Zeitenwende in der Lyrik Paul Celans - Klaus Manger

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362 77-82 Manger 21.12.1999 14:30 Uhr Seite 77

                                                                                  Die
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  Nr. 362/Januar 2000                                                             Meinung

                               „Von Schwelle zu Schwelle“

           Zeitenwende in der Lyrik
                 Paul Celans
                                      Klaus Manger

  Paul Celans Gedichte begleiten uns schon       traut, dann bleiben das „Brandmal“, das
  ein halbes Jahrhundert und sind doch weit-     „Grab in den Lüften“, der Tod als „ein Mei-
  gehend fremd geblieben. Manchen An-            ster aus Deutschland“, der „herz- / förmige
  strengungen zum Trotz haben sie ihre Wi-       Krater“ noch in Erinnerung, selbst wenn der
  derständigkeit bewahrt und befremden           letzte Bombentrichter beseitigt sein sollte.
  noch immer, sind also im Sinne von Harald      Die „Verbrannte[n]“, „Alle die mit- / ver-
  Weinrich imagines agentes par excellence.      brannten / Namen“, „die Leiber / zu Schwel-
  Ihre ebenso herausfordernde wie leise an-      len getürmt“, „Die Tode und alles / aus ih-
  klopfende Poetik ist wenig erkannt, ge-        nen Geborene“; „unsterblich von soviel / auf
  schweige verstanden worden. Dabei frap-        Morgenwegen gestorbenen Toden“ verhin-
  piert dieser Dichter mit seiner Aufforde-      dern, auf dieses Jahrhundert zurückzubli-
  rung: „Machs Wort aus.“ Ob dieser impera-      cken, als sei nichts gewesen.
  tivischen Zumutung möchte es einem bei-        „Beim Tode! Lebendig!“ Die unerhörte Her-
  nahe die Sprache verschlagen. Doch be-         ausforderung der menschenfeindlichen,
  merkt man dann vielleicht, dass es nur an      menschenvernichtenden Maschinerie des
  einem selbst liegt, sie wiederzuerlangen       Todes hat Celans Gedichte stigmatisiert, hat
  und das Wort von neuem auszumachen.            dem Dichter seine neue Poetik abgezwun-
  Zu einer solchen Neubestimmung des Wor-        gen.
  tes und der Sprache fordern Celans Ge-
  dichte auf, seit die großen Verheerungen
                                                          „Das Gedicht spricht“
  und Verwerfungen dieses zu Ende gehen-
  den zwanzigsten Jahrhunderts über die          Bei Martin Buber heißt es: „Das Gedicht
  Menschen hereingebrochen sind. Zu keiner       spricht.“ Celan betont das, wenn er dies in
  früheren Zeit sind sie von so systematischer   seiner Büchnerpreisrede von 1960, ver-
  Vernichtung heimgesucht worden wie in          öffentlicht als „Der Meridian“, aufnimmt
  diesem Jahrhundert. Wenn da ein Dichter        und sagt: „Aber das Gedicht spricht ja!“ Er
  Zuflucht in der Sprache, der Sprache des Ge-   fügt jedoch hinzu: „Es bleibt seiner Daten
  dichts, sucht, ihr den Schmerz angesichts      eingedenk, aber – es spricht. Gewiss, es
  der Ungeheuerlichkeiten der Geschichte         spricht immer nur in seiner eigenen, aller-
  und des Ausmaßes der Vernichtung anver-        eigensten Sache.“ Ja, „aber – es spricht“.

