ZURÜCK ZUR NORMALITÄT? - WZB - BMBF
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ERGEBNISSE AUS BEOBACHTUNGEN PER REPRÄSENTATIVER BEFRAGUNG UND ERGÄNZENDEM MOBILITÄTSTRACKING BIS ENDE MAI AUSGABE 29.05.2020 01 WZB ZURÜCK ZUR NORMALITÄT? Unsere Alltagsmobilität in der Zeit von Ausgangsbeschränkungen, Quarantäne und wiedererlangter Routinen
2 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Projekt: 7331 Bonn, Mai 2020 Version 1.0 Text: Robert Follmer Layout und Grafik: Birgit Geisler und Silja Kuckulies Folgende Zitierweisen werden empfohlen: Langform: Follmer, Robert (2020): Mobilitätsreport 01, Ergebnisse aus Beobachtungen per repräsentativer Befragung und ergänzendem Mobilitätstracking bis Ende Mai, Ausgabe 29.050.2020, Bonn, Berlin, mit Förderung des BMBF. Kurzform: infas, Motiontag, WZB (2020): Mobilitätsreport 01, Bonn, Berlin, mit Förderung des BMBF.
3 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Von Ende März bis in den Mai hinein haben wir uns in Geduld und Rücksicht geübt. Die Corona-Pandemie hat einen Stillstand nahegelegt, dem sich fast alle gebeugt haben. Offenbar war dies die richtige Entscheidung. So ist es ist bisher gelungen, einen sehr großen Teil der Bevölkerung zu schützen. Viel- leicht war dabei der Wunsch, mit temporärer Disziplin die verlorene Norma- lität so bald wie möglich zurückzuerlangen, ein wichtiger Antrieb. Spätestens ab Mitte Mai jedoch sind Erleichterung – oder nachlassende Achtsamkeit – ein prägender Faktor. Sofern wir die Mobilitätsdaten als Maßstab wählen. Der Einschnitt in unsere Alltagsmobilität war enorm und einmalig. Wenig überraschend ist, dass sich dies in unseren Beobachtungsergebnissen ein- drucksvoll zeigt. Sie gewinnen ihren tieferen Wert allerdings erst in den fol- genden Monaten. Auf dem schrittweisen vermutlichen Weg zurück zu unserer alten Normalität wird die kontinuierliche Beobachtung wichtig. Dazu gehört die genaue Messung, wie dieser Rückweg verläuft. Eine entscheidende Frage ist, ob der Pfad zurück zum Ausgangspunkt führt oder ob dauerhafte Spuren zurückbleiben? Um auf diese Frage Antworten geben zu können, haben wir bisher Beobach- tungen aus der Phase des Lockdowns ausgewertet. Nun setzen wir weiter fort. Beginnend mit dieser Ausgabe erweitern wir das bisherige Mobilitätstracking mit Befragungsergebnissen aus dem Projekt MOBICOR. Ebenso wie das Tra- cking lassen diese vorläufigen Resultate, bei allen bestehenden Unterschieden, die Kraft der langjährig eingeübten Routinen mehr erahnen, als dies in der Talsohle des Shutdowns möglich schien. Doch nicht alle Verkehrsangebote profitieren gleichermaßen. Und — so deuten es einige Ergebnisse an – die mobile Gesellschaft spaltet sich.
4 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 WORUM ES GEHT „Handyortung“ war das erste Stichwort aus die- ser Richtung, das schnell Aufmerksamkeit erlangt Wir möchten Alltagsmobilität zuverlässig be- hat. Der zweite Komplex ist das mittlerweile viel schreiben. Aus der möglichst exakten Messung diskutierte Verfolgen infizierter Personen als ein differenziert nach Regionen und Personengrup- Instrument bei der direkten Bewältigung der Pan- pen ergeben sich Schlussfolgerungen und Hand- demie. Nach aktuellen Informationen wird diese lungsempfehlungen. Daher kombinieren wir Möglichkeit ab Mitte Juni verfügbar sein. Schließ- zuverlässige Messungen anhand ausgereifter Be- lich haben sich neben Anbietern von Navigations- fragungsverfahren mit Innovation und profunder systemen Google und Apple entschlossen, einen sozialwissenschaftlichen Perspektive. Dafür steht kleinen Einblick in ihre im Hintergrund gesam- das Team aus infas, MOTIONTAG und der Arbeits- melten Daten zu geben. gruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Ber- DAS MOBILITÄTSTRACKING lin für Sozialforschung (WZB). Unterstützt wer- den wir durch das Geodaten Know-how von infas Eine ähnliche Anwendung in einem Forschungs- 360 und die Mobilitätsexpertise von Nuts One. umfeld – und um diese Aufgabe geht es in unse- rer Report-Reihe – ist das freiwillige, GPS-basierte Eine Säule in unserem Konzept sind Tracking-Tech- Tracking individueller Bewegungsverläufe mit niken. Noch vor wenigen Wochen war das Stich- Hilfe einer Smartphone-App. Allerdings erschöp- wort „Tracking“ für die meisten von uns kaum mit fen sich solche Anwendungen in der Regel darin, Inhalt gefüllt. Irgendetwas mit dem Verfolgen von Unterwegszeiten und zurückgelegte Strecken zu Spuren? Neue Blickwinkel und eine enorme Dy- messen, geben jedoch keine Auskunft etwa über namik in der Covid-19-Pandemie haben dies ver- die genutzten Verkehrsmittel oder Aufenthaltska- ändert. Die relativ unscharfe funkzellenbasierte tegorien. 35% der Erwerbstätigen arbeiteten im April im Homeoffice
5 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Wir tauchen für Deutschland tiefer ein und bezie- rung ihrer Ergebnisse für die Zeit vor Corona an- hen Tagesstrecken, Verkehrsmittelnutzung und hand bekannter Mobilitätseckwerte zeigt jedoch Wegeanlässe mit ein. Für diese weitergehenden bereits jetzt eine gute Übereinstimmung mit die- Fragestellungen hat MOTIONTAG in den letzten sen Parametern. Jahren eine Anwendung entwickelt, die diesen Tauchgang nahezu in Echtzeit und automatisch MOBICOR – EIN ANSPRUCHSVOLLES NEUES zuverlässig leistet. Werden diese Befunde mit Ba- MOBILITÄTSPANEL sisinformationen zu den Mobilitätsmustern „vor Corona“ verknüpft, ergibt sich ein aufschlussrei- Darüber hinaus beginnen wir zusammen mit dem ches Bild. Es zeichnet den Zeitverlauf nach und Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) weitere Ana- ermöglicht eine Einschätzung der Entwicklungen, lysen. Diese werden finanziert durch das Bundes- die uns auf dem Weg zurück in den Alltag noch ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bevorstehen. sowie zurzeit das Land Hessen. Dazu haben wir den Aufbau des Panels MOBICOR gestartet, in Im aktuellen Report umfasst dies eine Zeitspan- dessen Rahmen eine elaboriert und exklusiv ge- ne, die über die ersten Monate des Jahres 2020 wonnene repräsentative Stichprobe aus mehre- bis Ende Mai reicht. Dies war zunächst als Eigen- ren Tausend Personen im Längsschnitt zunächst projekt entstanden und basiert auf rund 1.000 telefonisch und später auch online befragt wird. Tracking-Teilnehmern. Diese Stichprobe erhebt Dies erfolgt in wesentlichen Teilen angelehnt an keinen Repräsentativitätsanspruch, soll jedoch in das MiD-Design. den nächsten Monaten erheblich erweitert und anhand repräsentativer Eckwerte aus anderen Die Erhebungen haben Anfang Mai begonnen. Sie Quellen kalibriert werden. Eine externe Validie- werden bis Ende Mai die ersten 1.000 Interviews 80 Minuten sind wir üblicher- weise im Schnitt täglich unterwegs. Ende Mai sind es schon wieder über 70 Minuten.
