WILDKATZEN IN DER MANEGE - DAS MENSCH-TIER-VERHÄLTNIS IM ZIRKUS ERSCHIENEN IN: MENSCH UND TIER VON: SABINE HANKE - DUEPUBLICO 2

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WILDKATZEN IN DER MANEGE - DAS MENSCH-TIER-VERHÄLTNIS IM ZIRKUS ERSCHIENEN IN: MENSCH UND TIER VON: SABINE HANKE - DUEPUBLICO 2
blog.kulturwissenschaften.de/wildkatzen-in-der-manege/                          04.10.2021

Wildkatzen in der Manege
Das Mensch-Tier-Verhältnis im Zirkus
Erschienen in: Mensch und Tier
Von: Sabine Hanke

Die Zirkusdressur von Wildtieren ist in Verruf geraten. In diesem Zusammenhang haben
24 EU-Mitgliedstaaten den Einsatz von Wildtieren in Zirkussen eingeschränkt, 20 von
diesen haben zudem auch ein tatsächliches Verbot ausgesprochen. Deutschland gehört
nicht zu diesen Ländern und hat bisher nur die Verabschiedung eines solchen Verbots in
Aussicht gestellt.Im Juni 2021 ist dieses Vorgehen nun vorerst gescheitert und eine
Ergänzung der Zirkusverordnung, die den Neuankauf von Wildtieren wie Großkatzen,
Giraffen und Elefanten verbieten sollte, wurde im Bundesrat gekippt. Dies soll zum Anlass
genommen werden, die Struktur und den Charakter dieses Mensch-Tier-Verhältnisses
aus historischer Perspektive auszuleuchten und nach der tierischen Handlungsfähigkeit
in diesem klar von Menschen definierten Raum zu fragen.

Lieblinge des Publikums

Dressuren von exotischen Tieren wie Löwen, Tigern, Leoparden, Riesenschlangen und
Elefanten, aber auch von einheimischen Tieren wie Hunden, Schweinen oder Tauben
gehörten zu den Hauptattraktionen des Zirkus im 20. Jahrhundert. Dompteur*innen und
ihre Vorstellungen, in denen sie spielerisch das Risiko der Wildtierdressur und der
versuchten Dominanz von wilden Tieren vorführten, waren regelrechte
Publikumsmagnete. Die Dressur von heimischen Tieren hatte oft einen erheiternden
Charakter, stellten diese doch auf komische Art die menschliche Welt auf den Kopf. Zum
Repertoire gehörten Schweine, die mit ihrer Schnauze eine Melodie vorspielten, oder
auch Hunde, die den menschlichen Akrobat*innen assistierten. In dieser Welt des Zirkus
waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt und durften Rollen vertauscht werden.

Einer der bekanntesten Tierdompteur*innen der Zwischenkriegszeit war der gebürtige
Grazer Georg Kulovits, besser bekannt als Togare. Kulovits wurde am 26. März 1900
geboren und begann ab 1920 für den Zirkus Krone zu arbeiten. Er lernte die
mexikanische Tierbändigerin Lola Tex kennen, die mit dressierten Eisbären auftrat. Sie
erkannte sein Talent und Interesse an den Tieren und stellte ihn für das Vorführen ihrer
Löwen- und Tigergruppe an.

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WILDKATZEN IN DER MANEGE - DAS MENSCH-TIER-VERHÄLTNIS IM ZIRKUS ERSCHIENEN IN: MENSCH UND TIER VON: SABINE HANKE - DUEPUBLICO 2
Abbildung 1: Circus-, Varieté- und Artistenarchiv Marburg, Sammlung Lola Tex, Fotografien Krone
  Zirkus, undatiert. Veröffentlichung mit Erlaubnis des Circus-, Varieté- und Artistenarchivs Marburg.

Hollywood im Zirkus

Als ‚orientalischer‘ Tierdresseur trat Kulovits in weiten Ballonhosen, mit freiem
Oberkörper, Ohrringen, Armbändern und einem Dolch in der Hand auf. Sein Bühnenoutfit
war an ältere Hollywoodfiguren angelehnt, die sich ebenfalls eines ‚orientalischen‘
Repertoires bedienten. Vor allem die Figur ‚Ahmed‘, dargestellt von Douglas Fairbanks in
dem Kinofilm The Thief of Bagdad von 1924, diente Kulovits als Vorbild für seine Auftritte
als Togare.

Der Erfolg seiner Tierdressuren lag in der Dramaturgie der Vorstellungen, die die Wildheit
der Tiere auf spielerische Weise inszenierten. Freundschaft und Vertrauen zwischen
Mensch und Tier wurden nicht nur mit diesen Zirkusaufführungen inszeniert, sondern
auch durch reiches Bildmaterial beworben, das die physische und emotionale Nähe von
Dompteur und Wildkatze unterstrich (s. Abb. 2).