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     Diese bedeutende Aussage müssen wir uns         schürzt“ aus dem Band Von Schwelle zu
     verdeutlichten, da soviel von Verstummen        Schwelle (1955) heißt: „Ein Wort – du weißt:
     die Rede ist und Celan selbst sagt, das Ge-     / eine Leiche“, so ist das wohl die schroffste
     dicht neige zum Verstummen.                     Entgegnung auf die Theodizee, da sie dem
     Er weiß, dass die Besinnung auf Ge-             fleischgewordenen Wort, dem Lógos, den
     schichte, insbesondere die Geschichte des       Ausblick auf Erlösung und Auferstehung ab-
     zwanzigsten Jahrhunderts, einem „den            spricht. Aus dieser anthropozentrischen
     Atem und das Wort“ verschlagen kann. Er         Sicht lassen sich weder auf Golgatha noch
     sagt: „Dichtung: Das kann eine Atemwende        auf Stalingrad noch auf die Lager am Bug
     bedeuten.“ Das aber heißt, das Gedicht          oder Buchenwald noch auf Hiroshima ir-
     kann die Gestalt einer solchen Atemwende        gendwelche Hoffnungen bauen. Über den
     annehmen, und so lautet der Titel des Ban-      Brandstätten der Verheerungen öffnen sich
     des von 1967 Atemwende. Es ist also nicht       keine Himmel. Vielmehr werden diese
     so, dass hier die Sprache zerschlagen, in die   Brandstätten dem Dichter selbst zu Patmos,
     Zerstörungen nachahmender Weise ir-             aus denen er seine unheimlichen Offenba-
     gendetwas kaputt gemacht wird. Es sind          rungen gewinnt.
     nicht Celans Gedichte, die „mit mimeti-         Celans Gedichte haben es auf sich genom-
     scher Panzerfaustklaue“, wie es im voraus-      men, jedes für sich, Kunde „Von Dunkel zu
     liegenden Band Die Niemandsrose (1963)          Dunkel“ zu geben. Wie das Gedicht „Mit
     heißt, es sind vielmehr diejenigen selbst,      wechselndem Schlüssel“ durch die Ge-
     die den „Schwarzhagel“ säten, die ihn jetzt     schichte hindurch bis zu den „wechselnden
     wegschreiben mit dieser fürchterlichen          Schlüsseln“ bei Parmenides zurückgreift,
     Klaue. Wenn Dichtung eine Atemwende             um zu veranschaulichen, dass „das Haus,
     bedeuten kann, dann ist ihr aufgegeben, zu      darin der Schnee des Verschwiegenen
     zeigen und dadurch zu erinnern, wie es ei-      treibt“, nur um den Preis drohenden Le-
     nem den Atem und das Wort verschlägt,           bensverlustes zu öffnen ist und damit das
     aber eben nicht zu verstummen. Denn es          Lichtreich der Wahrheit, wohin das antike
     spricht ja. „Wahr spricht, wer Schatten         Lehrgedicht des Parmenides vordringt, ver-
     spricht.“                                       schlossen bleibt. Weder theologische noch
                                                     philosophische Refugien tun sich da auf:
                                                     „ich höre, sie nennen das Leben / die ein-
             Der Schatten eingedenk
                                                     zige Zuflucht.“, heißt es im Band „Schnee-
     Unter den finsteren Himmeln dieses Jahr-        part“ (1971).
     hunderts bleiben uns keine Ausflüchte,          Denken und Sein, so lässt sich am Ende die-
     keine Hilfskonstruktionen, keine sie ka-        ses Jahrhunderts bilanzieren, sind nicht das-
     schierenden Glaubensakte. Auch wenn             selbe. Das einzelne Gedicht kann eine
     diese Himmel sich erfreulicherweise vor         Atemwende bedeuten. Wir können sie von
     zehn Jahren aufgehellt haben: das Gesche-       Gedicht zu Gedicht, von Schwelle zu
     hene ist nicht ungeschehen zu machen. Das       Schwelle, auf der sie sich ereignet, verfol-
     wahre Wort des Dichters ist und bleibt der      gen. Und das Gedicht, das, durch die Ge-
     Schatten eingedenk, liegen sie über Golga-      schichte hindurchgreifend, seiner Daten
     tha, über dem Bug, über der Spree oder der      eingedenk bleibt, läßt seinen Leser schwer-
     Seine. Wenn es im Gedicht „Nächtlich ge-        lich unbeteiligt. Sein imperativischer Gestus

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  Zeitenwende in der Lyrik Paul Celans                                                  Meinung

