WTO - die Hüterin des Welthandels in der Krise - Stormy-Annika Mildner, Eckart von Unger, Katherine Tepper
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Zeitgespräch DOI: 10.1007/s10273-020-2651-1 Ende des vorherigen Zeitgesprächsartikels Stormy-Annika Mildner, Eckart von Unger, Katherine Tepper WTO – die Hüterin des Welthandels in der Krise Der wirtschaftliche Einschnitt durch die COVID-19-Pande- sich die Corona-Pandemie noch in diesem Jahr abschwä- mie ist massiv. In Deutschland und Europa, aber auch welt- chen, rechnet der IWF mit einer teilweisen Erholung der weit musste eine Vielzahl von Unternehmen ihre Produktion Weltwirtschaft im Jahr 2021. weitestgehend einstellen. Die meisten Geschäfte sowie kul- turelle Einrichtungen mussten schließen. Dies führte zu ei- Auch die Prognosen für den Welthandel sind düster. Die nem massiven Einbruch der Wirtschaftsleistung. Internati- Welthandelsorganisation (WTO) rechnet mit einem Rück- onale Wertschöpfungs- und Lieferketten wurden unterbro- gang des Warenhandels von 13 % bis 32 % in diesem Jahr, je chen; internationale Absatzmärkte brachen weg. Es über- nach Länge der Eindämmungsphasen in den großen Volks- rascht daher nicht, dass der Internationale Währungsfonds wirtschaften (WTO, 2020c). Neben den Produktionsausfällen (IMF) in seinem jüngsten World Economic Outlook von stören zunehmend auch nationale Ausfuhrbeschränkungen Mitte April 2020 davon ausgeht, dass die Weltwirtschaft im den Handel. Just-in-time-Produktion ist in der derzeitigen laufenden Jahr um 3 % schrumpfen wird (IMF, 2020a). Noch Lage unmöglich geworden. Lagerbestände entstehen, wo es im Januar 2020 hatte der IWF für dieses Jahr ein globales sie bislang kaum oder gar nicht gab. Unternehmen müssen BIP-Wachstum von 3,3 % prognostiziert (IMF, 2020b). Sollte besonders in der Logistik ihre Aktivitäten immer mehr ein- schränken (Obstfeld und Posen, 2020). © Der/die Autor(en) 2020. Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https:// creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht. Aufgrund des asymmetrischen Krisenverlaufs dürften sich Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Welthandel und weltweite Investitionsströme nur langsam Wirtschaft gefördert. wieder erholen. Anders als in der jüngsten Finanz- und Wirt- schaftskrise 2008 bis 2011 sollte auch nicht damit gerech- net werden, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer als Wachstumslokomotiven exportabhängige Länder wie Dr. Stormy-Annika Mildner leitet die Abteilung Au- Deutschland schnell wieder aus der Krise ziehen werden. ßenwirtschaftspolitik des Bundesverbands der deut- Denn auch sie leiden massiv unter der Krise. schen Industrie (BDI) und ist Adjunct Lecturer an der Die Corona-Epidemie kommt für das multilaterale Handels- Hertie School of Governance in Berlin. system zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Während die WTO zusammen mit ihrem Vorgänger, dem Allgemei- Eckart von Unger, Dipl.-Volkswirt, ist stellvertreten- nen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), über Jahrzehnte der Leiter, und Katherine Tepper, M. A., ist Senior zu fairen Wettbewerbsbedingungen auf den Weltmärkten Referentin in der Abteilung Außenwirtschaftspolitik beigetragen hat, steckt sie seit einigen Jahren in einer erns- des BDI in Berlin. ten Effektivitäts- und Legitimitätskrise. Dies ist bedauerlich, denn die WTO ist unabkömmlich für einen regelbasierten, fairen und transparenten Welthandel. Wirtschaftsdienst 2020 | 5 332
