Die Welt als Bild Zur Domestizierung der Fremde durch den Kitsch im 19. Jahrhundert am Beispiel von Weltausstellung und Interieur1

Die Seite wird erstellt Nicolas Peter
 
WEITER LESEN
Dominik Finkelde                                                                                       Die Welt als Bild

Die Welt als Bild
Zur Domestizierung der Fremde durch den Kitsch im
19. Jahrhundert am Beispiel von Weltausstellung und Interieur1

DOMINIK FINKELDE

                   The following article examines the dominance of image-based perception in the 19th
                   century as a key element in European self-understanding. This perception domesticates
                   the external world, the non-European rest of the world, as can be seen in the concept
                   of the ›bourgeois intérieur‹ interpreted by Walter Benjamin in his remarks on World
                   Expositions, by Charlotte Brontë, who visited the World Exposition of 1851 in London,
                   and by Marcel Proust. The latter describes the interior as a kind of projection surface
                   where the subject can withdraw to recompose an external world that is more and more
                   manifold. The strange and the unfamiliar are comprehended by a concept of pictur-
                   esque projection that can be put in relation to the camera obscura as a medium of mo-
                   dern interiority.

1

Der Politologe Timothy Mitchell beschreibt in seinem Buch Colonising Egypt2
den Besuch einer ägyptischen Delegation auf der Weltausstellung in Paris im
Jahre 1889. Die von Mitchell beschriebenen Besucher aus dem Orient berei-
sen Europa zum ersten Mal und ebenso besuchen sie zum ersten Mal eine
Weltausstellung. Dabei ist es besonders eine Attraktion, die die Ägypter in
Erstaunen versetzt: Die Rekonstruktion einer Hauptstraße Kairos (Abb. 1),
auf der nicht nur mit Turbanen und Umhängen verkleidete Europäer flanie-
ren, sondern auch importierte Kamele und Affen die Modellstadt zur mise en
scène werden lassen. Es ist nicht so sehr die kulissenhafte Rekonstruktion, die
die Ägypter irritiert, vielmehr die Simulation vermeintlicher Authentizität.
Denn die Straße entspricht ihrem Original besonders auch an Schäbigkeit.
Die Häuserwände sind mit künstlichem Dreck beschmutzt und künstlich ab-
gefallener Putz soll die Kopie perfekt machen. Die Ägypter sind – so Mitchell
– verwundert und abgestoßen zugleich. Sie erkennen ein wahnwitziges Mo-
ment europäischer Kultur: die Welt in ein Abbild ihrer selbst zu verwandeln.

   1 Der vorliegende Text ist die überarbeitete Version eines Vortrags zum Internationa-
len Kongress Topografías de la modernidad: Walter Benjamin, der 2002 in Mexiko-Stadt
in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, der Universidad Iberoamericana und der
Universidad Autónoma de México stattfand.
   2 Timothy Mitchell, Colonising Egypt. Berkeley/London 1991.
 KulturPoetik Bd. 7,2 (2007), S. 166–178
 ISSN 1616-1203 · © Vandenhoeck & Ruprecht 2007
Die Welt als Bild                                                                        167

      Abb. 1: Weltausstellung in Paris (1889), Rekonstruktion einer Hauptstraße Kairos

Europa erweist sich somit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ein
Ort, der von einem Drang befallen scheint, einerseits alles dem eindringlichen
Blick des Beobachters zu unterwerfen, andererseits dies in Gestalt einer Reprä-
sentation der Repräsentation zu tun. Das Bild der Straße Kairos, das die Ägyp-
ter vor sich haben, hätten sie nämlich – bei aller Ähnlichkeit – in der wirklichen
Straße Kairos (als einem Ort lebensweltlicher Zusammenhänge) nie wahrneh-
men können. In Paris aber erleben sie die Position des Beobachters auf eine
nachinszenierte Lebenswelt ihrer Heimat als unangenehm, weil sie als wirkliche
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
168                                                                     Dominik Finkelde

