Wann sind Opioide bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen indiziert?
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FORTBILDUNG Wann sind Opioide bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen indiziert? Die aktualisierte Leitlinie zum Gebrauch opioidhaltiger Analgetika bei chronischen, nicht tumorbeding- ten Schmerzen (CNTS) informiert über sinnvolle Indikationen, und sie vermittelt konkrete Empfehlun- gen für Beginn, Durchführung und Terminierung einer Opioidtherapie bei CNTS-Patienten. Für die Praxis nützlich dürften insbesondere auch Praxiswerkzeuge wie Fragebögen und kurz gefasste Anlei- tungen sein, die mit der Leitlinie angeboten werden. Der Schmerz Opioide sind nie die erste Wahl bei chronischen, nicht tumor- Leitsymptom psychischer Störungen, sollte der Patient nicht bedingten Schmerzen (CNTS), aber sie sind eine der medika- mit Opioiden behandelt werden. mentösen Optionen für bestimmte Patienten, wenn die Bei Arthroseschmerz wird die Indikation auf diejenigen Pa- CNTS seit mehr als 3 Monaten anhalten und durch ander- tienten beschränkt, bei denen andere Therapien nicht ge- weitige Massnahmen nicht ausreichend gelindert werden holfen haben oder kontraindiziert sind und/oder ein Gelenk- können. ersatz nicht möglich ist oder vom Patienten nicht gewünscht Eine vorgängige Definition des Therapieziels ist sehr wichtig, wird. weil die Erwartungen der Schmerzpatienten meist zu hoch Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis sollten Opioide nur sind. Sie hoffen gemäss früherer Studien auf eine Schmerz- ausnahmsweise zum Einsatz kommen (z. B. wenn NSAR bei reduktion von weit mehr als 50 Prozent. Medizinisch realis- einem Patienten kontraindiziert sind), aber möglichst nicht tisch ist in vielen Fällen jedoch nur eine Reduktion von allen- in einem frühen Stadium der Erkrankung. falls 30 Prozent. Darum empfiehlt man in der Leitlinie, Ebenfalls mögliche Indikationen sind die diabetische Neuro- Therapieziele zu formulieren, die sich auf konkrete Funktio- pathie sowie Polyneuropathien anderer Ätiologie. Eine Aus- nen beziehen (z. B. wieder im Garten arbeiten oder an be- nahme sind Patienten mit alkoholbedingter Polyneuropathie stimmten sozialen Aktivitäten teilnehmen zu können). und aktueller Substanzabhängigkeit. Sie sollten keine Opioide erhalten. Indikationen und Kontraindikationen Opioide sind ebenfalls nicht indiziert bei CNTS wegen Par- Rückenschmerzen sind eine mögliche Indikation, wenn der kinson; ihr Gebrauch ist bei diesen Patienten allenfalls als Schmerz zu einem relevanten Anteil somatisch bedingt ist. Ausnahme versuchsweise möglich. Dies trifft beispielsweise für Patienten mit chronisch ent- Keinen Konsens erzielte die Leitlinienkommission bezüglich zündlichen Prozessen oder inoperablen Spinalkanalstenosen des Gebrauchs von Opioiden bei Fibromyalgie. In zwei Min- zu. Ist der Rückenschmerz hingegen funktionell oder ein derheitsvoten sprachen sich die deutschen Rheumatologen und die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. dafür aus, diesen Patienten optional Tramadol anzubieten. In den Leitlinien wird eine Vielzahl weiterer möglicher In- MERKSÄTZE dikationen genannt, die in Tabelle 1 zusammengefasst sind. Anhand der verfügbaren Studien wurde in den Metaanaly- � Für Patienten mit chronischen, nicht tumorbedingten sen, die den Empfehlungen zugrunde liegen, drei Behand- Schmerzen (CNTS) sind Opioide eine