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Zum Verhältnis von Intelligenzminderung und Schuldfähigkeit 17.09.2021 Dr. med. Jan Lange Universitätsklinikum Dresden Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bereich Forensische Psychiatrie
Intelligenz und Intelligenzminderung ICD- 10: Intelligenzminderung (IM) − unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten (Kognition, Sprache, motorische, soziale Fähigkeiten) mit der Folge der erschwerten Anpassung an Anforderungen des täglichen Lebens − Differenzierung von leichter (50-69), mittelgradiger (35-49), schwerer (20-34), schwerster IM (
Merkmale leichter und schwerer geistiger Behinderungen (gB); nach: Propping (1989), aus: v. Gontard in: Neuhäuser, Steinhausen, Häßler, Sarimski (2013)
Verhaltensstörungen und komorbide psychische Störungen Verhaltensstörungen: − kulturell unangemessenes Verhalten mit ernsthaftem eigen-/fremdaggressivem Gefährdungspotential im Rahmen von Intelligenzminderungen (Emerson, 1995) • internalisierende Verhaltensprobleme: ängstlich-rückzüglich, vermeidend • externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten: auto- und fremdaggressives Verhalten, z. B. Selbstverletzungen, Stereotypien, Schlagen, Treten, Kratzen, Beißen, Schreien, An den Haaren- Ziehen, Werfen von Gegenständen, Spucken, Zerstörungshandlungen, Weglaufen − forensisch-psychiatrisch: Antriebsstörungen, Impulsivität, emotionale Instabilität, Störungen der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit, Empathiedefizite, Konsum von Suchtstoffen (Lammel, 2010) − Leitlinie IM: aggressives Verhalten, ADHS-oid, Substanzmissbrauch, Sexualität, dissoziales Verhalten (S2k-LL: IM, 2021) − Prävalenz: 10-15% (Emerson et al., 2001), 18-22% (Cooper et al., 2007), >45% (Schützwohl et al., 2016) komorbide psychische Störung: − prinzipiell alle – affektive Störungen, Schizophrenie, Angst, Abhängigkeitserkrankungen − Leichte gB: in Häufigkeit und Psychopathologie vergleichbar den Menschen ohne IM − schwere gB: mehr Autismusspektrumstörungen, weniger Sucht, schwerer zu erfassen (Dc-ID), Overshadowing, Underreporting − bei straffälligen Menschen mit IM: 30-75%, überproportional: Schizophrenie (Hobson und Rose, 2008)
Verhaltensstörungen und komorbide psychische Störungen Verhaltensstörungen und/oder komorbide psychische Störungen: bei ~ 50 % der IM (Einfeld et al., 2011) IM und Sucht: − über alle Schweregrade hinweg ca. 1% (Cooper et al., 2007), stationär versorgte Menschen mit IM: ca. 4% alkoholabhängig, ca. 7% riskanter oder schädlicher Gebrauch (Schubert und Theunissen, 2004) − Alkohol- und BtM-Konsum ist insbesondere bei Menschen mit leichter IM ein kriminologisch bedeutsamer Faktor neben anderen: Alkohol- und BtM-Konsum ähnlich wie bei niedrignormalintelligenten (Didden et al., 2009; Sarrazin und Fengels, 2009) IM im Maßregelvollzug: − Vollerhebung BaWü: leichte IM: ~6%, mittel- und schwergradige IM: ~2% (Karcher, 2017) − vergleichbare Ratio in NRW: leicht- zu mind. mittelgradiger IM 3 : 1 (Seifert, 2014) − deutliche Verhaltensstörungen (F7x.1): 75%; psychiatrische Nebendiagnose/n bei > 80%: • Störung der Sexualpräferenz (30%) [dd: Counterfeit Deviance?] • Sucht (18%) [dd: Verhaltensstörung?] • Schizophrenie (8%) [dd: Negativsymptome?] • Persönlichkeitsstörungen (7%) (Seifert und Neuschmelting, 2021) [dd: Verhaltensstörungen?]