Ägypter von der Inszenierung ausgeschlossen sind. Die Ausgangsprämissen der
aristotelischen Poetik kehren sich dabei um. Was ursprünglich Wohlgefallen
vor dem Hintergrund wahren Lebens erzeugte, entspricht nun mehr dem, was
wir lasen, hörten oder auf der Bühne sahen. Man könnte das den Zerfall der
Welt in Bilder nennen. Das Bild fungiert dabei als Medium, welches die Kom-
plexität der Welt durch eine Vielzahl von Genreszenen fixiert. Die reale Straße
in Kairo scheint in Paris wie in Jetztzeit gespeichert. Sie ist aus dem Zeitfluss
einer Lebenswelt herausgenommen und zur Beobachtung eines nahezu ewigen
Moments preisgegeben. Die Dominanz des Bildlichen bzw. des Pittoresken für
die Wahrnehmungsweise des 19. Jahrhunderts steht daher in den folgenden
Ausführungen dieses Artikels im Mittelpunkt.3 Um sie am Beispiel der Welt-
ausstellungen genauer fassen zu können, wird dabei auf Überlegungen Walter
Benjamins zurückgegriffen, der diesen Hang zur ›Bildlichkeit‹ noch vor Martin
Heideggers Aufsatz Die Zeit des Weltbildes (1938) als wesentliches – der Tradi-
tion des Historismus anhängendes – Markenzeichen des 19. Jahrhunderts in-
terpretiert hat. Benjamin stellt dabei die Dominanz des Bildlichen in eine
Wechselbeziehung mit dem bürgerlichen ›Interieur‹ als der eigentlichen Pro-
jektionsfläche dieser Art von Ab-Bildlichkeit.
   Es soll im Folgenden aufgewiesen werden, inwiefern die Weltausstellungen
teilnehmen an einem Prozess der Entauratisierung der Ferne, von dem Ben-
jamin behauptet, er sei geprägt durch eine ›leidenschaftliche Neigung der
Heutigen‹, »die Dinge sich, vielmehr den Massen näherzubringen«.4 Dieses
Diktum – ›Die Dinge den Massen näherzubringen‹ – erfüllen die Weltausstel-
lungen des 19. Jahrhunderts als ihre ureigenste Mission. Dahinter verbirgt
sich eine Inbesitznahme der Welt durch das Abbild und zwar noch vor der
Popularisierung der Daguerreotypie. Die Welt wird dabei nicht nur zu einem
Bild, das man betrachtet, sondern aus dem man selbst immer häufiger he-
raustritt, um es zu betrachten, und bei dem man – während des Betrachtens
– wieder hineintritt. Gerade der Eiffelturm (eingeweiht auf der Weltausstel-
lung von 1889) mag Sinnbild dieses Heraustretens sein, da er die Stadt für
denjenigen, der den Turm besteigt, geradezu auf Distanz schiebt. Es ist nicht
nur – wie Heidegger in seinem Welt-Bild-Aufsatz sagt –, dass mit Beginn der
Neuzeit der Mensch der Welt immer mehr wie einem Objekt gegenübertritt.5

   3 William Gilpin (1724–1804) und Uvedale Price (1747–1829) führen das Konzept
des Pittoresken in die Ästhetik der englischen Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts
ein und lassen sie Teil des ästhetischen Diskurses des 19. Jahrhunderts werden.
   4 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders., Gesammelte
Schriften. Bd. II/1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.
1990, S. 368–385; hier S. 378.
   5 Vgl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes. In: Ders., Holzwege. Frankfurt/M.
8. Aufl. 2003, S. 75–96; hier S. 89: »Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen
angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor
sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen
will«.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Die Welt als Bild                                                                 169

Es ist vielmehr so, dass der Mensch wie die Marienfigur, die die Erdkugel in
ihrer Hand hält, gleichzeitig die Perspektive Mariens auf die Welt und doch
auch die Perspektive der Erdbewohner in der Welt hat. Genau in dieser Dop-
pelwirkung verbirgt sich, was Benjamin den Verlust der Aura durch das ›Nä-
herbringen der Dinge‹ nennt. Die Ausgangsfrage ist daher: warum musste
dieses Bedürfnis, die Welt zum Abbild werden zu lassen, besonders im
19. Jahrhundert auftreten? Zentrale Aussagen zu diesem Themenkomplex
finden sich in Benjamins Passagenwerk, in dem er sich an mehreren Stellen
über die Weltausstellungen äußert, aber auch bei Charlotte Brontë, die die
Weltausstellung von London mehrmals besucht hat. Schließlich gehört auch
Marcel Prousts Interpretation des bürgerlichen Interieurs in diesen Zusam-
menhang, da er in der Recherche das bürgerliche Interieur als Projektionsflä-
che der Außenwelt beschreibt, und eine Projektionsfläche schließlich eine Flä-
che ist, auf der sich ein, wie auch immer geartetes, Abbild zeigt.

