Schweizer Volkslieder begeistern Weltmusik-Fans - Norient

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Schweizer Volkslieder begeistern Weltmusik-Fans - Norient
Schweizer Volkslieder begeistern Weltmusik-Fans | norient.com                22 Feb 2022 06:31:18

    Schweizer Volkslieder
    begeistern Weltmusik-Fans
    by Theresa Beyer

    1'000 Künstler aus über 40 Ländern auf 20 Bühnen
    verwandelten vom 30. Juni bis zum 3. Juli 2011 die
    thüringische Kleinstadt Rudolstadt in ein Weltmusik-Mekka.
    Aus der multikulturellen Vielfalt des 21. «Tanz- und
    Folkfestivals» sprudelten alpine Klänge hervor und setzten
    den diesjährigen Länderschwerpunkt «Schweiz» ins Gehör
    und Gedächtnis der 90'000 Besucher.

    Sieben Blasmusiker 55 aufwärts marschieren in rot-grüner Tracht durch ein
    menschenüberfülltes mitteldeutsches Städtchen. Es ist die Bandella la
    Castellana aus Bellinzona, eine der wenigen übrig gebliebenen Tessiner
    Tanzkapellen. Die grauhaarigen Herren mit den perkussiven Holzschuhen sind
    die wohl traditionellsten Repräsentanten des Länderschwerpunkts Schweiz
    auf dem 21. Folk- und Weltmusikfestival in Rudolstadt. Im eidgenössisch-
    musikalischen Spektrum stellt das Christian Zehnder Quartett das
    avantgardistische Gegengewicht.

    Mit der experimentellen Kombination aus Obertongesang, grummeligen
    Baritonvokalisen, krächzender Stimmakrobatik und kunstvollem Jodel wurde
    der Zürcher mit seinem Duo Stimmhorn zunächst im grossen nördlichen
    Kanton entdeckt (erstes Album: melken 1996). Seinen anfänglichen Erfolg in
    Deutschland sieht er rückblickend als Gütesiegel, das ihn den Weg zur
    Akzeptanz in Schweizer Gefilden bahnte. In jeglicher Hinsicht
    grenzüberschreitend ist sein neues Programm «Schmelz», welches vorerst
    die letzte Beschäftigung mit dem «Fernblick auf den Alpenkamm» sein wird.
    Es passt bestens in die sakrale Atmosphäre der Rudolstädter Stadtkirche und
    wird mit Ovationen gefeiert. Die Offenheit des deutschen Publikums schätzt

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Schweizer Volkslieder begeistern Weltmusik-Fans | norient.com                22 Feb 2022 06:31:18

    Zehnder sehr: «Jedes mal fahren die Leute auf meine Musik ab, es ist fast
    schon schöner als zu Hause.» Im Vergleich beobachtet er, dass in einem
    Schweizer Konzert die Überwindung der Schönklang-Hörgewohnheiten mehr
    Zeit braucht – prallen doch in der Heimat Fremdes und Eigenes stärker
    aufeinander. Für Schweizer Musiker in Deutschland scheint die Mischung aus
    Exotik und Fraternität von Vorteil zu sein: «Das Publikum sieht uns als die
    schrulligen Nachbarn – und die hat man eben gerne», so Zehnder.

