Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge Gemeinnützige GmbH

 
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Evangelisches Krankenhaus
                                                            Königin Elisabeth Herzberge
                                                                  Gemeinnützige GmbH

                                                                                          Akademisches Lehrkrankenhaus
                                                                                          der Charité
Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gGmbH – Herzbergstr. 79 – 10365 B   Abteilung für Psychiatrie,
                                                                                          Psychotherapie und
                                                                                          Psychosomatik

                                                                                          Prof. Dr. Albert Diefenbacher, MBA
                                                                                          FA für Neurologie, Psychiatrie und
                                                                                          Psychotherapeutische Medizin,
                                                                                          Geriatrie

                                                                                          Telefon 5472 4801
                                                                                          Telefax 5472 2912
                                                                                          E-mail: e.heinrich@keh-Berlin.de

                                                                                          Berlin, den 15.06.09

Sitzung des Ausschusses für Gesundheit Umwelt Verbraucherschutz des
Abgeordnetenhauses von Berlin am Montag, 15.06.2009 – 12.00 Uhr
Abgeordnetenhaus von Berlin Niederkirchnerstr. 5, Bernhard-Letterhaus-Saal

Stellungnahme von Professor Dr. Albert Diefenbacher zum Tagesordnungspunkt Absatz
2a Besprechung gemäß § 21 Abs. 3 GO Abgeordnetenhausprobleme bei der
psychiatrischen Versorgung der Berliner Bevölkerung (Auf Antrag der Fraktion der CDU)

In Berlin hat das Psychiatrieentwicklungsprogramm (PEP) seit den 90er Jahren zu einer
positiven Entwicklung in der Versorgung psychisch kranker Menschen in Berlin geführt.
Die differenzierte psychiatrische Versorgungsstruktur im Land Berlin wird im 2. Abschnitt
„Bestandteile psychiatrischer Versorgung“ der Drucksache 16/1650 des
Abgeordnetenhauses Berlin überblicksartig zusammengefasst. Es handelt sich dabei um
eine Darstellung des psychiatrischen Hilfesystems „an sich“ welches überwiegend als
Stärke der Berliner psychiatrischen Versorgung betrachtet werden kann.

In meiner folgenden Stellungnahme werde ich dem gegenüber, zugespitzt formuliert, auf
die „psychiatrische Versorgung außerhalb des psychiatrischen Hilfesystems“ eingehen,
wobei Schnittstellen zum eigentlichen psychiatrischen Hilfesystem beleuchtet werden,
deren Optimierung insgesamt zu einer weiteren Verbesserung psychisch kranker
Menschen in Berlin beitragen könnte.

1. Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Senioren
   Der Anteil über 70-jähriger Patienten in den Allgemeinkrankenhäusern (Innere,
   chirurgische Abteilungen etc.) ist hoch und wird auf Grund der demographischen
   Entwicklung in den folgenden Jahren weiter zunehmen (Anteil über 70-jähriger
   Patienten im KEH in 2008 über
   30 %). Es handelt sich dabei um eine Patientengruppe, die häufig an mehreren
   Krankheiten leidet, schwerer erkrankt ist und länger Krankenhausverweildauern
   aufweist.
-2-

    Ein mit dem Alter zunehmender Anteil dieser Patienten leidet an einer Demenz,
    welche einen Risikofaktor darstellt für die Entwicklung von (z. B. postoperativen)
    akuten Verwirrtheitszuständen während der stationären Krankenhausbehandlung mit
    einem Folgerisiko z.B. Stürzen und noch weiter verlängerten
    Krankenhausliegedauern.

    Es ist bei Ärzten und Pflegekräften auf den somatischen Stationen der
    Allgemeinkrankenhäuser noch zu wenig bekannt, dass demenzkranke Patienten
    zusätzlich akute Verwirrtheitszustände entwickeln können (Delir bei Demenz), so dass
    diese Komplikation nicht ausreichend erkannt und entsprechend nicht hinreichend
    behandelt wird. Ein bei einer Demenz auftretendes Delir (akuter Verwirrtheitszustand,
    der durch vielfältige Ursachen bedingt sein kann, wie z. B. durch unerwünschte
    Wirkungen von Medikamenten) ist eine so genannte psychiatrische Komorbidität bei
    einer gleichzeitig vorliegenden körperlichen Grunderkrankung (somatopsychische
    Komorbidität).