2

Die Tradition der Weltausstellungen beginnt mit der berühmten Ausstellung
im Crystal Palace im Londoner Hyde Park, 1851. Ihr vollständiger Titel lautet:
The Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations. Es ist demnach in
erster Linie eine Ausstellung wirtschaftlicher Errungenschaften und eine Prä-
sentation der Leistungen verschiedener Handwerksbereiche.6 Waren in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Industrie-Ausstellungen in der Regel ex-
klusiv einer Nation gewidmet, so lud die Weltausstellung in London alle aus-
ländischen Nationen zur Präsentation ihrer Industrie- und Kulturprodukte
ein. Eine solche Zusammenschau verschiedener Kulturen hatte es bis dahin
noch nicht gegeben. Die Weltausstellung in London präsentierte eine ideale,
industrialisierte Welt und den nicht uneigennützigen Gedanken eines gren-
zenlosen globalen Handels. Dabei sind kolonialistische Implikationen offen-
sichtlich. Wir befinden uns in der Zeit des ›imperialistischen Kolonialismus‹,
und die Weltausstellungen dienen dem politischen Zweck, Europa in seiner
Kolonialrolle zu legitimieren. Die englische Schriftstellerin Charlotte Brontë

    6 Hier eine Auswahl einschlägiger Studien der letzten Jahre zum Thema der Weltaus-
stellungen im 19. Jahrhundert: Linda Aimone/Carlo Olmo, Les Expositions Universelles
1851–1900. Berlin/Paris 1993; John Allwood, The Great Exhibitions. London 1977; Jean-
Jacques Bloch/Marianne Delort, Quand Paris allait à l’Expo. Paris 1980; John E. Find-
ling/Kimberly D. Pelle (Hg.), Historical Dictionary of World’s Fairs and Expositions,
1851–1988. New York/London 1990; Paul Greenhalgh, Ephemeral Vistas. The Exposi-
tions Universelles, Great Exhibitions and World’s Fairs, 1851–1939. Manchester 1988;
Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt/M. 1999; Robert W.
Rydell, World of Fairs. The Century of Progress Expositions. Chicago 1993; Brigitte
Schroeder-Gudehus/Anne Rasmussen, Les Fastes du Progrès. Le guide des Expositions
universelles 1851–1992. Paris 1992.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
170                                                                     Dominik Finkelde

hat die Londoner Welt-Ausstellung fünf Mal besucht. Sie schreibt dazu be-
geistert:
   It is a wonderful place – vast, strange, new and impossible to describe. [. . .] Its
   grandeur does not consist in one thing, but in the unique assemblage of all things.
   Whatever human industry has created you find there. [. . .] Magic only could have
   gathered this mass of wealth from all the ends of the earth – as if none but super-
   natural hands could have arranged it thus, with such a blaze and contrast of colours
   and marvellous power of effect.7

Nach den Bemerkungen Charlotte Brontës scheint es der Weltausstellung we-
niger um die Singularität der einzelnen Objekte zu gehen, als um das, was
Brontë ›the assemblage of all things‹ nennt. Die Konstellation, bzw. das ästhe-
tische Arrangement bestimmt die Zusammenstellung, wobei der Gesamtein-
druck die Hauptaufmerksamkeit auf sich zieht und darin die soziokulturelle
Singularität der Ausstellungsobjekte auflöst.8 Darüber hinaus erwähnt Brontë
die Metapher einer »gott-gleichen Hand«, die die Dinge aus allen Enden der
Welt zusammengetragen habe. Gruppierten sich die Sammlungsstücke in den
mittelalterlichen Wunderkammern und Kuriositätenkabinetten noch um ei-
nen einzelnen (nicht selten exzentrischen) Sammler als Bedeutungszentrum,9
so beenden die Weltausstellungen dieses Konzept. Die Sammler scheinen sich
hinter dem Phantom einer »supernatural hand« zu verbergen, die überle-
bensgroß und aus der Vogelperspektive kommend, in die entferntesten Län-
der greift, um dort besonders repräsentative Objekte herauszugreifen. Das
über die Weltkugel Zerstreute wird somit in einer neuen Form zusammenge-
stellt. Ist auf diese Weise Zerstreutes an einem Ort zusammengetragen, glie-
dert sich der Raum nach Peripherie und Zentrum, wobei sich die Peripherie

