Zuwanderung nach Deutschland von 1945 bis heute

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Zuwanderung nach Deutschland von 1945 bis heute

Zuwanderung nach Deutschland
von 1945 bis heute

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Zuwanderung nach Deutschland von 1945 bis heute
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Zuwanderung nach Deutschland von 1945 bis heute
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

                         uwanderung nach Deutschland
                        Z
                        von 1945 bis heute
                        Prof. Dr. Lars P. Feld, Dr. Annabelle Doerr, Patrick Hirsch, Christoph Sajons, Ph.D., Freiburg i.Br.

                        Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese                    der Gesamtbevölkerung (vgl. Abbildung 2). Zur
                        Tatsache hat sich nicht aus politischen Vorgaben                Gruppe der Menschen mit Migrationshinter-
                        der jüngeren Geschichte ergeben, sondern ist be-                grund zählen alle Personen mit eigener Migrati-
                        reits seit Jahrhunderten fester Bestandteil der                 onserfahrung sowie deren direkte Nachfahren.1
                        Bevölkerungsentwicklung dieses Landes. Dabei
                        sind die Beispiele für Zuwanderung nach                         Im folgenden Kapitel wird die Geschichte Deutsch-
                        Deutschland ebenso zahlreich wie unterschied-                   lands als Einwanderungsland seit 1945 dargestellt.
                        lich – von der Immigration der französischen                    Anschließend wird auf die aktuelle asylbedingte
                        Hugenotten, die im 17. Jahrhundert vor religiö-                 Zuwanderung seit 2015 eingegangen.
                        ser Verfolgung flohen, über die Arbeitsimmigra-
Deutschland ist seit    tion vor allem aus Süd- und Osteuropa während
Mitte der 1950er-       der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zur
Jahre ein Netto-        Zuwanderung der sogenannten Gastarbeiter
Einwanderungsland.      während des Wirtschaftswunders. Ende der
                        1980er-Jahre und nach dem Mauerfall kam es zu
                        einer weiteren Episode der Zuwanderung nach
                        Deutschland, die vor allem durch Asylbewerber
                        aus Ost- und Südosteuropa gekennzeichnet war.
                        Diese flüchteten in großen Zahlen aus den Kri-
                        sengebieten des Jugoslawienkrieges. In der Zeit
                        danach sanken die Zuwanderungszahlen nach
                        Deutschland aufgrund eines verschärften Asyl-
                        rechts und erreichten im Jahr 2008 einen Tief-
                        stand. Im Rahmen des EU-Freizügigkeitsabkom-
                        mens stiegen die Zuwanderungszahlen seither
                        wieder an. Dieser Trend wird seit dem Jahr 2014
                        durch die Fluchtmigration aus den Krisengebie-
                        ten in Syrien und dem Irak verstärkt. Insgesamt
                        sind seit Beginn der systematischen Erfassung
                        der Wanderungszahlen im Jahr 1950 im Saldo
                        deutlich mehr Menschen nach Deutschland zu-
                        gezogen als ausgewandert (vgl. Abbildung 1).

                        Deutschland musste also mit mehreren Ein­
                        wanderungswellen unterschiedlichen Charak-
                        ters umgehen. Alleine im Jahr 2015 sind mehr als
                        2,1 Millionen Menschen zugezogen. Dies ist der
                        höchste Wert seit der Gründung der Bundesre-
                        publik. Damit lebten in diesem Jahr mehr als 17,1               1   Statistisches Bundesamt (2016). Bevölkerung und
                                                                                            Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrations­
                        Millionen Menschen mit Migrationshintergrund                        hintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2015,
                        in Deutschland. Dies entspricht rund 21 Prozent                     Wiesbaden, S. 4.

10                                                                                                                      Malteser Migrationsbericht 2017
Zuwanderung nach Deutschland von 1945 bis heute
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

Abbildung 1:
Zuzüge, Fortzüge und Wanderungssaldo (in Millionen) für Deutschland von 1950 bis 2015

 2.5

   2

 1.5

   1

 0.5

   0

-0.5
       1950

              1952

                     1954

                            1956

                                   1958

                                          1960

                                                 1962

                                                        1964

                                                               1966

                                                                      1968

                                                                             1970

                                                                                    1972

                                                                                           1974

                                                                                                  1976

                                                                                                         1978

                                                                                                                1980

                                                                                                                       1982

                                                                                                                              1984

                                                                                                                                     1986

                                                                                                                                            1988

                                                                                                                                                   1990

                                                                                                                                                          1992

                                                                                                                                                                 1994

                                                                                                                                                                        1996

                                                                                                                                                                               1998

                                                                                                                                                                                      2000

                                                                                                                                                                                             2002

                                                                                                                                                                                                    2004

                                                                                                                                                                                                           2006

                                                                                                                                                                                                                  2008

                                                                                                                                                                                                                         2010

                                                                                                                                                                                                                                2012

                                                                                                                                                                                                                                       2014
              Wanderungssaldo                      Zuzüge                Fortzüge

Quelle: Statistisches Bundesamt, 2017.

                                                                                                                                             17,1 Mio
Abbildung 2:
Bevölkerung (in Tausend) mit und ohne
Migrationshintergrund im Jahr 2015

                            64.286                                                                                                           MENSCHEN IN DEUTSCHLAND HABEN EINEN
                                                                                                                                             MIGRATIONSHINTERGRUND. DAS ENTSPRICHT
                                                                                                                                             21 PROZENT DER GESAMTEN BEVÖLKERUNG.

                                                                                                     5.023

                                                                                                                                             16,7 %
                                                                                                     4.323

                                                                                                     6.430

                                                                                                                                             DER PERSONEN MIT MIGRATIONSHINTER­
                                                                                                     1.342
                                                                                                                                             GRUND STAMMEN AUS DER TÜRKEI UND
                                                                                                                                             BILDEN DAMIT DIE GRÖSSTE ZUWANDERUNGS­
                                                                                                                                             GRUPPE, VOR POLEN MIT 9,9 PROZENT UND
                                                                                                                                             RUSSLAND MIT 7,1 PROZENT.

    Ohne Migrationshintergrund

                                                                                                                                             11,5 Mio
    Deutsche mit eigener Migrationserfahrung
    Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung
    Ausländer mit eigener Migrationserfahrung
    Ausländer ohne eigene Migrationserfahrung

Anmerkung: Gesamtbevölkerung: 81.404.000 Menschen.                                                                                           MENSCHEN, ALSO 14,1 PROZENT DER GE­
                                                                                                                                             SAMTEN BEVÖLKERUNG, HABEN EINE EIGENE
Quelle: Mikrozensus des Statistischen Bundesamts, 2015.                                                                                      MIGRATIONSERFAHRUNG.