Zeitgespräch Effektivitäts- und Legitimitätskrise der WTO ben sich die WTO-Mitglieder zwar weitestgehend vom „Sin- gle Undertaking“-Prinzip verabschiedet. Dennoch sind die Unter dem Dach der WTO haben sich ihre mittlerweile 164 wenigsten WTO-Mitglieder bereit, weitere multilaterale Ver- Mitglieder auf einen umfassenden Katalog von verbindli- einbarungen zu treffen. Dies schafft ein doppeltes Problem. chen und diskriminierungsfreien Regeln geeinigt. Gemein- Ohne entsprechendes Regelwerk, das dem Handel des 21. sames Ziel ist der weltweite Abbau von Handelshemmnis- Jahrhunderts Rechnung trägt, kann die WTO neuen Protek- sen. Mit ihren Transparenzmechanismen und der verbindli- tionismus nicht angemessen in Schach halten. Darüber hin- chen Streitbeilegung ist die Organisation das Rückgrat der aus erfasste die Krise der ersten Säule der WTO mittlerwei- internationalen Handelsordnung. Die Aufgaben der WTO le auch die dritte Säule – die Streitbeilegung: Regierungen können in vier Säulen unterteilt werden: Erstens bietet die nutzten immer wieder den Streitschlichtungsmechanismus, WTO ein Forum für ihre Mitglieder, um Handelsbarrieren um dort neues Recht zu schaffen, wo es bisher keine Regeln abzubauen und Regeln für den Welthandel zu setzen. Ih- gab. Die WTO kennt eigentlich kein Präzedenzrecht; in der re zweite Aufgabe ist es, die Einhaltung der Regeln durch Praxis werden dennoch Streitschlichtungsentscheide bei die Mitglieder zu überwachen. Sie verpflichtet ihre Mitglie- der Lösung neuer Dispute herangezogen. Gerade die USA der, nicht-tarifäre Handelshemmnisse und Subventionen zu stören sich an dieser (aus ihrer Sicht) Mandatsüberschrei- melden. Zudem ist sie für die Schlichtung von Streitfällen tung des Streitschlichtungsmechanismus (insbesondere des zuständig. Schließlich ist sie eine Art Think Tank, der aktu- Berufungsgremiums). Aus der Effektivitätskrise ist dement- elle Trends im Handel und der Handelspolitik erfasst, analy- sprechend auch eine Legitimitätskrise der WTO geworden. siert und veröffentlicht. Steigender Protektionismus Kaum Liberalisierungsfortschritte Zu Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 war die Liberalisiert wird der Handel in der WTO zumeist in soge- Sorge groß, dass sich eine Protektionismus-Spirale wie in nannten Liberalisierungsrunden. Die letzte große Runde war der Großen Depression der 1930er Jahre wiederholen könn- die Doha-Entwicklungsrunde. Als diese 2001 begann, war te. Die WTO trug maßgeblich dazu bei, dies abzuwenden. die Hoffnung groß, dass der Handel – insbesondere der Ag- Die G20-Länder verständigten sich auf eine Stillstands- rar- und Dienstleistungshandel – weiter liberalisiert und neue und Rückführungsverpflichtung. Zudem erfasst die WTO Regeln geschaffen würden, um Protektionismus einzudäm- zusammen mit der Konferenz der Vereinten Nationen für men. Ungeachtet jahrelanger Verhandlungen hat die Doha- Handel und Entwicklung (UNCTAD) seit Oktober 2008 regel- Runde abgesehen von dem Abkommen über Handelser- mäßig neue protektionistische Maßnahmen ihrer Mitglieder. leichterungen (Trade Facilitation Agreement, TFA) allerdings Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass es seitdem zu ei- nur sehr wenig geliefert. Die EU und die USA sind nicht ganz nem schleichenden Protektionismus gekommen ist. unschuldig daran, dass der Agrarhandel nach wie vor durch hohe Zugangsbarrieren und Subventionen gekennzeichnet Von Oktober 2008 bis Oktober 2019 leiteten die WTO-Mit- ist. Die