    7 Clement Shorter, The Brontës. Life and Letters. Bd. 2. London 1908, S. 215 f.
    8 Siehe dazu auch: Dominik Finkelde, Vergebliches Sammeln. Walter Benjamins Ana-
lyse eines Unbehagens im fin de siècle und der europäischen Moderne. In: arcadia –
Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 42 (2007), S. 187–202.
    9 Vgl. dazu besonders Paula Findlen, Possessing Nature. Museums, Collecting, and
Scientific Culture in Early Modern Italy. Berkeley 1996. Findlens Analyse stellt die beiden
herausragenden Sammler des 17. Jahrhunderts Ulisse Aldrovandi und den Jesuiten Atha-
nasius Kircher in einen Vergleich. Siehe zum Verhältnis von Sammler und Sammlung
auch Didier Maleuvres, Museum Memories. Stanford 1999, besonders S. 95–102. Zur
frühneuzeitlichen Wunderkammer siehe die einschlägige Studie von: Horst Bredekamp,
Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die
Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993. Bredekamp sieht in der Kunstkammer die
»Schulung visueller Assoziations- und Denkvorgänge, die den Sprachsystemen voraus-
laufen« (ebd., S. 102). Ebenso zu erwähnen sind Susan M. Pearces vielfältige Analysen
zum kulturellen Wandel von Ausstellungsobjekten. Vgl. Susan M. Pearces Artikel Mu-
seum objects, sowie ihren Artikel Objects as meaning – or narrating the past, beide abge-
druckt in: Dies. (Hg.), Interpreting Objects and Collections. London, New York 1994,
S. 9–12, bzw. S. 19–39. Siehe ebenso Krzysztof Pomians genealogischen Aufriss einer Ent-
stehungsgeschichte des Museums, in: Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums.
Vom Sammeln. Berlin 1998.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Die Welt als Bild                                                                   171

zwar als Ursprungsort der Objekte erweist, dennoch dabei seine Bedeutung
erst vom Zentrum zugesprochen bekommt. Das Zentrum ist schließlich der
Ort der Zusammenschau, der Ort des Vergleichs und der Erkenntnis. Von ihm
aus lässt sich auch auf die Peripherie wiederholt zurückgreifen. Gerade durch
die Ansammlung des Verstreuten gelingt es somit dem Zentrum, die Periphe-
rie als die ihm zugehörige und ihn eigentlich betreffende Sphäre anzusehen.
Das Zusammengestellte erweist sich als das durch Notwendigkeit versammel-
te. Die Illusion eines Weltzentrums erscheint perfekt.
   Die Kommentatoren der Weltausstellungen waren sich dessen bewusst. So
schreibt die Times im Sommer 1851: »Just now we are an objective people [. . .]
We want to place everything we can lay our hands on under glass cases and
to stare our fill«.10 Die Dinge werden ihrer eigentlichen Verwendung entzogen
und einer anderen Ordnung zugeführt. Sie werden neu montiert und zu
Kunststücken gemacht. In diesem Tausch der Ordnungen bekommen sie den
Charakter reiner Schaustücke, sie durchleben eine Metamorphose zum Expo-
nat. Benjamin beobachtet entsprechend im Passagenwerk: »Alles Erinnerte,
Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß«.11 Der Ben-
jaminsche Sammler als Einzelgänger, wie er ihn im Eduard-Fuchs-Essay be-
schreibt, und der sich dem Ausgestoßenen und Nicht-Integrierbaren widmet,
steht hier von vornherein vor den Türen eines solchen Welt-Spektakels. Wäh-
rend das Kult-Objekt – wie Benjamin im Kunstwerkaufsatz ausführt – im
Kontext religiöser Verehrung gar nicht präsent bzw. »greifbar« sein musste
(Benjamin erwähnt verhangene und verborgene Heiligtümer),12 präsentieren
die Weltausstellungen ihre Kultur-Objekte wie zum Greifen nahe, wobei es
gerade die Maske des Kitsches ist, in dem sich – wie Benjamin schreibt – die
Dingwelt dem »tastenden Griff« (PW 622) des Menschen ›ergibt‹. In einem
Ausstellungskatalog der Londoner Ausstellung heißt es:
   One of the distinguishing characteristics of the Great Exhibition is its vast compre-
   hensiveness. Nothing was too stupendous, too rare, too costly for its acquisition,
   nothing too minute or apparently too insignificant for its consideration.13
»Comprehensiveness« und »acquisition« stehen für den sich im Kitsch aus-
tobenden Drang, die Dinge, wie Benjamin sagt, näherzubringen. Steht das
›Hier und Jetzt‹ im Kontext des Kult-Objektes in Benjamins Interpretation
gerade für dessen Unnahbarkeit, und beginnt das Kunstwerk erst durch die
Distanz seine Aura zu entfalten, so besteht die Faszination der Objekte auf

   10 The Times, 13. Oktober 1851, zitiert nach Mitchell (Anm. 2), S. 20.
   11 Walter Benjamin, Das Passagenwerk. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/1 + 2.
Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1990, S. 271. Im
Folgenden mit der Sigle PW zitiert.
   12 »Gewisse Götterstatuen sind nur dem Priester in der cella zugänglich, gewisse Ma-
donnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse Skulpturen an mittel-
alterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar« (PW 483–484).
   13 Zitiert nach: Jeffrey A. Auerbach, The Great Exhibition of 1851 – A Nation on Dis-
play. New Haven, London 1991, S. 91.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
172                                                               Dominik Finkelde