                                                                                                                                                                                                                                         11
Zuwanderung nach Deutschland von 1945 bis heute
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

                        Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland

                        Nachkriegsmigration aus den ehe­                      bedeutete dies einen spürbaren Verlust an gut
                        maligen deutschen Ostgebieten                         qualifizierten, jungen Arbeitskräften.2
                        und der DDR (1945 bis etwa 1960)

                        Ein besonderes Kapitel der Migrationsgeschichte
                        Deutschlands stellen Flucht und Vertreibung von       Anwerbung von Gastarbeitern
                        Deutschen aus Mittel- und Osteuropa dar. Bis          (1955 bis 1975)
                        zum Jahr 1950 waren aus den ehemals deutschen
                        Ostgebieten, aus Polen, der UdSSR, Ungarn, Ru-        Nach dem Ende der Mangelwirtschaft der unmit-
                        mänien, Jugoslawien und der Tschechoslowakei          telbaren Nachkriegszeit stieg das Wirtschafts-
                        ca. 11,9 Millionen Personen nach Deutschland          wachstum ab Mitte der 1950er-Jahre deutlich
                        eingewandert, davon 7,9 Millionen in die Bun-         an, und die Anzahl der Arbeitslosen sank. Die
                        desrepublik und vier Millionen Menschen in die        explodierende Nachfrage nach Arbeitskräften
                        DDR. Diese Herausforderung wurde zusätzlich           konnte allein mit den Zuwanderern aus den ehe-
                        verschärft durch die Tatsache, dass das vom           mals deutschen Ostgebieten nicht mehr gedeckt
                        Krieg zerstörte Deutschland elementare Proble-        werden. Deshalb schloss die Bundesrepublik eine
                        me wie eine gravierende Wohnungsnot, Hunger           Reihe von Abkommen zur Anwerbung soge-
                        und einen Mangel an lebenswichtigen Gütern zu         nannter Gastarbeiter ab. Das erste Abkommen
                        bewältigen hatte.                                     wurde im Jahr 1955 mit Italien geschlossen. Es
                                                                              folgten Abkommen mit Spanien (1960), Griechen-
                        Die hohe Anzahl der Flüchtlinge und Vertriebe-        land, der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal
                        nen wurde von einem Großteil der eingesessenen        (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).
                        Bevölkerung als Belastung empfunden. Neben            Bis 1960 blieb der Zuzug mit insgesamt ca. 330.000
                        den existenziellen wirtschaftlichen Nöten, die        Arbeitern jedoch relativ gering. Nachdem der
                        sich mit der Währungsreform 1948 und dem dar-         Bau der Berliner Mauer die Binnenmigration ab-
                        auf folgenden Aufschwung besserten, wurden            rupt beendete, kam es zu einem starken Anstieg
                        nicht zuletzt kulturelle Unterschiede wie Dialekt     der Anzahl der Gastarbeiter, sodass Ende 1964
                        oder Konfession problematisiert und führten zu        bereits 1,2 Millionen Ausländer in Westdeutsch-
                        Konflikten im Alltag. Dass diese Einwanderung         land lebten, was 2,1 Prozent der Gesamtbevölke-
                        heute rückblickend als Erfolgsgeschichte bewer-       rung entsprach. Die größten Gruppen bildeten
                        tet wird, liegt daran, dass das Arbeitskräftepoten-   dabei die Italiener, die Griechen und die Spanier
                        zial der „Heimatvertriebenen“ unmittelbar für         mit Zuzügen von über 430.000 Gastarbeitern im
                        den Wiederaufbau zur Verfügung stand, waren           Jahr 1964 (vgl. Abbildung 3). Als im Jahr 1973 die
                        sie doch einerseits gleichwertig zur einheimi-        Anwerbung von Gastarbeitern im Zuge des Öl-
                        schen Bevölkerung qualifiziert und andererseits       preisschocks eingestellt wurde, lebten ca. vier
                        flexibel, aufstiegswillig und leistungsbereit. Den-   Millionen Ausländer in Deutschland. Diese An-
                        noch war die Flucht für die meisten Betroffenen       zahl stieg Ende der 1970er Jahre mit dem einset-
                        vorübergehend mit einem massiven sozialen Ab-         zenden Familiennachzug weiter an. Gleichzeitig
                        stieg verbunden.

                        Eigenschaften wie eine hohe Flexibilität und Leis-
                        tungsbereitschaft brachten in besonderem Maße
                        auch die etwa 2,7 Millionen Binnenflüchtlinge
                        mit, die bis zum Mauerbau 1961 aus der DDR in         2   Herbert, Ulrich (2014). Geschichte Deutschlands im
                        die Bundesrepublik übersiedelten. Für die DDR             20. Jahrhundert, München, S. 623 und 677–680.

12                                                                                                           Malteser Migrationsbericht 2017
Italienische und griechische Gastarbeiter der ersten Stunde

wuchs die Anzahl der ausländischen Erwerbstä-                 aus. Dementsprechend orientierten sie sich am        Die Anwerbung von
tigen auf etwa 2,1 Millionen im Jahr 1980.3                   Lebensstandard und am Preisniveau ihres Hei-         Gastarbeitern war
                                                              matlandes. Im Vergleich dazu war das in Deutsch-     sowohl für die
Da die deutschen Unternehmen Arbeitskräfte für                land erwirtschaftete Geld die Grundlage für die      Entsendeländer als
niedrig qualifizierte Jobs in der industriellen Pro-          Verbesserung ihrer dortigen sozialen Lage.5          auch für Deutsch-
duktion suchten, wanderten mit den Anwerbeab-                                                                      land wirtschaftlich
kommen hauptsächlich ungelernte Arbeiter nach                 Diese Politik wurde von beiden Seiten als vorteil-   vorteilhaft.
Deutschland.4 Rund 90 Prozent der Gastarbeiter                haft angesehen. Für die deutsche Wirtschaft
waren in der Industrie tätig und erhielten durch              stand die dämpfende Wirkung auf die Lohn- und
ihre meist an- und ungelernten Tätigkeiten rela-              Preisentwicklung sowie die Verhinderung eines
tiv niedrige Löhne. Zugleich war für die meisten              Arbeitskräftemangels im Vordergrund. Gleich-
von ihnen der Anreiz hoch, besonders schwere                  zeitig konnten die Entsendeländer ihre Arbeits­
Tätigkeiten und Überstunden zu akzeptieren,                   losenzahlen senken und die Qualifikation ihrer
denn wie der deutsche Staat gingen sie von einem              Erwerbs­­bevölkerung verbessern.
zeitlich begrenzten Aufenthalt in Deutschland
                                                              Der Anwerbestopp von 1973 stellte die Gastar-
3   Münz, Rainer; Ulrich, Ralf (2000). „Die ethische und      beiter vor die Entscheidung, entweder in ihr
    demographische Struktur von Ausländern und
    Zuwanderern in Deutschland“, in: Alba, Richard;           Heimatland zurückzukehren oder dauerhaft in
    Schmidt, Peter; Wasmer, Martina (Hg.). Deutsche und       Deutschland zu bleiben und ihre Familien nach-
    Ausländer: Freunde, Fremde oder Feinde? Empirische
    Befunde und theoretische Erklärungen, Blickpunkt
                                                              zuholen. Die Anzahl der Menschen, die durch
    Gesellschaft 5, Wiesbaden, S. 11–53.
4   Münz, Rainer; Ulrich, Ralf (2000).                        5   Herbert (2014). S. 788–791.

