ZUR SCHAFFUNG VON PRIVILEGIERTEN AKTIEN UND VON GENUSS-SCHEINEN

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                 ZUR SCHAFFUNG VON PRIVILEGIERTEN AKTIEN
                         UND VON GENUSS-SCHEINEN

        (Der Anwendungsbereich von Art. 655, Art. 648 Abs. 1 und Art. 658 OR)

                                         Prof. Dr. iur. Peter Jäggi
                                        Universität Freiburg Schweiz

Publiziert in: Études de droit commercial en l'honneur de Paul Carry, Mémoires publiés par la
Faculté de droit de Genève Nº 18, Genève 1964, S. 79-97. Die Seitenzahlen dieser Publikation sind
im nachfolgenden Text in eckiger Klammer eingefügt. Ein weiterer Abdruck findet sich in: Peter
Jäggi, Privatrecht und Staat, Gesammelte Aufsätze, Zürich, 1976, S. 404 ff.

                                                         I

[79] Im Jahre 1933 hat Professor Carry in einer ausführlichen "Note" der "Semaine judiciaire" 1 die
Grundsätze festgehalten, die damals, unter der Herrschaft des Obligationenrechts von 1881 (aOR),
für die (nachträgliche) Ausgabe von Vorzugsaktien, einschließlich Stimmrechtsaktien, galten: Da
jede Sondernorm fehlte, durfte die Generalversammlung diese Ausgabe mit einfacher
Stimmenmehrheit beschließen (Art. 648 aOR). Sie verletzte damit kein wohlerworbenes Recht der
bisherigen Aktionäre (Art. 627 Abs. 1 aOR), vorausgesetzt, daß die Ausgabe nicht willkürlich war
und allen Aktionären Gelegenheit gegeben wurde, "de participer à l'opération en faisant les
versements nécessaires" 2.
[80] Das revidierte Obligationenrecht von 1936 gestattet nunmehr der Generalversammlung
ausdrücklich, "die Ausgabe von Vorzugsaktien" zu beschließen "oder bisherige Aktien in
Vorzugsaktien" umzuwandeln (Art. 654 Abs. 1). Doch hat es den frühern Rechtszustand insofern
geändert, als es Beschlüsse "über die Ausgabe von Vorzugsaktien" den gleichen Anforderungen
unterstellt wie Art. 649 die Beschlüsse über eine Erweiterung des Geschäftsbereichs:
Mindestvertretung von zwei Dritteln des Grundkapitals, unter Vorbehalt der Einberufung einer
zweiten Versammlung mit Mindestvertretung von einem Drittel (Art. 655). Zudem sind
"Vorzugsaktien" nur solche, die einen vermögenswerten Vorzug gewähren (Art. 656). Daneben
gibt es, als zweite Art einer privilegierten Aktie, die Stimmrechtsaktie, die nur mit Zustimmung
von zwei Dritteln des Grundkapitals "eingeführt" werden kann (Art. 648 Abs. 1). Unbekannt ist
dem geltenden Recht, wie schon dem aOR, die stimmrechtslose (Vorzugs-)Aktie 3. Dagegen kennt
das Gesetz die Genußscheine. Sie können keine Verwaltungs-, wohl aber gleiche Vermögensrechte
gewähren wie Aktien (Art. 657 Abs. 4). Ihre "Ausstellung" unterliegt derselben qualifizierten
Beschlußfassung wie die "Ausgabe" von (gewöhnlichen) Vorzugsaktien (Art. 658).
Somit gelten seit 1937 drei Vorschriften, welche die Beschlüsse über die "Ausgabe", "Einführung"
1
    1933, S. 445 ff., zum Bundesgerichtsurteil i. S. Stoll c. Trullas & Cie. (BGE 59 II 44).
2
    Diese Formel, die das Bundesgericht von Carl Wieland (Handelsrecht II 202) übernommen hatte (BGE 59 II 49),
    wurde von Prof. Carry (a.a.O. S. 447 f.) restriktiv ausgelegt: Nach seiner Ansicht gewährleistete sie (entgegen
    Wieland) kein Bezugsrecht der alten Aktionäre bei der Ausgabe neuer Vorzugsaktien, sondern betraf nur den Fall,
    da die Gesellschaft, ohne das Grundkapital zu erhöhen, die Umwandlung bisheriger Aktien in Vorzugsaktien gegen
    Zuzahlungen der Aktionäre vorsah (hienach II, Fall 6); jeder Aktionär sollte alsdann das Recht haben, solche
    Zuzahlungen zu leisten und auf diese Weise die Umwandlung seiner Aktien zu erreichen.
3
    Vgl. demgegenüber das deutsche Aktiengesetz, § 115.
2

und "Ausstellung" von privilegierten Aktien und Genußscheinen erschweren. Im folgenden sei
versucht, deren Anwendungsbereich näher zu umschreiben. Zum voraus ist sicher, daß alle drei
Vorschriften nur bei nachträglicher Schaffung gelten. Werden privilegierte Aktien und
Genußscheine bei der Gründung einer Gesellschaft geschaffen – was zulässig ist 4 –, so sind die
Art. 655, 648 Abs. 1 und 658 weder unmittelbar noch analog anwendbar 5. Damit ist auch der
gesetzgeberische Zweck dieser Vorschriften klargestellt: Sie dienen einzig [81] dem Schutz der
(bisherigen) Aktionäre 6. Dagegen will das Gesetz die Schaffung von privilegierten Aktien und von
Genußscheinen nicht schlechthin erschweren, etwa um der öffentlichen Ordnung willen oder um
dem Verkehr die Übersicht über die gesellschaftsinternen Verhältnisse zu erleichtern. Sonst hätte
das Gesetz auch die Schaffung bei der Gründung erschweren müssen.
Gelten die drei Vorschriften in jedem Fall nachträglicher Schaffung? Das ist die Hauptfrage, die
wir uns stellen. Sie ist für jede Vorschrift gesondert zu prüfen, wobei, was die (dispositiven) Art.
655 und 658 anbetrifft, auf die Möglichkeiten abweichender statutarischer Ordnung nicht
eingetreten wird.