den Weltausstellungen in ihrer möglichen Besitznahme und Verfügbarkeit
durch den Käufer. Walter Benjamin interpretiert die Weltausstellungen daher
folglich als »Wallfahrtsorte zum Fetisch Ware« (PW 50). Sie stehen mehr in
der Tradition der aufkommenden Department Stores als in der Tradition der
europäischen Museen. Denn was die Weltausstellungen als Rarität präsentie-
ren, ist, wie Benjamin zutreffend bemerkt, die Singularität dessen, was immer
schon kopierbar und in Serie produzierbar ist. Was unter Markt-Bedingun-
gen gesammelt wird, »ist eigentlich nicht mehr«, wie Boris Groys schreibt, ist
nicht mehr im Sinne, wie es eigentlich »mal war«.14
   Statt auf Originalität und Innovation stößt man auf Kopien und Imitatio-
nen. So kritisiert Ralph Nicholson Wornum, Sekretär der Londoner National-
galerie, in einem berühmten Essay aus dem Jahr 1854 mit dem Titel The Ex-
hibition [of 1851] as a Lesson in Taste die Vertreter der Handwerksinnungen,
weil sie letztlich nur eine Produkt-Palette von Imitationen vorweisen würden.
Vor allem kritisiert er die oft willkürliche Komposition und überbordende
Ornamentik. Er moniert, dass alles, was er auf der Weltausstellung sah, Ko-
pien alter Ideen seien, »old things in an old taste«.15 Anstatt im Design neuer
Produkte auf einen Gebrauchszweck ausgerichtet zu sein, zerstöre die Unter-
ordnung von Form und Funktion unter die Dominanz der Ornamentalität
letztlich die Integrität des Objekts, weil es seinen Gebrauchs-Zusammenhang
zugunsten der ästhetischen Erscheinungsweise negiere.
   Wenn Walter Benjamin sich zu den Weltausstellungen äußert, verbindet er
sie in erster Linie mit seiner Adaptation der marxistischen Theorie des Fe-
tischcharakters der Ware. Weltausstellungen sind für ihn Teil dessen, was er
den »Traumschlaf« des 19. Jahrhunderts nennt: eine kollektive Hypnose (PW
493). Das hindert Benjamin jedoch nicht, andere kulturelle Phänomene, in
die die Weltausstellungen sozusagen ›eingebettet‹ sind, zu interpretieren (PW
45). Und von diesen tritt besonders seine Interpretation des bürgerlichen In-
terieurs als Trutzburg der Innerlichkeit hervor. Auf dieses möchte ich im Fol-
genden eingehen. Denn das, was das bürgerliche Interieur so häuslich macht
in einer sich in radikaler Komplexität erweisenden Moderne, ist genau das,
was – nach meiner These – auch die Weltausstellungen charakterisiert: die
Domestizierung der Fremde durch ihre Verkitschung.

3
Wenn Benjamin seine Aufmerksamkeit auf das Interieur richtet (besonders
in seinem Text Louis-Philippe), dann hat er dabei Interieurs vor Augen, wie
sie z. B. der fin-de-siècle Photograph Henri Roger-Viollet abgebildet hat
(Abb. 2). Wir sehen ein Zimmer, das mit Objekten überfüllt ist. Es ist geprägt

  14 Vgl. Boris Groys, Logik der Sammlung. Das Ende des musealen Zeitalters. München
1997, S. 48.
  15 Zitiert nach: Auerbach (Anm. 13), S. 114.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Die Welt als Bild                                                           173

                         Abb. 2: Henri Roger-Viollet: Interieur

durch Decken, Vorhänge, ›viel Teppich‹ und eine nicht zu verkennende
Sammlerbegeisterung. Bei Marcel Proust findet sich die schöne Umschrei-
bung: »Tout cela que envahit nos maisons, les Sphinx qui viennent se mettre
aux pieds des fauteuils, les serpents qui s’enroulent aux candélabres [. . .] et
puis toutes les lampes pompéiennes«.16 Es scheint keinen Ort zu geben, der
nicht mit irgendeinem Objekt besetzt ist, als entsprächen die Zimmerwände
einer Matrix, auf der kein Fleck unausgefüllt bleiben dürfte. Interieurs sind
ihm phantasmagorische »Zauberbilder des Jahrhunderts«, kulissenhafte Pan-
oramen der Weltgeschichte, in denen sogar »der Aschenbecher« noch vorgibt
»antikisch« zu sein (PW 282). Aber für Benjamin ist klar, dass die »welthisto-