Schwellen- und Entwicklungsländer zeigten ihrer- glieder insgesamt 1.654 handelsbeschränkende Maßnah- seits wenig Bereitschaft, ihre Industriegüter- und Dienst- men – inklusive Zollerhöhungen, quantitativen Beschrän- leistungsmärkte stärker zu öffnen. Die Erwartungen an ei- kungen, strengeren Zollverfahren und neu ergriffenen Ein- ne „echte Entwicklungsrunde“, um die Entwicklungsländer fuhrzollsätzen und Ausfuhrzöllen (ohne Antidumping- und besser in die Weltwirtschaft zu integrieren, führten zu einer Antisubventionsuntersuchungen und -maßnahmen) – ein. ideologischen Überfrachtung der Runde. Die Doha-Agenda Allein von Mai bis Oktober 2019 ergriffen die G20-Staaten war letztlich zu umfassend und zu ambitioniert. Die Priori- restriktive Maßnahmen auf ein geschätztes Handelsvolumen sierung des Agrarhandels und fehlende sektorübergreifen- von 460,4 Mrd. US-$. Das ist das zweithöchste Volumen seit de Kompromisse führten immer wieder zu Blockaden in Beginn der Berechnung im Jahr 2012. Vor zwei Perioden – den Verhandlungen. Der Verhandlungsmodus (Single Un- also von Mai bis Oktober 2018 – war sogar ein Handelsvolu- dertaking: nichts ist beschlossen, bevor alles beschlossen men von 480,9 Mrd. US-$ betroffen (WTO, 2008-2020). ist) verhinderte lange die Realisierung von Teilerfolgen (wie beispielsweise bei Exportsubventionen im Agrarsektor). Die Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist Pro- hohe Zahl der Mitglieder und das Konsensprinzip machten tektionismus weltweit immer salonfähiger geworden. An- Kompromisse schließlich fast unmöglich. fang März 2018 beschlossen die USA die Einführung von Zöllen auf Stahl (25 %) und Aluminium (10 %), da Stahl- und Viele wichtige Bereiche des Welthandels sind daher noch Aluminiumimporte aus Sicht der Trump-Administration ein gar nicht oder nur in geringem Umfang multilateral geregelt, vermeintliches Sicherheitsrisiko für die USA darstellten (so- z. B. Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Auftragswesen genannte Abschnitt-232-Zölle des Handelsgesetzes von und der digitale Handel. Mit der Ratifizierung des TFA ha- 1962). Zahlreiche betroffene Länder antworteten ihrerseits ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 333
Zeitgespräch mit Gegenmaßnahmen. Anfang 2020 weitete die Trump-Ad- gesamten Globus. Während die ersten Ausfuhrbeschrän- ministration die 232-Zölle auf Stahl und Aluminium auf Pro- kungen im Wesentlichen in asiatischen, arabischen und dukte mit einem hohen Anteil dieser Metalle, wie etwa Nä- europäischen Ländern erlassen worden waren, haben gel, Kabel und bestimmte Automobilteile, aus. Auch darauf mittlerweile auch die USA und zahlreiche lateinamerikani- gab es Gegenreaktionen im Ausland. Durch den Handels- sche und osteuropäische Länder solche Maßnahmen er- konflikt zwischen den USA und China ist das Zollniveau griffen (Stand 26. April 2020). deutlich gestiegen. Lag der durchschnittliche US-Zoll auf Importe aus China Ende 2017 noch bei 3,1 %, stieg dieser Hinzu kommen Verwerfungen in den weltweiten Wert- bis März 2020 auf 19,3 %. Die durchschnittliche Zollbela- schöpfungsketten und Produktionsnetzwerken, die stung für US-Exporte nach China hat sich von Ende 2017 durch die Unterscheidung zwischen vermeintlich sys- bis März 2020 von 8 % auf 20,3 % fast verdreifacht (Bown, temrelevanten und nicht-systemrelevanten Produktions- 2020). Juristische Grundlage für die Zölle seitens der USA zweigen und Dienstleistungen in zahlreichen Ländern ist Abschnitt 301 des