6 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 und bis Mitte Juni die volle bundesweite Stich- probengröße von 1.500 Interviews liefern. Hinzu kommen regionale Aufstockungen. Bis zum Jah- resanfang sind zwei weitere Panelwellen in einem Tracking per MOBICO echten Längsschnittdesign vorgesehen. Für die Entwicklung guter Lösungen und neuer Da das Interesse an den Befunden hoch ist, geben Angebote für die Alltagsmobilität werden zu- wir in diesem Mobilitätsreport auf der Basis von verlässige Daten benötigt. Zur Erhebung solcher rund 900 Befragten einen ersten Einblick in bis- Daten stellt infas zusammen mit herige bundesweite Zwischenergebnisse. Diese MOTIONTAG die infas mobico App bereit. Resultate sind selbstverständlich vorläufig, ha- ben aber bereits eine umfassende Qualitätssiche- Die App beruht auf der Idee, dass die meisten rung durchlaufen. Menschen, ihr Smartphone (fast) immer bei sich haben und die Sensoren des Smartphones Als Innovation hinzu kommt der beschriebene zur Bestimmung der Position und Bewegung Tracking-Ansatz. Mit diesem Instrument können genutzt werden können. Einmal runtergeladen die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer auf und aktiviert, können Teilnehmende mit der freiwilliger Basis in unkomplizierter Form Tag für App ihre Mobilität automatisch im Hintergrund Tag über ihre Mobilität berichten. Diese Tracking- aufzeichnen. Gruppe wird zum einem aus einigen der Panel- teilnehmerinnen und -teilnehmern gebildet. Intelligente Algorithmen verwandeln die Posi- Zum anderen sollen im Jahresverlauf 2020 bis zu tions- und Bewegungsdaten des Smartphones in 50.000 weitere Probanden gewonnen werden. einzelne Abschnitte, die nach genutzten Ver- kehrsmitteln, Tageszeiten, Zielen oder möglichen Für eine bessere Einordnung verknüpfen wir die Alternativen untersucht werden können. So kann so entstehenden Resultate aus Befragung und auch die Verbreitung neuer Angebotsformen Tracking mit Referenzergebnissen für einen nor- und ihre Integration in den Alltag nachvollzogen malen „Mobilitätsdurchschnitt“ – aktuell eine werden. Art Durchschnittsmai für alle Personen im Alter ab 16 Jahren. Derartige Ergebnisse liegen uns auf Mit der App können die Teilnehmenden Ihre Grundlage der Studie „Mobilität in Deutschland“ Mobilität bequem automatisch aufzeichnen. Sie (MiD) vor, die infas 2002, 2008 und 2017 zusam- werden dadurch nicht mit dem Ausfüllen von men mit Partnern für das Bundesministerium für Fragebögen belastet. In der App können sich die Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) sowie Teilnehmenden zudem einen Überblick über weitere regionale Auftraggeber durchgeführt hat. die ermittelten Daten und Erkenntnisse zu ihrer eigenen Mobilität gewinnen. Doch nun, nach diesem Ausblick auf die anste- hende umfassende Erweiterung unserer Beob- Wenn Sie die App nutzen möchten, können Sie achtungen, zurück zu der aktuellen Situation im sie aus dem Google Play-Store oder Apple App- Mai 2020. Dabei greifen wir nicht allein auf die Store herunterladen. Geben Sie einfach „infas Tracking-Ergebnisse und erstmalig die vorläufi- mobico“ in das Suchfenster ein. Weitere Informa- gen MOBICOR-Befunde zurück, sondern erweitern tionen zur App finden Sie unter die Perspektive zunächst um einige ausgewählte www.infas.de/mobico. Resultate aus einer weiteren, bereits abgeschlos-
7 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 senen repräsentativen telefonischen Befragung sere täglichen Verkehrsprobleme, wurde sie nun von 1.000 Personen. Diese Befragung hat infas im fast über Nacht zur neuen Lebenswirklichkeit. Im April im eigenen Auftrag durchgeführt. Sie bildet „Normaljahr“ 2017 berichteten im MiD-Interview einen „Corona-Schwerpunkt“ innerhalb der von nur etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen, dass uns seit vielen Jahren in Eigenregie durchgeführ- sie über eine Homeoffice-Möglichkeit verfügen ten Reihe rund um den infas-Lebenslagenindex würden – und dies in der Regel nur für einzelne ilex, regelmäßig veröffentlicht in der Institutszeit- Tage und nicht dauerhaft. schrift „Lagemaß“. Im Corona-April stieg dieser Anteil auf ein Drittel. EIN ERSTER EINBLICK IN NEUE ROUTINEN Dies allerdings nicht gleichermaßen. Beschäftige, die der unteren Lebenslagengruppe angehören In dieser Befragung haben wir im April umfassen- (gebildet nach dem mehrdimensionalen infas-Le- de Fragen zur aktuellen Lebenssituation und den benslagenindex), berichten nur zu einem Fünftel empfundenen Auswirkungen und Perspektiven davon. In den beiden höheren Lebenslagen betrug gestellt. Die detaillierten Ergebnisse hat infas be- dagegen der Homeoffice-Anteil zum Befragungs- reits veröffentlicht. Für den vorliegenden Report zeitpunkt mehr als ein Drittel. Es bestehen also sollen zwei Aspekte herausgegriffen und den Mo- längst nicht überall Beschäftigungsverhältnisse, bilitätsanalysen vorangestellt werden. die diese Möglichkeit zulassen. Eine prägende Erfahrung für viele Arbeitneh- Noch deutlicher fallen die Unterschiede aus, merinnen und Arbeitnehmer war der plötzliche wenn nach dem Stichwort „Kurzarbeit“ gefragt Einstieg in die Homeoffice-Situation. Oft be- wird. Diese Erfahrung war im April in den beiden schworen als möglicher Lösungsbeitrag für un- oberen Lebenslagengruppen mit 13 bzw. fünf Anteile Homeoffice und Kurzarbeit Verstärkter Online-Einkauf und Warenlieferung nach Hause Angaben in Prozent Angaben in Prozent 20 10 7 Niedrige Lebenslage 21 Mittlere 36 Lebenslage 13 90 93 Hohe 36 Lebenslage Online-Einkauf Warenlieferung 5 Homeoffice Kurzarbeit ja nein nur Erwerbstätige – einschließlich Selbsständige und Beamte Telefonische Erhebung: 1.000 Interviews im April, Personen ab 18 Jahren, infas-Eigenstudie
