STRAFRECHT - BESONDERER TEIL I - FREIHEITSDELIKTE (ART. 180-185 STGB) PROF. DR. IUR. GUNHILD GODENZI, LL.M., RA LEHRSTUHL FÜR STRAF- UND ...

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STRAFRECHT - BESONDERER TEIL I - FREIHEITSDELIKTE (ART. 180-185 STGB) PROF. DR. IUR. GUNHILD GODENZI, LL.M., RA LEHRSTUHL FÜR STRAF- UND ...
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Strafrecht – Besonderer Teil I

Freiheitsdelikte (Art. 180-185 StGB)
Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA
Lehrstuhl für Straf- und Strafprozessrecht

                                                         DONATSCH, § 50-55;
                                             STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, § 5
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Aufbau der Vorlesung BT I

    Tötungsdelikte (Art. 111-115, 117 StGB)
    Körperverletzungsdelikte (Art. 122, 123, 125, 126 StGB)
    Gefährdungsdelikte (Art. 127-129, 133, 134, 136 StGB)
    Ehrverletzungsdelikte (Art. 173-177 StGB)
    Freiheitsdelikte (Art. 180, 181, 183-185 StGB; Hinweis: Art. 181a [Zwangsheirat], 182
     [Menschenhandel] und 185bis StGB [Verschwindenlassen] werden in der Vorlesung nicht näher
     behandelt.)
    Hausfriedensbruch, Art. 186 StGB
    Sexualdelikte (Art. 187-193, 197, 200 StGB)
    Art. 260bis StGB (Strafbare Vorbereitungshandlungen)
    Art. 263 StGB (Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit)

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                   Folie 2
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Systematik der Freiheitsdelikte
  Art. 140 Ziff. 2-4              Art. 189 Abs. 3
                                                                      Qualifikation nach Art. 184
  Art. 156 Ziff. 2-4              Art. 190 Abs. 3

                                                                                                              Menschen-
                                       Sexuelle                                                                 handel
                                                                    Freiheits-           Entführung            (Art. 182)
        Raub                           Nötigung
  (Art. 140 Ziff. 1)                   (Art. 189)                  beraubung            (Art. 183 Ziff. 1
    Erpressung                  Vergewaltigung                   (Art. 183 Ziff. 1          Abs. 2)           Geiselnahme
                                                                     Abs. 1)                                   (Art. 185)
  (Art. 156 Ziff. 1)               (Art. 190)

                                                                                            Art. 285
                                                                                      (Beamtennötigung),       Drohung
                                                 Nötigung (Art. 181)                                           (Art. 180)
                                                                                     Art. 311 (Meuterei von
    Zwangsheirat                                                                       Gefangenen) u.a.
     (Art. 181a)
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Einstiegsfall: Drängeln im Gotthardtunnel

Manager M, Sportwagenfahrer, hat es wieder mal eilig. Im
Gotthardtunnel fährt er mehrmals auf einen vor ihm mit
korrekter Geschwindigkeit fahrenden Smart-Fahrer S auf
und fordert diesen mit optischen und akustischen
Warnsignalen dazu auf, schneller zu fahren.
S hat im Tunnel keine Ausweichmöglichkeit und erhöht
daher seine Geschwindigkeit auf übersetzte 130 km/h.

(vgl. SJZ 86 (1990) 329)

                                                                 Nötigung?

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Nötigung (Art. 181 StGB)                                            Art. 181 StGB: Nötigung
I. Tatbestand                                                       Wer jemanden durch Gewalt oder
                                                                    Androhung ernstlicher Nachteile oder
1. Objektiver Tatbestand
                                                                    durch andere Beschränkung seiner
      Gewaltanwendung
                                                                    Handlungsfreiheit nötigt, etwas zu tun, zu
       oder                                                         unterlassen oder zu dulden, wird mit
       Androhung ernstlicher Nachteile                              Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
       oder                                                         Geldstrafe bestraft.
       andere Beschränkung der Handlungsfreiheit (Generalklausel)
      das Opfer wird dadurch veranlasst «etwas zu tun, zu unterlassen oder zu
       dulden» (Nötigungserfolg)
       (= jedes kausal auf die Tathandlung rückführbare Verhalten des Opfers)
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
II. Rechtswidrigkeit
      Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen
      Spezifische Unrechtmässigkeit der Nötigung
III. Schuld
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«Gewalt»

1.    Ansicht (frühere Lehre):
      (zu) enge Auslegung = die unter Einsatz körperlicher Kraft
      vollzogene physische Einwirkung auf einen anderen

2.    Ansicht (Ausland):
      (zu) weite Auslegung = jede Zwangswirkung physischer oder auch
                                                                              ?
      rein psychischer Art (= sog. vergeistigter Gewaltbegriff)

3.    Ansicht (h.M.):
      physische Einwirkung auf den Körper eines anderen (unter
      Einbeziehung chemisch oder physikalisch wirkender Mittel),

     = Eingriff, der über die Physis wirkt und nicht bloss über die Psyche

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«Gewalt»

Problembereiche:

  Mindestmass der körperlichen Wirkung?

  Einbeziehung von physischer Einwirkung auf Sachen und/oder Dritte?