                                                                                                                                         13
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

                        den Familiennachzug in den 1970er-Jahren nach              „Deutsche Migration“ der Aussiedler
                        Westdeutschland kamen, lag nur wenig unter                 und Spätaussiedler
                        der Anzahl der Rückkehrer. Auf den hohen Fa-
                        miliennachzug war die Politik nicht eingestellt            Als Aussiedler oder ab dem Jahr 1993 amtlich als
                        und den Herausforderungen, die dieser für das              Spätaussiedler werden in Osteuropa lebende
                        Bildungssystem und den Kulturtransfer mit sich             Deutsche oder deutschstämmige Minderheiten
                        brachte, nicht gewachsen. Das zentrale Problem             bezeichnet. Im Rahmen der Ostverträge, die in
                        einer dauerhaften Zuwanderung dieser Art war               den Jahren 1970 bis 1973 geschlossen wurden,
                        die schleppende Entwicklung bei der beruflichen            wurde die Ausreisefreiheit der oftmals benach-
                        Ausbildung und dem Erlernen der deutschen                  teiligten Minderheiten vereinbart. Bis Ende der
                        Sprache.6 Im Jahr 1984 betrug der Anteil der an-           1980er-Jahre kamen rund 1,5 Millionen Aussied-
                        oder ungelernten Arbeiter in dieser Bevölke-               ler in die Bundesrepublik, zwischen 1988 und
                        rungsgruppe noch immer 70 Prozent. Durch eine              1998 waren es ca. 2,5 Millionen Menschen, davon
                        Politik der „Integration auf Zeit“ wurde die sozi-         allein rund 400.000 im Jahr der deutschen Wie-
                        ale und gesellschaftliche Eingliederung nicht ak-          dervereinigung. Seither geht die Zuwanderung
                        tiv gefördert. Stattdessen war es z. B. eines der          dieser Gruppe stetig zurück, sodass in den Jah-
                        Ziele im Schulsystem, den Kontakt der Kinder               ren von 1999 bis 2014 noch etwa 490.000 Perso-
                        zur Heimatkultur zu bewahren, um ihnen eine                nen als Spätaussiedler immigriert sind. Der
                        spätere Rückkehr offenzuhalten.7                           Rückgang und das allmähliche Auslaufen sind
                                                                                   nicht zuletzt auf gesetzliche Änderungen im Jahr
                        6   Göktürk, Deniz; Gramling, David; Kaes, Anton (2007).   2006 zurückzuführen, die nur noch Deutsch-
                            Germany in Transit. Nation and Migration 1955–2005,    stämmigen, die vor dem Jahr 1992 geboren wur-
                            Berkeley et al., S. 23–25.
                                                                                   den, die Spätaussiedlereigenschaft zusprechen.8
                        7   Herbert (2014). S. 989f.

                                                                                   Der größte Teil der Spätaussiedler stammte aus
                                                                                   den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetuni-
„Wir werden die Aussiedler, die jetzt                                             on, aus Polen und Rumänien. Bis zum Jahr 1992

  neu hierhergekommen sind,                                                        verlief ihre Übersiedlung unbürokratisch, da sie
                                                                                   als Deutschstämmige Anspruch auf die deutsche
  beschenken. Aber ich füge hinzu: Sie                                             Staatsbürgerschaft hatten. Infolge des Kriegsfol-

  beschenken uns auch. Sie beschenken                                              genbereinigungsgesetzes von 1993, das nur noch
                                                                                   Deutschstämmigen in den Ländern der ehemali-
  uns dadurch, dass sie ein Signal der                                             gen Sowjetunion ein Kriegsfolgeschicksal und
 Hoffnung in sich tragen, dass sie                                                 damit einen Vertreibungsdruck zuspricht, san-
                                                                                   ken die Einwanderungszahlen dieser Gruppe
  nicht aufgegeben haben, dass sie über                                            deutlich. In der Summe hat Deutschland zwi-
  ein Jahrzehnt, zum Teil über                                                     schen 1950 und 2015 ca. 4,5 Millionen Aussiedler
                                                                                   aus Ostmittel- und Osteuropa aufgenommen.9
 Jahrzehnte hindurch das Ziel vor
 Augen hatten und als unverrückbares
 Ziel vor Augen behielten: in die alte
 Heimat, in ihr Vaterland                                                          8   Worbs, Susanne; Bund, Eva; Kohls, Martin; Babka von
 zurückkehren zu wollen.“                                                              Gostomski, Christian (2013). (Spät-)Aussiedler in
                                                                                       Deutschland – Eine Analyse aktueller Daten und
                                                                                       Forschungsergebnisse, Forschungsbericht 20, Bundesamt
 Bundeskanzler Helmut Kohl, 10. Dezember 1982,                                         für Migration und Flüchtlinge, S. 7.
 bei einem Besuch im Grenzdurchgangslager Friedland
                                                                                   9   Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016). Migra­
 vor Aussiedlern aus dem Osten
                                                                                       tionsbericht 2015 im Auftrag der Bundesregierung,
                                                                                       Bundesministerium des Innern (Hg.), Nürnberg, S. 161.

14                                                                                                                Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

 Abbildung 3:
 Zuzüge nach Deutschland aus ausgewählten Herkunftsregionen von 1964 bis 1980

14.000.000

12.000.000

10.000.000

  800.000

  600.000

  400.000

  200.000

          0
              1964

                        1965

                                                                                                                               1977

                                                                                                                                                         1980
                                 1966

                                                   1968

                                                                                1972
                                                                         1971

                                                                                          1973

                                                                                                              1975

                                                                                                                                                1979
                                                          1969

                                                                                                                                        1978
                                                                 1970
                                            1967

                                                                                                                      1976
                                                                                                     1974

                     Afrika             Asien         Europa        Portugal           Spanien              Griechenland          Italien

 Anmerkungen: Es werden Zuzüge aus den Kontinenten Afrika, Asien und Europa, darunter ausgewählte Herkunftsländer der
 Gastarbeiter, betrachtet. Die Daten sind ab 1964 veröffentlicht. Sie werden für die Türkei nicht gesondert ausgewiesen, da die Türkei
 in den Statistiken dem europäischen Kontinent zugerechnet wird. 
 Quelle: Statistisches Bundesamt, 2017.

 4,5 Mio
 (SPÄT-)AUSSIEDLER SIND SEIT 1950
                                                                                                  1,2 Mio
                                                                                                  AUSLÄNDER LEBTEN BEREITS 1964 IN
 NACH DEUTSCHLAND GEKOMMEN.                                                                       WESTDEUTSCHLAND.
 3,1 MILLIONEN LEBTEN IM JAHR 2015
 IN DER BUNDESREPUBLIK.

 36,5 %
 ALLER PERSONEN MIT MIGRATIONS­
                                                                                                  90 %
                                                                                                  DER GASTARBEITER WAREN IN
 HINTERGRUND STAMMEN AUS GAST­                                                                    DER INDUSTRIE TÄTIG.
 ARBEITER-ANWERBESTAATEN.