8 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Prozent eine seltene Ausnahme. Im unteren Le- Andere Auswirkungen haben Nöte in Sachen Ein- benslagensegment betrug der Anteil dagegen mit kauf und Besorgung. Gefragt nach häufigeren On- 21 Prozent mehr als ein Fünftel. line-Einkäufen, gaben im April 10 Prozent an, dies während des Lockdowns häufiger zu tun als bis- Die Arbeitssituation, ihre Beschränkung und da- her. Hier sind also Veränderungen spürbar. Aber mit auch die Auswirkungen auf die Alltagsmobi- vermutlich erschließt sich der Online-Handel lität fallen somit unterschiedlich aus. Nur ein Teil kaum neue Kunden, sondern intensiviert eher den der Erwerbstätigen kann sich in die verhältnismä- Umsatz mit bisherigen Käuferinnen und Käufern. ßig kommode Situation des Heimarbeitsplatzes zurückziehen. Nach weiteren Ergebnissen ist dies Noch geringer als das Online-Plus fällt der Anteil in der ersten Maihälfte zwar etwas angestiegen, derjenigen aus, die nun Lieferdienste der Geschäf- entspricht aber weiterhin in etwa den dargestell- te vor Ort in Anspruch nehmen. Dies dürfte sich ten Resultaten. auf den Lebensmittelhandel und wenige Adhoc- Angebote von Geschäften oder Gaststätten be- schränken, die hier Brückenangebote geschaffen Unterwegszeit pro Tag und Person Wegeabschnitte pro Tag und Person nach Verkehrsmittel Angaben in Stunden Angaben in Mittelwerten 04.05. 04.05. deutliche deutliche Reduzierung Reduzierung Shutdown Shutdown 11.04. 11.04. Ostersamstag Ostersamstag 16.03. 16.03. Beginn Beginn Shutdown Shutdown 1,6 8,0 1,4 7,0 Wegabschnitte pro Person pro Tag 1,2 6,0 Stunden pro Person und Tag 1,0 5,0 0,8 4,0 0,6 3,0 0,4 2,0 0,2 1,0 0,0 0,0 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto Fußabschnitte auf Wegen einzeln ausgewiesen, etwa der Fußweg zur Haltestelle MiD-Baseline Tracking-Ergebnisse Eigenstudie MOTIONTAG
9 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 haben. Und auch dies ist keine Erfahrung, die vie- neuen MOBICOR-Befragungsergebnisse. Nach le teilen. Eher bleibt der Gang in den Supermarkt einem Tiefpunkt vor Ostern gewinnt unsere erzwungene – und manchmal vielleicht auch Alltagsmobilität mehr und mehr ihr altes Niveau willkommene – Notwendigkeit. Ein Grund dafür, zurück. Bereits unmittelbar mit der ersten Locke- warum auch in der Phase der Ausgangsbeschrän- rung Anfang Mai ist ein solcher Sprung zu beob- kungen ein beachtliches Mindestniveau unserer achten. Danach geht es stetig aufwärts. Kurz vor Alltagsmobilität erhalten bleibt. Doch mehr dazu dem Monatsende zeigt sich bereits ein Pegel von in den folgenden Abschnitten dieses Reports. 70 bis 80 Prozent der „Normalmobilität“. Dies gilt für die tägliche Unterwegszeit und die individu- SCHON WIEDER UNTERWEGS, ABER NICHT UN- ellen mittleren Kilometersummen – also sowohl BEDINGT GLEICHERMASSEN die Zeit, die wir täglich unterwegs verbringen als auch die Strecken, die wir dabei zurücklegen. Die vielleicht überraschendste Erkenntnis in den Maiwochen: es geht schnell wieder aufwärts. Noch eindeutiger verhält es sich bei der Außer- Dies zeigen sowohl die Tracking- als auch die Haus-Quote und damit dem durchschnittlichen Anteil der pro Person zurückgelegten Tageskilometer Verteilung der Wegeabschnitte pro Tag und Person Angaben in Prozent Angaben in Prozent 04.05. 04.05. deutliche deutliche Reduzierung Reduzierung Shutdown Shutdown 11.04. 11.04. Ostersamstag Ostersamstag 16.03. 16.03. Beginn Beginn Shutdown Shutdown 100 100 90 90 80 80 Anteil der zurückgelegten Kilometer 70 70 Wegabschnitte in Prozent 60 60 50 50 40 40 30 30 20 20 10 10 0 0 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 01.01. 01.02. 01.03. 01.04. 01.05.2020 Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto Fußabschnitte auf Wegen einzeln ausgewiesen, etwa der Fußweg zur Haltestelle Tracking-Ergebnisse Eigenstudie MOTIONTAG
