www.ssoar.info - Modelle, Praxen und Medien der ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
www.ssoar.info Rezension: Heimat global - Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion Pietrzik, Karoline Veröffentlichungsversion / Published Version Rezension / review Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Pietrzik, K. (2021). Rezension: Heimat global - Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion. [Rezension des Buches Heimat global: Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion, hrsg. von E. Costadura, K. Ries, & C. Wiesenfeldt]. interculture journal: Online-Zeitschrift für interkulturelle Studien, 20(34), 121-124. https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-74098-0 Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer CC BY-NC-ND Lizenz This document is made available under a CC BY-NC-ND Licence (Namensnennung-Nicht-kommerziell-Keine Bearbeitung) zur (Attribution-Non Comercial-NoDerivatives). For more Information Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden see: Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de
Rezension Review Costadura, Edoardo / Ries, Klaus / Wiesenfeldt, Christiane (Hrsg.) Heimat global. Modelle, Praxen und Medien der Heimat- konstruktion. Karoline Pietrzik Das Ziel des Sammelbandes ist über die und Normen dafür legt, sondern als ein gegenwärtige Diskussion über Heimat performativer, translokaler Schöpfungs- Dr. phil., hat im Fach Kultur- zu reflektieren und Denkanstöße für akt. Diese Publikation bietet innovative anthropologie an der Johannes einen neuen, globalen Heimatbegriff und entscheidende Ergebnisse, wie Hei- Gutenberg-Universität Mainz zu liefern. Heimat wird dabei nicht nur mat in der heutigen Welt gedacht und promoviert. Für ihre empirischen mit dem Herkunftsort bzw. unmittelba- modelliert werden sollte. Erhebungen in Ostmitteleuropa ren Lebensumfeld in Relation gebracht, wurde sie durch den DAAD ge- sondern auf die Weltbeziehung bezo- Dieser Band stellt die Grundlage, der fördert. Seit Mai 2016 leitet sie vom Laboratorium Aufklärung organi- gen. Dieses Heimatverständnis wurde das neu eröffnete Interkulturelle sierten internationalen Tagung Heimat erst im globalen Kontext geschaffen, Bildungs- und Begegnungszen- – Ein Problem der globalisierten Welt? da dies eine Öffnung bietet, jenseits trum (IBBO) in Mainz. Dort ist dar, die vom 20. bis 23.09.2017 an nationaler Grenzen neue Möglichkeiten sie vor allem für die Deutschkur- der Friedrich-Schiller-Universität Jena kollektiver Zugehörigkeit zu denken se und interkulturellen Projekte stattfand. Die Herausgeber*innen des und zu konzeptualisieren. Für die verantwortlich. Sie hat eine Sammelbandes sind der Ordinarius für Herausgeber*innen Edoardo Costadu- BAMF-Zulassung als Lehrkraft Romanische Philologie, Edoardo Co- ra, Klaus Ries, Christiane Wiesenfeldt in Integrationskursen und eine stadura, der Historiker Klaus Ries und sollte Heimat nicht nostalgisch, son- Prüferlizenz für Deutsch B1-B2 die Musikwissenschaftlerin Christiane dern aktiv, gestalterisch und progressiv erworben. Darüber hinaus ist Wiesenfeldt. gedacht werden. Somit suchen die 25 Karoline Pietrzik Lehrbeauftrag- Autor*innen des Bandes interdisziplinär Anhand der Geschichte der Bundesre- te des Moduls Interkulturelle nach Nostalgie-freien Heimatansätzen. publik Deutschland nach dem Zweiten Soziale Arbeit an der Hochschule Heimat wird in den Beiträgen als of- Weltkrieg werde einleitend erläutert, FOM in Frankfurt/M. fenes, dynamisches, in Einbezug der warum die seit 2015 zunehmende Geschichte zukunftsorientiertes, demo- Debatte über Heimat stärker in den kratisches, plurales, alle Menschen