Zuordnung zu den Eingangsmerkmalen des § 20 StGB Angeborene Intelligenzminderungen ohne konkret zu benennende organische Verursachung werden dem Eingangsmerkmal Intelligenzminderung zugeordnet. Intelligenzminderungen infolge einer zu benennenden biologisch-ursächlichen Störung werden unter das Eingangsmerkmal krankhafte seelische Störung gefasst. Bekannte Ursachen von Intelligenzminderungen können unterteilt werden in: − pränatal: genetische Syndrome oder chromosomale Störungen, exogen-toxische Einflüsse: v.a. Alkohol [fetale Alkoholspektrum-Störung, FASD], Nikotin, BtM, Medikamente, Infektionen, Erkrankungen der Mutter − perinatal: Infektionen, hypoxisch-ischämisch − früh postnatal: Infektionen, Traumata, Unfälle, exogen-toxisch Psychiatrische Komorbidität: Zuordnung zu den Eingangsmerkmalen ksS und sasS
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome − Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) von MRV-Patienten mit Schwachsinn/IM: • Leygraf, 1988: 92% • Seifert, 1994: 72% • Karcher, 2017: 45% • Seifert et al., 2021: 30% − These: Abkehr von apodiktischen Zuschreibungen und Forderung einer individuellen Diskussion von tatbezogen aufgehobenen (§ 20 StGB), gestörten (§ 21 StGB), aber auch erhaltenen Fähigkeiten (Boetticher et al., 2007) als Ursache für höhere Messlatte für Schuldunfähigkeit. − Begründungswege zu Fähigkeitsdefiziten entsprechend §§ 20, 21 StGB: • intellektuell-kognitive Defizite • gestörte Anpassungsleistungen • Verhaltensstörungen • komorbide psychische Störungen • Suchtstoffe • soziale Faktoren und fehlprägende Lernerfahrungen
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome • intellektuell- kognitive Defizite − kognitive Funktionen: Gesamtheit der Prozesse, mit • gestörte denen Wissen über die Umwelt erworben wird: Anpassungsleistungen Wahrnehmung, Aufmerksamkeitslenkung und -teilung, • Verhaltensstörungen mnestische Funktionen, schlussfolgerndes Denken, Bearbeitungsgeschwindigkeit (Bertelli et al., 2014), auch • komorbide psychische Sprache, Konzeptbildung, Abstraktion, Auffassung Störungen − Schwere kognitive Defizite können als Versagen der • Suchtstoffe intellektuellen Abbildung (Janzarik, 1991) Einsichtsbildung • soziale Faktoren und erschweren oder verunmöglichen. fehlprägende Lernerfahrungen − Schwere Störungen der aktiven und passiven Sprachkompetenz kann Verständigung und Verstehen verunmöglichen.
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome • intellektuell-kognitive Defizite • Störungen des adaptiven Funktionsniveaus; Störungen • gestörte des angemessenen und den sozialen Erwartungen Anpassungsleistungen entsprechenden situativen Verhaltens • Verhaltensstörungen • zeigen sich nicht nur im forensischen Kontext, sondern • komorbide psychische auch in anderen Leistungsbereichen Störungen • Konkurrenzbehinderung: überfordernde, frustrierende, • Suchtstoffe auch weniger Beziehungserfahrungen • soziale Faktoren und • Fehlverhalten in einer Vielzahl sozialer Situationen fehlprägende Lernerfahrungen aufgrund von defizitär-unflexiblen Handlungsstrategien: − soziale Fehleinschätzungen, störender Aktionismus und Grenzverletzungen − wenig differenzierte Handlungsstrategien − Interessenspektrum womöglich reduziert und unflexibel orientiert auf unerreichbare Ziele − Defizite, Bedürfnisse sozial akzeptiert zu kommunizieren und zu befriedigen − limitierte verbale Strategien, bei deren Erschöpfung dysfunktionale Reaktionsweisen: Rückzug, Alkoholkonsum, Gewaltanwendung, Zerstörungshandlungen, Brandstiftungen, …