                                                         II

Art. 655 bezieht sich, nach seinem Wortlaut, (nur) auf die "Ausgabe" ("émission") von
Vorzugsaktien. Nach allgemeinem Sprachgebrauch bedeutet "Ausgabe" die Schaffung neuer Aktien
neben bisherigen. Nun läßt sich aber die nachträgliche Schaffung von Vorzugsaktien auch so
denken, daß bisherige Aktien in Vorzugsaktien umgewandelt werden (was einzig dann einen Sinn
hat, wenn die Umwandlung nur einen Teil der Aktien betrifft). Diese zweite Hauptmöglichkeit wird
in Art. 654 Abs. 1 ausdrücklich erwähnt, neben der Ausgabe. Sie ist also zulässig. Somit hat es den
Anschein, daß es (einzig) zwei Fälle nachträglicher Schaffung von Vorzugsaktien gibt – Ausgabe
und Umwandlung – und daß nur die Ausgabe einer qualifizierten Beschlußfassung bedarf.
Aber die Dinge liegen nicht so einfach. Denn einmal muß jeder Wortlaut wertend ausgelegt werden
(Art. 1 Abs. 1 ZGB). Wie unzuverlässig der Wortlaut für sich allein ist, zeigt schon der Umstand,
daß der Randtitel zu Art. 654 nur die "Ausgabe" erwähnt, also mit diesem Ausdruck auch die in
Abs. 1 von Art. 654 erwähnte Umwandlung einschließt. Daher drängt sich die Frage auf, ob
"Ausgabe" in Art. 655 den gleichen weiten Sinn hat wie im Randtitel oder ob "Ausgabe" auch hier,
wie in Abs. 1 von Art. 654, als Gegensatz zur Umwandlung zu verstehen ist.
[82] Sodann bezieht sich die Unterscheidung von "Ausgabe" und "Umwandlung" nur darauf, ob
alte oder neue Aktien bevorzugt werden. Daneben gibt es weitere Tatbestandsvarianten, die erst
dann zum Vorschein kommen, wenn nicht nach dem Gegenstand der Bevorzugung, sondern nach
andern Gesichtspunkten unterschieden wird, nämlich darnach: ob die Schaffung von Vorzugsaktien
mit einer Kapitalerhöhung verbunden ist und, falls das zutrifft, ob das neue Kapital durch die
Zeichner der neuen Aktien oder aus Gesellschaftsmitteln liberiert wird; ob die Vorzugsaktionäre für
die Bevorzugung eine besondere Leistung zu erbringen haben; ob die bisherigen Aktionäre
hinsichtlich der Bevorzugung einander gleichgestellt sind; ob die Bevorzugung (nur) dadurch
erreicht wird, daß (neue) Aktien mit Sonderrechten ausgestattet werden oder (nur) dadurch, daß die
Rechtsstellung der bisherigen Aktien verschlechtert wird. Diese verschiedenen Einteilungen
durchkreuzen sich, so daß die Tatbestände nicht systematisch sauber gegliedert werden können.
Doch lassen sich einzelne Hauptfälle unterscheiden. Für jeden von ihnen ist im folgenden zu

4
    Für Vorzugsaktien: Botschaft 1928, 29; Siegwart N. 16 zu Art. 654-56. Für Stimmrechtsaktien: Sten.Bull. Ständerat
    1931, 364; Protokoll der nationalrätlichen Kommission VII. Session S. 24; Biber, Die Stimmrechtsaktie ..., Diss.
    Zürich 1940, 103 ff.; Bürgi N. 20 zu Art. 693. Für Genußscheine: Art. 657 Abs. 2; Siegwart N. 18 zu Art. 657/58;
    Jäggi SAG 34, 1 ff.; vgl. auch BGE 31 II 441; Archiv f. schweizer. Abgaberecht 17, 541.
5
    Siegwart N. 16 zu Art. 654-56 und N. 14 zu Art. 657/58; Biber, a.a.O., 103 ff.
6
    Vgl. Randtitel bei Art. 646 und Botschaft 1928, 27 f.
3

prüfen, ob Art. 655 auf ihn anwendbar ist. Dabei wird der Einfachheit halber vorausgesetzt, daß es
sich um die erstmalige Schaffung von Vorzugsaktien handelt.
Fall 1: Kapitalerhöhung im gewöhnlichen Sinn von Art. 650 ff. (Liberierung der neuen Aktien
durch die Zeichner). Die neuen Aktien sind Vorzugsaktien.
Das ist der Grundfall, da er dem Wortlaut des Art. 655 ("Ausgabe") am besten entspricht und
überdies an den in Art. 650 ff. geregelten Tatbestand anschließt. Unter dem Gesichtspunkt des
gesetzgeberischen Zweckes (hievor I) müssen aber innerhalb dieses Grundfalles zwei Varianten
unterschieden werden: Der Kapitalerhöhungsbeschluß beläßt das gesetzliche Recht der bisherigen
Aktionäre auf Bezug der neuen (Vorzugs-)Aktien oder er schließt es aus (Art. 652). Gilt Art. 655
ohne Unterschied für beide Fälle oder nur bei Ausschluß des Bezugsrechtes? Sofern er für beide
Fälle gilt, frägt es sich für den Fall des Ausschlusses weiter, ob die Anwendung des Art. 655 den
Ausschluß ausreichend rechtfertigt, so daß er keiner weitern sachlichen Begründung bedarf. Art.
655 hängt somit aufs engste mit der Gestaltung des [83] Bezugsrechtes zusammen, ohne daß der
Wortlaut dies erkennen läßt.
Der Zusammenhang zeigt sich aber in den Gesetzesmaterialien: Die Entwürfe von 1919 (Art. 713
f.) und 1923 (Art. 669 f.) wollten ausdrücklich die Ausgabe von Vorzugsaktien "mit oder ohne
Vorrecht der bisherigen Aktionäre auf den Erwerb von Vorzugsaktien" regeln, woraus zweierlei
folgt: Die Entwürfe forderten eine qualifizierte Beschlußfassung auch dann, wenn das Bezugsrecht
belassen wurde; anderseits erachteten sie dessen Ausschluß ohne weiteres als zulässig. Im Entwurf
von 1928 fehlte die angeführte Wendung. Der Grund für ihre Weglassung wurde nicht angegeben.
Allem Anschein nach war er nur redaktioneller Natur, da der heutige Art. 654 Abs. 1 aus andern
Gründen neu gefaßt werden mußte. Somit drängt sich die Annahme auf, daß das Gesetz auf dem
gleichen Standpunkt steht wie die ersten Entwürfe.
Diese Annahme wird, was ausschlaggebend ist, durch sachliche Gründe gestützt, nämlich durch die
Interessenlage, auf welche Art. 655 zugeschnitten ist: Nach den Materialien schwebte dem
Gesetzgeber einzig der Fall der Sanierung vor Augen. Nur dieser Fall wurde als Anlaß zur Ausgabe
von Vorzugsaktien erwähnt 7. Bei einer Sanierung liegen aber die Varianten der Belassung und des
Ausschlusses des Bezugsrechtes interessemäßig nahe beieinander. Denn alsdann sind die
bisherigen Aktien schon aus wirtschaftlichen Gründen entwertet. Wird ihre Rechtsstellung
verschlechtert, durch Ausgabe von Vorzugsaktien, so ist das nur die adäquate Folge dieser
Entwertung. Zudem bedeutet die Ausübung des Bezugsrechtes bei schlechter Finanzlage für den
Aktionär eher ein Opfer, eine Art von (riskantem) Nachschuß gleich wie die Zuzahlung (Fall 6).
Folglich wiegt auch der Ausschluß des Bezugsrechtes nicht so schwer, sofern wenigstens durch ihn
erreicht werden kann, daß Dritte neues Kapital bereitstellen und daß sich der drohende gänzliche
Verlust des alten Kapitals ohne neuen Kapitaleinsatz der bisherigen Aktionäre vermeiden läßt. [84]
Die Hauptentscheidung, die bei schlechter Finanzlage zu fällen ist, betrifft also nicht die
Beibehaltung oder den Ausschluß des Bezugsrechtes, sondern die Frage, ob überhaupt der Weg der
Sanierung durch Ausgabe von Vorzugsaktien beschritten werden soll. Das spricht dafür, daß Art.
655 ohne Unterschied für beide Varianten gilt: Die Belassung des Bezugsrechtes bildet keinen
Grund, Art. 655 nicht anzuwenden. Umgekehrt erlaubt diese Anwendung nicht nur die Ausgabe der
Vorzugsaktien, sondern auch den Ausschluß des Bezugsrechtes.
Die letztere Feststellung zeigt den positiven Sinn des Art. 655: Der Gesetzgeber wollte zwar die
Ausgabe von Vorzugsaktien im Interesse der Aktionärminderheit verfahrensmäßig etwas
erschweren 8, sonst aber die freie Entscheidung der Mehrheit nicht beschränken, auch nicht für den
Ausschluß des Bezugsrechtes. Wenn im Einzelfall Art. 655 beachtet wird, so hat sich daher der
Richter nicht auf die (Zweckmäßigkeits-)Frage einzulassen, ob die Ausgabe von Vorzugsaktien und