um- Vordergrund gerückt ist. Dabei wird schließendes, partizipatives Konstrukt der Paradigmenwechsel des Begriffs aufgegriffen und diskutiert. Dieser ge- Heimat seit den 70er Jahren als relevant stalterische, alle Menschen miteinschlie- betrachtet: Heimat könne nicht mehr ßende, Interaktionsprozess ist das Kern- als statischer, sondern müsse als dyna- stück der Ausgestaltung von Heimat. mischer Begriff gesehen werden. Den Heimat wird nicht als statische Kompo- Anstoß im wissenschaftlichen Diskurs nente betrachtet, bei der ein Land den bildeten die Arbeiten von Ina-Maria Grundstein in Form von Traditionen Greverus (1972, 1979), in denen eine 121
anthropologisch bedingte Beziehung Menschen wählen. Wenn Heimat von des Menschen zu seiner Umwelt vor- Abstammung und Erbe unabhängig ausgesetzt werde. Des Weiteren werde betrachtet werde, werde die ganze Erde die Wirkung des Film-Epos Heimat zur Heimat aller. Hier beruft er sich auf (1981-1984) von Edgar Reitz in sei- den von Hannah Arendt entworfenen ner Bedeutung für einen reflektierten Begriff „Natalität“ (Arendt 2015:18.), Heimatbegriff betont. Einen Einfluss der die Entgrenzung des Heimatrechts übten auch die politischen Aktionen beschreibt. Gumbrecht plädiert dafür, der GRÜNEN seit den 1980ern aus, den Begriff Heimat nicht als Ort zu de- die Umwelt und Heimat in Zusam- finieren, an dem eigene Vorfahren ge- menhang gebracht hatten. Auch die lebt haben, sondern als Ort, an dem die Wiedervereinigung habe zu der Ausein- Menschen eine Chance erhalten zu le- andersetzung mit Heimat beigetragen, ben, wo sie sich geborgen und heimisch in der eine verlorene DDR-Heimat fühlen, demnach auch ein Ort, an dem konstruiert wurde. Und zu guter Letzt Menschen verschiedener kultureller und veränderten die Globalisierungsprozesse religiöser Orientierung zusammenleben die Sicht auf Heimat. könnten. Diese Denkansätze haben den Charakter von Offenheit und Neuan- Heimat stelle - noch verstärkt seit der fang. Benjamin-Immanuel Hoff und sogenannten Flüchtlingskrise - ein Konstanze Gerling-Zedler betrachten Reizthema dar, da Heimat aus anthro- Heimat als einen multidimensionalen pologischer Sicht einem natürlichen Begriff, der durch seine Komplexität menschlichen Grundbedürfnis ent-spre- und Auslegbarkeit interdisziplinär che, was als eine Bewältigungsstrategie diskutiert werden muss. Heimat solle mit dem angstbestimmten Urtrieb des kognitiv und affektiv als Möglichkeits- Menschen betrachtet werde. Heimat sei raum verstanden werden und deren mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Hindernisse ebenso aufgegriffen wer- Geborgenheit verbunden, welches vor den, denn Chancengleichheit sei eben- allen beim Verlust zutage kommt. Hei- falls in diesem Kontext zu thematisie- mat ähnele in anthropologischer und ren. Gemäß dem Volkskundler Friede- psychologischer Sicht dem Naivem, mann Schmoll berge eine einseitig auf der Kindheit und dem Naturzustand. das Eigene fokussierte Heimatdefiniti- Als solches übe Heimat eine Faszina- on Gefahren, alles Fremde abzuwerten tion aus. Als gefährlich werde Heimat und erhöhe die Gewaltbereitschaft die eingestuft, wenn die Illusion entstehe, eigene Heimat vor dem Fremden zu Heimat ließe sich durch sichere Gren- zen bewahren, ein Geborgenheitsgefühl, schützen. Wichtig sei es, Empathie für welches der Zeit der Kindheit entspre- die Situation der Migrant*innen zu ent- che. Jedoch sei Heimat nicht nur Ort, wickeln, die ihre alte Heimat verloren sondern auch Zeit und somit sei die haben und vor die Herausforderung „Zeit-Heimat“ (Jankelevitch 2011:370) gestellt sind, neue Lebensräume zu er- verloren, da sie sich und der Mensch, schließen. Der Zustand des Übergangs