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome • intellektuell-kognitive Defizite • kulturell unangemessenes Verhalten mit ernsthaftem • gestörte eigen-/fremdaggressivem Gefährdungspotential im Anpassungsleistungen Rahmen von Intelligenzminderungen (Emerson, 1995) • Verhaltensstörungen • ausagierte Verhaltensstörungen im Rahmen des • komorbide psychische Syndroms der Intelligenzminderung: Störungen − oft selbstverletzend, selbstschädigend • Suchtstoffe − externalisierend: Schlagen, Treten, Kratzen, • soziale Faktoren und Beißen, Anschreien, An-den-Haaren-Ziehen, fehlprägende Lernerfahrungen Werfen von Gegenständen, Spucken, Zerstörungshandlungen u. a. • forensisch-psychiatrisch: Antriebsstörungen, Impulsivität, emotionale Instabilität, Störungen der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit, Empathiedefizite, Konsum von Suchtstoffen (Lammel, 2010)
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome • intellektuell-kognitive Defizite • Menschen mit Intelligenzminderungen können • gestörte prinzipiell an allen weiteren psychischen Störungen Anpassungsleistungen leiden. • Verhaltensstörungen • Zuordnung zu den entsprechenden • komorbide psychische Eingangsmerkmalen des § 20 StGB Störungen • relevant: Sucht, Paraphilien, Schizophrenie, • Suchtstoffe Dissozialität/Persönlichkeitsstörungen (d.h. Störungsbilder, die auch in durchschnittlich • soziale Faktoren und intelligenten Straftätergruppen Risikofaktoren sind) fehlprägende Lernerfahrungen • kein Aufsummieren der Diagnosen: Fähigkeitsbeurteilung auch der weiteren Störungen entsprechend §§ 20, 21 StGB
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome • intellektuell-kognitive Defizite • Beim tatbezogenen Zusammenwirken von • gestörte fortwährender und/oder akuter Anpassungsleistungen Suchtstoffbeeinflussung und einer • Verhaltensstörungen Intelligenzminderung kommt es, genau wie bei komorbiden psychischen Störungen, auf die • komorbide psychische Rekonstruktion des psychopathologisch begründeten Störungen Defizitsyndroms samt der resultierenden • Suchtstoffe Auswirkungen auf die tatbezogene Einsichts- und • soziale Faktoren und Steuerungsfähigkeit an: Defizitrekonstruktion mittels fehlprägende Lernerfahrungen achsensyndromaler Beurteilung • Bei hirnorganischer Beeinträchtigung, Anfallsleiden, somatischer Komorbidität und psychotroper Medikation können geringere Mengen Alkohol ausreichen, um vorbestehende Fähigkeitsdefizite quantitativ (§ 21 StGB) oder qualitativ (§ 20 StGB) zu verstärken. • Aber auch keine Privilegierung von Alkoholgewöhnung durch alleinige Betrachtung von AAK/BAK.
Für §§ 20, 21 StGB relevante Symptome und Syndrome • intellektuell-kognitive Defizite • v.a. leichte IM sind in Bedingungsgefüge, Verlauf sowie • gestörte Verhaltensphänotyp wesentlich von den Erziehungs- Anpassungsleistungen und Milieuverhältnissen bestimmt • Verhaltensstörungen • „Die forensische Relevanz [der Intelligenzminderung] • komorbide psychische nimmt mit der Verelendung des geistig Behinderten zu Störungen und mit der Strukturierung von dessen Alltags- und Lebenswelt ab.“ (Lammel, 2010) • Suchtstoffe • Risikofaktoren für Kriminalität wie auch bei (niedrig-) • soziale Faktoren und normalintelligenten Menschen: kriminorelevante fehlprägende Lernerfahrungen Konstellation (Göppinger, 1985) • leichte Intelligenzminderung plus normfern-dissoziale Fehlentwicklung: praktisch nie gestörte Unrechtseinsicht • Verhaltenskontrolle in der dissozialen Ingroup: Störungsbedingt beeinträchtigte Handlungskontrolle vs. kompetenter, aber normabweichender Gebrauch dissozialer Verhaltensstile
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Häufige Begründungswege zu § 20 – Schuldunfähigkeit wegen Fähigkeitsdefiziten entsprechend §§ 20, seelischer Störungen 21 StGB bei Intelligenzminderung: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der • intellektuell-kognitive Defizite Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden • gestörte Anpassungsleistungen Bewusstseinsstörung oder wegen einer • Verhaltensstörungen (S2k-LL: IM, 2021) Intelligenzminderung oder einer schweren − aggressives Verhalten anderen seelischen Störung unfähig ist, − ADHS-oid − Substanzmissbrauch das Unrecht der Tat einzusehen − Sexualität − dissoziales Verhalten oder • komorbide psychische Störungen • Sucht nach dieser Einsicht zu handeln. • soziale Faktoren und fehlprägende Lernerfahrungen § 21 – Verminderte Schuldfähigkeit [dito]