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«Androhung ernstlicher Nachteile»
 Androhung
     = Täter stellt dem Opfer ausdrücklich oder konkludent ein Übel in Aussicht, dessen Eintritt er als
       von seinem Willen abhängig hinstellt (= Abgrenzung zur blossen Warnung; BGE 106 IV 128)

          Beachte: Es kommt auf die Sicht des Opfers an; unbeachtlich ist, ob der Täter die Drohung
          wahrmachen will und/oder wahrmachen kann

 ernstliche Nachteile
     = «wenn ihre Androhung nach einem objektiven Massstab geeignet ist, auch eine besonnene
       Person in der Lage des Betroffenen gefügig zu machen und so seine freie Willensbildung und -
       betätigung zu beschränken» (BGE 122 IV 325)

          Beachte: Das Mass der Objektivierung bzw. einer Individualisierung ist umstritten

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Beispiele für die Androhung ernstlicher Nachteile

 Bekanntgabe ehewidriger Beziehungen des Opfers (BGE 81 IV 106)
 Androhung einer Strafverfolgung (BGE 120 IV 19)
 Androhung, den Fall dem «Kassensturz» zuzuspielen (BGE 106 IV 126)

 Nichtabschluss eines Vertrages: B. drohte Architekt, der im Hinblick auf
  einen geplanten Auftrag bereits erhebliche Aufwendungen getätigt hatte,
  den Vertrag nicht abzuschliessen, wenn er nicht eine Provision von
                                                                             Androhung
  Fr. 10 000.– erhalte (BGE 105 IV 122)
                                                                             einer
 Zurückbehalten von Prozessakten kurz vor Ablauf einer Frist (BGE 122 IV    Unterlassung
  322)
 Nichtrückgabe von Wärmepumpen kurz vor Beginn der Heizperiode (BGE
  115 IV 211)

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«andere Beschränkung der Handlungsfreiheit»
                                                                 Art. 156 E-StGB/1918
 Generalklausel                                                 Wer jemanden durch Gewalt oder
 problematisch im Hinblick auf Art. 1 StGB, daher               schwere Drohung, oder nachdem er ihn
  restriktiv auszulegen:                                         auf andere Weise zum Widerstand
                                                                 unfähig gemacht hat, nötigt, …
  Die Einwirkung muss «das üblicherweise geduldete               Klausel zielte ab auf: Hypnose,
  Mass an Beeinflussung in ähnlicher Weise eindeutig             Betäubung

  überschreiten, wie es für die vom Gesetz
                                                                 Art. 1 - Keine Sanktion ohne Gesetz
  ausdrücklich genannte Gewalt und die Androhung
                                                                 Eine Strafe oder Massnahme darf nur
  ernstlicher Nachteile gilt» (BGE 129 IV 264)
                                                                 wegen einer Tat verhängt werden, die
                                                                 das Gesetz ausdrücklich unter Strafe
  Beispiele: Stalking (BGE 129 IV 262), Blockaden                stellt.
  (BGE 119 IV 305; 129 IV 11; 134 IV 220), Anhalten
  auf der Autobahn (OGer SO RS 1991 Nr. 26),
  überlaute Musik (OGer ZH SJZ 1985, 26)
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Taterfolg

Das Opfer wird durch Gewalt, Androhung
ernstlicher Nachteile oder andere
                                                                          Nötigungsmittel
Beschränkung der Handlungsfähigkeit
veranlasst «etwas zu tun, zu unterlassen                            Täter                Opfer
oder zu dulden»                                                  (Nötigender)          (Genötigte)

= jedes kausal auf die Tathandlung
rückführbare Verhalten des Opfers                                               Tun

                                                                  schneller fahren     Dulden         Unterlassen
                                                                                                     Nicht-Halten
                                                                                 Blutabnahme zur
                                                                                                     einer
                                                                                 Feststellung
                                                                                                     geplanten
                                                                                 Fahrunfähigkeit
                                                                                                     Ansprache
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Nochmal: Drängeln im Gotthardtunnel

Manager M, Sportwagenfahrer, hat es wieder mal eilig. Im
Gotthardtunnel fährt er mehrmals auf einen vor ihm mit
korrekter Geschwindigkeit fahrenden Smart-Fahrer S auf
und fordert diesen mit optischen und akustischen
Warnsignalen dazu auf, schneller zu fahren.
S hat im Tunnel keine Ausweichmöglichkeit und erhöht
daher seine Geschwindigkeit auf übersetzte 130 km/h.

(vgl. SJZ 86 (1990) 329)

                                                                 Nötigung?

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Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung

1. Schritt: (–), wenn das Verhalten des Täters durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt
            ist

2. Schritt: (–), wenn es sich nicht um eine verwerfliche Nötigung handelt (dies ist im
            Gutachten im Einzelnen darzulegen!)

BGer-Formel:

 «Wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist oder wenn das Mittel zum erstrebten Zweck
 nicht im richtigen Verhältnis steht oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich
 zulässigen Mittel und einem erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist.»
 (BGE 129 IV 264)

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Übersicht Rechtswidrigkeit der Nötigung

                           Zweck ist nicht erlaubt               Zweck ist erlaubt

  Mittel ist nicht         Verhalten ist stets als
                                                                 in der Regel rechtswidrig (1)
  erlaubt                  rechtswidrig einzustufen

  Mittel ist erlaubt       in der Regel rechtswidrig (2)         nur ausnahmsweise rechtswidrig (3)

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Übersicht Rechtswidrigkeit der Nötigung

Bemerkungen:

     (1) Mittel nicht erlaubt + Zweck erlaubt: Die Unzulässigkeit des Mittels kann im Ausnahmefall
      durch den verfolgten Zweck «geheilt» werden.
     (2) Mittel erlaubt + Zweck nicht erlaubt: Die Verwendung eines für sich gesehen zulässigen
      Mittels ist dann nicht als rechtswidrig einzustufen, wenn der Täter (der einen nicht erlaubten
      Zweck verfolgt) einen vorrangigen Anspruch darauf hat, die Handlung vorzunehmen (in diesen
      Fällen wird aber meist bereits ein Rechtfertigungsgrund eingreifen).
     (3) Mittel erlaubt + Zweck erlaubt: Rechtswidrigkeit ist ausnahmsweise dann anzunehmen,
      wenn Mittel und Zweck zwar je für sich gesehen nicht zu beanstanden sind, wohl aber die
      Verknüpfung von Zweck und Mittel unverhältnismässig, rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig
      ist.