der sich daran erinnert, verändert ha- dürfe nicht zu einem unerträglichen ben. Da diese Erkenntnis schmerzhaft Dauerzustand der Betroffenen werden. ist, verhielten sich die Menschen nostal- Durch die Erfahrung von Ablehnung gisch. Diese Nostalgie könne für politi- und Abweisung sei es den Menschen sche Zwecke missbraucht werden. nicht möglich, sich heimisch zu fühlen. Weiterhin stellt Werner Nell einen Zu- Im ersten Kapitel historische und politi- sammenhang zwischen Heimatbedarf sche Semantik befasst sich der Literatur- und Gewaltbereitschaft dar. Nach An- wissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sicht des Literaturwissenschaftlers sei mit historischen und epistemologischen Heimat wieder zu einem Kampfbegriff Schichten von Heimat. Gumbrecht be- geworden als Auseinandersetzung um zeichnet Heimat als einen Ort, den die die Lebensverhältnisse und Aufent- 122 interculture j our na l 20/34 (2 0 2 1 )
haltsberechtigung an einem Ort. Zum könne Heimat nicht einfach haben Schluss des ersten Kapitels thematisiert oder finden. Gemäß Jean-Christophe Justus H. Ulbricht anhand des Stadt- Bailly gestaltet sich das Gefühl einer marketingslogans „So geht sächsisch“ Nation anzugehören als Ersatzkonstruk- (www.so-geht-saechsisch.de) die frem- tion bzw. imaginärer Rückzugsort im den- und islamfeindlichen Stimmun- Hinblick auf die Folgen von Globali- gen in Sachsen. Seine Forderung an sierung. Der Schriftsteller bringt den Heimatvereine ist eine Beteiligung am Begriff der „Zeit-Heimat“ (Smelianski inter- und transkulturellen Dialog, also 1955:145f.) ins Spiel, in dem er sich nicht nur der Musealisierung der deut- auf Anatoli Smelianski bezieht. Die schen Geschichte. Damit spricht sich Prämisse sei demnach, dass Menschen der Historiker gegen die Folklorisierung nicht in der Zeit-Heimat leben, son- von Heimat aus. dern die Zeit-Heimat in ihnen woh- ne. Beate Mitzscherlich kritisiert die Im zweiten Kapitel Hermeneutik der einseitige Sichtweise in Deutschland Weltbeziehung denkt der Soziologe auf Heimat, in der es um die Bindung Hartmut Rosa Heimat aus der Per- zum Herkunftsort, einer Region, einem spektive seiner Resonanztheorie (Rosa Land und den heterogen gedachten Le- 2016), was sich als überaus zutreffend bensformen geht. Nach ihr sei Heimat für das Heimatverständnis unserer ein multidimensionales Konzept mit Zeit ausweist. Es ist ein Versuch, das der zentralen Dimension von Heimat- identitäre, harmonistische, mit der gefühl als Geborgenheit, Sicherheit, als Herkunft verbundene Heimatverständ- soziale und räumliche Vertrautheit. Die nis zu überwinden. Hartmut Rosa soziale Konnotation sei entscheidend, begreift Heimat als eine bestimmte damit ein Ort als Heimat fungieren Art und Weise auf die Welt Bezug zu könne. Heimatgefühl könne auch nehmen, in der Welt zu sein. Für Rosa durch imaginäre Orte wie spirituelle stellt Heimat die Hoffnung dar, eine Zusam-menhänge oder utopische Kon- Resonanzbeziehung zu der Welt ein- stellationen ausgelöst werden. Heimat zugehen. Somit kann Heimat nicht als versteht die Psychologin als Weltdeu- ein geformter Raum, der abgeschlossen tung oder als Abbildung ideologischer ist, verstanden werden. Rosa definiert Weltzusammenhänge. Für Mitzscher- Heimat als „anverwandelten Weltaus- lich ist Heimat ein Ort des guten Zu- schnitt“ (Rosa 2019:168). Es geht ihm sammenlebens von unterschiedlichen dabei nicht um Aneignung, sondern Menschen und müsse so angegangen um Anverwandlung. Als Heimat ver- werden. Frank Eckardt plädiert dafür steht Rosa, dass ein Weltausschnitt eine Ideologisierung des Heimatbegriffs existiert, den sich Menschen anverwan- abzuwenden. Im Zentrum steht für den deln, der