    In den Vorschlägen für den Krankenhausplan Berlin 2010 bis 2015 hat die
    Senatsverwaltung für Gesundheit diesem Umstand Rechnung getragen und die
    Möglichkeit der Einrichtung neuer geriatrischer Abteilungen (vorrangig durch
    Bettenumwidmungen) in Betracht gezogen. Die deutsche Alzheimer Gesellschaft hat
    ebenfalls Aktivitäten zur Verbesserung der Situation von demenzkranken Menschen
    auf den somatischen Abteilungen der Allgemeinkrankenhäuser entwickelt, wobei als
    eine der Ursachen der unbefriedigenden Versorgung das mangelnde Wissen des
    Krankenhauspersonals über aufgenommene Demenzkranke benannt wird. Um dieses
    mangelnde Wissen zu verbessern wurde von der Deutschen Alzheimergesellschaft ein
    „Informationsbogen für Patienten mit einer Demenz bei Aufnahme ins Krankenhaus“
    entwickelt (www.deutsche-alzheimer.de/indes?id=37).

    Aus (geronto-)psychiatrischer Sicht ist es als ausgesprochen problematisch zu
    betrachten, wenn ältere Menschen auf Grund eines zu spät erkannten akuten
    Verwirrtheitszustandes während der Behandlung einer körperlichen Grunderkrankung
    auf einer internistischen oder chirurgischen Station dort als „nicht mehr führbar“
    eingestuft werden und in Folge dessen auf eine (Geronto-)psychiatrische Abteilung
    verlegt werden sollen. Da gerade demenzkranke Patienten auf Grund ihrer
    eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten sehr empfindlich auf Ortswechsel reagieren,
    wodurch sie noch zusätzlich verwirrter werden können, so kann dies im schlechtesten
    Falle zu einem „Hin und Her“ zwischen psychiatrischer und z. B. internistischer
    Station führen, wenn nämlich die psychiatrische Station wiederum nicht in der Lage
    ist, eine gleichzeitig vorliegende körperliche Grunderkrankung adäquat zu behandeln.

    Folgende Verbesserungsmöglichkeiten für diesen nicht günstigen Zustand sollten ins
    Auge gefasst werden:

    - die Neueinrichtung geriatrischer Angebote sollte bevorzugt an solchen
      Krankenhäusern stattfinden, die bereits über (geronto-)psychiatrische
      Abteilungen verfügen;
    - geriatrische Solitärstandorte sollten angeregt werden, einen
      psychiatrischen Liaisondienst (hierzu vgl. Punkt 2 weiter unten)
      vorzuhalten.

    Grundsätzlich sollte dafür Sorge getragen werden, dass auf Grund der
    demographischen Entwicklung die Allgemeinkrankenhäuser sich im Sinne von
    „demenzfreundlichen Krankenhäusern“ entwickeln. Entsprechende Initiativen im
    Rahmen von Modellprojekten klingen viel versprechend (vergleiche das Projekt
    Blickwechsel, Demenz als Nebendiagnose im Allgemeinkrankenhaus
    (www.sozialeprojekte.de).

A. Diefenbacher                                                               Seite 2 von 8
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     Schnittstellen im stationär-ambulanten Bereich sind gerade bei dieser Klientel zu
     optimieren, wobei eine kompetente Haus- und nervenärztliche Versorgung von in
     Seniorenheimen lebenden Menschen von zentraler Bedeutung erscheint, um
     Krankenhauseinweisungen bei dieser sensiblen Klientel wenn möglich überhaupt zu
     vermeiden. Die Entwicklung von Verbundsystemen, wie dies z. B. im Bezirk
     Lichtenberg durch den im Jahre 2000 gegründeten Geriatrisch-
     Gerontopsychiatrischen Verbund (GGV) geschehen ist, sind hierbei hilfreich
     (Diefenbacher & Gaebel 2008).

2.    Konsiliar-Liaisonpsychiatrie im Allgemeinkrankenhaus

     Was in Punkt 1) am Beispiel von demenzkranken Patienten, die z. B. wegen einer
     Oberschenkelhalsfraktur in einer chirurgischen Abteilung aufgenommen worden sind,
     dargestellt wurde, nämlich ihre erhöhte Empfindlichkeit, eine psychiatrische
     Komorbidität, in diesem Falle einen akuten Verwirrtheitszustand zusätzlich zu ihrer
     körperlichen Grunderkrankung zu entwickeln (Delir bei Demenz) gilt generell für
     mindestens 20 % aller wegen einer akuten körperlichen Grunderkrankung im
     Allgemeinkrankenhaus behandelten Patienten: sie entwickeln zusätzlich zu dieser
     körperlichen Grunderkrankung eine psychische Erkrankung, die auch in ca. 10 % der
     Fälle nach Expertenschätzungen gleichzeitig mit der körperlichen Grunderkrankung
     behandelt werden sollte, um kompliziertere und längere Behandlungsverläufe im
     Allgemeinkrankenhaus zu vermeiden.