Handelsgesetzes von 1974. (auch bezeichnet als essenziell und non-essenziell) ent- stehen. In einigen Ländern müssen beispielweise Expor- Seit dem Beginn der Corona-Krise ist eine Vielzahl neuer teure Nachweise erbringen, dass ausgeführte Waren im Handelsbarrieren hinzugekommen – insbesondere Aus- Abnehmerland Einsatz in systemrelevanten Produktions- fuhrbeschränkungen. Diese betreffen vor allem persönli- zweigen/Produkten finden werden. Eine solche Nach- che Schutzausrüstung wie etwa Masken, Handschuhe und weispflicht wie beispielsweise für Kunststoffgranulat, Schutzkleidung sowie Produktionsstoffe für Arzneimittel. Schrauben und Kabel, die dringend auch zur Herstellung Zudem werden solche Restriktionen für den Bereich me- von Beatmungsgeräten benötigt werden, verursacht ei- dizinischer Geräte diskutiert. Bisher gibt es keine zentrale nen weltweiten Flickenteppich unterschiedlicher Definiti- Erfassung der neuen Handelsbarrieren. Aufgrund oft un- onen und Regelungen. Das dadurch entstehende recht- vollständiger Meldungen über neue Maßnahmen sind auch liche Chaos, verbunden mit erheblicher Intransparenz, die Informationen der WTO nicht vollständig. Zurzeit haben führt zu einer enormen Rechtsunsicherheit für Unterneh- 33 Länder und die EU 92 handels- und handelsverbundene men und einem massiven bürokratischen Aufwand, der Maßnahmen (einschließlich Exportrestriktionen und -ver- den Handel weiter hemmt. boten, außergewöhnlichen und temporären Kriterien, Aus- setzung von Pflichtzertifizierung, Handelserleichterung) der Die WTO hat kaum eine Handhabe, um gegen Exportbe- WTO mitgeteilt (Stand 27. April 2020). Die tatsächliche Zahl schränkungen vorzugehen. Mit Artikel XI, Ziffer 1 haben der Exportrestriktionen ist wahrscheinlich deutlich höher, da sich die WTO-Mitglieder verpflichtet, keine mengenmäßi- einige Staaten, wie z. B. die USA oder Indien, ihre Exportres- gen Beschränkungen für den Export einzuführen. Ziffer 2 triktionen nicht bei der WTO notifizieren (WTO, 2020a). enthält jedoch eine umfassende Ausnahmeregelung: „Aus- fuhrverbote oder Ausfuhrbeschränkungen, die während ei- Das WTO-Sekretariat schätzt, dass bis zum 22. April 2020 nes bestimmten Zeitraumes angewendet werden, um einer „80 Länder und eigenständige Zollgebiete ... als Folge der kritischen Lage vorzubeugen, die aus einem Mangel an Le- COVID-19-Pandemie Ausfuhrverbote oder -beschränkun- bensmitteln oder anderen wichtigen Erzeugnissen für den gen eingeführt haben, darunter 46 WTO-Mitglieder (72, ausführenden Vertragspartner entstehen könnte, oder um wenn man die EU-Mitgliedstaaten einzeln zählt) und acht in einer solchen Lage Abhilfe zu schaffen“ sind gestattet. Nicht-WTO-Mitglieder“. Der WTO zufolge betreffen die WTO-Mitglieder sind weder verpflichtet, die Maßnahmen meisten Beschränkungen Güter, die von der Weltzollorga- bei der WTO zu melden, noch müssen sie nachweisen, nisation (WCO) als relevant für die Bekämpfung der Pan- dass ein Versorgungsenpass tatsächlich vorliegt. demie aufgeführt werden (COVID-19-Testkits, persönliche Schutzausrüstung, Thermometer, Desinfektionsmittel, Weiterentwicklung des Regelwerks medizinische Geräte, medizinische Verbrauchsgüter und Seife). Allerdings haben 17 Länder auch den Export von Um das Regelwerk weiter zu entwickeln, setzen einige Lebensmitteln eingeschränkt (WTO, 2020a). WTO-Mitglieder, darunter die EU, auf plurilaterale Abkom- men. Zurzeit wird in der WTO über vier plurilaterale Initia- Dass die Dunkelziffer wahrscheinlich