7
    Vgl. Prot. Expertenkommission 225 ff.; Sten.Bull. Nationalrat, 1934, 276. Auch im zeitgenössischen Schrifttum
    stand der Fall der Sanierung im Vordergrund: Kägi, Die Prioritätsaktien ... Diss. Zürich 1918, 10 f. und 70 f.;
    Sprenger, Die Prioritätsaktien ... Diss. Zürich 1932, 78 f.
8
    Eine übermäßige Erschwerung sollte vermieden werden; Prot. Expertenkommission 230.
4

der Ausschluß des Bezugsrechtes geboten war. Einzig der Fall des offenbaren Rechtsmißbrauchs
(Art. 2 Abs. 2 ZGB) ist vorzubehalten. Das gilt meines Erachtens selbst dann, wenn nur einzelne,
nicht alle Aktionäre vom Bezugsrecht ausgeschlossen werden und somit auch noch der Grundsatz
der Gleichbehandlung aller Aktionäre in Frage steht. Somit hat die Verfahrensvorschrift des Art.
655 materiellrechtliche Bedeutung: Was die Mehrheit, bei qualifizierter Anwesenheit, entscheidet,
ist unanfechtbar, es sei denn, daß willkürlich entschieden wurde 9.
Die Sanierung bildet aber nicht den einzig möglichen Beweggrund für die Ausgabe von
Vorzugsaktien. Auch bei günstiger Finanzlage kann hiezu Anlaß bestehen, so etwa, wenn sich eine
Gesellschaft "billiges" Grundkapital in der Weise beschaffen will, daß sie den neuen Aktien ein
attraktives Dividendenvorrecht [85] einräumt, zugleich aber jeden weitern Dividendenanspruch
versagt 10. In einem solchen Fall liegen unsere beiden Varianten interessemäßig weit auseinander.
Für einen Ausschluß des Bezugsrechtes besteht dann in der Regel kaum ein sachlicher Grund, so
daß die Einhaltung des (an sich milden) Art. 655 keine rechtfertigende Wirkung haben kann. Wird
umgekehrt das Bezugsrecht belassen, so ist der gesetzgeberische Grund des Art. 655 stark
abgeschwächt. Aber er ist immerhin nicht ganz aufgehoben. Denn schon eine gewöhnliche
Kapitalerhöhung beschwert den bisherigen Aktionär insofern, als dieser, um die relative Größe
seiner Beteiligung zu wahren, neue Mittel einsetzen muß. Das stellt für einen Aktionär, der in
seinen Dispositionsmöglichkeiten beschränkt ist, auch bei günstiger Lage der Gesellschaft einen
Nachteil dar, weshalb früher sogar die Frage aufgeworfen (wenn auch verneint) wurde, ob sich ein
Aktionär auch nur eine gewöhnliche Kapitalerhöhung (mit Bezugsrecht) gefallen lassen müsse
(BGE 26 II 425 und 432). Dieser Nachteil wirkt sich nun noch etwas stärker aus, wenn die neuen
Aktien mit einem Vorzugsrecht ausgestattet sind, so daß hier ein (bescheidener) Grund für die
Anwendung des Art. 655 bestehen bleibt.
Fall 2: Gleich wie Fall 1. Aber das neue Kapital wird ausschließlich durch Umwandlung von
Forderungen gegen die Gesellschaft in Aktien aufgebracht (Tatbestand von BGE 51 II 412).
Zum Unterschied von Fall 1 werden hier der Gesellschaft keine neuen Mittel zugeführt. Wohl aber
wird ihre Finanzlage ebenfalls verbessert, und zwar durch (Verzicht-)Leistungen der neuen
Aktionäre. Art. 655 ist ohne Zweifel anwendbar. Der Ausschluß des Bezugsrechtes versteht sich
hier von selbst.
Fall 3: Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln. Die neuen (Gratis-)Aktien sind Vorzugsaktien.
Werden in diesem (seltenen) Fall die neuen Aktien den bisherigen Aktionären im Verhältnis ihres
Aktienbesitzes zugeteilt, so fehlt jeder Grund für die Anwendung von Art. 655, obwohl der
Tatbestand dem Wortlaut dieser Bestimmung ("Ausgabe") entspricht. Werden umgekehrt die
Gratisaktien Dritten zugewiesen – wozu [86] allerdings kaum jemals Anlaß besteht 11 –, so vermag
die Anwendung von Art. 655 eine solche einschneidende Maßnahme für sich allein nicht zu
rechtfertigen. Im Fall 3 zeigt sich somit die vom Gesetz vernachlässigte Unterscheidung –
Belassung oder Ausschluß des Bezugsrechtes – in ihrer vollen Schärfe.
Fall 4: Gewöhnliche Kapitalerhöhung. Die bisherigen Aktien werden in Vorzugsaktien
umgewandelt.
Durch dieses Vorgehen kann eine Gesellschaft bei sehr guter Finanzlage gleichzeitig ihre
Kapitalbasis verbreitern und die Stellung der bisherigen Aktionäre festigen 12. Die Vorzugsaktien
werden hier nicht "ausgegeben", sondern durch Umwandlung geschaffen. Ein Grund, Art. 655
trotzdem anzuwenden, in ausdehnender Auslegung des Wortlautes, liegt nicht vor. Denn die
bisherigen Aktionäre werden ja besser gestellt, bedürfen also keines besondern Schutzes, und zwar