10 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die sich wie- mit einer schlechten Lage, haben sich ab Mitte der nach draußen wagen. Während dieser Anteil Mai die gewohnten Verhältnisse wieder einge- noch eher als die unterwegs verbrachte Zeit das pendelt. Je höher die ökonomische Lage ausfällt, verlorene Normalmaß fast wieder erreicht hat, desto größer ist erneut der Mobilitätsfußabdruck. hinken die mittleren Tagesstrecken weiterhin Die zwischenzeitliche Umkehr ist dabei plausibel. ein wenig hinterher. Wird bei der Bewertung al- Sie ist sicher darauf zurückzuführen, dass in be- lerdings einbezogen, dass viele Wege zu weiter stimmten Bevölkerungsgruppen weniger Home- entfernten Zielen im Moment kaum möglich sind, office-Möglichkeiten gegeben waren und damit darf auch die jetzt erreichte Kilometerzahl ein we- weiterhin die Notwendigkeit bestand, arbeitsbe- nig erstaunen. dingt unterwegs sein zu müssen. Allerdings zeigen sich nicht in allen Bevölkerungs- MEHR FREIZEITVERKEHR UND EINE ANDERE gruppen die gleichen Verläufe. Das Minus fällt TAGESGANGLINIE in den Altersgruppen mit hohen Anteilen von Berufstätigen erwartungsgemäß größer aus als Die Befragungsergebnisse lassen noch zuver- unter den Seniorinnen und Senioren im Alter ab lässiger als das Tracking den Blick auf die Anläs- 65 Jahren. Und auch sozioökonomische Unter- se zu, warum wir unterwegs sind. Zu normalen schiede spielen eine Rolle. Segmente mit schlech- Zeiten erfolgt rund ein Drittel aller Wege berufs- ter, guter oder sehr gut ökonomischer Lage un- bedingt. Dies ist weniger als oft unterstellt, aber terscheiden sich. Während sich in den beiden in Corona-Zeiten reduziert sich der beruflich ver- statushohen Gruppen bis in die ersten beiden ursachte Anteil verständlicherweise deutlich. Er Maiwochen ungewöhnlicherweise niedrigere Un- beträgt nur noch – oder immerhin – ein Viertel terwegskennziffern zeigten als in dem Segment aller Anlässe, aus denen wir aktuell unterwegs Außer-Haus-Quoten von März bis Mai 2020 Tageskilometer pro Person Angaben in Prozent Angaben in Mittelwerten 60 16.03. 100 Beginn Shutdown 50 80 Kilometer pro Person und Tag 40 60 30 40 20 20 10 0 0 01.03. 01.04 01.05.2020 01.01 01.02 01.03 01.04. 01.05.2020 nicht unterwegs unterwegs Fahrrad zu Fuß ÖPNV Auto MiD-Baseline Tracking-Ergebnisse Eigenstudie MOTIONTAG
11 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 11% aller Wege wurden 2017 mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wie wird sich dies entwickeln?
12 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 sind. Entsprechend nehmen anteilig gesehen an- mit gut einer Stunde nicht mehr erheblich unten dere Wegezwecke zu, in erster Linie der Freizeit- den sonst üblichen 80 Minuten. Zeit, die für lan- verkehr. Damit einher geht eine Verschiebung der ge Wege gespart wurde, wurde also offenbar oft Tagesganglinie. Insgesamt liegt hier der aktuelle für Ausgänge zu Fuß oder mit dem Fahrrad um- Verlauf absolut gesehen natürlich deutlich unter gewidmet. dem ursprünglichen Niveau. Aber auch diese Re- duktion zeigt sich nicht linear, sondern plausibel ERZWUNGENE NAHMOBILITÄT (UND SCHÖNES in höherem Maß in den Morgen- und Abendstun- WETTER) BEGÜNSTIGEN DAS ZUFUSSGEHEN den. UND FAHRRADFAHREN Dies ist ein Umstand, der auch bei der Interpre- Die Aufteilung der Verkehrsmittel zieht in der tation der Veränderungen im Verkehrsmittelmix Regel die größte Aufmerksamkeit auf sich. In der eine wichtige Rolle spielt. Zusätzlich ist bei all aktuellen Situation hat dies eine besondere Be- diesen Effekten zu berücksichtigen, dass das Mo- rechtigung. Denn während zu erwarten ist, dass bilitätsniveau insgesamt reduziert ist, entstan- Tagesstrecken, Unterwegsquoten und -zeiten den durch mehr Zeiten zu Hause und die oft nicht eher früher als später wieder das gewohnte Ni- freiwillige Beschränkung auf kurze Wege, wenn veau erreichen werden, ist dies bei der Verkehrs- das Haus verlassen wird. Jedoch bleibt hervorzu- mittelwahl keine Selbstverständlichkeit. heben, dass während der gesamten verschärften Lockdown-Phase eine Grundmobilität erhalten Und tatsächlich lohnt sich hier der genauere Blick. geblieben ist. Dies drückt sich nicht zuletzt in den Der übliche Wege-Modal-Split, den wir in der Be- schon erwähnten weiterhin relativ hohen mittle- fragung analog zu dem bisherigen MiD-Verfahren ren Unterwegszeiten aus. Sie liegen im Mai 2020 ermitteln, zeigt Erstaunliches. Prozentual gese- Wege, Modal Split-Vergleich Mai 2020 vs. MiD-Mai, Personen ab 16 Jahren Angaben in Prozent 6 10 19 30 48 12 10 10 49 7 MOBICOR MiD ÖV MIV-Fahrer MIV-Mitfahrer Fahrrad zu Fuss MID-Referenzmonat Mai und vorläufige Ergebnisse MOBICOR 2020 / MiD 2017, Personen ab 16 Jahren
13 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 hen ist vor allem das Zu-Fuß-Segment der große ren? Viele Zählstellen zeigen zurzeit eindrucksvoll Gewinner. Der Anteil der nur zu Fuß zurücklegten steigende Zahlen. In einigen Großstädten fallen Wege steigt für die Bevölkerung ab 16 Jahren von mehr Radlerinnen und Radler ins Auge. Die Ver- rund 20 Prozent in einem „Normalmai“ auf 30 kehrspolitik hat darauf teilweise reagiert und mit- Prozent im Corona-Mai 2020. Das vermeintliche unter sogar Radspuren eingerichtet. Im Vergleich Stiefkind, das mit einem Anteil von rund einem zu dem MiD-Benchmark spiegelt sich dies in dem Fünftel an allen Wegen allerdings nie eines war von uns frisch gemessenen bundesweiten Fahr- – und mit Blick auf die Kilometersummen sogar rad-Anteil jedoch kaum wider. Er verharrt