höher ausfällt, unter- tiven verhandelt: E-Commerce, Dienstleistungen, Investi- strich auch ein Bericht von Global Trade Alert. Demnach tionen und kleine und mittlere Unternehmen. Im Mai 2019 wurden seit Jahresbeginn 2020 von 54 Regierungen ins- legte die EU-Kommission einen umfangreichen Vorschlag gesamt 46 neue Exportrestriktionen für medizinische Gü- für die plurilateralen Verhandlungen über den elektroni- ter erlassen – 33 hiervon allein im März (Stand 21. März schen Handel vor, der unter anderem elektronische Ver- 2020) (Evenett, 2020). Mittlerweile erstrecken sich Aus- träge und Authentifizierungen, Verbraucherschutz, grenz- fuhrbeschränkungen für medizinische Güter fast über den überschreitende Datenflüsse und den Schutz personen- Wirtschaftsdienst 2020 | 5 334
Zeitgespräch bezogener Daten umfasst. Die EU unterstützt auch das auch für plurilaterale Regelungsabkommen wie ein Ab- multilaterale Moratorium, keine Zölle auf elektronische kommen über Subventionen gilt, ist ungeklärt. Ebenso Übertragungen zu erheben (WTO, 2019). ungeklärt ist die Frage, wann alle WTO-Mitglieder über die unbedingte Meistbegünstigung (MFN) der WTO in den Zudem hat die EU zusammen mit den USA und Japan im Genuss von Marktöffnungen unter einer solchen Über- Rahmen der sogenannten trilateralen Initiative Vorschläge einkunft kommen und wann diese nur für die Mitglieder für den Umgang mit staatlichen Subventionen (insbeson- gelten können, das Abkommen also präferenziell (diskri- dere im Industriegütersektor) vorgelegt, vor allem durch minierend) sein darf. eine Reform des WTO-Abkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (Office of the United States Fehlende Notifizierung Trade Representatives, 2019). Beispielsweise spricht sich die trilaterale Initiative für einen breiteren Subventionsbe- Die WTO wendet sich mit verschiedenen Instrumenten griff, die Erfassung von weiteren Arten von Subventionen, gegen protektionistische Maßnahmen und kontrolliert insbesondere auch solchen, die über Staatsunternehmen damit die Einhaltung ihrer Handelsregeln. Dazu gehören fließen, sowie strengere Meldepflichten und Sanktionsme- insbesondere der Mechanismus zur Überprüfung der chanismen aus. Die trilaterale Initiative drängt zudem auf Handelspolitik (Trade Policy Review Mechanism, TPRM), Reformen der Regeln in den Bereichen Staatsunterneh- die Berichte des WTO-Generaldirektors sowie das integ- men, Überkapazität, Marktverzerrung. Ziel ist es, einen rierte Portal der WTO zu Handelsmaßnahmen (Integrated faireren Wettbewerb gerade auch mit China herzustellen. Trade Intelligence Portal, I-TIP). Die genannten Instrumen- te führten bereits zu mehr Transparenz, da sie aufzeigen, Die WTO hat schon jetzt eine Reihe plurilateraler Abkom- wo Staaten protektionistische Maßnahmen ergriffen ha- men: Das Übereinkommen über das öffentliche Beschaf- ben. Wirkliche Konsequenzen gibt es für die Staaten aber fungswesen (GPA) und das Informationstechnologie-Ab- nicht. Es handelt sich eher um „naming and shaming“- kommen (ITA I und II). Darüber hinaus hat eine Reihe von Mechanismen. WTO-Staaten 2013 begonnen, ein neues Abkommen über den Dienstleistungshandel (Trade in Services Agreement, Die Notifizierungspflichten bei der WTO sind nicht nur TiSA) zu verhandeln. Diese Verhandlungen und die Ver- schwach, viele Länder erfüllen ihre Meldepflichten nur un- handlungen über ein plurilaterales Abkommen zur Beseiti- zureichend oder gar nicht. Die EU legte daher zusammen gung von Zöllen auf