9
     In diesem Sinn sind die an sich zutreffenden Darlegungen von Spieß (Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung
     der Aktionäre, Diss. Zürich 1941, 89 ff.) und Ott (Das Bezugsrecht der Aktionäre, Diss. Zürich 1962, 65 ff.)
     abzuschwächen.
10
     Vgl. Sprenger, a.a.O., S. 79 f.
11
     Vgl. immerhin Ott, a.a.O., S. 74 f.
12
     Kägi, a.a.O., S. 82.
5

ohne Rücksicht darauf, ob sie ein Bezugsrecht auf die neuen (nicht bevorzugten) Aktien haben oder
nicht.
Fall 5: Keine Kapitalerhöhung. Zerlegung aller bisherigen Aktien gemäß Art. 623 Abs. 1 und so,
daß jede Aktie in eine Vorzugs- und in eine gewöhnliche Aktie zerfällt.
Auch hier werden die Vorzugsaktien durch Umwandlung, nicht durch Ausgabe geschaffen.
Wiederum besteht kein sachlicher Grund zur ausdehnenden Auslegung von Art. 655. Nicht
durchschlagend wäre die folgende Erwägung: Die Schaffung von zwei verschieden berechtigten
Aktiengattungen rechtfertigt für sich allein eine qualifizierte Beschlußfassung im Sinne von Art.
655 (und Art. 649), auch dann, wenn kein bisheriger Aktionär in seiner persönlichen Rechtsstellung
beeinträchtigt wird; denn die Einheitlichkeit des Aktienkapitals bildet die Regel, der Bestand
verschiedener Aktiengattungen die eher verpönte Ausnahme. Diese Erwägung wird weder durch
den Wortlaut von Art. 655 noch durch die Gesetzesmaterialien gestützt. Auch vermag sie die
Gleichstellung unseres Falles mit den Tatbeständen des Art. 649 nicht ausreichend zu begründen,
da der Gesetzgeber alle diese [87] Tatbestände einzig unter dem Gesichtspunkt der (relativ)
wohlerworbenen Rechte ausgewählt hat und hiebei eher zu weit gegangen ist 13.
Fall 6: Keine Kapitalerhöhung. Bisherige Aktien, für die der Aktionär eine von der Gesellschaft
festgesetzte Zuzahlung leistet, werden in Vorzugsaktien umgewandelt.
Das ist der Fall der "Zuzahlungssanierung" 14, der wirtschaftlich der Sanierung durch Ausgabe
neuer Vorzugsaktien nahekommt. Die Rechtslage ist eigentümlich:
Einmal frägt es sich, ob diese Art der Schaffung von Vorzugsaktien überhaupt zulässig ist. Zwar ist
die Umwandlung an sich bedenkenfrei, sofern sie sich wenigstens in einem kurzen Zeitraum
abspielt und die Zahl der umgewandelten Aktien in den Statuten festgehalten wird (Art. 626 Ziff.
3). Zweifelhaft ist dagegen, ob es zulässig ist, die Rechtsstellung der Aktionäre, welche keine
Zuzahlung leisten, dadurch zu verschlechtern, daß ihnen keine Vorzugsrechte eingeräumt werden.
Dem Gesetzgeber war das Problem bekannt. Er hat es erörtert, schließlich aber doch nicht gelöst.
Mit der herrschenden Ansicht ist anzunehmen, die Zuzahlungssanierung sei nicht schlechthin
unzulässig 15. Es wäre widersinnig, wenn das Gesetz die Umwandlung bisheriger Aktien in
Vorzugsaktien ausdrücklich gestatten, aber den zur Zeit des Gesetzeserlasses praktisch wichtigsten
Fall einer Umwandlung verbieten würde.
Ist aber die Zuzahlungssanierung zulässig, so muß der Beschluß, der sie vorsieht, dem Art. 655
unterstellt sein, trotzdem Art. 655 die Umwandlung nicht erwähnt. Denn der Aktionär, der nicht
zuzahlen will, ist gleich gefährdet wie ein Aktionär, der keine neue Vorzugsaktie zeichnet 16. Somit
ist Art. 655 zu eng gefaßt, denn er sollte auch den Hauptfall der Umwandlung erwähnen. Er wäre
[88] aber umgekehrt zu weit gefaßt, wenn er die Umwandlung ohne Einschränkung erwähnen
würde. Denn in den übrigen, allerdings weniger wichtigen Fällen der Umwandlung (Fälle 4 und 5)
hätte diese Anwendbarkeit keinen Sinn.
Bleibt die Frage, ob es bei Einhaltung des Art. 655 gestattet ist, einzelnen Aktionären das Recht der
Umwandlung (gegen Zuzahlung) zu verweigern. Das ist zu verneinen. Die Rechtslage ist nicht
gleich wie bei der Ausgabe von Vorzugsaktien unter Ausschluß des Bezugsrechtes (für alle oder für
einzelne Aktionäre): Wenn eine Gesellschaft den Weg der Zuzahlungssanierung wählt, so wendet
sie sich ausschließlich an die Aktionäre, und in deren Eigenschaft als Aktionäre. Daher drängt sich
die Gleichbehandlung gebieterisch auf. Die von Carry getroffene Unterscheidung (hievor Anm. 2)
trifft somit auch für das geltende Recht zu.
Fall 7: Herabsetzung des Grundkapitals zum Zwecke der Sanierung, verbunden mit der Ausgabe