Option, wenn andere lungsintervalle als kurz,- mittel- und langfristig definiert. Die Massnahmen den Schmerz nicht ausreichend lindern. Behandlung bis 4 Wochen zählt als Akutbehandlung (diese ist nicht Gegenstand der vorliegenden Leitlinie). Klinisch � Die Schmerzen sollten zu einem relevanten Anteil somatisch spricht man, wie oben erwähnt, ab 3 Monaten generell von bedingt sein. einer Opioidlangzeittherapie. � Die vorgängige Definition der Therapieziele ist wichtig. Spezielle Patientengruppen � Das Ansprechen auf eine Opioidtherapie bei CNTS ist in der Bei älteren Patienten mit CNTS ist das Opioid zu Beginn der Regel nach 4 bis 6 Wochen klinisch feststellbar. Therapie besonders niedrig zu dosieren (ca. 25–50% weniger � Nur Responder sollten bei CNTS länger als 3 Monate mit als für junge Patienten) und dann langsam und allmählich zu Opioiden behandelt werden. steigern. Auch sollte die Kontrolle bei älteren Patienten be- sonders engmaschig erfolgen. ARS MEDICI 24 | 2020 777
FORTBILDUNG Tabelle 1: Empfehlungen für oder gegen eine Opioidtherapie bei CNTS 4–12 13–26 > 26 Schmerzsyndrome und -ursachen Wochen Wochen Wochen Arthrose Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Chronische Pankreatitis CNTS Rückenmarkverletzung CNTS postoperativ CRPS Typ I und II Dekubitus Grad 3 und 4 Diabetische Polyneuropathie Entzündlich-rheumatische Erkrankungen (ausser RA, z. B. Lupus, Spondylarthritiden) Extremitätenschmerz wegen ischämischer oder entzündlicher arterieller Verschlusskrankheiten Fibromyalgie kein Konsens Funktionelle/somatoforme Störungen Kontrakturen (fixiert) bei pflegebedürftigen Patienten Missbrauch opioidhaltiger Analgetika Morbus Parkinson Osteoporose Phantomschmerz Polyneuropathien, nicht diabetisch* Post-Zoster-Neuralgie Primäre Kopfschmerzen Psychische Störungen mit Leitsymptom CNTS Radikulopathie Restless-legs-Syndrom Rheumatoide Arthritis, anhaltende Schmerzen Rückenschmerz Schwere affektive Störung und/oder Suizidalität Sekundäre Kopfschmerzen Traumatische Trigeminusneuropathie Unterbauchschmerz der Frau bei ausgeprägten Verwachsungen und/ oder multilokulärer Endometriose Zentrale neuropathische Schmerzen (z. B. nach Thalamusinfarkt, bei MS) Zweifel an der Fähigkeit des Patienten zum verantwortungsvollen Gebrauch opioidhaltiger Analgetika grün: positive Empfehlung; gelb: Opioide können Respondern angeboten werden; grau: individueller Therapieversuch möglich; rot: Opioide werden nicht empfohlen *keine Opioide bei alkoholischer Polyneuropathie und aktuellem Substanzmissbrauch CNTS: chronische, nicht tumorbedingte Schmerzen; CRPS: chronic regional pain syndrome Die Tabelle wurde aufgrund der Angaben in der Leitlinie durch die Redaktion erstellt (RBO). Zur besseren Übersicht enthält sie keine Angaben zum Evidenzgrad der Empfehlungen; hierfür wird auf die Originalpublikation verwiesen. 778 ARS MEDICI 24 | 2020
FORTBILDUNG Tabelle 2: Praxiswerkzeuge für die Opioidtherapie bei CNTS Anamnese Schmerzfragebogen der Schweizerischen Gesell- https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_schmerzfragebogen schaft zum Studium des Schmerzes (SGSS)* Geriatrische Depressionsskala https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_ger-depression Screening Angst und Depression (PHQ-4) https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_angst-depression Alkoholanamnese Audit https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_alkohol-audit