sogenannte Umweltgüter liegen derzeit mit den USA und mehreren anderen WTO-Mitgliedern auf Eis – unter anderem, weil sie bislang durch die aktuelle Mitte 2019 einen Entwurf für strengere Notifizierungs- US-Regierung nicht angepackt werden. Zudem drohten die pflichten vor. Diskutiert wird nicht nur, wie die Anreize USA wiederholt mit einem Austritt aus dem GPA. für WTO-Länder verbessert werden können, handelsbe- zogene Maßnahmen bei der WTO zu melden. Beispiels- Plurilaterale Abkommen unter der WTO sind umstritten. weise beklagen kleinere Entwicklungsländer oftmals feh- Gerade die Schwellen- und Entwicklungsländer, allen lende eigene Kapazitäten. Der Vorschlag enthält zudem voran Indien, stehen solchen Initiativen, wie für den di- einen Sanktionsmechanismus. Daher ist er gerade bei gitalen Handel, kritisch gegenüber. Auch wenn sich viele den Schwellen- und Entwicklungsländern auf große Ab- von ihnen den genannten Initiativen nicht angeschlossen lehnung gestoßen. haben, fürchten sie, dass der Druck über die Märkte so stark steigen könnte, dass sie einem Abkommen zustim- Defizite in der Streitschlichtung men müssen, ohne die Regeln mit gesetzt zu haben. Zu- dem kritisieren sie, dass diese Initiativen den Handels- Besonders brisant ist die Krise des Streitschlichtungs- spielraum gerade für Entwicklungs- und Schwellenländer mechanismus (Dispute Settlement Mechanism, DSM). Im zu stark einschränkten. Hinzu kommt, dass eine zentrale DSM können WTO-Mitglieder im Fall eines potenziellen Frage noch nicht abschließend geklärt wurde: Ab wann Verstoßes gegen WTO-Regeln gegen andere Mitglieder kann ein solches Abkommen in Kraft treten? Damit ein vorgehen. Beim DSM wird durch bilaterale Konsultatio- plurilaterales Sektorabkommen innerhalb der WTO ge- nen und durch die Einsetzung von Panels (erste Instanz) schaffen werden kann, bedarf es einer kritischen Masse zunächst versucht, eine einvernehmliche Lösung zu fin- an WTO-Mitgliedern, die das Abkommen unterzeichnen. den, in zweiter Instanz kann eine Partei in Berufung ge- Dieses Kriterium ist dann erreicht, wenn die Teilnehmer hen. Vor dem sogenannten Berufungsgremium (Appellate ungefähr 90 % des Welthandels für den entsprechenden Body) wird die Panelentscheidung nochmals überprüft. Sektor abdecken. Dieses Kriterium hat in der Vergangen- Am Ende können Handelssanktionen stehen, wenn das heit neue Sektorabkommen verhindert, da die großen betreffende Land die regelwidrigen Maßnahmen nicht Schwellenländer diese ablehnen. Ob dieses Kriterium fristgerecht korrigiert. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 335
Zeitgespräch Mit 39 neuen Handelskonflikten stieg die Zahl der Dispu- WTO allerdings nicht. Vielmehr bestimmen die Mitglieder te 2018 deutlich an. 2019 wurden 19 neue Beschwerden ihren Entwicklungsstatus selbst. Folglich werden große bei der WTO eingereicht (WTO, 2020b). Viele dieser Han- Schwellenländer wie China (aber auch Brasilien, Argen- delskonflikte sind hoch politisch. Aktuell blockieren die tinien, Indien, Russland und viele andere) immer noch als USA die Ernennung neuer Mitglieder für das Berufungs- Entwicklungsländer geführt. Im September 2018 spra- gremium. Mittlerweile hat der normalerweise siebenköpfi- chen sich die USA zusammen mit der EU und Japan dafür ge Appellate Body deshalb nur noch ein Mitglied. Da drei aus, dass wirtschaftlich weit entwickelte Schwellenländer Mitglieder notwendig sind, um über einen Fall zu befinden, stärker in der WTO in die Pflicht genommen