13
     Botschaft 1928, 27 f.; Geilinger, Die erschwerten Beschlüsse der Generalversammlung ..., Diss. Zürich 1948, 66.
14
     Kägi, a.a.O., S. 93 ff.
15
     Vgl. die Angaben über Materialien und Schrifttum bei Naegeli, Der Grundsatz der beschränkten Beitragspflicht ...,
     Diss. Zürich 1948, 155 ff. und Degiacomi, Die Grundlagenveränderung bei der Sanierung ..., Diss. Zürich 1958, 41
     ff.
16
     Gl. M. Wirz, Die Vereinheitlichung des Aktienkapitals, Diss. Bern 1956, 42.
6

neuer Aktien bis (mindestens) zur Höhe des alten Kapitals (Art. 732 Abs. 1).
Sind die neuen Aktien mit einem Vorzugsrecht ausgestattet (z. B. mit einem Dividendenvorrecht),
so ist Art. 655 zweifellos anwendbar. Denn die bisherigen Aktionäre werden rechtlich noch
schlechter gestellt als im Fall 1: Sie müssen nicht nur Aktien einer besser berechtigten Gattung
neben sich dulden, sondern die relative Größe ihrer Beteiligung wird auch noch wegen der
Herabsetzung des alten Grundkapitals vermindert.
Wie aber, wenn die neuen Aktien nicht mit einem Vorrecht ausgestattet werden (Tatbestand von
BGE 86 II 78)? In diesem Fall entsteht keine Privilegierung in dem Sinne, daß es fortan zwei
verschieden berechtigte Aktiengattungen gibt. Gleichwohl sind die neuen Aktien privilegiert. Denn
die alten Aktien werden eben "abgeschrieben" (ganz oder teilweise), was bedeutet, daß sich die
relative Größe ihrer Beteiligung vermindert, meistens sogar in einem viel stärkeren Maße, als wenn
eine gewöhnliche Kapitalerhöhung (unter Aufrechterhaltung des Nennwertes der alten Aktien)
durchgeführt wird. Somit besteht grundsätzlich dieselbe Interessenlage wie bei der Ausgabe von
Vorzugsaktien (zum Zwecke der Sanierung, Fall 1) und bei der Zuzahlungssanierung (Fall 6).
Sachlich wäre die Anwendung des Art. 655 ebenso [89] angemessen wie in diesen Fällen. Da aber
die Bevorzugung nicht durch Schaffung einer besondern Aktiengattung erreicht wird, liegt unser
Fall terminologisch und systematisch so abseits vom Grundfall des Art. 655 (hievor Fall 1), daß die
Anwendung des Art. 655 auf ihn nicht als dem Sinn des Gesetzes entsprechend bezeichnet werden
kann. Die Gleichheit der Interessenlage rechtfertigt eben nicht unter allen Umständen eine gleiche
rechtliche Behandlung. Der Wortlaut hat ein Eigengewicht. Es liegt somit eine Disharmonie des
Gesetzes vor, die mit Rücksicht auf den Wortlaut (und folglich auf die Rechtssicherheit) in Kauf
genommen werden muß 17.
Hier sei eine Bemerkung zu BGE 86 II 78 eingeflochten: Wie in diesem Urteil entschieden wurde,
behalten die "abgeschriebenen" Aktien mindestens eine Stimme, jedenfalls dann, wenn die alten
Aktionäre nicht nach Maßgabe ihres Aktienbesitzes neue Aktien übernehmen. Daraus folgt aber
zwingend, daß die relative Größe dieses Stimmrechtes (wie auch des Dividendenanspruchs und der
weitern Rechte) festgesetzt werden muß. Sonst ist nicht einmal die relative Größe des Stimmrechtes
der neuen Aktien (im Verhältnis zu den abgeschriebenen) bestimmt. Diese Bestimmung kann nur
dadurch vorgenommen werden, daß ein (minimaler) Nennwert der abgeschriebenen Aktien
festgesetzt wird. Geschieht das nicht, so sind die Stimmrechtsverhältnisse überhaupt nicht geregelt.
Das hat das Bundesgericht übersehen. Nach dem geltenden Nennwertsystem kann es keine
nennwertlosen Aktien geben 18.

                                                        III

Soweit sich Art. 648 Abs. 1 auf Stimmrechtsaktien bezieht, unterscheidet er sich hinsichtlich seines
Anwendungsbereichs zweifach von Art. 655:
Einmal nimmt eine Sondervorschrift, Art. 692 Abs. 3, einen Anwendungsfall aus: Wird das
Grundkapital herabgesetzt und [90] durch neues Kapital ersetzt, so kann für die alten Aktien trotz
des herabgesetzten Nennwertes das dem ursprünglichen Nennwert entsprechende Stimmrecht
beibehalten werden. Diese Privilegierung ist eben nur scheinbar. In Wirklichkeit wird durch sie nur
darauf verzichtet, die neuen Aktien bezüglich des Stimmrechtes mittelbar zu privilegieren (vgl.
hievor II, Fall 7). Daher bedarf es keines qualifizierten Mehrs im Sinne von Art. 648 Abs. 1. Es
genügt das für Statutenänderungen erforderliche Mehr 19.
Sodann verwendet Art. 648 Abs. 1 die Ausdrücke "Ausgabe" und "Umwandlung" nicht – der erste

17
     Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Einleitungsband, N. 200 f. zu Art. 1 ZGB.
18
     Es war daher folgerichtig, daß der Gesetzgeber die im Entwurf 1928 (Art. 745) noch vorgesehenen "Genußaktien",
     "die nicht auf bestimmte Teilsummen des Grundkapitals lauten", schließlich abgelehnt hat.
19
     Bürgi N. 48 zu Art. 692.
7