    «Neue Volksmusik»: Tradition und Provokation
    Die 12 musikalischen Botschafter stellen auf dem grössten Folk- und
    Weltmusikfestival in Deutschland unter Beweis, dass die Schweiz mehr als
    Alphorn, Schwizzerörgeli und Naturjodel zu bieten hat und dabei ist, ihre
    Alpenklänge kräftig zu entstauben. Es gibt nicht nur Rebellen wie Christian
    Zehnder oder die amerikanisch-schweizerische Blues-Jodlerin Erika Stucky,
    die in Rudolstadt Jimi Hendrix’ Woodstock-Repertoire ins jazzige Heute holt.
    Neben diesem zügellosen Umgang mit den Traditionen hat sich Mitte der
    Neunziger Jahre die Bewegung der «Neuen Volksmusik» herausgebildet (vgl.
    Norient-Artikel «Stubete in der Grossstadt» ). Deren Pionierin ist die schrille
    Jodlerin Christine Lauterburg, die einst zu sphärischem Techno jauchzte. Den
    eidgenössischen Jodlerverband provozierte sie, weil sie sich in Lederhosen
    auf die Bühne stellte und mit eigenhändiger Geigenbegleitung jodelte. Die
    unantastbaren Reglemente erlaubten jedoch nur Tracht und Schwyzerörgeli.
    «Was die Lauterburg singt, ist keine Kultur» urteilten die Jodelpuristen und
    schlossen sie kurzerhand aus dem Verband aus. Lauterburg ist froh, dass das
    damalige Unkraut nun Blüten trägt: «Ich war voller Enthusiasmus für diesen
    Gesang und habe überhaupt nicht gewusst, was ich alles falsch mache. Doch
    am Ende ist es das Lebendige, was sich durchsetzt.» In Deutschland bleibt
    Christine Lauterburg von solcherlei Debatten und prüfenden Blicken
    verschont und bittet mit ihrem Trio Doppelbock zum Tanze. Der Rudolstädter
    Unvoreingenommenheit begegnet sie nun schon zum dritten Mal: «Ich glaube
    diese Begeisterung gibt es in der Schweiz weniger. Da kommen dann viele
    und schauen, ob ich wirklich so schlimm bin, wie es geschrieben steht oder ob
    ich zu wenig artig angezogen bin.»

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    Jodeln ist cool, doch lange nicht subversiv
    Auf dem Folk- und Weltmusikfestival in Rudolstadt strömt am
    Samstagnachmittag eine ganze Horde Jodelwilliger in den Vortragssaal der
    Stadtbibliothek. Christine Lauterburg führt ihren Crashkurs mit so viel
    Schwung und Hingabe, dass ihrer holperigen Didaktik viel Nachsicht
    entgegengebracht wird. Ohne Scheu vor falschen Tönen singen die
    Teilnehmer jeglichen Alters aus voller Kehle mit, entschlüsseln Berndütsche
    Liedtexte und sind überengagiert, den Schweizer Naturjuchz möglichst
    authentisch nachzuahmen. Dass nur 150 Kilometer nördlich von Rudolstadt
    eine Jodeltradition besteht, wissen sicher die wenigsten. Das Lerbachtal im
    mitteldeutschen Gebirge Harz ist die einzige Region ausserhalb der Schweiz,
    in der jährlich Jodelwettstreite stattfinden.

    Die «Neue Volksmusik» um Lauterburg, Trio Doppelbock und die Helvetic
    Fiddlers dominiert den Länderschwerpunkt des Festivals. Stimm-Anarcho
    Christian Zehnder grenzt sich ab von der Bewegung. Auch stört er sich am
    Begriff «Volkmusik», den er von der rechten Denkkultur der Schweiz
    okkupiert sieht und darum die neutralere Bezeichnung «Neue alpine Musik»
    vorschlägt. Allerdings findet er wenig daran wirklich neu: «Ich finde es toll,
    dass die traditionelle Musik aufgemischt und befreit wird. Aber es wird auch
    viel aufgekocht – und es ist lange nicht so progressiv, wie man vielleicht
    denken mag.» Nach 15 Jahren, so findet er, sei die Zeit reif, mutiger zu
    werden. Beim Jodlerverband anzuecken ist schliesslich keine grosse Kunst.

    Neugierig ins Nachbarland geschielt
    Aber vielleicht ist es gerade der bewahrende Anteil an der «Neuen
    Volksmusik», der beim deutschen Publikum etwas auslöst. Insbesondere die
    Ostdeutschen haben sich von ihrer eigenen, sowieso nur rar überlieferten
    Volksmusik zunehmend entfremdet. Zudem war der Umgang mit der
    traditionellen Musik zu DDR-Zeiten trotz diverser Förderungen befangen. Ein
    Beispiel ist die Geschichte des Rudolstädter Festivals selbst: 1955 wurde es
    erstmalig als «Fest des deutschen Volkstanzes» veranstaltet. Von der
    ursprünglich gesamtdeutschen Ausrichtung mutierte es immer mehr zur

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    Paradebühne für Folkloretanzgruppen aus sowjetischen Staaten. Aber neben
    den ideologischen Lenkungen bis 1989 sind die Volksmusiktraditionen in
    Deutschland lange nicht so vielfältig und dicht gesät wie in der Schweiz, was
    eine gewisse Sehnsucht schürt. Mit Neugier wird zu dem verfolgt, wie es den
    Schweizern gelingt, sich jenseits des Musikantenstadels respektvoll und doch
    leichtfüssig mit der eigenen Kultur auseinander zu setzen. Christian Zehnder
    spürt dieses deutsche Bedürfnis: «Das ist die Suche nach der eigenen
    Identität nach dem verrückten Jahrhundert, das sie hinter sich haben. Wir
    haben da etwas bewahrt und das berührt die Deutschen.»