  16 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu. Hg. v. Jean-Yves Tadié. Paris
1987–1989, Bd. II, S. 808 f.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
174                                                                 Dominik Finkelde

rischen Momente« (PW 286), mit denen sich das Interieur umgibt, letztlich
nur »Kostüme«, »Mannequins« sind, wobei der Kitsch die »allerletzte Fratze
dieses Totenbaumes ist« (PW 286). Das bürgerliche Interieur ist jedoch nicht
nur Schutzburg gegen eine unüberschaubar werdende Außenwelt, sondern
vielmehr die Bedingung der Erkennbarkeit derselben. Genau hier liegt die
Verbindung zum Erkenntnis-Konzept der Weltausstellungen, in denen eben-
falls das Konzept eines konstruierten Mikrokosmos im Makrokosmos (einer
künstlichen Welt en miniature) die Außenwelt gerade als Teil dieser Innenwelt,
und somit als Bedingung ihrer Erkennbarkeit aufzeigen soll. Ein Verweis auf
die camera obscura soll das deutlich machen.
   Die camera obscura ist bekanntlich ein verdunkelter Raum, in den durch eine
kleine Öffnung Licht fällt und im Inneren des Raumes ein auf dem Kopf ste-
hendes Bild der Außenwelt an die Wand wirft. Dieses Phänomen, das von Ari-
stoteles bis Francis Bacon bekannt war, erfährt seinen in erster Linie erkennt-
nistheoretischen Aufstieg besonders im 16. und 17. Jahrhundert, wo es nicht
mehr nur als magisches Schauspiel der Natur, sondern zunehmend als Erkennt-
nismodell benutzt wird.17 Ein wesentliches Moment der camera obscura ist in
diesem Kontext die radikale Trennung eines Innenraumes von einer Außenwelt
und damit auch die Isolierung eines eingeschlossenen Beobachters. John Locke
benutzt sie als Modell, um seinen Lesern seine Deutung des Erkenntnisprozes-
ses zu veranschaulichen. In diesem Modell steht die Öffnung der camera für das
Auge, das den Lichtreiz eintreten lässt und den Intellekt animiert, den Reiz in
ein authentisches Bild der Außenwelt zu verwandeln. Die camera obscura er-
laubt daher exemplarisch die Erklärung einer Korrespondenz zwischen der Au-
ßenwelt und der Innenwelt des Menschen. Wie Richard Rorty schreibt, ver-
deutlichen Locke und Descartes durch die Anwendung der camera obscura
  the conception of the human mind as an inner space in which both pains and clear
  and distinct ideas passed in review before an inner eye [. . .]. The novelty was the
  notion of a single inner space in which bodily and perceptual sensations [. . .] were
  objects of quasi-observation.18
Descartes beschreibt darüber hinaus in seinem Text La Dioptrique (1637) den
Blick in einer fundamentalen Abhängigkeit vom Intellekt, ja der Intellekt lasse
erst das Bild der Außenwelt zum Bilde werden. Sehen ist in diesem Sinne ein
Lesen, ein nahezu diskursiver Prozess, und der sichere Ort des Menschen ist
letztlich der Ort seiner Innerlichkeit, der ihm das Verständnis der Außenwelt
ermöglicht. Dem Eindringen des geordneten Lichtstrahls in der camera ob-
scura korrespondiert die Licht-bringende Aktivität des Verstandes im sonst
einer Dunkelkammer ähnlichen Geist des Menschen. Dazu schreibt Heideg-
ger treffend:

  17 Vgl. Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the
Nineteenth Century. Cambridge, London 1990.
  18 Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature. Princeton 1979, S. 49 f.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Die Welt als Bild                                                                       175

   [Die] Vergegenständlichung des Seienden vollzieht sich in einem Vor-stellen, das
   darauf zielt, jegliches Seiende so vor sich zu bringen, daß der rechnende Mensch
   des Seienden sicher und d. h. gewiss sein kann. [. . .] Erstmals wird das Seiende als
   Gegenständlichkeit des Vorstellens und die Wahrheit als Gewißheit des Vorstellens
   in der Metaphysik des Descartes bestimmt.19