unter gleichauf mit dem Fahrrad stand – hat also die den ab 16Jährigen bei etwas über 10 Prozent al- größte Zwischenkonjunktur. Verlierer ist dagegen ler Wege. Absolut gesehen sind es auch hier sogar der öffentliche Verkehr. Sein Anteil fällt von 10 Pro- weniger Bewegungen als vor Corona, wenn auch zent auf etwa die Hälfte zurück. Wenn zusätzlich in geringerem Ausmaß als bei anderen Verkehrs- noch das weiterhin etwas geringere Gesamtmo- mitteln. bilitätsniveau berücksichtigt wird, ist dies absolut betrachtet sogar noch dramatischer. Dieser vermeintliche Widerspruch löst sich erst mit einer Art Röntgenblick auf. Er verlangt im ers- Doch wie steht es um den in der Verkehrsplanung ten Schritt nach absoluten und nicht relativen stark beachtete Hoffnungsträger, das Fahrradfah- Zahlen. Im zweiten Schritt muss die Tagesgang- Mobilitätsrückgänge in Prozent im Corona-Mai gegenüber MiD-Mai, Tageswerte pro Person (ab 16 Jahre) nach Teilgruppen Rückgang in Prozent gegenüber dem MiD-Ausgangswert ökonom. ökonom. ökonom. Status Status Status gesamt niedrig mittel hoch 16 -
14 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 linie herangezogen werden. Und als Drittes gilt GLÜCKLICH DURCH DIE KRISE – DAS PRIVATE es zu berücksichtigen, dass die durchschnittliche AUTO Wegelänge mit dem Rad aktuell um gut ein Vier- tel gestiegen ist. Zusammen genommen führt Schließlich der Hauptverkehrsträger, das Auto. dies zu dem Ergebnis, dass die Radverkehrsstei- Spätestens bei der Betrachtung der absolvierten gerung sich ausschließlich auf die Nachmittags- Personenkilometer hatte es diese Rolle selbst in stunden konzentriert. In diesem Tagesabschnitt vielen Großstädten bereits vor der Pandemie inne sind nach unseren vorläufigen Zwischenergeb- – und behält sie auch im Verlauf. Anteilig auf der nissen sogar mehr Fahrradfahrerinnen und Fahr- Ebene des Verkehrsaufkommens, also der Wege, radfahrer unterwegs, und dies mit mit einer grö- verliert das Auto zwar einige Prozentpunkte an ßeren Kilometer-Verkehrsleistung als in unserem den zeitweilig boomenden Fußverkehr, trotzdem Referenz-Durchschnittsmai. Diese Beobachtung ist es weiterhin bei mehr als der Hälfte aller Wege gilt nach ersten Auswertungen in den Städten das Transportmittel der Wahl. sogar etwas ausgeprägter als in den kleineren Kommunen. So erklärt sich die Augenfälligkeit des Allerdings hinterlässt Corona auch hier seine Spu- aktuellen Radverkehrs. Und die Steigerungsraten ren. Der Mitfahreranteil sinkt recht deutlich, der an den Zählstellen werden vielfach darauf zurück- Fahreranteil bleibt fast stabil. Die Alleinfahrt ohne zuführen sein, dass diese an ohnehin attraktiven Maske verschafft also vielfach einen offenbar als Fahrradpassagen auf Zählbares warten. ungefährdet empfundenen Rückzugsraum. Und möglicherweise verloren geglaubte neue Aus- flugsformen? So führt jede hundertste Autofahrt ohne Zwischenstopp von zu Hause nach Hause. 35% nutzen zurzeit das Auto anstatt Bus oder Bahn.
15 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 BALD ALLES WIE IMMER — ODER NOCH VOL- Von der sich abzeichnenden Erholung werden LERE STRASSEN UND PLATZ IN BUSSEN UND alle Verkehrsträger profitieren, natürlich das Auto BAHNEN? und selbst der öffentliche Verkehr. Nicht nur die Straßen füllen sich wieder, sondern auch Bahnhö- Wenn das gesamte Verkehrsvolumen im März fe, Haltestellen, Straßenbahnen, U-Bahnen und 2020 hochgerechnet wird, ergibt sich für die ab Busse. Der Autoverkehr wird sich vermutlich die 16Jährigen in der Bundesrepublik im Tagesschnitt Freiräume, die er vorübergehend dem Radverkehr eine Zahl von rund 155 Mio. Wegen. Zu normalen überlassen hat, ganz überwiegend wieder zurück- Zeiten wären etwa 225 Mio. Wege zu erwarten holen. Eine Ausnahme bilden möglicherweise gewesen. Auch die Unterwegszeiten der Bevölke- wenige städtische Strecken – sofern die Verkehrs- rung pro Tag steigen, wobei bei dieser Kennzahl lenker vor Ort ihr zwischenzeitlicher Mut, dem Fahrrad und Zufußgehen am wenigstens betrof- Fahrrad neue Räume behelfsgestalterisch einzu- fen waren, teilweise sogar zulegen konnten. Be- räumen, nicht wieder verlässt. Denn es wird nicht zogen auf die zurückgelegten Personenkilometer von alleine besser werden. Das beschriebene waren es für alle Verkehrsmittel zusammen ge- nachmittägliche Fahrradhoch hat ohne künftige nommen im Monatsschnitt rund zwei Mrd. täg- strukturelle Flankierungen aller Voraussicht nach lich, gegenüber mehr als 3 Mrd. üblicherweise. keinen Bestand. Allein aufgrund sich verändern- In allen drei Kenngrößen weist der Trend im Mo- der Zeitbudgets wird es sich wieder reduzieren. natsverlauf deutlich aufwärts. Über den weiteren Zudem sind nicht alle Ausweichlösungen – etwa Verlauf werden wir im nächsten Report berichten. von Bus und Bahn auf den Fahrradsattel – zum Dieser ist für Juli 2020 vorgesehen. Beispiel angesichts teilweise langer Pendlerwege auf Dauer praktikabel. Und schlechteres Wetter Wege pro Tag, ohne Wirtschaftsverkehr, Personen ab 16 Jahren Angaben in Millionen Wegen 50 47 40 42 43 36 30 34 32 27 20 22 18 16 10 11 11 2 6 0 05:00-07:59 08:00-09:59 10:00-12:59 13:00-15:59 16:00-18:59 19:00-21:59 22:00-4:59 Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr MOBICOR MiD MID-Referenzmonat Mai und vorläufige Ergebnisse MOBICOR 2020 / MiD 2017, Personen ab 16 Jahren