     Die drei hier am häufigsten zu nennenden Komorbiditäten mit psychiatrischen
     Erkrankungen sind die so genannten

     - hirnorganischen Psychosyndrome (Demenz, Delir bei Demenz),
     - Alkoholkrankheit und
     - depressive und Angsterkrankungen bzw. Anpassungsstörungen.

     Eine Verlegung der überwiegenden Mehrzahl dieser Patienten in psychiatrische
     Abteilungen ist nicht nur auf Grund der beschränkten Kapazitäten der letzteren nicht
     möglich, sondern auch deswegen nicht sinnvoll, da ja körperliche Erkrankungen die
     Einweisung auf einer internistischen oder chirurgischen Station erforderlich gemacht
     hat. Daher werden diese Patienten von psychiatrischen Konsiliar- Liaisondiensten auf
     diesen Stationen mitbehandelt.

     Das Konsiliarmodell bedeutet dabei, dass ein Patient üblicherweise ein oder zwei Mal
     vom Psychiater gesehen wird, und die Behandlung vom internistischen oder
     chirurgischen Stationsarzt durchgeführt wird. Bei komplexeren Problemen wie sie z.
     B. in der Onkologie oder bei der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten
     erforderlich sind, ist häufiger ein höherer Zeitaufwand für die Behandlung
     erforderlich, so dass der Psychiater (oder auch auf vielen onkologischen Stationen
     bereits eingeführt, ein Psychologe) intensiver und zeitaufwendiger in eine
     gemeinsame Behandlungsstrategie integriert ist.

     Empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass bis zu 2/3 der Patienten, die im
     Allgemeinkrankenhaus einem psychiatrischen Konsiliar- zugewiesen werden, bis
     dahin noch nicht in fachspezifischer psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung
     sich befunden haben, was je nach dem zu einer Chronifizierung von
     Krankheitsverläufen und zur Entstehung von unnötigen Kosten geführt hat, wie dies
     z. B. bei Patienten der Fall ist, die wegen Herzbeschwerden im Rahmen von
     Panikattacken viele Jahre lang zunächst in Notaufnahmen immer wieder beruhigt
     werden, dass kein Herzinfarkt vorläge, und somit erst viel zu spät in eine effiziente
     psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ihrer psychiatrischen Erkrankung,
     nämlich der Panikatacken, gelangen.

A. Diefenbacher                                                                 Seite 3 von 8
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    Entgegen der genannten Expertenschätzung (vgl. weiter oben) werden tatsächlich
    weltweit im Durchschnitt nur 1 bis 2% der Patienten eines Allgemeinkrankenhauses
    an einen Konsiliarpsychiater überwiesen.

    Die internationale Forschung geht davon aus, dass die Integration von
    psychiatrischen Konsiliar-Liaisondiensten in die Allgemeinkrankenhäuser zu einer
    Verbesserung der Versorgung der Patienten mit somato-psychischer Komorbidität
    führt.
    Hierbei wird seit vielen Jahren insbesondere gefordert:

    - Optimierung von Entdeckung und Behandlung von akuten
      Verwirrtheitszuständen (z. B. postoperativen Delirien,
      "Durchgangssyndromen“), sowie
    - besondere Angebote in Form von „Alkohol-Liaisondiensten“, da sich
      mittlerweile durch mehrere Studien (mit hohen Evidenzgrad,
      Evidenzlevel I) belegen lässt, dass so genannte motivationale
      Frühinterventionen insbesondere riskanten Alkoholkonsum reduzieren
      helfen: bei Patienten, die wegen einer körperlichen Erkrankung, die
      im Zusammenhang mit riskantem Alkoholgenuss steht (Unfälle,
      gasteroenterologische Probleme), findet eine entsprechende
      Frühintervention einen fruchtbaren Boden.