Das bürgerliche Interieur an der Schwelle zur Moderne steht nun in einem
gewissen Sinne – so meine These – immer noch in dieser Tradition der camera
obscura.20 Denn wir haben ein bürgerliches Individuum, das sich in einen mit
allen möglichen Objekten (meistens Kopien) ausgestatteten Innenraum von
der Außenwelt zurückzieht. Er tut dies jedoch nicht im Bemühen, der Außen-
welt zu entfliehen, als vielmehr im Glauben, diese durch den Rückzug ins
Interieur besonders gut erkennen, vielmehr abbilden zu können. Das bürger-
liche Interieur begegnet uns als Bedingung der Welterkenntnis, jedoch um den
Preis, die Außenwelt nur als ›rekonstruierte‹, von einem Subjectum in seiner
Innerlichkeit eingesperrt künstliche, vorgestellte zu erfahren. Dass Walter
Benjamin sich dieser Verbindung von camera obscura und bürgerlichem In-
terieur implizit bewusst war, ist anzunehmen, weil er vom ›Rätsel‹ des Inte-
rieurs spricht und im selben Atemzug denjenigen Autor nennt, der in seinem
Hauptwerk die Beziehung zwischen camera obscura und bürgerlichem Inte-
rieur als Erkenntnismodell explizit in Szene setzt: Marcel Proust. Benjamin
schreibt: »Konnte der erste, der an das Rätsel des Interieurs des vergangenen
Jahrhunderts ging, ein anderer sein?« (PW 285)
   Dabei ist es besonders eine berühmte Szene der Recherche, in der das bür-
gerliche Interieur von Proust explizit als camera obscura beschrieben wird. Sie
befindet sich im Romanteil Du coté de chez Swann. Der Erzähler, Marcel, schil-
dert dort seinen Rückzug in ein nahezu dunkles Zimmer, in das einzig und
allein ein Lichtstrahl der Sonne dringt.
   Pendant que la fille de cuisine [. . .] servait du café [. . .] je m’étais étendu sur mon
   lit, un livre à la main, dans ma chambre qui protégeait en tremblant sa fraîcheur
   transparente et fragile contre le soleil de l’après-midi derrière ses volets presque
   clos où un reflet de jour avait pourtant trouvé moyen de faire passer [. . .].21

Die Metaphorik der Textpassage entwickelt das Bild eines abgeschiedenen
Marcels, der darauf beharrt, dass ihm die selbstgewählte Trennung von der
Außenwelt und die Kühle des schattigen Zimmers das Wesen des Sommers
viel besser erfassen lasse. Der Innenraum ›verteidigte zitternd seine durch-
sichtige, zerbrechliche Kühle gegen die Nachmittagssonne‹. Das Interieur,
ebenso wie die Versenkung des Lesenden in die durch den Text ausgelöste
Phantasie wird unzweideutig als die der äußeren Welt vorzuziehende Sphäre

  19 Heidegger (Anm. 5), S. 87.
  20 Damit soll Jonathan Crarys These vom Ende des camera obscura-Modells am Beginn
der europäischen Moderne nicht verworfen, vielmehr um diesen Aspekt erweitert wer-
den.
  21 Proust (Anm. 16), Bd. I, S. 82.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
176                                                                 Dominik Finkelde

eingeschätzt. Das Lesen wird zur Totalerfahrung stilisiert, insofern sich das
Ich lesend die sonnige Wärme in den dunklen kühlen Raum, die Außenwelt
in der Kontemplation selbst aufbaut und der Lichtstrahl dafür als Stimulus
dient. Der Erzähler kann behaupten, dass Marcels Phantasie durch sein Ver-
bleiben und Lesen auf seinem Zimmer ›zum vollen Schauspiel des Sommers‹
Zugang hat und dass er über ihn weit wirksamer verfügt, als es ihm in der
Außenwelt möglich wäre.
  Cette obscure fraîcheur de ma chambre était au plein soleil de la rue, ce que l’ombre
  est au rayon, c’est-à-dire aussi lumineuse que lui, et offrait à mon imagination le
  spectacle total de l’été dont mes sens si j’avais été en promenade, n’auraient pu
  jouir que par morceaux [. . .].22