                                                                                                                                                                15
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

                         Das Grenzdurchgangslager Friedland – ein offenes Kapitel
                         deutscher Migrationsgeschichte
                         Von Dr. Joachim Baur und Eva Völker, Museum Friedland

Mehr als vier Milli­o­   „Friedland war für mich die Ankunft an einem            Auch die spätere innerdeutsche Grenze verläuft
nen Menschen haben       Ort, der zwar fremd war, da war nicht das               nahe dem Lager. So kommt es, dass zahlreiche
das Grenzdurch-          Gefühl, ich bin zu Hause, aber ich bin gewollt.         Flüchtlinge aus der DDR über Friedland in den
gangslager Friedland     Der Krieg ist vorbei und auch die Flucht, und           Westen gelangen. Von der Gründung der beiden
in den letzten           jetzt geht es weiter.“ Annelie Keil erinnert sich,      deutschen Staaten bis zur Öffnung der Mauer
70 Jahren passiert.      wie sie als Kind 1947 ins Grenzdurchgangslager          sind es 3,5 Millionen Menschen, die aus der
Darunter sind            Friedland kam. Aus dem Bereich des heutigen             DDR in die Bundesrepublik fliehen. Eine von
Flüchtlinge, Vertrie-    Polen war sie mit ihrer Mutter gegen Kriegs­            ihnen ist Gisela Golsch: „Friedland bedeutet mir
bene und Ausgewie-       ende vor der heranrückenden Roten Armee                 eigentlich auch Tor zur Freiheit. Die Freiheit, die
sene, entlassene         Richtung Westen geflohen. Sie ist einer von             ich hier bekommen habe, die hatte ich vorher
Kriegs­gefangene und     mehr als vier Millionen Menschen, die das               nicht. Man konnte sich bewegen, man konnte
Displaced Persons,       Lager in den letzten 70 Jahren passiert haben.          hingehen, wo man wollte, man konnte sagen,
Aussiedler und                                                                   was man wollte. Das war neu.“
Spätaussiedler,          Das Grenzdurchgangslager Friedland bei
Schutzsuchende           Göttingen ist eines der ältesten Flüchtlingslager       Mit der „Operation Link“ beginnt 1950 die
aus vielen Teilen        Deutschlands. Von seiner Gründung im Herbst             Aufnahme von Aussiedlern, d. h. Deutschen aus
der Welt.                1945 bis heute spiegelt es die Dynamiken von            Ost- und Mitteleuropa. Wie ein roter Faden zieht
                         Migration, aber auch die Versuche, sie zu               sich ihre Ankunft durch die Geschichte Fried-
                         steuern und zu kontrollieren. Im Lauf der Jahre         lands – von 1950 bis heute sind 4,5 Millionen
                         kamen ganz unterschiedliche Gruppen von                 Aussiedler nach Deutschland gekommen, etwa
                         Menschen an: Flüchtlinge, Vertriebene und               die Hälfte von ihnen über das Grenzdurch-
                         Ausgewiesene, entlassene Kriegsgefangene und            gangslager. Damit sind sie eine der größten
In den ersten fünf       Displaced Persons, Aussiedler und Spätaussied-          Zuwanderergruppen in der Geschichte der
Jahren der Geschich-     ler, Schutzsuchende aus vielen Teilen der Welt.         Bundesrepublik und mit Abstand die größte im
te des Grenzdurch-       An der Herkunft der Ankommenden lässt sich              Lager Friedland. Ursprünglich kommen sie
gangslagers bis 1950     ein wichtiges Kapitel der deutschen Migrations-         vorwiegend aus Polen und Rumänien, seit der
sind es Deutsche, die    geschichte ablesen. Davon erzählt das im März           Öffnung des Eisernen Vorhangs vor allem aus
das Lager bewohnen,      2016 eröffnete Museum Friedland, das u. a.              Russland, aber auch aus Kasachstan oder
als Flüchtlinge aus      die Schicksale von Zeitzeugen wie Annelie Keil          Kirgisien. Darüber hinaus hat die Bundesrepub-
der DDR und als          zugänglich macht.                                       lik seit 1991 mehr als 200.000 jüdische Einwan-
Aussiedler.                                                                      derer aus der ehemaligen Sowjetunion als
                         Nach dem Zweiten Weltkrieg sind in Deutsch-             Kontingentflüchtlinge aufgenommen.
                         land Millionen Menschen unterwegs. In
                         ver­schiedene Richtungen passieren sie die              Mitte der 1950er-Jahre nimmt das Grenzdurch-
                         Grenzen der Besatzungszonen. Die britische              gangslager die ersten internationalen Flüchtlin-
                         Militärverwaltung versucht, den Zuzug in ihre           ge auf: Ungarn, die nach der Niederschlagung
                         Zone zu kontrollieren und richtet zu diesem             des Volksaufstandes durch die sowjetische
                         Zweck das Lager Friedland bei Göttingen ein.            Armee in den Westen gehen. In den Jahren
                         Der Standort ist ideal, da dort die britische           1956/57 reisen 13.000 Flüchtlinge aus Ungarn in
                         Besatzungszone an die amerikanische und die             die Bundesrepublik ein. 3.500 von ihnen werden
                         sowjetische grenzt.                                     zunächst in Friedland untergebracht.

16                                                                                                          Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

Im Dezember 1978 erreichen erste Boatpeople aus Vietnam das Lager Friedland. Schaulustige werden durch Polizisten und Mitarbeitende des
Deutschen Roten Kreuzes abgehalten, damit die Flüchtlinge aussteigen können

Das Ende des Ost-West-Konflikts Ende der                  über Friedland. Genau wie Annelie Keil, die es                   Nach dem Ende des
1980er-Jahre ist im Lager Friedland deutlich              vor 70 Jahren dorthin verschlug. Die heute                       Kalten Krieges
spürbar. Viele Menschen nutzen die nun offenen            78-Jährige hat erst im Alter begonnen, sich mit                  spiegelt das Lager
Grenzen und kommen als Aussiedler in die                  ihrem Flüchtlingsschicksal auseinanderzuset-                     Friedland nicht mehr
Bundesrepublik. Um die Einwanderung zu                    zen: „Das Thema geht immer weiter, immer                         in erster Linie die
begrenzen, regelt die Bundesregierung das                 wieder sind Millionen Menschen in dieser Welt                    Folgen des Zweiten
Verfahren der Anerkennung mehrfach neu.                   unterwegs, darunter auch alte Menschen. Sie                      Weltkriegs, sondern
                                                          suchen irgendwo einen Ort, wo sie dann                           die globalen Krisen­-
Mit zurückgehenden Aussiedlerzahlen ver­                  wenigstens in Ruhe sterben können. Das darf                      herde von heute.
ändert sich das Lager Friedland: Aus der                  man nicht vergessen.“
Aufnahmeeinrichtung für Deutsche wird nach
und nach eine für Menschen aus aller Welt.
Damit spiegelt das Lager Friedland nach Ende
des Kalten Krieges nicht mehr in erster Linie
die Folgen des Zweiten Weltkriegs, sondern die
globalen Krisenherde von heute. Aktuell
stammen die meisten Personen, die nach
Deutschland fliehen, aus Syrien, dem Irak, Iran
und Afghanistan. Viele von ihnen kommen