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                 Folie 15
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Fallbeispiel: Ertappt
                                                                 Art. 181 StGB
A begibt sich zu seinem Fahrrad, um nach Hause zu                I. Tatbestand
fahren. Als er noch wenige Meter davon entfernt ist,             1. Objektiver Tatbestand
                                                                        Gewaltanwendung
sieht er, wie T das Sicherheitsschloss aufbricht und                     oder
eben im Begriff ist, sich mit dem Fahrrad davon zu                       Androhung ernstlicher Nachteile
                                                                         oder
machen. A bekommt T am Ellbogen zu fassen, sodass
                                                                         andere Beschränkung der Handlungsfreiheit
dieser nicht wegfahren kann. A sagt zu T: «Wenn Du                       (Generalklausel)
das Fahrrad nicht sofort zurückgibst, werde ich dich                    das Opfer wird dadurch veranlasst «etwas zu
                                                                          tun, zu unterlassen oder zu dulden»
bei der Polizei wegen Diebstahls anzeigen.»
                                                                          (Nötigungserfolg)
Strafbarkeit von A?                                                       (= jedes kausal auf die Tathandlung
                                                                          rückführbare Verhalten des Opfers)
Abwandlung: A sieht T wegfahren. Er bekommt seine                2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
                                                                 II. Rechtswidrigkeit
Rufnummer heraus und verlangt am nächsten Tag
                                                                        Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen
telefonisch die Rückgabe, andernfalls erfolge eine                      Spezifische Unrechtmässigkeit der Nötigung
Anzeige.                                                         III. Schuld
FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                              Folie 16
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Fallbeispiel: Montagsauto                                        Hinweise zur Rechtswidrigkeit der Nötigung:

                                                                 (1) Mittel nicht erlaubt + Zweck erlaubt: Die
A hat bei X einen gebrauchten Sportwagen
                                                                 Unzulässigkeit des Mittels kann im Ausnahmefall
erworben. Als dieser nach kurzer Zeit mit einem                  durch den verfolgten Zweck «geheilt» werden.
Motorschaden liegen bleibt, ruft A bei X an und
                                                                 (2) Mittel erlaubt + Zweck nicht erlaubt: Die
stellt diesen vor die Wahl: Entweder er erhalte im               Verwendung eines für sich gesehen zulässigen
Austausch gegen den Wagen sein Geld zurück                       Mittels ist dann nicht als rechtswidrig einzustufen,
                                                                 wenn der Täter (der einen nicht erlaubten Zweck
oder er werde den X wegen Betruges anzeigen.                     verfolgt) einen vorrangigen Anspruch darauf hat, die
                                                                 Handlung vorzunehmen (in diesen Fällen wird aber
                                                                 meist bereits ein Rechtfertigungsgrund eingreifen).
                                                                 (3) Mittel erlaubt + Zweck erlaubt: Rechtswidrigkeit
                                                                 ist ausnahmsweise dann anzunehmen, wenn Mittel
                                                                 und Zweck zwar je für sich gesehen nicht zu
                                                                 beanstanden sind, wohl aber die Verknüpfung von
                                                                 Zweck und Mittel unverhältnismässig,
                                                                 rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist.

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                 Folie 17
Rechtswissenschaftliche Fakultät

                                                                 Hinweise zur Rechtswidrigkeit der Nötigung:
Fallbeispiel: Montagsauto (Abw.)
                                                                 (1) Mittel nicht erlaubt + Zweck erlaubt: Die
A droht damit, sich an eine Zeitung oder                         Unzulässigkeit des Mittels kann im Ausnahmefall
                                                                 durch den verfolgten Zweck «geheilt» werden.
an das Fernsehen zu wenden und dort
                                                                 (2) Mittel erlaubt + Zweck nicht erlaubt: Die
über die Machenschaften des X zu                                 Verwendung eines für sich gesehen zulässigen
berichten.                                                       Mittels ist dann nicht als rechtswidrig einzustufen,
                                                                 wenn der Täter (der einen nicht erlaubten Zweck
                                                                 verfolgt) einen vorrangigen Anspruch darauf hat, die
                                                                 Handlung vorzunehmen (in diesen Fällen wird aber
                                                                 meist bereits ein Rechtfertigungsgrund eingreifen).
                                                                 (3) Mittel erlaubt + Zweck erlaubt: Rechtswidrigkeit
                                                                 ist ausnahmsweise dann anzunehmen, wenn Mittel
                                                                 und Zweck zwar je für sich gesehen nicht zu
                                                                 beanstanden sind, wohl aber die Verknüpfung von
                                      (vgl. BGE 106 IV 126)
                                                                 Zweck und Mittel unverhältnismässig,
                                                                 rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist.

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                               Folie 18
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Fallbeispiel: Sitzblockade                                                   Art. 181 StGB
                                                                             I. Tatbestand
A beteiligt sich an einer Sitzblockade, mit der gegen                        1. Objektiver Tatbestand
die Einführung von Studiengebühren protestiert                                      Gewaltanwendung
werden soll. Zu diesem Zweck stellen sich die                                        oder
                                                                                     Androhung ernstlicher Nachteile
Studierenden in einer kleinen Gruppe auf eine                                        oder
belebte Verkehrskreuzung.                                                            andere Beschränkung der Handlungsfreiheit
Der Verkehr kommt zum Erliegen.                                                      (Generalklausel)
                                                                                    das Opfer wird dadurch veranlasst «etwas zu
                                                                                      tun, zu unterlassen oder zu dulden»
                                                                                      (Nötigungserfolg)
                                                                                      (= jedes kausal auf die Tathandlung
                                                                                      rückführbare Verhalten des Opfers)
                                                                             2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
                                                                             II. Rechtswidrigkeit
                                                                                    Nichtvorliegen von Rechtfertigungsgründen
(vgl. BGE 108 IV 165; 119 IV 301; 101 IV 167; 107 IV 113; 129 IV 6; 134 IV          Spezifische Unrechtmässigkeit der Nötigung
216; BGer Pra 88 [1999] Nr. 59)
                                                                             III. Schuld