    Im Rahmen der Entwicklung des Berliner psychiatrischen Versorgungssystems ist, auf
    Grund der Bezirksgebundenheit, auch davon die Rede, dass ein Bezirk einem
    Versorgungssektor entspreche, für den, auf Grund der zu erwartenden Häufigkeit an
    psychiatrischen Erkrankungen, ein bestimmter Umfang an entsprechenden Hilfen zur
    Verfügung gestellt werden muss.

    Auf Grund der beschriebenen hohen psychiatrischen Komorbidität von körperlich
    kranken Patienten im Allgemeinkrankenhaus, die sich gewissermaßen dort auf
    kleinstem Raum verdichtet, sollte, in Anlehnung an entsprechende Überlegungen in
    Großbritannien, das Allgemeinkrankenhaus durchaus als „virtueller psychiatrischer
    Sektor“ betrachtet werden, für dessen adäquate Versorgung die Vorhaltung von
    psychiatrischen Konsiliar-Liaison-Diensten bzw. die Zusammenarbeit mit derartigen
    externen Diensten, so sie nicht vorgehalten werden können, im Sinne eines
    Qualitätsindikators für eine adäquate Patientenversorgung zu fordern sind
    (Diefenbacher et al 2008).

3. Psychisch kranke Menschen mit geistiger Behinderung

    Häufig werden psychiatrische, aber auch somatische Krankheiten bei Menschen mit
    geistiger Behinderung, insbesondere bei denjenigen, die sich nicht ausreichend
    körperlich verständigen können, nicht erkannt und Verhaltensauffälligkeiten
    fälschlicherweise der geistigen Behinderung „an sich“ zugeschrieben.

    Die Berliner Situation ist hier einerseits, spätestens seit der Einrichtung des
    Behandlungszentrums für psychisch kranke Menschen mit geistiger Behinderung
    (Erwachsene) an der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
    des ev. Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge mit nunmehr ergänzender
    Spezialambulanz (seit 2005) auf dem richtigen Weg.

    Andererseits zeigt sich gerade bei dieser Klientel, die auf Grund der mangelnden
    sprachlichen Verständigungsmöglichkeit auf Informationsbeschaffung über
    Familienangehörige, Betreuer u. a. m. angewiesen ist, dass die ambulante
    Versorgung durch Nerven- oder Hausärzte, so engagiert diese auch vorgenommen
    wird, auf Grund des hohen Zeitaufwandes durch die zur Verfügung stehenden
    Budgets nicht gedeckt ist.

A. Diefenbacher                                                              Seite 4 von 8
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     Des weiteren gilt auch hier, dass ein wesentlicher Anteil der Verhaltensauffälligkeiten,
     die zu einer Einweisung in eine psychiatrische Abteilung führen, letztlich eine
     körperliche Ursache hat und somit einer internistisch- oder chirurgischen Behandlung
     zugeführt werden muss (Anteil der Patienten mit einer signifikanten körperlichen
     Diagnose als Ursache für Verhaltensauffälligkeiten in unserem Behandlungszentrum
     in 2008: 15 %) (Voß et al 2005).

4.   Notaufnahme und/oder Rettungsstelle im Allgemeinkrankenhaus – weitere
     Schnittstelle zu psychiatrischen Versorgungssystemen.

     Die Rettungsstellen bzw. Notaufnahmen der Allgemeinkrankenhäuser sind häufig
     erste Anlaufstellen für Menschen mit psychischen Problemen, die sich in ihrer Not
     nicht anders helfen zu wissen und für die unter Umständen die Wartezeiten auf einen
     Termin in der Praxis eines Hausarztes oder Nervenarztes zu lange sind. Gleichfalls ist
     es möglich, dass Angesichts der nach wie vor bestehenden Stigmatisierung von
     psychischen Erkrankungen eine Notaufnahme oder Rettungsstelle einen „neutraleren
     Ort“ darstellt, wo Patienten zunächst ihre Beschwerden vorbringen wollen, um zu
     vermeiden, als „verrückt“ abgestempelt zu werden.