                                                                                                                                                 17
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSC H LAN D VON 1945 BI S H EUTE

                        Asylbedingte Zuwanderung                                                                                           Konkurrenz am Arbeitsmarkt, um Wohnraum
                                                                                                                                           und um Sozialleistungen wahr.10 In der damali-
                        Neben den bisher vorgestellten Einwanderungs-                                                                      gen innenpolitischen Debatte wurde die Zahl der
                        gruppen spielten Asylsuchende lange Zeit eine                                                                      Asylbewerber und ihr Anteil an der Zuwande-
                        zu vernachlässigende Rolle. Erst im Jahr 1980 be-                                                                  rung jedoch stark überschätzt. Während im Zeit-
                        trug ihre Anzahl über 100.000 Personen in einem                                                                    raum von 1990 bis 1994 ca. 1,5 Millionen Personen
                        Jahr (vgl. Abbildung 4). Ursächlich war dabei der                                                                  in Deutschland Asyl beantragten, kamen weitere
                        Militärputsch in der Türkei. Später führten der                                                                    2,1 Millionen durch Familiennachzüge oder im
                        Niedergang der kommunistischen Regime in                                                                           Rahmen ihrer Rechte als EG-Bürger vor allem
Der Asylkompromiss      Osteuropa und insbesondere der Zerfall Jugosla-                                                                    nach Westdeutschland. Im Vergleich dazu war
führte zu einem         wiens ab dem Jahr 1988 zur stärksten Einwande-                                                                     die Anzahl an Ausländern in den neuen Bundes-
deutlichen Rückgang     rung von Ausländern seit der Gastarbeiteranwer-                                                                    ländern ziemlich gering: Dort lebten noch aus
der Anzahl der          bung. Darüber hinaus hatte der sich verschärfende                                                                  Zeiten der DDR etwa 190.000 Vertragsarbeiter
Asylanträge in          Konflikt in den türkischen Kurdengebieten be-                                                                      aus Vietnam und Mosambik. Dabei handelte es
Deutschland.            deutende Auswirkungen auf die asylbedingte                                                                         sich mehrheitlich um junge, ledige Männer, die in
                        Zuwanderung. Insgesamt wurden im Jahr 1992                                                                         rechtlich unsicheren und prekären sozialen Ver-
                        ca. 438.000 Asylanträge in Deutschland gestellt,                                                                   hältnissen, getrennt von der übrigen Bevölke-
                        was rund 30 Prozent der Gesamtzuwandererzahl                                                                       rung, in Gemeinschaftsunterkünften lebten. Als
                        und knapp zwei Drittel aller Asylbewerber in                                                                       gesellschaftliche Außenseiter wurden sie in den
                        Europa entsprach.                                                                                                  turbulenten Wendejahren oft zur Zielscheibe ag-
                                                                                                                                           gressiver Fremdenfeindlichkeit.11
                        Aus unterschiedlichen Gründen gehörten Asyl-
                        suchende in Deutschland tendenziell zu den sozi-
                        al schwachen Schichten. Daher nahmen Teile der                                                                     10 Herbert (2014). S. 994–996.
                        einheimischen Bevölkerung diese Gruppe als                                                                         11 Herbert (2014). S. 1171–1173.

                        Abbildung 4:
                        Asylantragszahlen in Deutschland von 1953 bis 2016

                        800.000

                        700.000

                        600.000

                        500.000

                        400.000

                        300.000

                        200.000

                        100.000

                               0
                                                                                                                                                       1987
                                                                                                                                                              1989
                                                                                                                                                                     1991
                                                                                                                                                                            1993
                                                                                                                                                                                   1995
                                                                                                                                                                                          1997
                                                                                                                                                                                                 1999
                                                                                                                                                                                                        2001
                                                                                                                                                                                                               2003
                                                                                                                                                                                                                      2005
                                                                                                                                                                                                                             2007
                                                                                                                                                                                                                                    2009
                                                                                                                                                                                                                                           2011
                                                                                                                                                                                                                                                  2013
                                                                                                                                                                                                                                                         2015
                                1953
                                       1955
                                              1957
                                                     1959
                                                            1961
                                                                   1963
                                                                          1965
                                                                                 1967
                                                                                        1969
                                                                                               1971
                                                                                                      1973
                                                                                                             1975
                                                                                                                    1977
                                                                                                                           1979
                                                                                                                                  1981
                                                                                                                                         1983
                                                                                                                                                1985

                        Quelle: BAMF, 2017.

18                                                                                                                                                                                                       Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

438.000
ASYLANTRÄGE WURDEN IM JAHR
1992 IN DEUTSCHLAND GESTELLT. IN
                                     117.313
                                     ERSTANTRÄGE WURDEN LAUT
                                     BAMF VON JANUAR BIS JULI 2017
2015 WAREN ES 477.000 ASYLANTRÄGE.   INSGESAMT GESTELLT.