Alkoholanamnese CAGE https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_alkohol-cage Weitere Fragebögen zur Anamnese älterer https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_assessment Patienten Opioidauswahl, Interaktionen, Nebenwirkungen Arzneimittelinteraktionen https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_interaktionen Antiemetika https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_antiemetika Obstipation https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_obstipation Intrathekale Opioidtherapie bei CNTS https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_intrathekal Opioide bei Leberinsuffizenz https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_leber Opioide bei Niereninsuffizienz https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_niere Fentanylpflaster https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_pflaster Opioidrotation https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_opioidrotation Opioidentzug bei Schmerzpatienten https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_entzug Für Patienten Autofahren, Infoblatt https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_autofahren Patientenvereinbarung zum Entzug https://www.rosenfluh.ch/qr/cnts_entzug_patient von Opioiden *Der Fragebogen der SGSS (www.swisspainsociety.ch) soll stetig verbessert werden, die Fachgesellschaft bittet um Feedback von Anwendern unter: https://www.rosenfluh.ch/qr/feedback_sgss Bei Patienten mit obstruktivem Schlafapnoesyndrom und Optionen ausgeschöpft werden. Auch sollen Opioide nicht CNTS ist die Indikation für eine Opioidtherapie strenger zu die einzige Therapie bei CNTS sein. Physikalische, physio- stellen. therapeutische und gegebenenfalls psychotherapeutische Kinder und Jugendliche mit CNTS sollten nur in Ausnahme- Massnahmen gehören dazu. Welche dieser Massnahmen im fällen mit Opioiden behandelt werden. Einzelfall indiziert sind, hängt von der Erkrankung des Pa- Frauen mit Kinderwunsch sollten das Opioid in Absprache tienten und den individuellen Gegebenheiten ab. mit ihrem behandelnden Arzt ausschleichen und absetzen. In einer ausführlichen allgemeinen, sucht- und schmerzbezo- Wird eine Frau mit CNTS unter Opioidtherapie schwanger, genen Anamnese sind der organische und psychische Status ist im Einzelfall zu entscheiden, ob eine anders zu erzielende des Patienten möglichst genau zu erfassen. Nützliche Praxis- Analgesie infrage kommt. Das Ausschleichen sollte langsam werkzeuge sind Fragebögen, wie sie in Tabelle 2 aufgelistet erfolgen, um das Risiko vorzeitiger Wehen und von Fehl- sind. Ebenfalls nicht fehlen darf eine psychosoziale Anam- oder Frühgeburten zu vermeiden. Falls die Opioidtherapie nese. Bei Verdacht auf frühere oder aktuelle psychische Stö- fortgeführt wird, sollte die Entbindung in einem Zentrum rungen wird das Hinzuziehen eines Psychologen oder Psych- erfolgen, da beim Neugeborenen postpartale Entzugssymp- iaters empfohlen, sofern man nicht selbst über die tome auftreten können. entsprechende Expertise und Erfahrung verfügt. Auch für Patienten mit CNTS und psychischen Störungen und/oder diesen Punkt werden in Tabelle 2 mehrere Praxiswerkzeuge akuter Substanzsucht sollten keine Opioidtherapie erhalten. genannt. Ausnahmen sind möglich, wobei die Betreuung in enger Zu- Die Vereinbarung von realistischen Therapiezielen ist von sammenarbeit mit Spezialisten erfolgen sollte. entscheidender Bedeutung. Wie eingangs erwähnt, erhoffen sich viele CNTS-Patienten eine anhaltende Schmerzfreiheit, Vor dem Beginn einer Opioidtherapie bei CNTS die in der Realität kaum erreicht werden kann. Prinzipiell gilt für alle CNTS-Patienten, dass vor dem Beginn Ebenfalls wichtig sind die Aufklärung des Patienten über die einer Behandlung mit Opioiden die nicht medikamentösen Risiken und Nebenwirkungen einer Opioidtherapie (Doku- ARS MEDICI 24 | 2020 779