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Abbildung 2: Circus-, Varieté- und Artistenarchiv Marburg, Sammlung Togare, Fotografien, undatiert.
         Veröffentlichung mit Erlaubnis des Circus-, Varieté- und Artistenarchivs Marburg.

Politische Aufladung

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Freilich waren derartige Zirkusvorstellungen mit wilden Tieren, wie sie von Tex und
Kulovits veranstaltet wurden, bereits in dieser Zeit nicht unumstritten. Insbesondere in
den Zwischenkriegsjahren nahm die Kritik an der Behandlung wilder Tiere im Zirkus zu
und beeinflusste die europäische Zirkuslandschaft. In Großbritannien, wo Kulovits
ebenfalls als Togare mit seinen Tiergruppen auftrat, hatte sich im Jahr 1914 die British
Performing Animals’s Defence League gegründet, die sich für das Verbot von Tieren in
Zirkusvorstellungen einsetzte.Im Juli 1925 wurde ein Gesetzesentwurf für die
Regulierung von auftretenden Tieren verabschiedet, der Zirkusse ab 1926 zur
Registrierung verpflichtete, wenn diese Tierdressuren vorführten, damit Behörden die
Haltung der Tiere kontrollieren konnten. In Deutschland wurde 1933 eine neue
Gesetzgebung in Bezug auf das Mensch-Tier-Verhältnis erlassen, die Tiere als Teil der
Volksgemeinschaft aufwerteten und den neuen politischen Zielvorstellungen
unterordneten.Für Tierdompteur*innen bedeutete das konkret, allen Vorwürfen der
Misshandlung ihrer Tiere zuvorzukommen. Eine Strategie, auf die viele Dompteur*innen
zurückgriffen, war die performative Hervorhebung der Freundschaft und Nähe zu ihren
Tieren. Thematisch wurde dies oft in eine exotische Themenwelt des Orients gekleidet,
die die Wildheit und angebliche Herkunft der Tiere unterstrich und es den
Dompteur*innen gleichzeitig erlaubte, eine Mensch-Tier-Freundschaft zu inszenieren, die
auf koloniale Stereotype der angeblich naturverbundenen ‚Orientalen‘ zurückgriff.

Jenseits der Kontrolle des Zirkus

Neben den umfangreichen Fotoalben und Abbildungen, die Kulovits‘ Erfolg in der
Wildkatzendressur und mit dem Zirkuspublikum hervorheben, beinhaltet sein Archiv auch
Hinweise auf die Handlungsfähigkeit der Tiere innerhalb dieses rigiden Systems. Ein
Beispiel sind Unfälle und Ausbrüche von Tieren, die Situationen markieren, in denen sich
die Tiere der Kontrolle des Zirkus entzogen haben. Aufgrund des spektakulären und
unterhaltsamen Charakters der meisten Zirkusvorstellungen waren sich Besucher*innen
der Gefährlichkeit dieser Situationen nicht immer bewusst.

Während einer Vorstellung im südenglischen Plymouth im Jahre 1933 vergaß einer von
Kulovits‘ Assistenten die Tür des Tigerkäfigs zu schließen. Drei Tiger bewegten sich frei
auf dem Zirkusgelände, während in der Manege 3.000 Zuschauer*innen Kulovits‘
Vorstellung als Togare beiwohnten. Die Tiger, sichtlich erschrocken von der auch für sie
ungewöhnlichen Situation und von dem Geschrei der Zuschauer*innen, die sich der
Gefahr allmählich bewusst wurden, versuchten zu entkommen. Dabei verwundeten sie
zwei Frauen. Währenddessen hatten die vor dem Zirkusgelände anstehenden
Besucher*innen von dem Ausbruch noch nichts mitbekommen und hielten die
umherwandernden Tiger für eine besondere Attraktion. Einige lehnten sich über das
Geländer, streichelten einem Tiger den Rücken und verglichen ihn mit einer zahmen
Hauskatze. Die Situation erregte viel Aufsehen und eher Freude als Schrecken bei den
Besucher*innen. So berichtete ein Zeitungsartikel im Nachhinein, dass mehrere Hundert
Schaulustige das Wiedereinfangen der Tiger beobachteten und eher amüsiert als
alarmiert auf die Situation reagierten.Für die beiden Frauen, die von den Tigern verletzt
wurden, war die ganze Angelegenheit freilich weniger amüsant – sie mussten im
Krankenhaus versorgt werden.