                                                                                                                    19
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

     Rechtliche Grundlagen: Zuwanderungsgesetz12                             und verschiedenen mit der EU vertraglich enger
                                                                             verbundenen Staaten wie beispielsweise der Schweiz.
                                                                             Arbeitsmigranten sind in verschiedenen Gruppen
     Während in der öffentlichen Diskussion die Bezeich-                     erfasst. Akademische Fachkräfte erhalten mit der
     nungen verschiedener Gruppen von Zuwanderern                            „Blauen Karte EU“ einen vereinfachten Aufenthaltstitel,
     unscharf verwendet werden, verbinden sich mit jedem                     wenn sie ein abgeschlossenes Hochschulstudium
     rechtlich anerkannten Status unterschiedliche Rechtsan-                 nachweisen können und eine Gehaltsmindestgrenze
     sprüche. Von Zuwanderung oder Migration wird                            von 49.600 Euro (im Jahr 2016) einhalten. Für Auslän-
     gesprochen, wenn es sich um Personen handelt, die                       der, die in Deutschland erfolgreich studiert haben,
     längere Zeit in einem anderen Land zu bleiben beab-                     gelten weitere Erleichterungen. Qualifizierte Fachkräfte
     sichtigen. Touristen oder Geschäftsreisende sind keine                  in Ausbildungsberufen können relativ unbürokratisch
     Migranten. Langzeitmigranten sind Personen, die                         eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn in der ent-
     mindestens ein Jahr in einem anderen Land bleiben. Sie                  sprechenden Branche ein Mangel besteht oder wenn die
     unterliegen den Regelungen des Gesetzes zur Steue-                      Bundesagentur für Arbeit mit einem Herkunftsstaat
     rung und Begrenzung der Zuwanderung und zur                             eine Vermittlungsabsprache getroffen hat. Die Mangel-
     Regelung des Aufenthalts und der Integration von                        berufe sind in einer Positivliste veröffentlicht. Zusätz-
     Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)                       lich zu einem Arbeitsvertrag ist die Gleichwertigkeit
     vom 30. Juli 2004, welches u. a. das Aufenthaltsgesetz                  mit einer inländischen qualifizierten Ausbildung
     und das Freizügigkeitsgesetz/EU novelliert und                          nachzuweisen. Eine Vorrangprüfung findet hingegen
     Änderungen im Asylrecht vorsieht. Gemäß dem                             nicht statt. Die Zuwanderung unqualifizierter oder
     Zuwanderungsgesetz ermöglicht eine Aufenthaltser-                       gering qualifizierter Arbeitskräfte ist nur befristet, etwa
     laubnis eine befristete Dauer des Verbleibs im Inland.                  als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, möglich.
     Eine Niederlassungserlaubnis ist hingegen ein unbefris-
     teter Aufenthaltstitel. Sie berechtigt zur Ausübung einer               Nach der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr
     Erwerbstätigkeit und ist zeitlich wie räumlich unbe-                    1951 muss Menschen, die wegen ihrer Rasse, Religion,
     schränkt (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Zuwanderungsgesetz). Die                    Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten
     Voraussetzungen für die Niederlassung sind in § 9                       sozialen Gruppe, ihrer politischen Überzeugung oder
     Abs. 2 Zuwanderungsgesetz festgelegt.                                   aus geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt sind,
                                                                             Schutz gewährt werden. Sie dürfen nicht in Länder
     Grundsätzlich sind vier Gruppen von Langzeitmigran-                     abgeschoben werden, in denen ihr Leben gefährdet ist
     ten zu unterscheiden: solche, die Freizügigkeitsregeln                  oder ihnen Folter droht. Die Vereinten Nationen (UN)
     nutzen, Arbeitsmigranten, Asylbewerber und Flüchtlin-                   fassen darunter zudem durch Krieg oder Bürgerkrieg
     ge sowie Familiennachzügler. Zuwanderer, die Freizü-                    verfolgte Personengruppen. Die Genfer Flüchtlings-
     gigkeitsregeln nutzen können, haben die Möglichkeit,                    konvention ist im Sekundärrecht der EU in der Qualifi-
     ohne Einschränkung in ein Aufnahmeland zu migrieren                     kationsrichtlinie von 2011 verankert. Das deutsche
     und sich für unbegrenzte Zeit dort aufzuhalten. Dieses                  Asylrecht setzt diese um und schützt vor staatlicher
     Freizügigkeitsrecht gilt prinzipiell in der Europäischen                Verfolgung. Dabei ist der Flüchtlingsbegriff in der
     Union (EU), dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)                      Genfer Flüchtlingskonvention weiter gefasst als der
                                                                             Asylbegriff im Grundgesetz, sodass das Bundesamt für
     12 Siehe dazu insbesondere Brücker, Herbert; Hauptmann, Andreas;        Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Asylberechti-
        Trübswetter, Parvati (2015). Asyl- und Flüchtlingsmigration in die
        EU und nach Deutschland, IAB-Bericht 8/2015, Institut für
                                                                             gung und den Flüchtlingsschutz rechtlich prüfen muss.
        Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Nürnberg, S. 4f.            Zudem kann subsidiärer Schutz für Personen gewährt

20                                                                                                              Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

werden, denen in ihrem Herkunftsland ernsthafter            Sie können zudem zu undokumentierten Migranten
Schaden droht.                                              werden. Die Abschiebung kann aus verschiedenen
                                                            Gründen, etwa gesundheitlicher oder administrativer
Im sogenannten Asylkompromiss wurde im Jahr 1993 in         Art, vorübergehend ausgesetzt werden. Diese abgelehn-
einer Grundgesetzänderung das bis dahin schrankenlos        ten Asylbewerber werden geduldet und haben keinen
geltende Grundrecht auf Asyl revidiert. Ausländer, die      Aufenthaltstitel. Ende des Jahres 2016 befanden sich
über einen EU-Mitgliedstaat oder einen sonstigen            rund 153.000 Geduldete in Deutschland.13
sicheren Dritt- oder Herkunftsstaat einreisen, können
sich seither nicht auf das Asylrecht berufen (Art. 16a      Seit dem Jahr 2015 hat der Gesetzgeber eine Reihe von
Abs. 2 GG). Sichere Drittstaaten sind neben den Mit-        Änderungen des Asylrechts, insbesondere durch die
gliedstaaten der EU Norwegen und die Schweiz.               Asylpakete I und II, vorgenommen. Das Asylverfahrens-
Sichere Herkunftsstaaten werden durch Gesetz definiert.     beschleunigungsgesetz vom Oktober 2015 erweitert u. a.
Ein Asylantrag aus einem solchen Staat gilt als unbe-       die Anzahl sicherer Herkunftsstaaten, verlängert den
gründet, wenn keine Beweise für die politische Verfol-      Verbleib in Erstaufnahmeeinrichtungen und nimmt
gung vorgelegt werden.                                      gewisse Leistungskürzungen vor. Das Asylpaket II vom
                                                            März 2016 führt neben weiteren Verschärfungen des
Nach dem Dublin-Abkommen, das die EU-Mitgliedstaa-          Asylrechts neue beschleunigte Asylverfahren ein. Das
ten, Island, Norwegen und die Schweiz unterzeichnet         Integrationsgesetz vom August 2016 zielt hingegen auf
haben, müssen Asylbewerber einen Asylantrag in dem          einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylbe-
Land stellen, in das sie zuerst eingereist sind. Andere     werber und anerkannte Asylsuchende ab.
Vertragsstaaten können Asylbewerber in diesen Staat
überführen. Problematisch ist die faktische Geltung         Familiennachzug wird ausländischen Familienangehöri-
dieses Abkommens, soweit Mitgliedstaaten an der             gen grundsätzlich gewährt und ist in Abschnitt 6 des
EU-Außengrenze Asylbewerber und Flüchtlinge nicht           Zuwanderungsgesetzes geregelt. Dabei wird der Famili-
registrieren und zur Weiterreise motivieren. Zudem          ennachzug zu Deutschen und zu Ausländern unterschie-
haben Verwaltungsgerichte und der Europäische Ge-           den. Im letztgenannten Fall bestehen enge Grenzen:
richtshof für Menschenrechte in der Vergangenheit die       Einerseits müssen für den Familiennachzug zu einem
Rückführung von Asylbewerbern und Flüchtlingen,             Ausländer bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein (§ 29
insbesondere nach Griechenland, aufgrund unzureichen-       Zuwanderungsgesetz). Andererseits wird Familiennach-
der humanitärer und sozialer Standards ausgesetzt.          zug den Ehegatten und Kindern eines Ausländers,
                                                            anderen Familienangehörigen aber nur zur Vermeidung
Deutschland wendet ein zweistufiges Registrierungssys-      außergewöhnlicher Härten erteilt.
tem an. Im Rahmen der Erstverteilung werden Asylbe-
gehrende in einem ersten Schritt erfasst (EASY). In einem
zweiten Schritt müssen Asylbewerber formell einen
Asylantrag stellen. Die Anzahl der EASY-Registrierungen
kann von den formellen Asylanträgen abweichen. Diese
Abweichungen waren im Zuge der Flüchtlingskrise der
Jahre 2015 und 2016 erheblich.