FORTBILDUNG KOMMENTAR Wichtig ist auf jeden Fall die Beachtung der Kontraindikationen einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika: primäre Kopfschmerzen, funk- Dr. med. Wolfgang Schleinzer, MSc tionelle und psychische Störungen mit dem Leitsymptom Schmerz, ein Facharzt für Anästhesiologie, verantwortungsloser Gebrauch opioidhaltiger Analgetika oder schwere Interdisziplinäre Schmerzmedizin, affektive Störung und/oder Suizidalität. Keinen Konsens erzielte die Facharzt Transfusionsmedizin, Leitlinienkommission bei der Indikation Fibromyalgiesyndrom. Aus mei- Gesundheitsökonom (ebs), Luzern ner Sicht sind opioidhaltige Analgetika bei Fibromyalgie kontraindiziert. Bei chronischer Pankreatitis oder chronisch entzündlichen Darmerkran- kungen sind opioidhaltige Analgetika eigentlich auch kontraindiziert, Opioide waren seit Langem Eckpfeiler im Management tumorbedingter eine befristete Therapie (< 4 Wochen) ist jedoch möglich. Schmerzen, als 1990 die erste deutschsprachige Publikation zu Opioiden Wichtig ist der Leitlinienkommission die Feststellung, dass die Opioid- bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen (CNTS) erschien (1). epidemie in Nordamerika auf die Notwendigkeit hinweise, den Stellen- Seitdem hat intensives Marketing zu einer massiven Zunahme der An- wert von Opioiden in der Therapie von CNTS kritisch zu überprüfen. wendung von Opioiden bei CNTS geführt, obwohl ein monokausal aus- Hierzulande können wir zwar (noch) nicht von einer Epidemie sprechen, gerichteter Therapieansatz mit einer rein medikamentösen Behandlung aber die Gefahr von Fehlgebrauch (Über-/Fehltherapie), Missbrauch und bei einer komplexen chronischen Schmerzerkrankung als problematisch selbst Todesfällen bei der Langzeitanwendung mit Opioiden besteht. anzusehen ist. Zentrales Element einer Langzeitopioidtherapie ist deshalb die Über- Aus Metaanalysen geht zwar eine gewisse Wirksamkeit von Opioiden prüfung des Bedarfs einer Opioidtherapie über den gesamten Zeitraum zur Schmerzreduktion bei CNTS hervor, allerdings wurden die meisten der Anwendung, um die Gefahr von Missbrauch, Übertherapie und Ab- randomisierten Studien von der Pharmaindustrie finanziert, und sie lie- hängigkeit zu minimieren. ferten lediglich Kurzzeitergebnisse bei hoch selektierten Patienten (2). Indirekte Parameter zur Wirksamkeit sind neben der subjektiven Angabe 2009 wurde eine erste Fassung der Leitlinie zur Langzeitanwendung von zur Schmerzreduktion auch die Verbesserung von Schlaf, Stimmung und Opioiden bei chronischen, nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS) Teilhabe (Beruf, Aktivitäten). publiziert. Als einzige AWMF-Leitlinie befasst sie sich nicht mit Krank- Bevorzugt werden Opioide mit retardierter Galenik oder langer Wirk- heitsbildern und deren Diagnose- und Behandlungsalternativen, son- dauer eingesetzt und nach einem festen Zeitschema appliziert. Der Ein- dern nur mit einer einzigen Medikamentengruppe. satz eines