     Gerade wenn körperliche Symptome im Vordergrund bei einer psychischen
     Erkrankung stehen (z. B. Panikattacken bei Angsterkrankungen, oder Müdigkeit,
     Schwächegefühle und Kopfschmerzen bei einer Depression, oder vielfältige, eher
     diffuse körperliche Beschwerden bei einer somatoformen Störung) wird ohnehin
     zunächst der Kontakt nicht zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten, sondern zu
     einem „körpermedinischen“ Arzt gesucht. Im Folgenden sollen drei Aspekte dieser
     Schnittstelle diskutiert werden:

     - Migranten: gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund kann es sein, dass
     psychische Störungen oder auch die Institution
       „Psychiatrie“ mit einem erheblichen Stigma verbunden sind. Die
       Begründungen können sehr vielfältig sein: häufig trifft man auf die
       Angst, für „verrückt erklärt“ zu werden, da in Abhängigkeit von
       Bildungsgrad und Ursprungskultur psychische Störungen mit
       schweren Psychosen gleichgesetzt werden. Die Folgen reichen von
       Schamgefühlen bis zur Angst vor Ausgrenzung und Entwertung
       nicht nur der eigenen Person, sondern auch der ganzen Familie.
       Aber auch die Befürchtung, „weggesperrt“ und entrechtet zu
       werden, wie es in Ländern totalitärer Regime passieren kann, ruft
       unter Umständen ein tiefes Misstrauen gegenüber psychiatrischen
       Behandlungsangeboten hervor. Was weiter oben allgemein für die
       Rolle des Allgemeinkrankenhauses gesagt wurde, gilt hier erst
       recht für Notaufnahme oder Rettungsstellen: sie stellen einen
       „Filter“ dar, wo Menschen mit zunächst unerkannten psychischen
       Erkrankungen über die Kontaktaufnahme mit einer „somatischen
       Behandlungseinheit“ als psychiatrisch-psychotherapeutisch
       hilfebedürftig erkannt werden können und in der folge an
       fachspezifische Dienst weiter vermittelt werden sollten.
       Dies heißt, dass gerade in Notaufnahme und Rettungsstellen die
       unter Punkt 2 bereits erwähnten Konsiliar-Liaisondienste integriert
       sein sollten. (Burian und Diefenbacher, im Druck.)

     - Auch die Beschäftigung mit der psychischen Gesundheit von Frauen hat in den
       letzten Jahren zugenommen, angeregt auch durch vom Berliner Senat initiierte
       Hearings. Hier ist es in den letzten Jahren auch zur Einrichtung so genannter
       geschützter Frauenbereiche bzw. frauenspezifischer Therapieangebote in einzelnen
       psychiatrischen Abteilungen gekommen. An dieser Stelle sei allerdings auf einen,
       möglicherweise noch nicht ausreichend ins Bewusstsein gedrungenen Aspekt

A. Diefenbacher                                                                   Seite 5 von 8
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      hingewiesen, nämlich der Möglichkeit, Frauen die Opfer häuslicher Gewalt geworden
      sind und sich auf Grund körperlicher Verletzungen primär in Notaufnahmen/
      Rettungsstellen vorzustellen, spezifische Unterstützung anzubieten. Dies hat
      zunächst nichts mit der Aufnahme einer fachspezifischen psychiatrisch-
      psychotherapeutischen Behandlung zu tun, kann aber mittelbar, nachdem
      überhaupt erst einmal die Möglichkeit der Identifikation einer solchen Problematik
      und der Vermittlung von basalen Hilfeangeboten (z.B. Adressen von Frauenhäusern)
      geleistet worden ist, anschließend erfolgen. Ein wichtiges Projekt in Berlin stellen
      hier die Initiativen von S.I.G.N.A.L dar, wo versucht wird, den in den
      Notaufnahmen/Rettungsstellen tätigen Ärzten und Pflegekräften Grundkenntnisse im
      Umgang mit traumatisierten Frauen zu vermitteln.

     - Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Abnahme der Versorgungsdichte
       mit Psychiatern und/oder Nervenärzten in einigen östlichen Berliner
       Bezirken, z.B. Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg, dazu führen könnte, dass
       Menschen wegen psychischer Probleme eine Notaufnahme aufsuchen, weil die
       Wartezeiten für einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt zu lang geworden
       sind. Hierbei handelt es sich aber nicht im eigentlichen Sinne um Notfallpatienten.
       Eine Stabilisierung der nervenärztlich-psychiatrischen Versorgung in betroffenen
       Bezirken wäre hilfreich, um eine Fehlallokation von Ressourcen zu vermeiden.