Ausdruck erscheint allerdings in Art. 627 Ziff. 10 –, sondern spricht allgemein von "Einführung",
womit unterschiedslos die Ausgabe neuer und die Umwandlung bisheriger Aktien gemeint sein
kann. Auch hier ist jedoch der Wortlaut kritisch zu prüfen. Hiebei kommt es zunächst auf den
allgemeinen Zweck der Bestimmung – Schutz der bisherigen Aktionäre (hievor I) – und, im
Rahmen dieses Zweckes, wiederum darauf an, was für ein Tatbestand dem Gesetzgeber bei Erlaß
des Art. 648 Abs. 1 vorgeschwebt hat.
Bekanntlich wurde die Stimmrechtsaktie erst im Verlauf der parlamentarischen Beratung
zugelassen, und zwar nur unter den Kautelen von Art. 693 (für welche übrigens Prof. Carry die
ersten Anregungen gegeben hatte 20). Dem Gesetzgeber ging es einzig darum, den Gesellschaften
ein wirksames Mittel gegen die Überfremdungsgefahr in die Hand zu geben. Daher wollte er ihnen
gestatten, neben ihren bisherigen Aktien neue, im Stimmrecht bevorzugte Aktien von kleinerem
Nennwert zu schaffen. Das war das Vorgehen, das einige bedeutende Gesellschaften in den Jahren
vor der parlamentarischen Beratung angewendet hatten 21. Dem Gesetzgeber stand nur dieser Fall
vor Augen 22, während die Möglichkeit, bisherige Aktien in Stimmrechtsaktien umzuwandeln, nie
erwähnt wurde und offenbar ganz ferne lag 23.
[91] In der Tat stellt die Ausgabe neuer Aktien als Stimmrechtsaktien den Hauptfall dar, in dem
sich die strenge (und zwingende) Norm des Art. 648 Abs. 1 innerlich rechtfertigt. Ganz anders
verhält es sich dann, wenn eine Gesellschaft ihre bisherigen Aktien ganz oder teilweise in
Stimmrechtsaktien umwandelt und hiebei sowohl alle Aktionäre gleich behandelt als auch die
Erfordernisse des Art. 693 einhält (welch letztere natürlich auch bei der Umwandlung gelten, so gut
wie bei der Gründung 24). Hieher gehören die folgenden Fälle: 1. Alle bisherigen Aktien werden
zerlegt (Art. 623 Abs. 1) in Aktien von verschiedenem Nennwert, aber gleicher Stimmkraft. 2.
Durch gewöhnliche Kapitalerhöhung werden neue Aktien ausgegeben, die einen höhern Nennwert,
aber das gleiche Stimmrecht haben wie die bisherigen Aktien; letztere werden dadurch zu
Stimmrechtsaktien. 3. Bei einer Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln werden die neuen Aktien
den bisherigen Aktionären nach Verhältnis ihres Aktienbesitzes zugewiesen und als
Stimmrechtsaktien ausgestaltet. In allen diesen Fällen bleibt die Stimmkraft sämtlicher bisheriger
Aktionäre voll gewahrt. Zu einem Schutz dieser Aktionäre (genau: einer Minderheit gegenüber
einer Mehrheit ebenfalls bisheriger Aktionäre) besteht daher nicht der geringste Anlaß. Ein
Aktionär, der sich gleichwohl gegen eine solche Umwandlung wendet, kann sich nicht darauf
berufen, daß sich seine persönliche Rechtsstellung verschlechtern würde, sondern er muß die
Schaffung von zwei Aktiengattungen mit verschieden starker Stimmkraft an sich angreifen. Dieses
unpersönliche, lediglich auf allgemeine Erwägungen gegründete Argument hat jedoch mit dem
Minderheitenschutz im Sinne von Art. 648 Abs. 1, der nur den Schutz persönlicher
Rechtsstellungen, der wohlerworbenen Rechte, erstrebt 25, nichts zu tun.
Somit ist der Ausdruck "Einführung" in Art. 648 Abs. 1 zu weit. Er bezieht sich grundsätzlich nur
auf die Ausgabe neuer Aktien als Stimmrechtsaktien. Aber doch nicht ausnahmslos. Werden
nämlich bestehende Aktien nicht gleichmäßig in [92] Stimmrechtsaktien umgewandelt, so gilt Art.
648 Abs. 1 auch für diese Umwandlungen, z. B. dann, wenn nur ein Teil der Aktien zerlegt und
teilweise in Stimmrechtsaktien umgewandelt wird 26 oder wenn verschiedene Aktiengattungen
anderer Art (Stamm- und Vorzugsaktien) bestehen und nur die Aktien der einen Gattung in
Stimmrechtsaktien umgewandelt werden 27. Auf solche Fälle bezieht sich wohl die nicht näher

20
     Carry, SJZ 1930/31, 23 ff.
21
     Janggen, SJZ 1929/30, 195 f.; Carry, Semaine judiciaire 1933, 448; Zimmermann, Stimmrechtsaktien und ähnliche
     Gebilde, Zürich 1951, 11 ff.; Sten.Bull. Ständerat 1931, 408.
22
     Vgl. etwa Sten.Bull. Nationalrat 1934, 306.
23
     So schon Biber a.a.O., 106 Anm. 157.
24
     Art. 693 wurde mit Absicht so gefaßt, daß er auch auf Stimmrechtsaktien zutrifft, die bei der Gründung geschaffen
     werden (Protokoll der nationalrätlichen Kommission, VII. Session S. 24).
25
     Botschaft 1928, 27 f.
26
     Vgl. das Beispiel von Guhl, Das schweizerische Obligationenrecht, 5. Aufl. Zürich 1956, 524.
27
     Vgl. das Beispiel bei Biber, a.a.O., S. 106 f.
8

begründete Ansicht, daß Art. 648 Abs. 1 auch bei Umwandlungen gelte 28.
Bei der Ausgabe neuer Aktien als Stimmrechtsaktien sind, wie bei den Vorzugsaktien (hievor II,
Fall 1), wiederum zwei Varianten zu unterscheiden: Entweder haben alle bisherigen Aktionäre ein
proportionales Recht auf Bezug der neuen Aktien oder dieses Bezugsrecht wird ausgeschlossen, in
der Weise, daß nur die der Verwaltung genehmen Aktionäre Stimmrechtsaktien erhalten können.
Im ersten Fall liegt die im Schrifttum hervorgehobene "Schwere des Eingriffes" in die
Rechtsstellung der bisherigen Aktionäre 29 gar nicht vor. Ein Nachteil liegt einzig darin, daß der
Aktionär, um eine erhebliche Schwächung der relativen Größe seiner Stimmkraft zu vermeiden,
neue Mittel (durch Zeichnung von Stimmrechtsaktien) einsetzen muß. Nur im zweiten Falle kann
von einer "Schwere des Eingriffs" gesprochen werden.
Bei der Gesetzesberatung wurden jedoch die beiden Varianten nicht unterschieden 30. Daher wurde
auch nie festgehalten, daß die viel besprochene Gefahr für die bisherigen Aktionäre nicht so sehr in
der nachträglichen Ausgabe von Stimmrechtsaktien als vielmehr im Ausschluß des Bezugsrechtes
liege. Dem gesetzgeberischen [93] Zweck hätte es am besten entsprochen, wenn das Gesetz das
qualifizierte Mehr des Art. 648 Abs. 1 einzig bei Ausschluß des Bezugsrechtes und in den weitern,
hievor erwähnten Fällen ungleicher Behandlung der bisherigen Aktionäre gefordert hätte.
Der Grund für die mangelnde "Treffsicherheit" des Gesetzgebers liegt wohl darin, daß sich für ihn
der Ausschluß des Bezugsrechtes im Fall der nachträglichen Schaffung von Stimmrechtsaktien
(durch Ausgabe neuer Aktien) von selbst verstand. Denn das alte Recht kannte kein gesetzliches
Bezugsrecht. Ein solches Recht war von der herrschenden Meinung auch für den Fall der Ausgabe
von Vorzugs-, insbesondere von Stimmrechtsaktien abgelehnt worden 31. Zudem ließ sich der
Zweck der Ausgabe von Stimmrechtsaktien – die Verhinderung einer drohenden Überfremdung –
gerade in den kritischen Fällen nur dann vermeiden, wenn die Verwaltung die Stimmrechtsaktien
ausschließlich den zuverlässigen Aktionären zuteilen konnte. Die dem Gesetzgeber bekannten
Stimmrechtsaktien waren denn auch fast ausschließlich auf diese Weise geschaffen worden. Aus
diesen Feststellungen folgt zweierlei:
Einerseits dient die qualifizierte Mehrheit des Art. 648 Abs. 1 dazu, nicht nur die Ausgabe von
Stimmrechtsaktien, sondern auch den Ausschluß des Bezugsrechtes zu rechtfertigen (vgl. hievor II,
Fall 1): Wenn sich eine so starke Mehrheit für Ausgabe und Ausschluß findet, so ist anzunehmen,
daß die Maßnahme sachlich begründet ist. Der Richter hat sich in einem Anfechtungsprozeß nicht
auf die Frage einzulassen, ob die Maßnahme geboten oder wenigstens zweckmäßig war.
Vorzubehalten ist wiederum einzig der offenbare Rechtsmißbrauch, der namentlich dann vorliegt,
wenn die Einführung der Stimmrechtsaktien eine "durch den Gesellschaftszweck nicht erforderte
offenbare Schädigung der Interessen von Aktionären mit sich bringt". Art. 706 Abs. 2, dem diese
Formel entnommen ist, sagt somit nichts, was nicht schon aus dem in Abs. 1 von Art. 706
enthaltenen Vorbehalt von Art. 2 ZGB folgt (BGE 69 II 249) und ohnehin für jeden Fall eines
Ausschlusses vom Bezugsrecht gilt.
[94] Anderseits muß die Frage, ob die schwerwiegende Beschränkung des Art. 648 Abs. 1 auch
dann gelten soll, wenn das Bezugsrecht voll gewahrt ist, bejaht werden, da immerhin der erwähnte,
gegenüber der gewöhnlichen Kapitalerhöhung verstärkte Nachteil eintritt (vgl. auch hievor II, Fall
1) und da der zu allgemeine Wortlaut nicht ohne Not ein zweites Mal eingeengt werden darf.
Die Vorschriften von Art. 648 Abs. 1 (qualifiziertes Mehr) und von Art. 655 (qualifizierte