  ist offensichtlich von der Hoffnung ge-           mete Nein“. Nicht die Seele, sondern ein
  tragen, auf einen Menschen zu treffen, der        Seelenfortsatz ist hier ausgehaucht, etwas
  sich von ihm ansprechen lässt. Ein Beispiel       Unnützes, allerdings als Fortsatz und An-
  aus Sprachgitter (1959) möge das verdeut-         hängsel noch auf Satz, Sprache, Atem Ver-
  lichen:                                           weisendes. Dieser minimalisierte Rest er-
  SCHUTTKAHN                                        reicht das hellgeatmete Nein. In dieser
  Wasserstunde, der Schuttkahn                      Form, verkürzt, reduziert, nimmt der Seelen-
  fährt uns zu Abend, wir haben,                    fortsatz die Richtung eines massiven Wider-
  wie er, keine Eile, ein totes                     spruchs, nämlich den des hellgeatmeten,
  Warum steht am Heck.                              vom Körper gelösten und als letztes Wort
  Geleichtert. Die Lunge, die Qualle                diesem Gedicht überantworteten Neins.
  bläht sich zur Glocke, ein brauner                Dieses Gegenwort erhebt leise dröhnenden
  Seelenfortsatz erreicht                           Protest, in den Diminutiv vergrößerten Wi-
  das hellgeatmete Nein.                            derstand.
  Es ist „Wasserstunde“. Keines der anderen         Die erste Fassung des Gedichts hatte noch
  Elemente bietet Zuflucht, wo doch Leben           nicht die gepunktete Linie, die dann im Ge-
  einzige Zuflucht ist. Menschen haben so nur       dichtband Sprachgitter die beiden Strophen
  ihr Leben und das, was sie daraus machen.         trennt und mit der zeitlichen Distanz der
  Der Schuttkahn fährt ohne Eile, ziellos,          Strophen zugleich so etwas wie eine Was-
  grundlos „uns zu Abend“. Die Wasserstunde         serlinie zwischen dem Schuttkahn in der
  ist wie bei Rimbaud Spätzeit, da in seinem        ersten und dem Seelenfortsatz in der zwei-
  von Celan übertragenen „Bateau îvre“ alles        ten Strophe markiert. Sie ist zugleich die Mit-
  versinkt, oder wie bei Trakl, „wo hinüber-        tellinie des ganzen Bandes.
  starben Liebende“, die eines Totenschiffs.        Da mit dem toten Warum jede Fragemög-
  Trakls Gedicht heißt „Abendland“. Es legt         lichkeit erstorben ist, bleibt allein der
  nahe, in dem „zu Abend“ fahrenden Schutt-         braune Seelenfortsatz als Indiz. Er verweist
  kahn über das Spätzeitliche hinaus eine           auf die Herkunft des Schreckensgesche-
  Spätkultur, ja einen Reflex auch auf Unkul-       hens, gegen das sich – „Beim Tode! Leben-
  tur zu erkennen. Jede Frage, selbst die Ur-       dig!“ – das im Tod hellgeatmete Nein wehrt.
  sprungs- beziehungsweise Grundfrage, ist          Das Gedicht erschien zuerst am 30. Januar
  erstorben: „Ein totes / Warum steht am            1958 in der Zeit, als die Leitartikel der da-
  Heck“ dieses manövrierunfähigen Gefährts.         mals 25 Jahre zurückliegenden „Macht-
  Die zweite Strophe beginnt: „Geleichtert.“        ergreifung“ von 1933 gedachten.
  Zwischen den Strophen liegt ein zeitlicher
  Einschnitt. Jetzt ist Ballast unter Wasser. Ein
                                                            „einsam und unterwegs“
  Rest von materialisiertem Leben, Teil jenes
  Schutts, „Die Lunge“, jetzt einer Qualle          Diese Gedichte sind tatsächlich ihrer Daten
  gleich, bläht sich zur Glocke. Als das für        eingedenk. Sie sind „einsam und unter-
  Atem – und aus diesem Atem hervor-                wegs“ und stehen, wie Celan gleichfalls im
  gehende Wort – zuständige Organ geht die          Meridian sagt, „im Geheimnis der Begeg-
  Lunge in dieser Wasserstunde unter. Ein           nung“, weil sie auf ein Gegenüber zuhalten
  den Tentakeln der Quallen ähnlicher „brau-        und das Gespräch suchen. Der das Nein und
  ner / Seelenfortsatz erreicht / das hellgeat-     damit den Widerspruch erreichende See-