werden. Zu- ist das Gremium seit Mitte Dezember 2019 funktionsun- dem schlugen die USA strenge Kriterien für die Bestim- fähig. Sollte ein WTO-Mitglied gegen einen Panelbericht mung des Entwicklungsstatus vor. Diese gehen allerdings Berufung einlegen, würde dies „in eine rechtliche Leere“ den meisten WTO-Mitgliedern deutlich zu weit. führen, da das Berufungsgremium nicht mehr funktioniert. Entsprechend kann keine endgültige, verbindliche und Ausblick: Wie kann es mit der WTO weitergehen? durchsetzbare Entscheidung getroffen werden. Zu den Kritikpunkten zählen unter anderem die lange Dauer der Die Krise der WTO hat viele Gründe. Der Konsens für ei- Bearbeitung der Streitfälle, die häufig die gesetzten Fris- ne liberale Handelsordnung und der Glaube, dass Han- ten überschreitet. Zudem lehnen die USA ab, dass Mit- del Wirtschaftswachstum und Entwicklung fördert, ist glieder des Berufungsgremiums laufende Fälle nach ihrem erodiert. Die Interessen der WTO-Mitglieder sind sehr Austritt aus dem Gremium weiter behandeln. Schließlich heterogen; das Konsensprinzip erschwert die Entschei- unterstellen die USA dem Berufungsgremiun, sein Mandat dungsfindung. Die WTO-Regeln tragen schon lange nicht zu überschreiten. Auf Druck der USA wurde im Dezember mehr den Charakteristika des modernen Handels Rech- 2019 zudem das WTO-Budget für die Streitschlichtung im nung. Die WTO-Mitglieder haben seit Jahren die Priorität Jahr 2020 massiv zurückgeschnitten. auf den Abschluss bilateraler Handelsabkommen gelegt. Jüngst kommt noch der Systemwettbewerb zwischen Die EU gehört zu den aktivsten Nutzern des DSM. Seit den USA und China hinzu (Felbermayr, 2020). Gründung der WTO 1995 bis Ende 2019 reichte die EU 104 Mal Klage ein. China trat seit seinem Beitritt zur WTO im Die Corona-Krise zeigt jedoch, wie wichtig die WTO ist. Jahr 2001 in 21 Fällen als Kläger auf. Die USA reichten 124 Um den Stillstand in der Organisation zu beenden und die Mal Klage ein (21 % der gesamten 593 Streitschlichtungs- Lähmung des DSM zu durchbrechen, sind Reformmaß- fälle). Um den Streitbeilegungsmechanismus nicht voll- nahmen in allen vier Säulen der WTO notwendig. Die EU ständig lahmzulegen, schlug die Europäische Kommission und andere Mitglieder haben – teils gemeinsam – verschie- einen Ad-hoc-Streitbeilegungsmechanismus vor. Dieser dene Reformvorschläge vorgebracht. Die WTO ist eine in- soll so lange zum Einsatz kommen, wie die WTO-Beru- tergovernmentale Organisation. Der Handlungsspielraum fungsinstanz blockiert wird. Am 21. Oktober 2019 folgte des Sekretariats und des Generaldirektors ist limitiert. eine Vereinbarung zwischen der EU und Norwegen. Ende Auch wenn die für den Sommer 2020 geplante Minister- März 2020 mündeten diese Bemühungen im Multi-Party konferenz auf das Jahr 2021 verschoben wurde, ist es drin- Interim Appeal Arbitration Arrangement (MPIA). MPIA gilt gend an der Zeit, dass sich die WTO-Mitglieder ernsthaft zunächst für die EU und 15 weitere Staaten, ist jedoch für zusammensetzen, um sich konstruktiv auf einen Reform- alle interessierten Staaten offen. MPIA wird die Berufungs- weg zu verständigen. Dabei muss es sowohl um die Rolle instanz der WTO in der Streitbeilegung ersetzen, bis eine des Sekretariates (eine Stärkung), die Entscheidungsfin- multilaterale Lösung unter dem Dach der WTO gefunden dung (auch in den Ausschüssen), eine Weiterentwicklung wird. Zudem wurde eine Vielzahl an Vorschlägen für die des Regelwerkes, eine Stärkung der Notifizierungspflicht Reform