Bedarfsmedikaments – wie beim Breakthrough-pain-Konzept Ziel der aktuellen, 2020 publizierten Leitlinie (3) ist es, Therapeuten und beim Tumorschmerz – ist bei CNTS für aufgesetzte Schmerzattacken ihren CNTS-Patienten Orientierungshilfen zum potenziellen Nutzen nicht ohne Weiteres gerechtfertigt und bleibt dem Einzelfall vorbehal- und Schaden opioidhaltiger Analgetika sowie konkrete Handlungsvor- ten. schläge für die Durchführung und Beendigung einer Therapie mit diesen In einigen Studien erwies sich erneut die interdisziplinäre, multimodale Medikamenten zu geben – aber auch Fehlentwicklungen bis hin zu einer Schmerztherapie als überlegen im Vergleich zu konventionellen Thera- «Opioidkrise», wie sie derzeit in den USA besteht, vorzubeugen. Gleich- pieansätzen, sodass sich für eine Langzeitanwendung von Opioiden bei zeitig will man mit der aktualisierten Leitlinie erreichen, dass starke CNTS die Zusammenarbeit mit einem in diesem Sinne ausgerichteten Opioide nicht mehr für Patienten mit Fibromyalgie und somatoformen Schmerzzentrum empfiehlt. Dies gilt insbesondere für Patienten mit Schmerzstörungen verordnet werden. Rückenschmerzen, sowohl bei subakuten als auch bei chronischen un- Mit der aktualisierten Leitlinie zu den CNTS ergeben sich neue mögliche spezifischen Kreuzschmerzen. Indikationen für eine kurz- (4–12 Wochen), mittel- (13–26 Wochen) und Die kritische Betrachtung zum Einsatz von Opioiden bei CNTS soll je- langfristige Therapie (> 26 Wochen) mit opiodhaltigen Analgetika, zum doch nicht zum Verzicht auf diese Substanzen führen, sondern das Pro- Beispiel bei diabetischer Polyneuropathie, Post-Zoster-Neuralgie, Ar- blembewusstsein im Umgang mit diesen Substanzen schärfen. Die throseschmerz, chronischem Rückenschmerz, Radikulopathie oder 2. Aktualisierung der S3-Leitlinie LONTS ist hierfür ein nützliches Inst- rheumatoider Arthritis. rument zur sicheren Behandlung, aber auch um Fehlentwicklungen bis Für andere Indikationen gilt eine kurz- oder langfristige Behandlung mit hin zur Opioidkrise vorzubeugen. opioidhaltigen Analgetika jedoch nach wie vor als individueller Thera- pieversuch, so zum Beispiel bei manifester Osteoporose (Wirbelkörper- 1. Zenz M et al.: Orale Opiattherapie bei Patienten mit «nicht-malignen» Schmer- frakturen), bei postoperativen Schmerzen, beim komplexen regionalen zen. Schmerz 1990; 4(1): 14–21. Schmerzsyndrom (CRPS) Typ I und II oder bei Polyneuropathien, die nicht 2. Freynhagen R et al.: Opioids for chronic non-cancer pain. BMJ 2013; 346: f2937. durch Diabetes oder Zoster verursacht werden – um nur einige zu nen- 3. Häuser W et al.: 2. Aktualisierung der S3-Leitlinie Langzeitanwendungen von Opioiden bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). Schmerz nen. Neben den eigentlichen Schmerzbehandlungen werden jetzt auch 2020; 34(3): 204–244. Indikationen wie das Restless-legs-Syndrom und das Parkinson-Syn- drom berücksichtigt. mentieren nicht vergessen!) sowie die Information über spe- eine intrathekale Opioidtherapie bei CNTS möglich (siehe zielle Gegebenheiten, wie zum Beispiel mögliche Einschrän- Praxiswerkzeuge in Tabelle 2). Das verordnete Opioidme- kungen beim Autofahren (in der Titrationsphase verboten). dikament soll ohne Absprache mit dem behandelnden Arzt nicht gegen ein anderes mit gleicher Substanz ausgetauscht Opioidauswahl und Wechselwirkungen werden. Retardierte Opioide sind zu bevorzugen. Eine spezielle Emp- Prinzipiell