikalischen Frühling hoffen.

    → Published on August 01, 2004

    → Last updated on October 13, 2019

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

    → Topics

                Capitalism
                  Gender
                 Tradition
                   War
                   Youth

https://norient.com/stories/belgrad2004                                                      Page 8 of 9
Vom Turbo-Folk der Mafia zum Polit-Rap des Untergrunds | norient.com   25 Feb 2022 23:42:57

                All Topics

https://norient.com/stories/belgrad2004                                        Page 9 of 9
Sie können auch lesen