des Streitschlichtungsmechanismus vorgelegt. Ein sowie die Stärkung des DSM gehen. Nur so kann die multi- Kompromiss ist jedoch nicht in Sicht. laterale Organisation auch in Zukunft die Hüterin des Welt- handels bleiben. Und nur so kann verhindert werden, dass Differenzierung nach Entwicklungsstatus der Protektionismus weiter um sich greift. Ein weiterer Streitpunkt ist die Klassifizierung von Län- dern nach Entwicklungsstatus in der WTO. Entwick- Literatur lungsländer genießen eine besondere und differenzierte Bown, C. (2020), US-China Trade War Tariffs: An Up-to-Date Chart, Pe- Behandlung innerhalb der WTO. Das heißt beispielswei- terson Institute for International Economics, https://www.piie.com/re- search/piie-charts/us-china-trade-war-tariffs-date-chart (13. Mai 2020). se, dass sie ihre Märkte nicht in demselben Maße öffnen Evenett, S. (2020), Tackling COVID-19 Together, März 2020, https://www. müssen wie Industrieländer. Kriterien, die zwischen Ent- wita.org/atp-research/tackling-covid-19-together-the-trade-policy- wicklungs- und Industrieländern unterscheiden, hat die dimension/ (13. Mai 2020). Wirtschaftsdienst 2020 | 5 336
Zeitgespräch Felbermayr, G. (2019), 25 Jahre WTO – Ursachen des Zerfalls und Re- lateral-meeting-trade-ministers-japan-united-states-and-european- formvorschläge für die Zukunft, Kiel Focus, https://www.ifw-kiel.de/ union (13. Mai 2020). de/publikationen/kiel-focus/2019/25-jahre-wto-ursachen-des-zer- Welthandelsorganisation (WTO) (2019), Joint Statement on Electronic falls-und-reformvorschlaege-fuer-die-zukunft-0/ (13. Mai 2020). Commerce – EU Proposal for WTO Disciplines and Commitments Internationaler Währungsfonds (IMF) (2020a), World Economic Outlook: relating to Electronic Commerce, https://trade.ec.europa.eu/doclib/ The Great Lockdown, April 2020, https://www.imf.org/en/Publica- docs/2019/may/tradoc_157880.pdf (13. Mai 2020). tions/WEO/Issues/2020/04/14/weo-april-2020 (13. Mai 2020). Welthandelsorganisation (WTO) (2020a), COVID-19 and World Trade, htt- Internationaler Währungsfonds (IMF) (2020b), World Economic Outlook: ps://www.wto.org/english/tratop_e/covid19_e/covid19_e.htm (13. Mai Tentative Stabilization, Sluggish Recovery?, Januar 2020, https:// 2020). www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2020/01/20/weo-update- Welthandelsorganisation (WTO) (2020b), Disputes by Member, https:// january2020 (13. Mai 2020). www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/dispu_by_country_e.htm#top Obstfeld, M. und A. S. Posen (Hrsg.) (2020), How the G20 Can Hasten Re- (13. Mai 2020). covery from COVID-19, Peterson Institute for International Economics, Welthandelsorganisation (WTO) (2020c), Trade Set to Plunge as CO- PIIE Briefing, 20-1, April 2020, https://www.piie.com/publications/piie- VID-19 Pandemic Upends Global Economy, https://www.wto.org/ briefings/how-g20-can-hasten-recovery-covid-19 (13. Mai 2020). english/news_e/pres20_e/pr855_e.htm (13. Mai 2020). Office of the United States Trade Representative (2020), Joint Statement Welthandelsorganisation (WTO) (2008-2020), Trade Monitoring, https:// of the Trilateral Meeting of the Trade Ministers of Japan, the United www.wto.org/english/tratop_e/tpr_e/trade_monitoring_e.htm (13. States and the European Union, https://ustr.gov/about-us/policy- Mai 2020). offices/press-office/press-releases/2020/january/joint-statement-tri- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 337
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