FS 2018           Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                     Folie 19
Rechtswissenschaftliche Fakultät

  Bedrohung
                        Art. 180 StGB: Drohung
                        1Wer jemanden durch schwere Drohung in Schrecken oder Angst versetzt, wird, auf
Grundtatbestand         Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
                        2   Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt, wenn er:
                             a.       der Ehegatte des Opfers ist und die Drohung während der Ehe oder bis zu einem
Qualifikation                         Jahr nach der Scheidung begangen wurde; oder
durch bes.
Eigenschaften
                             abis. die eingetragene Partnerin oder der eingetragene Partner des Opfers ist und die
des                                Drohung während der eingetragenen Partnerschaft oder bis zu einem Jahr nach
Tatobjektes                        deren Auflösung begangen wurde; oder
(Partnerschafts-
verhältnisse)                b.       der hetero- oder homosexuelle Lebenspartner des Opfers ist, sofern sie auf
                                      unbestimmte Zeit einen gemeinsamen Haushalt führen und die Drohung während
                                      dieser Zeit oder bis zu einem Jahr nach der Trennung begangen wurde.

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Rechtswissenschaftliche Fakultät

Einstiegsfall: «Dafür bin ich nicht zuständig»

Dr. oec. HSG, Partner in einer Zürcher Unternehmensberatung,
wartete bereits monatelang auf ein neues Diensthandy. Einer
jungen Mitarbeiterin, die sich in der Angelegenheit für
unzuständig erklärte, sage er:
«Weisst Du, welchen Satz ich nicht mehr hören möchte? ‘Dafür
bin ich nicht zuständig.’ Sollte ich diesen Satz noch einmal von
irgendjemandem hören, brech ich ihm das Genick! Die Polizei ist
schon vorgewarnt, und mir ist es ehrlich gesagt scheissegal, ob
ich im Gefängnis lande oder sonst etwas. Es wird dann eventuell
eine Blutlache am Boden haben, aber so geht das wirklich
nicht!».
                                                                   DROHUNG?

 (vgl. Bezirksgericht Zürich, Urteil GG 160208 vom 2.12.2016)

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                Folie 21
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Bedrohung                                                        Art. 180 Abs. 1 StGB: Drohung
                                                                 1 Wer jemanden durch schwere
I. Tatbestand                                                    Drohung in Schrecken oder Angst
1. Objektiver Tatbestand                                         versetzt, wird, auf Antrag, mit
       Taterfolg: jemanden in Schrecken oder Angst versetzen    Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
                                                                 Geldstrafe bestraft.
       Tathandlung: schwere Drohung
                                                                 […]
       Verursachungszusammenhang zwischen Drohung und
        Taterfolg
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
IV. Strafantrag

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Rechtswissenschaftliche Fakultät

Einzelheiten zur Tathandlung
    Drohung, wie bei Art. 181 StGB zu verstehen:
      Täter stellt dem Opfer ausdrücklich oder konkludent ein Übel in Aussicht, dessen Eintritt er als von
        seinem Willen abhängig hinstellt (= Abgrenzung zur blossen Warnung; BGE 106 IV 128)
      Opfersicht massgeblich; unbeachtlich, ob der Täter die Drohung tatsächlich wahrmachen will
        und/oder wahrmachen kann
    Schwere der Drohung: erforderliches Mindestmass der angedrohten Nachteile ist einzelfallabhängig

     Dabei ist «nach der Praxis des Bundesgerichts grundsätzlich ein objektiver Massstab anzulegen, wobei
     in der Regel auf das Empfinden eines vernünftigen Menschen mit einigermassen normaler psychischer
     Belastbarkeit abzustellen ist.» (BGer, Urteil 6B_192/2012 vom 10. September 2012, E. 1.1)

     Problematisch: besonders empfindsames oder mimosenhaftes Oper, besonders schutzbedürftige
     Personengruppen (Kinder, Betagte, psychisch Kranke etc.)

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Fallbeispiel: Suizidankündigung
X erklärt gegenüber seiner von ihm getrennt
lebenden Ehefrau, er werde «nach Hause                            Art. 180 StGB
                                                                  I. Tatbestand
gehen, durchladen und nicht
                                                                  1. Objektiver Tatbestand
wiederkommen.»                                                           Taterfolg: jemanden in Schrecken oder
 (vgl. BGer 6B_192/2012; fp 2012, 330)                                     Angst versetzen
                                                                         Tathandlung: schwere Drohung
                                                                         Verursachungszusammenhang zwischen
                                                                           Drohung und Taterfolg
                                                                  2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
                                                                  II. Rechtswidrigkeit
                                                                  III. Schuld
                                                                  IV. Strafantrag

FS 2018         Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                          Folie 24
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Systematik der Freiheitsdelikte
  Art. 140 Ziff. 2-4              Art. 189 Abs. 3
                                                                      Qualifikation nach Art. 184
  Art. 156 Ziff. 2-4              Art. 190 Abs. 3

                                                                                                              Menschen-
                                       Sexuelle                                                                 handel
                                                                    Freiheits-           Entführung            (Art. 182)
        Raub                           Nötigung
  (Art. 140 Ziff. 1)                   (Art. 189)                  beraubung            (Art. 183 Ziff. 1
    Erpressung                  Vergewaltigung                   (Art. 183 Ziff. 1          Abs. 2)           Geiselnahme
                                                                     Abs. 1)                                   (Art. 185)
  (Art. 156 Ziff. 1)               (Art. 190)