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      Meinung                                                                        Klaus Manger

     lenfortsatz zeugt von menschlicher Gegen-       Psalmen und die Apokalypse bis in die Ge-
     wart. Da wird, wie das Celan für Büchner        genwart geführt. Die Kulturgeschichte
     in Anspruch genommen hat, keiner Mo-            reicht von der Wurzel Jesse über Pallas
     narchie oder totalitären Macht, auch kei-       Athene, von Eden, Babel, Ghetto zu Kolum-
     nem zu konservierenden Gestern gehuldigt.       bus, der Warschowjanka, in die rue de
     „Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart      Longchamp, rue Tournefort zum Platz La
     des Menschlichen zeugenden Majestät des         Contrescarpe in Paris. Von Jerusalem, Rom,
     Absurden.“                                      Odessa, Lyon, Hamburg, Krakau, Berlin,
     Bevor auf das „Geheimnis der Begegnung“         Prag, auch von Czernowitz über Bukarest,
     zurückzukommen ist, das Celan im „Meri-         Wien nach Paris, also auf Celans Lebens-
     dian“ emphatisch betont und das das Herz-       weg und in seinen Gedichten, sind die Orte
     stück seiner Poetik bildet, sei knapp ver-      der mythischen und historischen Welt ge-
     gegenwärtigt, was das schon erwähnte Hin-       genwärtig. Die technische Moderne hat von
     durchgreifen durch die Geschichte bedeu-        der „ins Pflaster gewummerten Ilias“ über
     tet. Für eine Verständigung darüber wäre        „Elektronenidioten“, „Bugradgesang mit
     auf die zahlreichen Namensnennungen             Corona“ bis hin zu „Fertigungshalle“ oder
     hinzuweisen, die sich in den Gedichtbän-        „Gebetssilos“ Eingang in seine Gedichte ge-
     den vom verworfenen Der Sand aus den Ur-        funden.
     nen (1948) bis zum postum erschienenen
     Zeitgehöft (1976) finden. Explizit und impli-
                                                               Das ansprechbare Du
     zit sagen sie von Odysseus und Parmenides
     über Petrarca, Hölderlins Tübingen, Heine       In der „Großsekunde Gedächtnis“ dieser
     bis hin zu Ossip Mandelstamm, Rilke, Paul       Gedichte ist alles vorhanden. Ihrer „Au-
     Eluard, Edgar Jené, Heideggers Todtnau-         genschlitz-Krypta“ entgeht nichts: „dich be-
     berg, Nelly Sachs, Brecht oder René Char,       redet / die Welt ohne Zunge“. Mit einer win-
     von den mannigfaltigen Übersetzungen gar        zigen Manipulation wird das nicht bloß in
     nicht zu reden, jedoch nur, dass ihre im-       Korrespondenz gesetzt, sondern zu einer
     mense Welthaltigkeit den Gedanken an ir-        „Cor-respondenz“ erhoben (zu cor, das
     gendwelchen Hermetismus gar nicht erst          Herz). So wird es zu einer Herzensantwort.
     aufkommen lässt. Im Gegenteil zeugen die        Sie lenkt auf jenes „Geheimnis der Begeg-
     Gedichte von einer Sprachbewusstheit, die       nung“ zurück, mit dem die Gedichte hoffen,
     sich selbstverständlich des Sprachschatzes      auf ein ansprechbares Du zu stoßen. Celan
     und seiner Geschichte erinnert, auch wenn       bedient sich, das zu verdeutlichen, auch
     sich uns die zahlreichen Termini nicht im-      des Bildes der „Flaschenpost“. Als Flaschen-
     mer auf Anhieb erschließen: „in der Flüs-       post setzt er sein Gedicht ab, dass es an
     tertüte buddelt Geschichte“. Die bud-           Land, „an Herzland vielleicht“, gespült
     delnde Geschichte betreibt ihre eigene Ar-      werde.
     chäologie und Sinnsuche – wieso aber in         Schon Mandelstamm sagt: „Der Brief, den
     der Flüstertüte? In ihren Verlautbarungen       die Flasche in sich barg, war an den adres-
     scheint menschliches Leben verschüttet,         siert, der sie findet.“ Der Adressatenkreis der
     aus dem sich bestenfalls Hinweise auf Le-       als Flaschenpost ausgesetzten Gedichte ist
     ben zu Tage fördern lassen. Die Literatur-      offen. Wer sie aber findet, wer für das, was
     geschichte wird von Homers Troja über die       sie sagen, zugänglich ist, dem teilen sie al-