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Für die historische Analyse von Togares Performances und seiner Rolle im Zirkus sind
seine Dressuren mit Wildkatzen ausschlaggebend. Dabei ist die größte methodische
Herausforderung, sich der konkreten Tiererfahrung anzunähern, ohne dabei auf von
Tieren produzierte Quellen zurückgreifen zu können. Rückschlüsse auf die Erfahrungen
von Tieren können wir hauptsächlich aus der Perspektive des Zirkus, der
Tierdompteur*innen, oder durch Erfahrungsberichte und Kommentare der
Zuschauer*innen und der Presse ziehen.

Die Human-Animal Studies haben angesichts dieses methodischen Problems in den
vergangenen Jahren Strategien entwickelt, um sich der Handlungsfähigkeit und Position
der Tiere anzunähern und diese wissenschaftlich fruchtbar zu machen. Chris Pearson
zufolge müssen Forscher*innen dafür zuallererst Handlungsfähigkeit neu definieren, um
Positionen nicht-menschlicher Tiere einzubeziehen und menschliches Handeln zu
dezentralisieren, also in komplexeren Zusammenhängen aufzulösen.Dabei ist es
hilfreich, Handlungsfähigkeit von Intentionalität zu trennen, um Tiere als Akteur*innen
wahrzunehmen.

Für das Mensch-Tier-Verhältnis im Zirkus bedeutet das, genauer auf die Situationen des
Kontrollverlusts des Zirkus zu achten, um die Handlungsfähigkeit der Tiere innerhalb des
von Menschen kontrollierten Raumes zu bemessen. Das Potenzial dieser tierischen
Perspektiven ist dabei vielfältig, da diese einerseits Rückschlüsse auf die Vorstellungen
der menschlichen Gesellschaft erlauben und andererseits tierische agency aufzeigen: So
kann die Analyse der Kontrollmechanismen des Zirkus und der Reaktionen von
Zuschauer*innen nicht nur Rückschlüsse auf Zirkuspraktiken und Publikumserwartungen
geben, sondern vor allem der Wildheit der Tiere neue Bedeutung verleihen, um deren
Geschichte(n) nicht als Geschichte bloßer Requisiten des Zirkus fortzuschreiben. Im Falle
Togares zeigen diese tierischen Perspektiven die Handlungsfähigkeit der Wildkatzen auf,
die für die Zirkusbesucher*innen nur in Extremsituationen sichtbar waren und von diesen
oft als Attraktion des Zirkus gewertet wurden. Ihre Bedeutung liegt aber gerade in der
Herausforderung der Kontrolle von Tierdompteur*innen und Zirkussen.

Die gescheiterte Erweiterung der Zirkusverordnung bietet Anlass, die historischen
Handlungsspielräume der Wildtiere im Zirkus näher zu erforschen und die Situationen
des Kontrollverlusts analytisch in eine Theorie der Mensch-Tier-Beziehungen
einzubinden, die der historischen Rolle von wilden Tieren im Zirkus gerecht wird.

 References
    1. Vgl. Wild Animals in EU Circuses. Problems, Risks and Solutions, veröffentlicht
       von Eurogroup for Animals, online verfügbar unter
       https://www.tierschutzbund.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Publikatonen_an
       dere/Eurogroup-Circus-Report.pdf [aufgerufen am 11. Juni 2021].
    2. Vgl. Moritz Schäfer, Togare. Der Herr der Tiger (Berlin, 1939), S. 13-16.
    3. Vgl. „Performing Animals on Stage“, The Times, 22. Mai 1914.

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4. Diese Neuordnung der nationalsozialistischen Lebensgemeinschaft war
      speziesübergreifend angelegt und schloss Tiere ein und bestimmte
      Menschengruppen aus, vgl. Maren Möhring, „Herrentiere und Untermenschen. Zu
      den Transformationen des Mensch-Tier-Verhältnisses im nationalsozialistischen
      Deutschland“, Historische Anthropologie 19.2 (2011), S. 229-244.
      https://doi.org/10.7788/ha.2011.19.2.229.
   5. Vgl. Lady Eleanor Smith, Life’s a Circus (London, 1939), S. 184; Western Morning
      News, 07. Juli 1933, S. 5, 8.
   6. Vgl. Chris Pearson, „History and Animal Agencies”, in Linda Kalof (Hrsg.), The
      Oxford Handbook of Animal Studies (New York, 2017), S. 240-257, hier S. 240.
      https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199927142.013.35.

SUGGESTED CITATION: Hanke, Sabine: Wildkatzen in der Manege. Das Mensch-Tier-
Verhältnis im Zirkus, in: KWI-Blog, [https://blog.kulturwissenschaften.de/wildkatzen-in-
der-manege/], 04.10.2021

DOI: https://doi.org/10.37189/kwi-blog/20211004-0830

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DOI:      10.37189/kwi-blog/20211004-0830
URN:      urn:nbn:de:hbz:464-20211004-101804-2

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