gilt für alle Patienten, dass Opioide nicht mit fehlung für bestimmte Opioide wird nicht gegeben, ebenso- Tranquilizern kombiniert werden sollen. wenig zu der Frage, ob die orale oder die transdermale Darüber hinaus sind Wechselwirkungen mit anderen Medi- Applikation zu bevorzugen sei. Entscheidend sind die Ge- kamenten zu bedenken, welche die Wirkung der Opioide gebenheiten im individuellen Fall. In seltenen Fällen ist auch verstärken oder hemmen beziehungsweise zu unerwünsch- 780 ARS MEDICI 24 | 2020
FORTBILDUNG ten Nebenwirkungen führen können. So wird beispielsweise Lässt die Opioidwirkung mit der Zeit nach, ist eine erneute vor der Gefahr einer Atemdepression bei der Kombination Beurteilung der Situation notwendig, bei der mögliche Ur- von Opioiden mit Pregabalin oder Gabapentin gewarnt. sachen abgeklärt werden; dazu gehören Krankheitsprogres- Das Risiko anticholinerger Syndrome ist insbesondere bei sion, Opioidtoleranz, opioidbedingte Hyperalgesie (Einzel- alten Patienten zu beachten. Dieses Risiko kann in der fälle) sowie Fehlgebrauch. Schmerzmedizin bei der Kombination von Opioiden mit Bei Toleranzentwicklung ist eine Opioidrotation indiziert (in Antidepressiva und Neuroleptika relevant sein. Anticholin- der Regel nicht mehr als 2 Wechsel). Das neue Opioid sollte erge Syndrome manifestieren sich durch periphere (Obsti- in einer Äquivalenzdosis von 50 bis 75 Prozent gegeben pation, Harnverhalt, Tachykardie, Hypertonie, Mydriasis, werden. Bei älteren und multimorbiden Patienten werden trockene Haut und Schleimhaut) oder zentrale Symptome 50 Prozent empfohlen, das Gleiche gilt für Patienten mit einer (Vigilanzminderung, Aggressivität, Agitiertheit, Halluzina- hohen Ausgangsdosis (> 120 mg/Tag orales Morphin tionen, Koma, Schwindel und Dysarthrie). äquivalent). Details und eine Äquivalenztabelle finden sich Selten, aber gefährlich ist das Serotoninsyndrom, das auch im Praxiswerkzeug «Opioidrotation» (Tabelle 2). Falls der bei hohen Dosen einer Opioidmonotherapie auftreten kann, Erfolg ausbleibt, ist das Opioid schrittweise zu reduzieren. in der Praxis jedoch eher bei der Kombination von zwei oder Bei opioidbedingter Hyperalgesie ist das Opioid schritt- mehr serotonerg wirkenden Substanzen zu bedenken ist. weise zu reduzieren; auch hier ist eine Opioidrotation mit In Leitlinien wird gleichzeitig darauf hingewiesen, dass Prä- einer Äquivalenzanfangsdosis von 50 Prozent möglich. valenz und klinische Relevanz potenzieller Interaktionen nicht in jedem Fall durch ausreichende Daten gesichert Opioidtherapie beenden: Wann und wie? seien und manche Risiken insofern auch überbewertet wer- In der Anfangs- und Titrationsphase sind Wirksamkeit und den könnten. Eine Übersicht zu möglichen Wechselwirkun- Nebenwirkungen der Opioidtherapie mindestens alle 4 Wo- gen bietet das Praxiswerkzeug «Interaktionen» (Tabelle 2). chen, in der Langzeitphase mindestens 1-mal im Quartal zu evaluieren und zu dokumentieren. Titrationsphase Wenn innert 3 Monaten nach Beginn der Opioidtherapie Die Titration beginnt mit einer niedrigen Opioiddosis, die wegen CNTS die inviduellen Therapieziele nicht erreicht schrittweise gesteigert wird. In der Titrationsphase sind werden oder nicht tolerable Nebenwirkungen auftreten, ist andere Analgetika oder nicht retardierte Opioide als Re- das Opioid schrittweise auszuschleichen. scue-Medikation erlaubt, nicht jedoch ultraschnell wir- Das Gleiche gilt, wenn