Die Unverträglichkeiten zwischen innerer und äußerer Welt scheinen sich im
bürgerlichen Interieur zu versöhnen. So wie der Bürger in seinen Sammlungs-
objekten kulissenhafte Panoramen der Weltgeschichte zusammenstellt, in de-
nen – wie Benjamin sagt – selbst der Aschenbecher noch vorgibt ›antikisch‹ zu
sein, suchen die Weltausstellungen in der Konzentration von Objekten aus aller
Welt die Fremde an der Peripherie als die von ihnen abhängige Domäne zu
definieren. Die Sammlungsobjekte, die die Wände bedecken und von denen
Benjamin (Adorno zitierend) schreibt, sie seien »bloße Dekoration; fremd dem
Zweck, den sie vorstellen, bar eigenen Gebrauchswertes, erzeugt allein aus der
isolierten Wohnung« (PW 29), entsprechen metaphorisch den Projektionen
auf der Innenseite der camera obscura. Die Außenwelt ersteht in der Innenwelt
in Gestalt einer Rekonstruktion bzw. Repräsentation. »Die Natur« ragt nur
noch – wie Benjamin schreibt – »als konservierte in diese Welt« (PW 29). Die
krampfhaft zusammengesammelte Welt im Interieur vermittelt authentische
Kulisse, aber eben kein Bild der Realität. Proust geht schließlich soweit, gerade
in der Kulissenhaftigkeit eine neue Realität zu sehen. Darin liegt seine Moder-
nität.23 Jedoch ist es schwer vorstellbar, dass auch die Ausstellungsmacher der
Weltausstellungen schon Mitte des 19. Jahrhunderts diese Konsequenzen gezo-
gen hätten. Der wohlige Schauder, im Paris des 19. Jahrhunderts durch eine
künstlich-dreckige Straße Kairos zu gehen, erzeugt das Gefühl bürgerlicher Ge-
borgenheit, die – wie anzunehmen ist – auch die Leser der Romane Jules Vernes
nahezu zeitgleich empfanden, wenn sie etwa über Reisen De la terre à la lune
(1865) oder Au centre de la terre (1864) erfuhren.
   Die Fremde, die die Weltausstellungen rekonstruieren, ist die domestizierte
Ferne, der die Helden Jules Vernes gegenübertreten. Der Mond erscheint hier
weniger als misanthropischer Ort radikaler Andersartigkeit. Vielmehr hat er
mit der Phantasie des Karikaturisten Grandville zu tun, bei dem – wie Ben-
jamin sagt – der Saturnring »ein gußeiserner Balkon« wird, »auf dem die Sa-
turnbewohner abends Luft schöpfen« (PW 51) (Abb. 3).

  22 Ebd., S. 83.
  23 Vgl. dazu meine Studie Dominik Finkelde, Benjamin liest Proust – Mimesislehre,
Sprachtheorie, Poetologie. München 2002, besonders S. 69–111.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Die Welt als Bild                                                             177

                     Abb. 3: Grandville: Le pont des planètes (1844)

Der Saturn von Grandville reflektiert sich in der pittoresken Präsentation des
Orients, wie ihn die Weltausstellungen als Hineinnahme des Fremden, Un-
heimlichen in die Formprinzipien des bürgerlichen Interieurs präsentieren.
Das Unbekannte, das Fremde und Entfernte, wie es sich durch die Weltaus-
stellung darstellt, zeigt sich in domestizierter Gestalt. Anstatt der Fremde als
Fremde zu begegnen und sich damit der Gefahr auszusetzen, dem Unerwar-
teten keine Begriffe entgegenbringen zu können, holt man die Fremde do-
mestiziert ins Interieur. Das pittoreske Bild und das vom Kitsch befallene Ob-
jekt aus der Fremde ist jedoch paradoxerweise immer auch schon vom Verlust
der Authentizität geprägt. Die Weltausstellungen versammeln mit quasi »ma-
gischer Hand« das Fremde zu einer »unique assemblage of all things«, »im-
possible to describe«, aber nicht impossible ästhetisch zu verkosten. Somit
wird das Fremde nur im Bilderrahmen der ästhetischen Zurschaustellung im
Interieur eigentlich ›begriffen‹.
   Der Kitsch und das Klischee sind dabei Modi des Heimisch-Seins, die in
diese Zurschaustellung mit hineinragen. Wir fühlen uns im Klischee zu Hause
und im Kitsch so wohl, weil uns der Kitsch nicht mit dem Anderen, dem
Fremden konfrontiert, sondern uns unser Selbst-Sein und die Richtigkeit, die
Berechtigung dieses Selbst- und So-Seins versichert.24 Der Kitsch arbeitet so-
mit einer Haltung zu, die letztlich nur sich selbst kennt. In der Archetypisie-
rung pittoresker Zurschaustellung, wie sie die Weltausstellung von 1851 z. B.
in Form des Medieval Court inszeniert hat, ebenso wie in der Präsentation von
Kitsch erfüllter Objekte, die Wornum kritisiert, abstrahieren die Weltausstel-

  24 Vgl. Walter Benjamin, Traumkitsch. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. II/2.
Frankfurt/M. 1990, S. 621 f.
KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
178                                                            Dominik Finkelde

lungen des 19. Jahrhunderts bewusst oder unbewusst von der konkreten Not
in den Fabriken und von der Politik der Kolonialisierung. Das Land Ägypten
ist – um auf das Eingangsbeispiel der ägyptischen Delegation zurückzukom-
men – obwohl kolonial besetzt, noch verklärt in schäbiger Schönheit. Es ist
gespeichert in Jetztzeit. So entwischt die bürgerliche Welt durch Flucht in eine
im Interieur konstruierte, dem Kitsch überlassene Exotik ihrer Verantwor-
tung.

  Dr. Dominik Finkelde, Mannheimerstr. 12, 80803 München; E-Mail: dominik.fin-
  kelde@jesuiten.org

KulturPoetik 7, ISSN 1616-1203
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Sie können auch lesen