28
     Siegwart N. 10 zu Art. 648 und Bürgi N. 27 zu Art. 693.
29
     Geilinger, a.a.O., S. 108.
30
     Immerhin hat sich die nationalrätliche Kommission mit der Frage befaßt (VII. Session S. 20 ff.). Sie lehnte den
     Vorschlag des Justizdepartementes, "bei Ausgabe von Stimmrechtsaktien den bisherigen Aktionären das
     Bezugsrecht wenigstens für die Hälfte der neu auszugebenden Aktien" zu gewähren, ab, da sonst "die
     Abwehrfunktion der Stimmrechtsaktie gegen die Überfremdung" in Frage gestellt werde. Im Plenum beider Räte
     kam das Bezugsrecht nicht zur Sprache.
31
     Bachmann, Anm. 8 zu Art. 640 aOR; Blenk, Les actions à vote privilégié, Diss. Genève 1931, 46; Carry, Semaine
     judiciaire 1933, 448.
9

Anwesenheit) schließen einander inhaltlich nicht aus. Das ist jedoch kein Grund, die Ausgabe von
Stimmrechtsaktien auch noch dem Art. 655 zu unterstellen. Denn obwohl Stimmrechtsaktien in
einer weitern, früher üblichen Bedeutung auch "Vorzugsaktien" sind, so hat doch das Gesetz den
Sinn dieses Ausdruckes auf Aktien beschränkt, welche die in Art. 656 Abs. 2 aufgezählten
Vorrechte vermitteln; diese Aufzählung ist zwar nicht erschöpfend, bezeichnet aber abschließend
die Gattung der in Art. 654 ff. gemeinten Vorrechte, nämlich die Vermögensrechte, unter
Ausschluß der Mitverwaltungsrechte 32. Daraus folgt weiter, daß die Schaffung von
Stimmrechtsaktien insoweit, als auf sie Art. 648 Abs. 1 nicht anzuwenden ist, nicht etwa dem Art.
655 als subsidiärer Vorschrift untersteht.

                                                          IV

Art. 658 betrifft die "Ausstellung" ("émission") von Genußscheinen. Darunter ist eine
Statutenänderung zu verstehen, durch welche Genußscheinrechte neu begründet oder bestehende
erweitert werden.
Genußscheine können, rechtlich gesehen, nie Aktien ersetzen, sondern immer nur neben (bisherige)
Aktien treten. Daher ist "Ausstellung" stets "Ausgabe", was auch der französische Gesetzestext
erkennen läßt. Ein Tatbestand "Umwandlung" kann nicht vorkommen. Wirtschaftlich gesehen gibt
es aber eine "unechte" Umwandlung von Aktien in Genußscheine, nämlich den bei Sanierungen
häufigen Fall, daß das Grundkapital herabgesetzt [95] wird unter gleichzeitiger Ausstellung von
Genußscheinen zu Gunsten der bisherigen Aktionäre 33. Rechtlich liegt auch bei solchem Ersatz für
verminderte Aktionärrechte eine "Ausstellung" vor. Art. 658 ist daher anwendbar, zumal eine dem
Art. 692 Abs. 3 analoge Vorschrift fehlt. Die Rechtslage ist dann allerdings, in ihrer Gesamtheit
besehen, eigentümlich: Während zur Herabsetzung des Grundkapitals, mangels abweichender
Vorschrift der Statuten, ein gewöhnlicher Beschluß der Generalversammlung genügt, muß für eine
Maßnahme, welche die Rechtsfolgen der Herabsetzung mildert, ein qualifiziertes Verfahren
eingehalten werden.
Unter dem Gesichtspunkt des Zweckes – Schutz der Aktionäre – zeigt sich bei Art. 658 eine
ähnliche Schwierigkeit wie bei Art. 655 und Art. 648 Abs. 1: Dort war zu unterscheiden zwischen
Belassung und Ausschluß des gesetzlichen Bezugsrechtes. Bei der Ausstellung von Genußscheinen
lauten die entsprechenden Varianten wie folgt: Ausstellung zu Gunsten von Dritten oder einzelnen
Aktionären; Ausstellung zu Gunsten aller Aktionäre nach Maßgabe ihres Aktienbesitzes und ohne
Gegenleistung, etwa um den Aktionären zu ermöglichen, einen Teil ihrer Gewinnberechtigung
ohne Schwächung ihrer Stimmkraft zu veräußern. In den Gesetzesmaterialien wird diese
Unterscheidung nirgends erwähnt. Doch läßt schon der Wortlaut von Art. 657 Abs. 1 klar erkennen,
daß der Gesetzgeber Fälle beider Art im Auge hatte ("Gläubigeranspruch" einerseits,
"Aktienbesitz" anderseits) und sie unterschiedslos dem Art. 658 unterstellt hat. Daraus folgt
zweierlei:
Die qualifizierte Beschlußfassung gemäß Art. 658 bildet nach Ansicht des Gesetzgebers auch bei
Ausstellung von Genußscheinen zu Gunsten von Dritten oder von einzelnen Aktionären einen
grundsätzlich genügenden Schutz für die überstimmte Minderheit. Der Richter hat sich wiederum
nicht auf die Zweckmäßigkeitsfrage einzulassen, ob die Schmälerung der Aktionärrechte sachlich
geboten war. Einzig der offenbare Rechtsmißbrauch ist vorzubehalten. Diese Regelung befriedigt
aber – ähnlich wie im Falle der Vorzugsaktien (hievor II, Fall 1) – nur bei Ausstellung von [96]