in der Langzeittherapie nicht mehr kende bukkale oder nasale Opioide. der gewünschte Effekt erreicht werden kann und/oder nicht Nebenwirkungen wie Übelkeit und Obstipation können mit tolerable Nebenwirkungen auftreten, andere Massnahmen Antiemetika (meist nur in den ersten 2 bis 4 Monaten nötig) sinnvoller und wirksamer sind (z. B. OP, ausreichende Be- oder Laxanzien (ggf. auf Dauer) behandelt werden. Zur handlung des Grundleidens) oder das Opioid missbräuch- Behandlung der Obstipation können konventionelle Laxan- lich verwendet wird. zien (Natriumpicosulfat, Bisacodyl, Macrogol, Glycerol) Falls psychische Auffälligkeiten (z. B. gefährdendes Ver- oder peripher wirksame µ-Opioidrezeptor-Antagonisten halten für sich und andere, Halluzinationen, Verwirrtheit, verwendet werden (Methylnaltrexon, Naloxegol, Nalo- Alkohol-/Drogenmissbrauch, neu auftretende Angststö- xon-Fixkombination); Details werden im Praxiswerkzeug rung oder Depression, Delir ohne Demenz, Verschlechte- «Obstipation» aufgelistet (Tabelle 2). rung einer Demenz) mit der Opioidtherapie assoziiert sind, Ob die vorgängig vereinbarten, individuellen Therapieziele sind Dosisreduktion, Opioidrotation und schrittweises Ab- erreicht werden, zeigt sich gemäss klinischer Erfahrung setzen indiziert. nach 4 bis 6 Wochen. Eine Maximaldosis von > 120 mg/Tag Mit allen Patienten ist nach 6 Monaten zu besprechen, die orales Morphinäquivalent sollte nicht überschritten wer- Opioiddosis versuchsweise zu reduzieren oder das Medika- den. Bevor die Dosis in Einzelfällen doch darüber hinaus ment abzusetzen. erhöht wird, ist abzuklären, ob eine Opioidtoleranz oder Der Entzug des Opioids kann mit oder ohne medikamen- Opioidabhängigkeit vorliegen könnte oder der berechtigte töse Unterstützung erfolgen; Details werden im Praxiswerk- Verdacht besteht, dass das verordnete Opioid missbräuch- zeug «Opioidentzug bei Schmerzpatienten» erläutert (Ta- lich verwendet wird (z. B. Weitergabe an Dritte). belle 2). s Gleichzeitig weisen die Leitlinienautoren ausdrücklich da- rauf hin, dass bezüglich des Ansprechens auf Opioide Renate Bonifer durchaus genetische Unterschiede bestehen, die in Betracht Häuser W et al.: 2. Aktualisierung der S3-Leitlinie Langzeitanwendungen gezogen werden müssen. von Opioiden bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). Schmerz 2020; 34(3): 204–244. Dauer der Opioidtherapie bei CNTS Häuser W et al.: Leitlinienreport der zweiten Aktualisierung der S3-Leitlinie «Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht-tumorbedingten Schmerzen Länger als 3 Monate sollte eine Opioidtherapie bei CNTS – LONTS». Schmerz 2020; 34(3): 245–278. nur bei Ansprechen auf die Therapie erfolgen. Online: Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.: Langzeitanwendungen von Nach der Titration ist während der Langzeitgabe in der Opioiden bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). 2. Aktualisierung, 2020. 1.4.2020; verfügbar unter: https://www.awmf.org/ Regel keine zusätzliche Bedarfsmedikation notwendig. Aus- leitlinien/detail/ll/145-003.html; Zugriff am 2.7.2020 nahmen sind möglich, beispielsweise bei Arthroseschmer- zen, wenn das Gelenk aussergewöhnlich belastet werden Interessenlage: Einige Mitglieder der Leitlinienkommission deklarieren For- muss. schungsgelder oder Berater- und Vortragshonorare verschiedener Firmen. ARS MEDICI 24 | 2020 781
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