aus: Lammel (2007, 2014) „Die Rede von einer durch [die Intelligenzminderung] tatbezogen bewirkten Aufhebung der Einsichtsfähigkeit ist der kaum vorfindbare Ausnahmefall, der erst noch nachvollziehbar illustriert werden müsste.“ (Lammel, 2010)
Häufige Konstellationen im MRV Menschen mit IM überrepräsentiert unter Opfern und Tätern von Straftaten (Hodgins et al., 1992 und 1996; Zemp, 2002 u.v.a.) Unterbringungsdelikte: 1) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Kinder > Erwachsene) − Diskrepanz zwischen biologischer und sozial-emotionaler Reife? − Ungenügender Bedürfnisaufschub? − Konkurrenzbehinderung, Strategiedefizite? − Verfestige sex. Präferenzstörung vs. ausweichende Opferwahl? Seifert und Neuschmelting (2021) 2) Körperverletzungen, Tötungsdelikte − Ausdruck von Verhaltensstörungen? − erschöpfte gewaltlose Strategien? − gelerntes Fehlverhalten? − „verhaltensgestörte Schwachsinnige“ (Böker u. Häfner, 1973) 3) Brandstiftungen − Affektregulation? Sex. Konnotation? Baden-Württemberg, − „überforderte Debile“ (Barnett, 2008) aus: Karcher (2017) − keine Pyromanie-Dîagnose (Lange, 2021)
Zusammenfassung − Mit Verweis auf die Zwei-Gruppen-Hypothese wurde ausgeführt, dass die Differenzierung in schwere (IQ-Wert 50) unter ätiologischen, klinischen und gutachterlichen Gesichtspunkten sinnvoll ist. − Für schwerste, schwere und anteilig auch für mittelgradige Intelligenzminderungen können die Voraussetzungen des § 20 StGB unter Bezugnahme auf Symptome und Defizitkonstellationen tatbezogen in aller Regel begründet werden. − Im Falle leichter geistiger Behinderung wird fehlende Unrechtseinsicht trotz intellektuell-kognitiver Defizite in aller Regel nicht zu rekonstruieren sein. − Eine Beeinträchtigung (selten: Aufhebung) der tatbezogenen Steuerungsfähigkeit ist bei leichten Intelligenzminderungen primär aufgrund einer defizitären Anpassungsleistung, begleitender Verhaltensstörungen, komorbider psychischer Störungen einschließlich Suchtstoffbeeinträchtigungen und im Ergebnis von (v. a. dissozialen) Prägungseffekten zu diskutieren. − Daher ist die (diagnosewertige) leichte Intelligenzminderung ähnlich der (nicht diagnosewertigen) unterdurchschnittlichen Intelligenz vielfach ein Faktor im Bedingungsgefüge von Straftaten neben anderen.
Dresdner Forensische (Frühjahrs-) Tagung am 22.10.2021 Theorie und Praxis der Forensischen Psychopathologie - zum 100. Geburtstag von Werner Janzarik www.forensik-dresden.de
Weiterführende Literatur Lange, J.: Intelligenzminderung und Schuldfähigkeit. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 14, 419-429 (2020) Seifert, D. und Neuschmelting, T.: Zur Problematik der Schuldfähigkeitsbeurteilung von intelligenzgeminderten Rechtsbrechern. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 104 (2), 139-152 (2021) Lammel, M.: Beurteilung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei Personen mit geistiger Behinderung im Strafverfahren. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 8, 175-182 (2014) Häßler, F. et al.: S2k Praxisleitlinie Intelligenzminderung. AWMF (2021) Neuhäuser, G., Steinhausen, H.-C., Häßler, F., Sarimski, K. (Hrsg.): Geistige Behinderung. Kohlhammer (2013)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. jan.lange@uniklinikum-dresden.de Universitätsklinikum Dresden Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bereich Forensische Psychiatrie
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