                                                                                            Art. 285
                                                                                      (Beamtennötigung),       Drohung
                                                 Nötigung (Art. 181)                                           (Art. 180)
                                                                                     Art. 311 (Meuterei von
    Zwangsheirat                                                                       Gefangenen) u.a.
     (Art. 181a)
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Rechtswissenschaftliche Fakultät

Freiheitsberaubung und Entführung (Art. 183 StGB)
                                                       Art. 183 StGB: Freiheitsberaubung und Entführung
                                                       1. Wer jemanden unrechtmässig festnimmt oder gefangen
                                                       hält oder jemandem in anderer Weise unrechtmässig die
          Freiheitsberaubung
                                                       Freiheit entzieht,
          Entführung                                   wer jemanden durch Gewalt, List oder Drohung entführt,
                                                       wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe
                                                       bestraft.
                                  2. Ebenso wird bestraft, wer jemanden entführt, der
          Entführung besonders    urteilsunfähig, widerstandsunfähig oder noch nicht 16 Jahre
          schutzwürdiger Personen alt ist.

    Bei der Freiheitsberaubung geht es um die Festsetzung des Opfers an einem Ort, bei der Entführung
    um eine Verschiebung des Opfers von einem an einen anderen Ort.
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Wer jemanden unrechtmässig
                                                                            festnimmt oder gefangen hält
Rechtswissenschaftliche Fakultät                                            oder jemandem in anderer
                                                                            Weise unrechtmässig die
Freiheitsberaubung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB)                           Freiheit entzieht, …
 a) Objektiver Tatbestand
       Taterfolg: jemandem die Freiheit entziehen
          = umfassende Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit von gewisser Erheblichkeit
       Tathandlung: festnehmen (= Entzug der Freiheit) oder gefangen halten (= Fortsetzung der
        Freiheitsentziehung) oder ihm in anderer Weise die Freiheit entziehen
          = jedes rechtlich relevante Verhalten
       Kausalzusammenhang zwischen Tathandlung und Erfolg
 b) Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
 c) Rechtswidrigkeit: (vgl. «Unrechtmässigkeit» des Verhaltens).
      (–), wenn die Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit auf einer gesetzlichen Grundlage beruht (z.B.:
      Festnahmerecht der Strafverfolgungsbeamten nach StPO)
      oder durch allgemeine Rechtfertigungsgründe gedeckt ist (Notwehr, Notstand, Erziehungsrecht usw.)
 d) Schuld

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Rechtswissenschaftliche Fakultät

Umfassende Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit eines Menschen

= Opfer wird die Möglichkeit genommen, den
Aufenthaltsort zu wechseln
    bei erzwungener Ortsveränderung nur, wenn
     Fortbewegungsfreiheit gänzlich aufgehoben
     (vgl. BGE 89 IV 87 [Opfer während rund 7,5 km
     langer Autofahrt am Aussteigen gehindert])
                                                                 Fortbewegungsfreiheit
    Problem: Beschränkung «von gewisser
     Erheblichkeit», Grenzziehung schwierig                      bleibt bestehen
 BGE 128 IV 75: «qualche minuto è sufficiente»;
  nicht aber «momentanes Festhalten»
                                                                 Fortbewegungsfreiheit
 grds. nicht bei Wegnahme der Kleider                           bleibt bestehen
 hingegen (+) bei Wegnahme von Rollstuhl,
  Prothesen etc.

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Auswirkungen einer Einwilligung: Tatbestandsausschluss oder RFG?

 I. Tatbestand          z.B.                                         TB kann nur erfüllt werden, wenn
                         Hausfriedensbruch: «Wer gegen den           Täter gegen den Willen des
                           Willen des Berechtigten in ein Haus        Betroffenen handelt = seine
                           …eindringt…»                               Einwilligung (sog. Einverständnis)
                         Vergewaltigung: «Wer eine Person            schliesst TB aus
                           weiblichen Geschlechts zur Duldung des
                           Beischlafs nötigt»                        Anforderungen ein eine
                         Freiheitsentziehung, Gefangenhalten         tatbestandsausschliessende
                         etc.                                        Wirkung: uneinheitlich, sind pro
                                                                      Tatbestand zu bestimmen!
 II. Rechtswidrigkeit   Rechtfertigende Einwilligung, z.B. in
                         Körperverletzung
                         Sachbeschädigung

 III. Schuld

  u.U. objektive Bedingung der Strafbarkeit
  u.U. Strafausschliessungs-/Strafaufhebungsgründe
  prozessuale Strafverfolgungshindernisse (z.B. fehlender
   Strafantrag, Eintritt der Verjährung)
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Auswirkungen einer Einwilligung: Tatbestandsausschluss oder RFG?

Die Einwilligung bewirkt jedenfalls bei denjenigen Delikten einen Tatbestandsausschluss, bei denen
das tatbestandlich umschriebene Verhalten schon begrifflich ein Handeln gegen oder ohne den Willen
des Rechtsgutsinhabers erfordert.
Beispiele: Vergewaltigung, Hausfriedensbruch, Freiheitsberaubung, Diebstahl («wegnehmen»), etc.