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  Zeitenwende in der Lyrik Paul Celans                                               Meinung

  les mit, was sie wissen. Und sie wissen oder    Gleichwohl bleibt die Begegnung ein Ge-
  erinnern viel.                                  heimnis.
  Voraussetzung dieser Poetik ist der Indivi-     Im Gedicht „Anabasis“ im Band Die Nie-
  duationsakt des Gedichts. Die „gestaltge-       mandsrose heißt es: „Hinauf und Zurück /
  wordene Sprache eines Einzelnen“, seine         in die herzhelle Zukunft.“ Das Zitat stammt
  Wirklichkeit und ihre Daten birgt das Ge-       aus der Eröffnungsstrophe des Gedichts:
  dicht. Da ihm alles mitgegeben ist, was für     Dieses
  sein Gegenüber bedeutsam werden kann,           schmal zwischen Mauern geschriebne
  bedarf es nur desjenigen, der verständig        unwegsam – wahre
  aufnimmt und demgegenüber es alles ihm          Hinauf und Zurück
  mitgegebene Mitteilsame auch freisetzen         in die herzhelle Zukunft.
  kann. Was ihm vom Dichter unter „dem Nei-       Hinauf und Zurück klingen wie eine Gegen-
  gungswinkel seiner Kreatürlichkeit“ anver-      bewegung und meinen offenbar beide eine
  traut ist, wird im transitorischen Augenblick   Heimkehr. Die Begegnung auf der Schwelle
  seines Anlandens und seiner verständigen        dieses Gedichts erinnert an den Zug zehn-
  Aufnahme aktualisiert. Das Gedicht wird so      tausend griechischer Söldner unter Xeno-
  im Augenblick seiner Entdeckung „aktuali-       phons Leitung, wie er ihn in seiner Anaba-
  sierte Sprache“. Und dank der „Individua-       sis beschreibt. Schon Saint-John Perses
  tion“ kommt es in die Lage, uns anzuspre-       „Anabase“ (1924) ist, da es den Aufbruch ei-
  chen, ganz ähnlich einem Menschen, der ei-      nes Eroberers ins Innere eines fremden Lan-
  nen anspricht. Deshalb sieht Celan keinen       des zum Gegenstand hat, kein historisches
  prinzipiellen Unterschied zwischen einem        Gedicht mehr, ebenso wenig Celans „Ana-
  Händedruck und einem Gedicht.                   basis“. Es erinnert aber an jenen Aufstieg der
                                                  Griechen und die in ihnen aufwallende
                                                  Freude über die nahe Heimkehr, da sie das
          Erinnerndes Offenbaren
                                                  Meer erblicken. Schon in Celans Gedicht
  Auch in Zukunft hoffen diese Gedichte auf-      „Ein Lied in der Wüste“ verendet ein Ritter
  genommen zu werden. Und vorausgesetzt,          in der Gegend von Akra, wohl einer jener
  das neue Jahrhundert stehe unter glück-         Kreuzritter vor Jerusalem. Die Entstehung
  licheren Vorzeichen als das zu Ende gegan-      des Gedichts reicht in Celans Bukarester
  gene, so werden auch künftigen Generatio-       Zeit um 1945 zurück, als die Alliierten unter
  nen diese Gedichte offenbaren, warnend,         General Eisenhower gerade Europa dem
  mahnend, erinnernd offenbaren, weil Men-        Nationalsozialismus wieder entreißen.
  schen vergesslich sind, was sie in Erinne-      Diese Befreiungsaktion steht unter der
  rung behalten sollten. Auf diese Weise wer-     Flagge „The Crusaders“.
  den sie auch künftigen Generationen ein         Celans gereimte Langverse erinnern an krie-
  Zeichen übermitteln, dass es angesichts         gerische Eroberungs- und Befreiungsaktio-
  der Verbrechen dieses zwanzigsten Jahr-         nen wie das spätere Gedicht „Anabasis“
  hunderts ein entschiedenes „hellgeat-           auch. Es hat einige Aufmerksamkeit auf sich
  mete[s] Nein“ gab und gibt. Diese Kunde         gezogen, weil sich darin das Zitat „unde
  macht das „Geheimnis der Begegnung“             suspirat / cor“ aus Mozarts Solomotette „Ex-
  zwischen individuiertem Gedicht und sei-        sultate, jubilate“ findet. Auch die Musik ge-
  nem offenen Adressaten so bedeutsam.            hört zu diesem Raum der Geschichte, durch