16 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Projekt und Methoden sentativen Testsample mit etwa 1.000 Beteiligten. Die auf dieser Grundlage bereits ermittelten Eckwerte Das Forschungsvorhaben „MOBICOR“ wurde vom wie etwa Aktivitätsquoten oder Tagesstrecken ent- Bundesministerium für Forschung und Technologie sprechen in ihrer Ausprägung bekannten Parametern (BMBF) angeregt und wird auch finanziell als ein aus repräsentativen Studien. Die so erfolgte externe Gemeinschaftsunternehmen bestehend aus infas, Validierung über die aus der MiD abgeleiteten Er- MOTIONTAG und Nuts One unterstützt. Gegenstand wartungswerte zu „Normalzeiten“ sprechen für die der Forschung ist es die Beweglichkeit der Gesell- Nutzugsmöglichkeit der Tracking-Ergebnisse. Ab Juni schaft vor, während und nach der Corona Pandemie wird diese Stichprobe erweitert und mit der repräsen- zu vermessen, zu analysieren und hinsichtlich ihrer tativen Befragung verknüpft. In Kürze werden damit Wandelbarkeit zu verstehen. Dabei sollen qualitative, auch für diesen Teil repräsentative Ergebnisse zur quantitative sowie neue digitale Erhebungsmethoden Verfügung stehen. Wichtige Grundprinzipen sind da- eingesetzt werden. bei transparente Information, Freiwilligkeit und eine Auswertung nach den gültigen Datenschutzkriterien, Die Befragungen um die Identifikation von Einzelfällen auszuschließen. MOBICOR ist als Längsschnittbefragung angelegt und Die von MOTIONTAG entwickelte App zeichnet damit ein echtes Panel. In drei Wellen beginnend im Smartphone-basiert Bewegungsdaten auf. Gleich- Mai 2020 sollen zunächst bis zum Jahresanfang in zeitig errechnet sie anhand stetig weiterentwickelter einem repräsentativen Ansatz zufällig ausgewählte Algorithmen weitgehend automatisch und in Echtzeit Bürgerinnen und Bürger telefonisch sowie online die genutzten Verkehrsmittel. Dabei werden zehn befragt werden. Die bundesweite Ausgangsstichprobe Verkehrsmittel unterschieden. Es wird die zurückge- beträgt 1.500 Interviews. Hinzu kommen regionale legte Entfernung bestimmt sowie die Zeit, die man Aufstockungen in einzelnen Bundesländern. Für Hes- dafür benötigt hat. Mit Unterstützung der Probanden sen ist dies mit 1.000 zusätzlichen Interviews bereits ebenfalls möglich ist eine Kategorisierung der Aufent- gestartet. Mit weiteren Ländern sind wir im Gespräch. haltsorte. Hierzu planen wir zurzeit Erweiterungen, Die zugrunde liegenden echten Zufallsstichproben ba- um auch dies in einem höheren Grad zu automatisie- sieren in allen Fällen auf einem Dual-Frame-Verfahren ren und so den Aufwand für die Teilnehmerinnen und im ADM-Ansatz. Grundgesamt ist die deutschsprachi- Teilnehmer zu reduzieren. ge Bevölkerung im Alter ab 16 Jahren. Der Fragebogen orientiert sich an der Vorgehensweise der Studie Wie wir fortfahren „Mobilität in Deutschland“, die infas zusammen mit Partner für das Bundesministerium für Verkehr und In weiteren Schritten werden wir die begonnenen digitale Infrastruktur (BMVI) durchgeführt hat. Damit Analysen vertiefen und das Panel fortführen. Die ist die Anschlussfähigkeit an die Ergebnisse aus dieser Berichterstattung erfolgt kontinuierlich jeweils nach Leitstudie gewährleistet. dem Abschluss einer Erhebungswelle. Unser besonde- res Augenmerk gilt dabei der sozialwissenschaftlichen Die App Perspektive. Bei Bedarf werden wir auch Zwischen- auswertungen auf Basis des Trackings zur Verfügung Zusätzlich setzen wir ab Anfang Juni die Tracking-App stellen. Mobico ein. Für die Monate Januar bis Mai basieren die Tracking-Ergebnisse noch auf einem nicht reprä-
17 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 als in den bisherigen Corona-Monaten wird ein dieses Verkehrssegment bisher weder sein altes Übriges tun. Niveau noch seine Anteile wieder erreichen. In der Summe liegt es Ende Mai im Bereich seiner Ähnlich oder sogar noch ärger wird es vermutlich eigenen 50-Prozent-Marke. Maskenpflicht und dem Zwischenhoch ergehen, das der Fußverkehr das teilweise längere Zeit eingeschränkte Ange- verzeichnen konnte. Er stellt eine gute Option in bot machen den ÖPNV noch weniger zu einem der Nahmobilität dar, auf die wir uns alle gezwun- Vergnügen, als er es für manche seiner Fahrgäs- genermaßen rückbesinnen durften. Doch sobald te schon zu normalen Zeiten gewesen ist. Auch längere Strecken und andere Wegeanlässe wieder wenn die hergebrachte Bedienungshäufigkeit zur Regel werden, wird sich auch dies verändern. wieder verfügbar sein wird, bleiben aller Voraus- Nichtsdestotrotz sollte diese Wiederentdeckung sicht nach gefühlte Beeinträchtigungen beste- der Stadtgestaltung Ansporn sein, nicht nur dem hen. Einerseits. Andererseits darf nicht übersehen Rad—, sondern auch dem Fußverkehr künftig zu werden, dass viele