Terminologie: oft als «Einverständnis» bezeichnet, um kenntlich zu machen, dass eine solche
tatbestandsausschliessende Einwilligung nicht immer die gleichen Voraussetzungen erfüllen muss wie
die rechtfertigende Einwilligung

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Auswirkungen einer Einwilligung: Tatbestandsausschluss oder RFG?
  wohl noch h.M.: Ansonsten, d.h. in der Regel, ist die Einwilligung ein Rechtfertigungsgrund.
     Arg.: Die im Tatbestand nur typisiert umschriebenen Merkmale werden von dem Täter, der
     aufgrund einer Einwilligung handelt, eindeutig erfüllt. Und eine Wertung darüber hinaus drückt der
     Tatbestand nicht aus.
 andere Ansicht: Einwilligung schliesst immer schon den Tatbestand aus.
     Arg.: Einwilligung = Verzicht auf das Rechtsgut, dadurch Aufhebung der Rechtsgutseigenschaft.
     Deswegen kann der Tatbestand nicht verwirklicht werden. Denn dieser schützt (typisiert) nur
     Rechtsgüter, nicht aber bestimmte Gegenstände (Tatobjekte) als solche.

Relevanz des Disputes für die Fallbearbeitung: Standort im Deliktsaufbau

                                                                     Vgl. STRATENWERTH § 10 N 8 ff
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Qualifikationen der Freiheitsberaubung/Entführung (Art. 184 StGB)
                                                             wenn der Täter ein Lösegeld (Vermögenswert) zu erlangen
Art. 184 StGB: Erschwerende
Umstände                                                      sucht (= Spezialfall der Erpressung)
Freiheitsberaubung und Entführung                                Abgrenzung zu Art. 185 StGB (Geiselnahme): Die
werden mit Freiheitsstrafe nicht                                 Lösegelderpressung erfasst nur solche Fälle, in denen nicht ein
unter einem Jahr bestraft,                                       Dritter, sondern das entführte Opfer selbst die
wenn der Täter ein Lösegeld zu                                   Vermögensdisposition vornehmen soll (ansonsten fällt Tat in den
erlangen sucht,                                                  Anwendungsbereich von Art. 185 StGB; str.)
wenn er das Opfer grausam                                    wenn das Opfer grausam behandelt wird (= wissentliches und
behandelt,                                                    willentliches Zufügen besonderer Leiden körperlicher oder
wenn der Entzug der Freiheit mehr                             seelischer Art)
als zehn Tage dauert oder
                                                             wenn Entzug der Freiheit mehr als zehn Tage dauert
wenn die Gesundheit des Opfers
erheblich gefährdet wird.                                    wenn die Gesundheit des Opfers erheblich gefährdet wird (im
                                                              Zusammenhang mit der FB/Entführung!)

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                              Folie 32
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(Qualifizierte) Freiheitsberaubung?

Liegt eine Freiheitsberaubung vor, wenn X von A eingeschlossen wird und es sich bei
X um einen zwei Wochen alten Säugling oder um einen bettlägerigen Greis handelt?
Wie ist der Fall zu beurteilen, wenn

 a) X schläft und A die Einschliessung aufhebt, bevor X erwacht?
 b) A den X nicht einschliesst, sondern ihm in Aussicht stellt, dass er erschossen wird,
    wenn er den Raum verlässt?
 c) A den X über zehn Tage hinweg eingeschlossen hält und ihm Medikamente
    vorenthält, die X benötigt?
 d) A den X zwingt, sich an den Ort Z zu begeben?

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Strafbarkeit der Entführung: Art. 183 Ziff. 1 Abs. 2 StGB / Art. 183 Ziff. 2
StGB                                                  Art. 183 StGB: Freiheitsberaubung
                                                                                                 und Entführung
 nur, wenn mit bestimmten
                                                                                                 1. Wer jemanden unrechtmässig
 Mitteln oder an bestimmten                                                                      festnimmt oder gefangen hält oder
 Personen begangen:                                                                              jemandem in anderer Weise
                                                                                                 unrechtmässig die Freiheit entzieht,
  freiverantwortliche Personen
                                                                    Brechen Widerstand           wer jemanden durch Gewalt, List oder
   über 16 Jahre (Art. 183 Ziff. 1
                                                                   (Gewalt, List, Drohung)       Drohung entführt,
   Abs. 2 StGB)
                                                                                                 wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
                                                                                                 Jahren oder Geldstrafe bestraft.
  Urteilsunfähige,                                                                              2. Ebenso wird bestraft, wer
   Widerstandsunfähige, unter-                                   Ausnutzen Inferiorität (jedes   jemanden entführt, der urteilsunfähig,
   16-Jährige (Art. 183 Ziff. 2                                    Mittel, z.B. Überreden)       widerstandsunfähig oder noch nicht
                                                                                                 16 Jahre alt ist.
   StGB)

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Entführung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 2 StGB)
I. Tatbestand                                                              Art. 183 StGB: Freiheitsberaubung
1. Objektiver Tatbestand                                                   und Entführung
       Taterfolg: jemanden entführen                                      1. Wer jemanden unrechtmässig
        = Verbringen einer Person an einen anderen Ort, wo sie sich        festnimmt oder gefangen hält oder
        (aufgrund der Ortsveränderung) in der Gewalt des Täters befindet   jemandem in anderer Weise
                                                                           unrechtmässig die Freiheit entzieht,
          Beachte: Ortsveränderung muss für eine «gewisse Dauer»
          vorgesehen sein (Erheblichkeit); Opfer muss die Möglichkeit      wer jemanden durch Gewalt, List oder
          genommen sein, unabhängig vom Willen des Täters an gewohnten     Drohung entführt,
          Aufenthaltsort zurückzukehren                                    wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
       Tathandlung: Anwendung von Gewalt (vgl. Art. 181 StGB), List       Jahren oder Geldstrafe bestraft.
        (aktive Irreführung) oder Drohung (vgl. Art. 180 StGB)             2. Ebenso wird bestraft, wer
       Kausalität der Gewalt, List oder Drohung für die Entführung        jemanden entführt, der urteilsunfähig,
                                                                           widerstandsunfähig oder noch nicht
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
                                                                           16 Jahre alt ist.
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
FS 2018         Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                        Folie 35
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Entführung besonders schutzwürdiger Personen (Art. 183 Ziff. 2 StGB)
I. Tatbestand                                                                 Art. 183 StGB: Freiheitsberaubung
1. Objektiver Tatbestand                                                      und Entführung
   Taterfolg: Entführen einer urteilsunfähigen, widerstandsunfähigen oder    1. Wer jemanden unrechtmässig
     noch nicht 16 Jahre alten Person                                         festnimmt oder gefangen hält oder
                                                                              jemandem in anderer Weise
      Beachte: Bei unter-16-jährigen wird Urteils-/WUF in Bezug auf           unrechtmässig die Freiheit entzieht,
      das geschützte Rechtsgut unwiderlegbar vermutet, weshalb deren
      Einverständnis/Einwilligung hier stets unbeachtlich ist.                wer jemanden durch Gewalt, List oder
                                                                              Drohung entführt,
  Tathandlung: jede rechtlich relevante Handlung                             wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
  Ursächlichkeit der Handlung für den Taterfolg                              Jahren oder Geldstrafe bestraft.
    Besonderheit: Ursächlichkeit wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass   2. Ebenso wird bestraft, wer
    das Opfer mit der Entführung einverstanden ist                            jemanden entführt, der urteilsunfähig,
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz                                            widerstandsunfähig oder noch nicht
                                                                              16 Jahre alt ist.
III. Rechtswidrigkeit
IV. Schuld