                                                            13 Siehe OECD (2017). Nach der Flucht: Der Weg in die Arbeit
Personen, deren Asylantrag abgelehnt wird, sind zur             – Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland,
Ausreise verpflichtet und können abgeschoben werden.            Paris, S. 17.

                                                                                                                                       21
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

Zwischen 1995 und       Migration im zusammen-                                     Durch die EU-Osterweiterung ist der Zuzug aus
2015 sind insgesamt     wachsenden Europa                                          diesen osteuropäischen Herkunftsländern deut-
13,9 Millionen Men-                                                                lich angestiegen. Zuwanderer aus Polen, Rumäni-
schen aus Europa        Im Zuge der europäischen Integration und der               en und Bulgarien sind darunter stark vertreten.
nach Deutschland        Erweiterung der EU-Mitgliedstaaten sind struktu-           Insbesondere seit der Finanz- und Wirtschaftskri-
eingewandert und        relle Veränderungen der Zuwanderung zu beob-               se der Jahre 2008/09 nahm die Einwanderung aus
11,1 Millionen Men-     achten. Durch die schrittweise Einführung der              Südeuropa wieder zu (vgl. Abbildung 5). Ähnlich
schen aus Deutsch-      Arbeitnehmerfreizügigkeit können sich die Bür-             wie zu Zeiten der Gastarbeiter ist dabei die Aus-
land nach Europa        ger heute uneingeschränkt innerhalb von 28 EU-             sicht auf einen Arbeitsplatz der Hauptgrund zur
ausgewandert.           Mitgliedstaaten niederlassen und arbeiten. Neben           Migration.
                        den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt schafft
                        dies neue Möglichkeiten für Auslandserfahrun-
                        gen, z. B. durch das Erasmus-Programm für Stu-
                        dierende. Insbesondere Deutschland, Frankreich             Entwicklung der asylbedingten
Die Arbeitnehmer-       und Großbritannien sind beliebte Zielländer der            Zuwanderung in 2015/16
freizügigkeit und die   EU-Binnenmigration. Seit der EU-Erweiterung
EU-Osterweiterung       sind zwischen 1995 und 2015 insgesamt 13,9 Mil-            Das jüngste Kapitel in der Geschichte Deutsch-
erhöhen die Binnen­-    lionen Menschen aus Europa nach Deutschland                lands als Einwanderungsland bildete in den ver-
migration in der        ein- und 11,1 Millionen Menschen aus Deutsch-              gangenen Jahren der hohe Zuzug von Asylsu-
Europäischen Union.     land nach Europa ausgewandert.                             chenden aus Nordafrika und dem Nahen Osten.

                        Abbildung 5:
                        Zuzüge nach Deutschland aus ausgewählten Herkunftsregionen von 1980 bis 2015

                        2.500.000

                        2.000.000

                        1.500.000

                        1.000.000

                          500.000
                                                                                                                          2010

                                                                                                                                             2015
                                                      1985

                                                                  1990

                                                                            1995

                                                                                           2000

                                                                                                        2005
                                    1980

                                           Afrika         Asien   Europa   Bulgarien     Rumänien     Polen         Spanien        Italien

                        Anmerkungen: Es werden Zuzüge aus den Kontinenten Afrika, Asien und Europa, darunter ausgewählte
                        Herkunftsländer Süd- und Osteuropas betrachtet. Die Daten der neuen EU-Mitgliedstaaten sind erst seit
                        2007 verfügbar. Dies erklärt den starken Anstieg von 2006 auf 2007.
                        Quelle: Statistisches Bundesamt, 2017.

22                                                                                                             Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

Budapest – eine Stadt ist Zeugin
Erstellt von Projektmitarbeitern des Malteser Migrationsberichts

„Migration ist ein wiederkehrendes Phänomen.“ Diese Aussage wird
durch Bilder, die in den Jahren 1989 und 2015 in Budapest entstanden
sind, greifbar: Der erste Auszug mit zwei Bildern schildert die Situation
der DDR-Flüchtlinge 1989, der zweite Auszug berichtet von der Situation
im Herbst 2015, als Hunderte Flüchtlinge vor allem aus dem Nahen
Osten in Budapest am Bahnhof auf eine Weiterreise warten.

Ostdeutsche verlassen im Sommer und Herbst 1989 massenhaft die DDR,
um Mangelwirtschaft, Unfreiheit und Wahlfälschungen zu entkommen.
Viele fliehen über Ungarn und Österreich in den Westen. Die Anzahl der                                         Die Malteser versorgen die in die deutsche
Ausreiseanträge steigt sprunghaft. Die SED verkennt die Lage und betont                                        Botschaft in Ungarn geflüchteten Menschen aus
                                                                                                               der DDR
die „Verbundenheit von Volk und Partei“. Die Flucht- und Ausreisewelle
verstärkt die Dynamik des Zerfalls des SED-Regimes.

Ungarn beginnt Anfang Mai 1989, seine Grenzanlage zu Österreich
abzubauen. Schließlich öffnet es im September die Grenze zum Westen
vollständig und ermöglicht eine ungehinderte Ausreise. Das SED-Regime
untersagt den Ostdeutschen zwar die Reise nach Ungarn – jedoch ohne
Erfolg. 25.000 Menschen nutzen nach der vollständigen Grenzöffnung bis
Ende September die Gelegenheit zur Flucht in den Westen. Der „Eiserne
Vorhang“ zerfällt.
(Petschow, Annabelle: Massenflucht, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland)
                                                                                                               Auf dem Gelände der deutschen Botschaft
                                                                                                               entstand eine kleine Zeltstadt, um alle gut
                                                                                                               unterzubringen
Die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 gilt als Wende in der
Flüchtlingskrise. Bundeskanzlerin Angela Merkel entschied in nächt­
lichen Telefonaten mit dem damaligen österreichischen Kanzler Werner
Faymann, für Tausende in Ungarn gestrandete Flüchtlinge die Grenzen
zu öffnen. Zuvor hatte sich die Lage am Budapester Ostbahnhof tagelang
zugespitzt: Polizeieinsätze, notdürftige Versorgung, Hungerstreiks. Am
4. September machten sich tagsüber Hunderte zu Fuß vom Budapester
Ostbahnhof auf den Weg Richtung österreichische Grenze – die Bilder
vom Fußmarsch entlang der Autobahn bei Budapest gingen um die Welt.
Am Abend entschied die Regierung von Viktor Orban überraschend, die
Flüchtlinge mit rund 100 Bussen zum Grenzübergang Hegyeshalom zu
bringen. Viele Flüchtlinge zögerten – aus Angst, in ein Lager gebracht zu                                      Entlang der Autobahn marschieren Flüchtlinge
werden. Kurz nach Mitternacht verkündete Österreichs Kanzler Werner                                            Richtung österreichische Grenze

Faymann dann: Die Grenze nach Nickelsdorf ist offen.
(Berichterstattung ARD Wien: Ralf Borchard)