32
     So die herrschende Meinung: Siegwart N. 12 zu Art. 654-56; Geilinger, a.a.O., S. 110; a. M. Roullet SAG 17, 148;
     vgl. auch Bericht 1923, 42. Aus der im Text gegebenen Begründung folgt, daß Art. 654 Abs. 3 und Art. 655 auf die
     Beseitigung der Stimmrechtsvorzüge höchstens analog anwendbar sind.
33
     Dufour, Le régime juridique des bons de jouissance ..., Diss. Genève 1936, 20; Broillet, Der Genußschein ..., Diss.
     Zürich 1950, 11.
10

Genußscheinen zu Sanierungszwecken, nämlich dann, wenn Gläubiger mit Genußscheinen
abgefunden werden, was die Finanzlage der Gesellschaft und mittelbar auch die Lage der Aktionäre
verbessert. Werden dagegen Genußscheine aus andern Gründen an Dritte oder einzelne Aktionäre
ausgegeben – mit oder ohne Leistung eines Entgeltes –, so kann dadurch die Rechtsstellung der
Aktionäre und die Kapitalstruktur der Gesellschaft so tiefgreifend verändert werden, daß das
Erfordernis der bloßen qualifizierten Präsenz zu milde ist und die Minderheit zu wenig schützt.
Auch Art. 658 ist somit einseitig auf die Interessenlage bei der Sanierung ausgerichtet (wie Art.
655, hievor II, Fall 1).
Die zweite Folge: Auch dann, wenn Genußscheine gleichmäßig und ohne Gegenleistung zu
Gunsten aller Aktionäre ausgestellt werden, gilt Art. 658. Das Wort "Aktienbesitz" läßt hierüber
keinen Zweifel. Insbesondere verbietet es dieses Wort, die vorhin erwähnte unechte Umwandlung
von Aktien in Genußscheine vom Anwendungsbereich des Art. 658 auszunehmen. Damit erhält
Art. 658 freilich einen Anwendungsbereich, der im Hinblick auf den Zweck (Schutz der Aktionäre)
zu weit ist. Denn die Ausstellung von Genußscheinen zu Gunsten aller Aktionäre greift in keiner
Weise in die Rechte der Aktionäre ein, ja es tritt nicht einmal jene Beschwernis ein, die bei der
Ausgabe neuer Aktien wegen des mittelbaren Zwangs zur Ausübung des Bezugsrechtes besteht
(hievor II, Fall 1). Für die Anwendbarkeit von Art. 658 läßt sich daher nur noch die allgemeine
(hievor II, Fall 5, abgelehnte) Erwägung anführen, daß jede Ausstellung von Genußscheinen die
Gewinnverhältnisse dauernd verändere und daß schon diese Änderung, für sich allein, einen
qualifizierten Beschluß rechtfertige. Aber selbst wenn man dieser Erwägung eine gewisse
Berechtigung zuerkennt 34, so stellt doch die unterschiedlose Gleichbehandlung von Fällen, die für
die Aktionäre von ganz verschiedener Tragweite sind, eine unzweckmäßige Regelung dar. Sie ist
aber [97] hinzunehmen, weil sich die Auslegung des Gesetzes nicht ausschließlich auf den
legislatorischen Zweck stützen darf und man sich mit Disharmonien, die durch den Wortlaut
gedeckt sind, abfinden muß 35. Das mag der Grund sein, warum im Schrifttum die Feststellung, daß
die Rechte der Aktionäre bei gleichmäßiger Ausstellung von Genußscheinen an sämtliche
Aktionäre nicht geschmälert werden, nicht verbunden wurde mit der Forderung, Art. 658 sei in
diesem Falle nicht anzuwenden 36.
Als Ergebnis ist festzuhalten: Die drei besprochenen Vorschriften weisen mit bezug auf die
Umschreibung ihres Anwendungsbereichs verborgene Mängel auf. Ihr Wortlaut ist ungenau, ihr
Inhalt zum Teil unzweckmäßig. Der Gesetzgeber hat einzig gewisse Tatbestände gesehen, andere
dagegen übersehen. Daher hat er namentlich den Zusammenhang seiner Regeln mit der Gestaltung
des Bezugsrechtes und mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Aktionäre nicht klargestellt.
Trotzdem ist die Regelung des geltenden Rechtes besser als das Fehlen jeder Regelung vor Erlaß
des revidierten Obligationenrechtes. Die erwähnten Mängel bezeugen einfach die Tücke jeder
Gesetzgebung: Je differenzierter das Gesetz ist, um so größer ist die Gefahr, daß die Regelung im
einzelnen doch unvollständig oder unzweckmäßig ist. Prof. Carry hat schon wenige Jahre nach der
Revision des Obligationenrechtes die zahlreichen "inadvertances", die hiebei unterlaufen sind,
hervorgehoben 37. Der Gesetzgeber ist eben mit seiner Arbeit nie zu Ende, und jedes Gesetz trägt
schon bei seinem Erlaß die Keime künftiger Revisionen in sich.

34
     Die Erwägung findet sich in den Materialien nirgends; im Bericht 1923, S. 43 heißt es sogar, daß die Ausstellung
     von Genußscheinen immer die Aktienrechte beeinträchtige; daß diese Beeinträchtigung gleichgültig ist, wenn die
     Genußscheine allen Aktionären zukommen, wurde anscheinend übersehen.
35
     Vgl. Anmerkung 17.
36
     Bürgi N. 20 zu Art. 660/661; Schluep, Die wohlerworbenen Rechte des Aktionärs ..., Diss. St. Gallen 1955, 58.
37
     SAG 18 (1945/46) 115.
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