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                            Folie 36
Rechtswissenschaftliche Fakultät
                                                                 Entführung bes. schutzwürdiger Personen (Art.
                                                                 183 Ziff. 2 StGB)
Fallbeispiel: Ab in den Urlaub                                   I. Tatbestand
                                                                 1. Objektiver Tatbestand
Der 25-jährige A verbringt seine nach einem                         Taterfolg: Entführen einer urteilsunfähigen,
Verkehrsunfall gelähmte und zur Fortbewegung auf                       widerstandsunfähigen oder noch nicht 16 Jahre
                                                                       alten Person
einen Rollstuhl angewiesene Freundin (F) mit deren
                                                                            Beachte: Bei unter-16-jährigen wird
Einverständnis, aber gegen den Willen ihrer Eltern, zu                      Urteils-/WUF in Bezug auf das geschützte
einem zweiwöchigen Urlaub in eine einsame Berghütte.                        Rechtsgut unwiderlegbar vermutet, weshalb
                                                                            deren Einverständnis/Einwilligung hier stets
Macht es einen Unterschied, ob F 15 Jahre alt oder 16
                                                                            unbeachtlich ist.
Jahre alt ist?                                                      Tathandlung: jede rechtlich relevante Handlung
                                                                    Ursächlichkeit der Handlung für den Taterfolg
                                                                            Besonderheit: Ursächlichkeit wird nicht
                                                                            dadurch in Frage gestellt, dass das Opfer
                                                                            mit der Entführung einverstanden ist
                                                                 2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
                                                                 III. Rechtswidrigkeit
                                                                 IV. Schuld
FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                Folie 37
Rechtswissenschaftliche Fakultät

     Geiselnahme (Art. 185 StGB)
                                                   Art. 185 StGB: Geiselnahme
                                                   1. Wer jemanden der Freiheit beraubt, entführt oder sich seiner sonst wie bemächtigt,
Geiselnahme                                        um einen Dritten zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung zu nötigen,
                                                   wer die von einem anderen auf diese Weise geschaffene Lage ausnützt, um einen
Trittbrettfahrer
                                                   Dritten zu nötigen,
                                                   wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.
Qualif. Todes-/                                    2. Die Strafe ist Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, wenn der Täter droht, das
Misshandlungsdrohung                               Opfer zu töten, körperlich schwer zu verletzen oder grausam zu behandeln.
                                                   3. In besonders schweren Fällen, namentlich wenn die Tat viele Menschen betrifft,
Qualif. «viele» Geiseln, Folter etc.
                                                   kann der Täter mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft werden.
                                                   4. Tritt der Täter von der Nötigung zurück und lässt er das Opfer frei, so kann er
Rücktritt nach Tatvollendung
                                                   milder bestraft werden (Art. 48a).
                                                   5. Strafbar ist auch, wer die Tat im Ausland begeht, wenn er in der Schweiz verhaftet
Universalitätsprinzip
                                                   und nicht ausgeliefert wird. Artikel 7 Absätze 4 und 5 sind anwendbar.

     FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                               Folie 38
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Dreiecksstruktur der Geiselnahme

                                                                            Drittnötigungsabsicht
 Struktur:
  Freiheitsberaubung/Entführung/
  sich seiner sonst wie bemächtigen Täter = Geiselnehmer
  zur Nötigung eines Dritten                                                                        Dritte = Person, die
                                                                 Freiheitsberaubung
                                                                                                    genötigt werden soll
 doppelter Schutzzweck:                                             Entführung
                                                                     «sonst wie
 Bewegungsfreiheit, aber auch                                     bemächtigen»
  physische und psychische
  Integrität der Geisel                                                                      Tun        Dulden     Unterlassen
 Willensfreiheit des
  Nötigungsadressaten