     Zwar verfügen die psychiatrischen Abteilungen in den entsprechenden Bezirken auch
     über psychiatrische Institutsambulanzen. Hier wird allerdings von den Krankenkassen
     sehr deutlich darauf hingewiesen, dass eine PIA nur für schwerkranke psychiatrische
     Patienten, die einer komplexen Behandlung bedürfen, zur Verfügung steht, und
     keinesfalls als Ersatz für eine nervenärztliche Praxis gebraucht werden dürfte.

5.   Gemeindepsychiatrische Verbünde und Zusammenarbeit mit Bezirksämtern
     – weitere Vernetzungsmöglichkeiten in den Bezirken.

     Die Wichtigkeit von Verbundsystemen bei der Optimierung von
     Schnittstellenproblematiken wurde am Beispiel des geriatrisch-gerontopsychiatrischen
     Verbunds (GGV) Lichtenberg bereits unter Punkt 1) erwähnt.

     Auch für die allgemeinpsychiatrischen Versorgung haben sich in den letzten Jahren in
     den Berliner Bezirken Verbünde entwickelt, die als so genannte
     „Gemeindepsychiatrische Verbünde“ (GPV) für eine Verbesserung der Koordinierung
     der vorhandenen differenzierten Angebote Sorge tragen (in der Anlage findet sich als
     Beispiel eine Übersicht der Gremien der psychosozialen Versorgung in Lichtenberg).

     Aus solchen Zusammenschlüssen können sich weitere Initiativen ergeben, die
     ebenfalls zu einer Verbesserung von Zusammenarbeit führen. So hat sich ein im
     letzten Jahr begonnenes Projekt, das gemeinsam vom Bezirksamt Lichtenberg, dem
     GPV und der Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des KEH
     veranstaltet wurde, als sehr hilfreich sowohl mit Blick auf Entstigmatisierung, aber
     auch konkret unter dem Aspekt des Abbaus bürokratischer Hürden: in 11
     Veranstaltungen, veranstaltet von der VHS Lichtenberg, wurden in Vorträgen, die
     gemeinsam von Ärzten der psychiatrischen Abteilung des KEH und Vertretern der
     komplementären psychiatrischen Angebote im Bezirk Lichtenberg bestritten wurden,
     ca. 50 Fallmanager der Jobcenter u.a. darin geschult, auf psychiatrische
     Erkrankungen hinweisende Warnzeichen bei ihren Klienten wahrzunehmen. Dies hat
     unter anderem zu einem verbesserten Verständnis und beschleunigter
     Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeitern des Krankenhauses bzw. den Jobcentern in
     der Betreuung von psychisch kranken Arbeitslosen geführt.

A. Diefenbacher                                                                  Seite 6 von 8
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Entwicklung der psychiatrisch-
psychotherapeutischen Versorgung im Land Berlin „im engeren Sinne“ viele Stärken
aufweist. Im Bereich der Schnittstellen von stationären und ambulanten, bzw.
psychiatrischen und somatischen Versorgungsstrukturen zeigt sich allerdings
Optimierungsbedarf. Gerade die nicht hinreichend erkannte und damit zu wenig einer
spezifischen Therapie zugeführte psychiatrische Komorbidität bei Patienten mit Demenz
und Alkoholkrankheit, die wegen körperlicher Erkrankungen auf den internistischen und
chirurgischen Stationen der Allgemeinkrankenhäuser behandelt werden, also die
„Psychiatrie außerhalb der Psychiatrie“ kann dabei als verbesserungsfähig eingeschätzt
werden.

Professor Dr. Albert Diefenbacher MBA

A. Diefenbacher                                                              Seite 7 von 8
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Literatur

1. Burian R, Diefenbacher A: Konsiliarpsychiatrie. In Machleidt W, Heinz A (Hrsg.) Praxis
   der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie – Migration und psychische
   Gesundheit. Elsevier Urban & Fischer Verlag, München, in Druck
2. Diefenbacher A: Wenn körperlich Kranke psychisch gestört sind. Berliner Ärzte
   9/2008: S. 26-27
3. Diefenbacher A, Burian R, Klesse C, Härter M (2009): Konsiliar- und Liaisondienste
   für psychische Störungen. In: Berger M (Hrsg.) Psychische Erkrankungen Klinik und
   Therapie, 3. Auflage, Urban- & Fischer Verlag, S. 1026-1050
4. Voß T, Böhm M, Diefenbacher A: Psychische Erkrankungen bei Intelligenzminderung
   oft unzureichend diagnostiziert. Berliner Ärzte, 11/2005: S. 24-25

A. Diefenbacher                                                               Seite 8 von 8
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