ÖPNV-Nutzerinnen und Nutzer besseren Bedingungen zu verhelfen. Denn das auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind. Zufußgehen haben wir offenbar doch noch nicht verlernt. Ein Blick in die MiD zeigt, dass rund zwei Drittel der ÖPNV-Wege von Personen zurückgelegt wer- Doch wie steht es um die Perspektiven für Bus den, in deren Haushalt kein Auto zur Verfügung und Bahn? Die aktuellen Zahlen legen eine lang- steht oder bewusst auf dieses verzichtet wird. sam einsetzende Erholung nahe. Allerdings kann Wenn Wege wieder länger werden, Arbeits-, Frei- Außer-Haus-Anteile im Mai, Personen ab 16 Jahren nach Verkehrsaufkommen pro Tag im Mai absolut, nach Haupt- verschiedenen Altersgruppen verkehrsmitteln, Personen ab 16 Jahren Angaben in Prozent Angaben in Millionen Wegen 90 86 88 90 120 80 85 85 79 78 77 110 70 74 73 100 60 80 50 74 40 60 30 40 45 43 20 20 27 10 23 23 16 10 9 0 0 gesamt 16 -
18 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 zeit- und Versorgungsweg erneut oder weiterhin auf das Auto aus. Und jede(r) Fünfte schwingt anstehen, ist diese Mehrheit zunächst auf die Be- sich lieber auf den Fahrradsattel, als auf Bus oder förderung per Bus oder Bahn angewiesen. Bahn zu setzen. Zusammen geht der Branche so im Augenblick mehr als die Hälfte der Fahrgäste AUTO ALS ALTERNATIVE NUMMER 1 ZU BUS verloren. Damit nicht genug: unter den „oberen UND BAHN Zehntausend“ fährt gegenwärtig nach unseren bisherigen Resultaten so gut wie niemand mehr Manche der ehemaligen Fahrgäste werden viel- öffentlich. leicht nach Möglichkeiten suchen, dies zu ver- meiden und sich stattdessen für das Rad oder Allerdings kann sich dies ändern, sobald sich an- vermutlich eher für das eigene Auto entscheiden. dere Lebensverhältnisse ergeben und sich Ar- Andere werden den Weg zum ÖPNV weiterhin auf beitsplätze wieder füllen. Wie gezeigt, wird vielen absehbare Zeit nicht finden. der ehemaligen ÖPNV-Kunden die Möglichkeit auf Auto, Rad oder den Weg zu Fuß auszuweichen, Dies bestätigen auch unsere vorläufigen MOBI- nicht offenstehen – und dies nicht nur aufgrund COR-Befragungsergebnisse. Jeder zehnte Befrag- mangelnder Verfügbarkeit. Auch die mittlere Rei- te gibt an, aktuell den ÖPNV grundsätzlich zu seweite im ÖPNV wird unsere Bereitschaft, diese meiden und stattdessen lieber auf Wege zu ver- Strecken per Fuß oder Rad zu bewältigen, über- zichten. Ein gutes Drittel weicht grundsätzlich strapazieren. Verkehrsaufkommen pro Tag im Mai absolut, nach Hauptwegezweck, Personen ab 16 Jahren Angaben in Millionen Wegen 60 61 50 46 40 41 39 30 35 35 27 27 20 24 15 16 10 3 6 5 0 Arbeit dienstlich Ausbildung Einkauf Erledigung Freizeit Begleitung MOBICOR MiD MID-Referenzmonat Mai und vorläufige Ergebnisse MOBICOR 2020 / MiD 2017, Personen ab 16 Jahren
19 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Für die Branche wäre es jedoch fahrlässig, sich sonders in Mitleidenschaft? Ist der öffentliche auf derartige Notwendigkeiten oder das Capti- Verkehr als ihr wichtigster Träger so stark gebeu- ve- bzw. Zwangskundendasein vieler Fahrgäste zu telt, dass die Erholungsphase lang sein wird? Und verlassen. Notwendig sind vielmehr Initiativen in ist die Kraft bewährter Routinen und manch un- Richtung Schutz, Rücksicht, Abstand — und damit abweisbaren Notwendigkeiten so mächtig, das alles in allem Investitionen in die Aufenthalts- Fahrrad- und Fußgängerplus sich als Strohfeuer qualität. Diese war bisher nicht unbedingt eine entpuppen? Stärke. Dieses Defizit wird aber – von Ausnahmen abgesehen – in den nächsten Monaten und viel- In jedem Fall bleibt für die Verkehrswende viel Ar- leicht sogar darüber hinaus an Bedeutung gewin- beit, in den Städten wie außerhalb der Ballungs- nen. räume. Ihr werden die Erfahrungen während der Corona-Phase nur auf die Sprünge helfen, wenn So verändert der Corona-Einschnitt im besten Fall sich daraus neue Angebotsstrukturen ergeben: die ÖPNV-Landschaft auf bisher kaum gedachte mehr Platz und umgesetze Wertschätzung für Weise. Die Antwort auf die Frage, warum viele den Fuß- und Radverkehr, neue Sorgfalt und Ide- Fahrgäste bisher dessen Produkte genutzt haben, en im öffentlichen Verkehr sowie ein bewussterer ist möglicherweise richtungsweisender als die Umgang mit der Autonutzung. übliche Frage nach den Gründen der Nicht-Nut- zung. Die Erkenntnis, dass die Entscheidung für Was bleiben wird und nicht einzuhegen ist, sind eine Fahrt im ÖPNV mitunter nur Notwendigkeit unsere Mobilitätsbedürfnisse. Auch dies lehrt die ist, könnte Denkräume eröffnen, wie dies zukünf- Krise. Wie eine in Deutschland oft nur partielle tig anders werden könnte. Ausgangssperre offenbar schnell an ihre Grenzen stößt, wenn ihr Anlass vermeintlich verschwindet WÄHREND UND NACH CORONA oder weniger offensichtlich ist, so wird auch un- sere Mobilität im Alltag einer Wohlstandsgesell- Ehrlich gesagt bleibt es auch Ende Mai schwer zu schaft kaum oder nicht reduzierbar sein. sagen: wird die Corona-Krise das Verkehrsgesche- hen länger als nur in einer — ja noch nicht ausge- WISSEN TUT NOT