                                                                      Geiseln
FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                       Folie 39
1. Wer jemanden der Freiheit beraubt,
                                                                                   entführt oder sich seiner sonst wie
Rechtswissenschaftliche Fakultät                                                   bemächtigt, um einen Dritten zu einer
                                                                                   Handlung, Unterlassung oder Duldung
Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 1 Abs. 1 StGB)                                         zu nötigen, […] wird mit
                                                                                   Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr
I. Tatbestand
                                                                                   bestraft.
1. Objektiver Tatbestand
      Taterfolg: jemanden der Freiheit berauben (entspricht Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB), entführen (vgl.
        Art. 183 Ziff. 1 Abs. 2; hier jedoch kein spezifisches Tatmittel gefordert) oder sich seiner sonst wie
        bemächtigen
      Tathandlung: jedes rechtlich relevante Verhalten
      Kausalität und objektive Zurechnung
2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
       Vorsatz
       Dritt-Nötigungsabsicht («um einen Dritten zu einer Handlung, Unterlassung oder Duldung zu
         nötigen»)
         Beachte: Die Absicht allein genügt. Als Dritter gilt nach h.M. jede Person, die mit dem Täter und
         der Geisel nicht identisch ist unter Einschluss von Angehörigen der Geisel.
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                               Folie 40
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Trittbrettfahrer bei der Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 1 Abs. 2 StGB)
                                                                 Art. 185 Ziff. 1 Abs. 2 StGB:
I. Tatbestand                                                    Geiselnahme
1. Objektiver Tatbestand                                         1. Wer jemanden der Freiheit beraubt,
 Nötigung einer Person ( = mindestens Kenntnisnahme der         entführt oder sich seiner sonst wie
     Forderung des Täters nach h.L. gefordert)                   bemächtigt, um einen Dritten zu einer
                                                                 Handlung, Unterlassung oder Duldung
 unter Ausnutzung der von einem Dritten bewirkten               zu nötigen,
     Geiselnahme
                                                                 wer die von einem anderen auf diese
 Kausalzusammenhang zwischen Tathandlung und Erfolg             Weise geschaffene Lage ausnützt, um
2. Subjektiver Tatbestand:                                       einen Dritten zu nötigen,
 Vorsatz                                                        wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem
II. Rechtswidrigkeit                                             Jahr bestraft.
III. Schuld                                                      [...]

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                   Folie 41
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Qualifikationen der Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 2 und Ziff. 3 StGB)
Art. 185 Ziff. 2 und Ziff. 3 StGB
1. […], wird mit Freiheitsstrafe nicht unter
    einem Jahr bestraft.
2. Die Strafe ist Freiheitsstrafe nicht unter                    Ziff. 2: Täter droht, das Opfer zu töten oder Täter droht,
drei Jahren, wenn der Täter droht, das                                    das Opfer körperlich schwer zu verletzen
Opfer zu töten, körperlich schwer zu                                      (= verletzen i.S.v. Art. 122 StGB) oder Täter
verletzen oder grausam zu behandeln.                                      droht, das Opfer grausam zu behandeln (vgl. Art.
3. In besonders schweren Fällen,                                          184 Abs. 3 StGB)
namentlich wenn die Tat viele Menschen
betrifft, kann der Täter mit lebenslänglicher Ziff. 3: besonders schwere Fälle (= Generalklausel, z.B.
Freiheitsstrafe bestraft werden.                       Tat betrifft sehr viele Menschen)
[…]

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                       Folie 42
Geiselnahme (Art. 185 Ziff. 1 Abs. 1 StGB)
Rechtswissenschaftliche Fakultät
                                                                 I. Tatbestand
                                                                 1. Objektiver Tatbestand
Fallbeispiel: Wehrhaftes Mädchen                                        Taterfolg: jemanden der Freiheit berauben
                                                                          (entspricht Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB),
A, der sich in finanziellen Nöten befindet, will T, die                   entführen (vgl. Art. 183 Ziff. 1 Abs. 2; hier jedoch
15-jährige Tochter des reichen industriellen I,                           kein spezifisches Tatmittel gefordert) oder sich
entführen, um dann ein Lösegeld zu erpressen. Er                          seiner sonst wie bemächtigen
                                                                        Tathandlung: jedes rechtlich relevante Verhalten
fängt T auf dem Weg von der Schule ab und spricht                       Kausalität und objektive Zurechnung
sie unter einem Vorwand an. Dann packt er sie und                2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
versucht, die sich wehrende T in seinen Wagen zu                         Vorsatz
                                                                         Dritt-Nötigungsabsicht («um einen Dritten zu
verfrachten. T gelingt es jedoch, sich loszureissen
                                                                           einer Handlung, Unterlassung oder Duldung zu
und wegzulaufen.                                                           nötigen»)
                                                                           Beachte: Die Absicht allein genügt. Als Dritter
                                                                           gilt nach h.M. jede Person, die mit dem Täter
                                                                           und der Geisel nicht identisch ist unter
                                                                           Einschluss von Angehörigen der Geisel.
                                                                 II. Rechtswidrigkeit
                                                                 III. Schuld

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                                  Folie 43
Rechtswissenschaftliche Fakultät

Fallbeispiel: Trittbrettfahrer
                                                                  Trittbrettfahrer bei der Geiselnahme
A hat davon gehört, dass die Tochter des reichen                  (Art. 185 Ziff. 1 Abs. 2 StGB)
Industriellen I entführt worden ist. Da er sich in finanziellen   I. Tatbestand
Nöten befindet, kommt er auf die Idee, diese Situation            1. Objektiver Tatbestand
auszunutzen. Er ruft bei I an und droht damit, I müsse             Nötigung einer Person ( = mindestens
umgehend 100‘000.- CHF zahlen, andernfalls werde er der T              Kenntnisnahme der Forderung des
                                                                       Täters nach h.L. gefordert)
ein Ohr abschneiden und dieses dem I als Erinnerung für
                                                                   unter Ausnutzung der von einem Dritten
seine Hartherzigkeit zusenden.
                                                                       bewirkten Geiselnahme
Strafbarkeit des A, wenn I nicht zahlt?                            Kausalzusammenhang zwischen
                                                                       Tathandlung und Erfolg
                                                                  2. Subjektiver Tatbestand:
                                                                   Vorsatz
                                                                  II. Rechtswidrigkeit
                                                                  III. Schuld

FS 2018        Strafrecht BT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi                                    Folie 44
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