    Jürgen B. Wolff war einer der Hauptakteure im DDR-Folkrevival in den
    Siebzigern und ist seit dem Nachwende-Neubeginn Mitorganisator und
    Hausgrafiker des Rudolstädter Festivals. Bevor er damals begann sich mit
    deutschen Volksliedern zu beschäftigen und die Zeitlosigkeit der alten Texte
    schätzen zu lernen, tauchte er mit seiner Band Folkländer zunächst in die
    irische Musik ein. Um sich dem Eigenen überhaupt nähern zu können, musste
    er den Blick eines Fremden einnehmen. Die Innovationsfreude im Umgang mit
    den wiederentdeckten Traditionen hat er seinerzeit jedoch vermisst. Beim
    Verfolgen der «Neuen Schweizer Volksmusik» ist Wolff sogar ein bisschen
    neidisch, «dass man das alte Material einfach unverblümt modern
    interpretieren kann. Bei der Musik der Kummerbuben denkt man zum
    Beispiel, dass sie schon immer so geklungen haben muss. Das liegt an der
    Kraft der Traditionen, die da verarbeitet werden.»

    Volkslieder von morgen

    Die Kummerbuben sind der Nachwuchs in der «Neuen Volksmusik», auch
    wenn sie nicht planen in den Kern der Bewegung vorzudringen. Die sechs
    Berner Rampensäue haben Schweizer Volkslieder durchstöbert und sie
    aufgerockt, durchgerumpelt, tanzbar und urban gemacht. Sie zählen sich
    durchaus zu den Musikern, die sich mit der Schweizer Volkskultur
    auseinander setzen: «Es ist schon etwas anderes, denn wir bearbeiten die
    Jahrhunderte alten Texte und bringen sie in eine neue Musik. Die ist aber
    nicht unbedingt typisch schweizerisch.» In Rudolstadt haben sich auch viele
    selbstgeschriebene Lieder in ihr Repertoire gemischt. Auf der grossen Bühne
    im Heinepark kündigt Frontman Simon Jäggi die eigenen Kreationen als
    «zukünftige Schweizer Volkslieder» an, stellt aber im Nebensatz klar, dass
    diese prätentiösen Worte nur ironisch gemeint waren.

    Würden die Kummerbuben der Volksmusik-Definition ihres Vorbildes Endo
    Anaconda folgen, müssten sie in ihren Zwischenmoderationen keine
    Bescheidenheit mehr walten lassen. Der Berner Blues-Poet, der mit seiner
    Band Stiller Has ebenfalls zur Schweizer Rudolstadt-Eskorte gehört, sieht das
    nämlich ganz simpel: «Ich denke in der Schweiz macht Stiller Has neue
    Volksmusik. Wenn Schulklassen die Lieder von einem singen und man
    geflügelte Worte in die Welt setzen und das singen kann, dann macht man
    Volksmusik.»

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Schweizer Volkslieder begeistern Weltmusik-Fans | norient.com                 22 Feb 2022 06:31:18

    Endo Anacondas Songs sind schon dabei zu Volkslieder zu werden. Nicht
    zuletzt, weil sein düster-schalkhaftes Lied «I hole di o» mittlerweise von
    Christine Lauterburg gejodelt wird, Seite an Seite mit «Ds Vreneli ab em
    Guggisbärg» und «Anneli». Wenn die beim Rudolstädter Festival
    angekurbelte Schweiz-Begeisterung bleibt, wird man diese alten und neuen
    Volkslieder im verwechselbarem Nebeneinander nicht nur in Schweizer
    Tälern und Berner Gassen, sondern bald auch auf thüringischen Wiesen
    singen. Hier noch die kurzen Radioberichte von Mariel Kreis und Theresa
    Beyer, die in der Nachrichten-Sendung RaBe-Info auf ausgestrahlt wurden:

    → Published on July 11, 2011

    → Last updated on October 08, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

    → Topics

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    Sonic Traces: From
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