standenen – heißen Phase verändern? Viele An- zeichen sprechen dafür, dass die alte Normalität Wie ausgeführt ist der Pfad aus heutiger Sicht zumindest in Sachen Alltagsmobilität schneller nicht einfach vorherzusagen. Umso mehr kommt wieder tägliche Praxis wird als während des Lock- es nach unserer Überzeugung auf eine gute Da- downs oft unterstellt. Möglicherweise gilt dies tenlage an. Das mit der Förderung durch das jedoch nicht für alle Bevölkerungsgruppen glei- BMBF und der Beteiligung aus einzelnen Bundes- chermaßen. Wer zurzeit über ein Auto verfügt, ländern soeben begonnene neue Projekt MOBI- wird dies voraussichtlich eher mehr als weniger COR soll empirisch abgesichert Antworten geben. nutzen. Und wer sich dies nicht leisten kann, wird weiter auf den ÖPNV angewiesen sein. Wie können wir den Mobilitätsweg in der Abfolge vor, während und nach Corona beschreiben und Muss damit die kaum begonnene Mobilitätswen- was zeigt die sozialwissenschaftliche Messung? de von vorne beginnen und neuen Anlauf neh- Wie unterscheiden sich die Mobilitätswirklichkei- men? Geraten die außerhalb und — nüchtern ten von ärmeren und reicheren Bürgerinnen und betrachtet — selbst innerhalb der Städte zarten Bürgern, wie die in Familien mit Kindern von de- Pflänzchen der neuen Sharing-Kulturen ganz be- nen in anderen Lebenssituationen? Wie zwischen
20 MOBILITÄTSREPORT 01 AUSGABE 29.05.2020 Stadt und Land? Wie zwischen Jung und Alt? Wird WIE ES WEITERGEHT das Auto tatsächlich zum Krisengewinnler und wie ergeht es dem ÖPNV? War das Fahrrad- und Gute Forschung ist also gerade in der Krise ange- Fußgängerhoch nur der besonderen Situation und bracht. Im Sommer 2020 werden nach dem gerade den glücklichen Wetterumständen geschuldet erfolgeten Start des MOBICOR-Panels auf Grund- oder gibt es der Verkehrsplanung neue Impulse? lage der kompletten Stichprobe abgesicherte und Hat es Bürgerinnen und Bürgern Appetit auf mehr nicht nur vorläufige Ergebnisse vorliegen. Danach gemacht? Oder wird im Februar 2021 (2022?) wird das Projekt zunächst mit zwei weiteren Er- fast alles wieder so sein wie zu Beginn des Jahres hebungswellen fortgesetzt. Parallel dazu werden 2020? Werden Carsharing, Ridepooling, Scooter wir eine noch größere Tracking-Teilnehmerschaft & Co überleben, vielleicht sogar wachsen? Oder aufbauen. Und wir werden berichten. Seien Sie verhilft eine mögliche Autoprämie dem Verkehrs- also gespannt auf unseren nächsten Report vor- träger No. 1 zu noch mehr Rückenwind? Werden aussichtlich im Juli 2020. die Homeoffice-Rechner wieder abgebaut? Wie wirken sich die vorherzusehenden erheblichen wirtschaftlichen Einschränkungen aus? Und last not least: wie sollte dies alles gestaltet werden?
WER WIR SIND Institut hat sich auf die Erhebung von Primär- daten mittels Methoden der empirischen Sozi- Das verantwortliche Expertenteam ist interdiszi- alforschung spezialisiert — insbesondere in den plinär. Es bündelt alle erforderlichen Kompeten- Bereichen Sozialforschung, Gesundheits- und zen. Seine Zusammenarbeit ist durch zahlreiche Mobilitätsforschung. Es führt Studien mittels gemeinsame Projekte etabliert. aller eingeführten Forschungsmethoden durch. Dazu gehören zahlreiche methodisch anspruchs- MOTIONTAG ist ein in Potsdam ansässiges Unter- volle sozialwissenschaftliche Panels und mit der nehmen, welches Verkehrsunternehmen, Markt- Studie “Mobilität in Deutschland” eine der größ- forschungsunternehmen, wie auch Mobilfunk- ten Mobilitätsstudien weltweit. anbietern dabei hilft, Verkehrsströme mittels Smartphone Apps zu analysieren und zu verste- Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialfor- hen. Wir arbeiten beispielsweise mit der BVG, der schung (WZB) ist einer der größten öffentlich- Deutschen Bahn, den Schweizerischen Bundes- rechtlichen sozialwissenschaftlichen Forschungs- bahnen wie auch der Swisscom zusammen und einrichtungen in Europa und wurde vor 50 Jahren werden unter anderem vom Land Brandenburg gegründet. Seit Januar 2020 arbeitet die neu ein- gefördert. gerichtete Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ unter der Die infas Institut für angewandte Sozialwissen- Leitung von Andreas Knie und Weert Canzler an schaft GmbH ist ein selbstständiges und unab- Analysen zur Transformation der Automobilge- hängiges Institut. infas ist als eines der ersten sellschaft. Forschungsinstitute in Deutschland nach der in- ternationalen Norm ISO 20252:2012 für Markt-, Die Arbeit des Projektteams wird außerdem un- Meinungs- und Sozialforschung zertifiziert. Das terstützt durch infas360 und Nuts One. Kontakt Robert Follmer Stephan Leppler Bereichsleiter Verkehrs- und Regionalforschung, CEO, MotionTag GmbH infas Institut für Tel.: +49 (0)159 0434 84 13 angewandte Sozialwissenschaft GmbH E-Mail: stephan.leppler@motion-tag.com Tel. +49 (0)228 3822-419 Mobil: +49 (0)171 587 55 83 Prof. Andreas Knie E-Mail: r.follmer@infas.de Leitung der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH Tel.: +49 (0) 30 254 91-588 E-Mail: andreas.knie@wzb.eu
Sie können auch lesen