                                                                                             81
362 77-82 Manger 21.12.1999 14:30 Uhr Seite 82

     Die
     politische
      Meinung                                                                         Klaus Manger

     den die ihn aktualisierenden Gedichte hin-        des Menschlichen zeugenden Akt der Frei-
     durchgreifen. Im Unterschied zum mittel-          heit entgegenzusetzen. Er markiert eine
     alterlichen lateinischen Text der Motette,        Schwelle. Celan wird dadurch zu einem
     der an Maria, die Gottesmutter, gerichtet ist,    Schwellendichter des zwanzigsten Jahr-
     sagt das Zitat jetzt nur, dass aus welchem        hunderts. Im Gedächtnisraum des Gedich-
     Grund auch immer das Herz aufseufzt. Da-          tes, wenn auch tief aufseufzend, bleibt – wie
     mit tritt es zur „herzhelle[n] Zukunft“ in Kor-   das „hellgeatmete Nein“ – dieses „Mitsam-
     respondenz.                                       men“ als intensivierte Gemeinschaft spiri-
     Der Weg dieser Anabasis führt „weit / ins Un-     tualiter erhalten.
     befahrne hinaus“, eine maritime Welt, wo          Die unserem kulturellen Gedächtnis zuge-
     das aufseufzende Herz zum „Kummerbo-              hörigen Gedichte stiften Gedächtnis, zeu-
     jen-Spalier“ gehört. Das Gedicht gibt zwar        gen von Akten der Freiheit und sind selbst
     die Richtung „in die herzhelle Zukunft“ an.       Akte der Freiheit.
     Sie scheint aber, wie das „Kummerbojen-           So wenig tröstlich sie uns scheinen mögen,
     Spalier“ andeutet, anders als der historische     so wahr sind sie. Aber sie bauen auch auf
     Text keine freudvolle oder tröstliche Heim-       die Hoffnung, es möge jemand, der ihnen
     kehr zu sein. Vielmehr ist es die Anabasis ei-    begegnet, sich dazu aufgefordert sehen, das
     nes tief aufseufzenden Herzens. Am Ende           Wort neu auszumachen. Eigene Räume der
     steht:                                            Geschichte begleiten sie – von Schwelle zu
     Sichtbares, Hörbares, das                         Schwelle – auf maritimem Wege wie auf
     frei-                                             Sternenbahnen, auf Flugbahnen durch den
     werdende Zeltwort:                                Raum der Geschichte.
     Mitsammen.                                        Wenn „Die Winzer“ aus „Von Schwelle zu
     Das, was sich hier diesem Aufseufzen ent-         Schwelle“ den Wein ihrer Augen „herb-
     windet, ist das „frei- / werdende Zeltwort“;      sten“, alles Geweinte keltern und das Sik-
     es erinnert an das „hellgeatmete Nein“; hier      kernde, das Geweinte, einkellern „im Son-
     bietet das Zeltwort letzte Zuflucht und weist     nengrab“, dann lässt sich ermessen, wel-
     auf den Ort jener „herzhelle[n] Zukunft“.         cher Anstrengungen es bedurfte, diese un-
     Das freiwerdende Zeltwort ist in das Gedicht      heimlichen Offenbarungen gestalteten Ge-
     übergegangen. Es beschließt jetzt das Ge-         dichten anzuvertrauen. In beispiellosen In-
     dicht: „Mitsammen.“ Das „Hinauf und Zu-           dividuationsakten greifen sie durch die Ge-
     rück / in die herzhelle Zukunft“ mündet in        schichte hindurch und aktualisieren das
     den Gedächtnisort dieses Gedichtes, den           den Einzelnen anrührende Geschehen. Es
     das Schlusswort „Mitsammen“ benennt. Er-          fällt schwer, ihr genaues Zeugnis nicht von
     neut hat es der Dichter unternommen, den          der Hoffnung begleitet zu sehen, auch in
     Ungeheuerlichkeiten einen für die Majestät        Zukunft Menschen zu begegnen.

          Schwinden der Angst
          „Erstaunlich, dass das Schwinden der Angst, der früher bei vielen stets gegenwärti-
          gen, in der Nachwendezeit als Befreiung überhaupt nicht registriert wird.“
          (Henryk Bereska, Ausgewählte Werke, Aphorismen 1999)

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