antwortet und mit dem sie in Politikwissenschaftler und Stadtforscher Resonanz treten können. Heimat sei die die Frage nach der Ortsgebunden- Versprechung, dass es einen anverwan- heit, weil dadurch zum Raum Bezug delbaren, antwortenden Weltausschnitt genommen und an internationalen gebe. Da unter den Bedingungen der Forschungsansätzen (place attachment) Moderne in der alten Heimat keine angeknüpft werde. Gemäß Eckardt set- Versprechung auf Resonanz gegeben sei, ze gelungene Raumaneignung Freiheit müsse ein anderes Heimatverständnis und mobile Offenheit voraus. Auch für vorausgesetzt werden. Die Bedingung die Journalistin Renate Zöller spiele sollte sein, dass jede*r die Chance hat, die Möglichkeit zur Rückkehr eine eine Heimat an dem Ort zu finden, wo entscheidende Rolle bei der Suche nach auch Resonanz möglich ist. Worum es Heimat. Zöller schlussfolgert, dass an- gehe, ist einen neuen Ort zu finden und gesichts der Globalisierung und Migra- Resonanzachsen zu erschaffen. Infolge- tion der Heimatbegriff neu anzupassen dessen könne Heimat nur demokratisch sei: Heimat als Aufgabe für die Gesell- und dynamisch hergestellt werden. Man schaft und das Individuum. 123
Im dritten Kapitel Heimat gestalten und progressive Modellierungsstrategi- liefern Gregor Reimann, Sophie Seher en von Heimkehr. Seine Prämisse ist, und Michael Wermke eine kritische dass Nostalgie Heimkehr unmöglich Analyse des Heimatkundeunterrichts mache, da es kein Zurückkehren in die und betrachten somit den Heimat- Zeit-Heimat gebe. Im letzten Artikel begriff als einen Bildungsauftrag. Die des Bandes bestätigt sich der Ansatz, Rechtswissenschaftler Walter Pauly wie Heimat gedacht und konzeptuali- und Barbara Bushart befassen sich mit siert werden sollte: Nostalgie-frei. dem Recht auf Heimat, indem sie auf Hannah Arends politische Forderung auf Heimat Bezug nehmen (Arendt 2014.). Die Rechtswissenschaftlerin Costadura, und Völkerrechtsexpertin Martina Ha- Edoardo / Ries, Klaus / edrich widmet sich der Flüchtlingspro- Wiesenfeldt, Christiane blematik und plädiert in diesem Zu- sammenhang für einen neuen Umgang (Hrsg.) mit Migration und der Heimatdefini- tion. Der Architekt und Kurator Peter Heimat global. Mod- Cochala Schmal findet den Begriff elle, Praxen und Medien Making Heimat für die Heimatdebatte der Heimatkonstruktion. zutreffend, da der Begriff die aktive Herstellung von Heimat beinhalte. Schmal bezeichnet Making Heimat als Bielefeld: transcript. einen beidseitigen Prozess von Neu- en Deutschen und Alten Deutschen. 456 Seiten. Auch bei dieser Auslegung von Heimat Preis 49,99 EUR. kommt der aktive Charakter stark zur Geltung. Der Geograf Karsten Gäbler ISBN: 978-3-8376-4588-0. sucht nach Gemeinsamkeiten von Hei- mat und Nachhaltigkeit und plädiert für die Idee eines Progressive localism. Im vierten Kapitel Mediatisierte und narrativierte Heimat lehnt die Musik- und Theaterwissenschaftlerin Yvonne Wasserloos den Entwurf von Heimat an ästhetische Paradigmen an. Im Fo- kus ihrer Auseinandersetzung steht die Inszenierung und Vertonung des Hei- matsbegriffs in der rechten Szene. Was- serloos begreift das Medienkonzept der rechten Szene als ästhetische Mobilma- chung, um Heimat zu verteidigen. Des Weiteren analysiert der Musikwissen- schaftler Thorsten Hindrichs Heimat in Schlagertexten, bei denen schluss- folgernd Utopie im Zentrum stehe. Die Soziologin Sylka Scholz befasst sich mit Konstrukten von Heimat in klassischen und modernen Heimatfil- men und deren Beitrag für ein plurales und demokratisches Heimatkonzept. Edoardo Costadura analysiert anhand medialer Heimaterzählungen regressive 124 interculture j our na l 20/34 (2 0 2 1 )
Sie können auch lesen