                                                                                                                                                                   23
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

Abbildung 6:                                                                     Während die Netto-Zuwanderung nach Deutsch-
Gestellte Asylanträge je 1.000 Einwohner 2015 und 2016                           land im Zeitraum zwischen 2004 und 2009
                                                                                 durchweg unter 100.000 Personen lag, stieg sie
                                                                                 danach stetig an und verdoppelte sich zuletzt
                          Ungarn                                                 innerhalb eines Jahres von ca. 550.000 Menschen
                       Schweden                                                  im Jahr 2014 auf 1,1 Millionen im Jahr 2015 (vgl.
                      Österreich                                                 Abbildung 1). Den größten Anteil daran bildeten
                    Deutschland                                                  890.000 Asylsuchende, die vor allem über die
                            Malta                                                sogenannte Balkanroute aus dem Nahen Osten
                     Luxemburg                                                   eingereist waren (vgl. Abbildung 8).14 Zunächst
                         Schweiz                                                 deuteten die Registrierungszahlen im Jahr 2015
                        Finnland                                                 darauf hin, dass potenziell über eine Million
                       Norwegen                                                  Menschen in Deutschland Asyl beantragen
                          Zypern                                                 könnten. Aufgrund von Doppelregistrierungen
                   Liechtenstein                                                 und der Weiterreise vieler Personen wurden die
                   Griechenland                                                  Zahlen nach unten korrigiert.
                          Belgien
                       Bulgarien                                                 In Deutschland wurden in den Jahren 2015 und
Europäische Union (28 Länder)                                                    2016 knapp 15 Asylanträge je 1.000 Einwohner
                      Dänemark                                                   gestellt (vgl. Abbildung 6). Damit liegt Deutsch-
                           Island                                                land im europäischen Vergleich hinter Ungarn,
                    Niederlande                                                  Schweden und Österreich an vierter Stelle. Der
                           Italien                                               Vergleich der Registrierungszahlen mit den im
                      Frankreich                                                 jeweiligen Monat gestellten Asylanträgen zeigt,
        Vereinigtes Königreich                                                   dass viele Asylsuchende aufgrund der unerwar-
                           Irland                                                tet hohen Anzahl der Ankommenden und damit
                      Slowenien                                                  verbundenen Engpässen beim Bundesamt für
                         Spanien                                                 Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihren Asyl-
                            Polen                                                antrag erst mit Verzögerung stellen konnten (vgl.
                        Kroatien                                                 Abbildung 7).
                         Lettland
                          Estland                                                Der Hauptgrund für die stark gestiegene asylbe-
        Tschechische Republik                                                    dingte Zuwanderung ist der seit dem Jahr 2011
                          Litauen                                                anhaltende Bürgerkrieg in Syrien. Ein Ende des
                         Portugal                                                Konflikts ist angesichts der komplizierten Situa-
                      Rumänien                                                   tion und der großen Anzahl an unterschiedlichen
                        Slowakei                                                 Akteuren nicht absehbar. Durch die zunehmend
                                                                                 unsichere Lage im Nahen Osten und der von
                                     0        5       10          15   20   25
                                                                                 Terrororganisationen ausgehenden Bedrohung
Quelle: Eurostat (Erst- und Folgeanträge), eigene Berechnungen.                  besteht für die Zivilbevölkerung in den Krisen-
                                                                                 gebieten eine langfristige Perspektivlosigkeit.15
                                                                                 Des Weiteren kommen viele Geflüchtete aus Af-

890.000 37,6 %
                                                                                 rika südlich der Sahara, insbesondere aus Eritrea,

                                                                                 14 Bundesministerium des Innern (2016). 890.000 Asylsu-
                                                                                    chende im Jahr 2015, Pressemitteilung vom 30. Septem-
ASYLSUCHENDE SIND IM                              DER PERSONEN MIT
                                                                                    ber 2016.
JAHR 2015 NACH DEUTSCH­                           MIGRATIONSHINTER­
                                                  GRUND KOMMEN AUS               15 Birringer, Thomas; Ostheimer, Andrea E. (2015). Flucht
LAND EINGEREIST.
                                                                                    weltweit. Kurze Bestandsaufnahme aus drei Weltregio-
                                                  DEN 28 EU-STAATEN.
                                                                                    nen, in: Die Politische Meinung Nr. 534, 60. Jg., S. 51–60.

24                                                                                                                Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

Nigeria und Somalia. Die politischen Verhältnis-                                                                       und der Länder, die Balkanstaaten als sichere                                                                                    Die Hauptgründe
se sind dort instabil und die wirtschaftliche Ent-                                                                     Herkunftsländer zu definieren.                                                                                                   für die stark
wicklung stagniert auf einem niedrigen Niveau.                                                                                                                                                                                                          gestiegene asylbe-
Zusätzlich treiben Hungersnöte und Terrormili-                                                                         Von integrationspolitischer Bedeutung ist die                                                                                    dingte Zuwande-
zen die Menschen zur Flucht. Viele versuchen                                                                           demografische und sozioökonomische Zusam-                                                                                        rung sind humani­
über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu                                                                          mensetzung der Asylantragsteller. Die bei der                                                                                    täre Krisen und
kommen (vgl. Abbildung 8). Diese Route ist in                                                                          Antragstellung erhobenen Daten zeigen, dass                                                                                      instabile politische
hohem Maße gefährlich, sowohl bei der Flucht                                                                           70 Prozent der Menschen unter 30 Jahren alt                                                                                      und wirtschaftliche
durch die Sahara als auch während der Überfahrt                                                                        und über 30 Prozent sogar minderjährig sind                                                                                      Verhältnisse in
nach Italien.                                                                                                          (vgl. Abbildung 10). Außerdem sind zwei von                                                                                      vielen Ländern.
                                                                                                                       drei Flüchtlingen männlich. Zwei Drittel von ih-
Insgesamt gelangten laut BAMF in den Jahren                                                                            nen sind ethnische Araber und 75 Prozent mus­
2015 und 2016 über 1,2 Millionen Geflüchtete                                                                           limischen Glaubens.16 Ein Vergleich zur Alters-
nach Deutschland. Die größte Gruppe darunter                                                                           struktur der deutschen Bevölkerung zeigt, dass
stammte in beiden Jahren aus Syrien, im Jahr                                                                           die deutsche Bevölkerung merklich älter ist – nur
2016 gefolgt von Afghanistan, dem Irak und Iran                                                                        etwa jeder Dritte ist unter 30 Jahren alt und sogar
(vgl. Abbildung 9). An fünfter Stelle folgte mit                                                                       über 20 Prozent sind älter als 65 Jahre.
Eritrea das erste afrikanische Land. Unter den
europäischen Ländern flohen die meisten Men-                                                                           Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich
schen aus Albanien. Jedoch gingen die Asylan-                                                                          die Zuwanderung nach Deutschland anhand
träge von Personen aus allen Balkanstaaten im
Vergleich zum Jahr 2015 stark zurück. Dies ist                                                                         16 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2017).
eine direkte Folge der Entscheidung des Bundes                                                                            Das Bundesamt in Zahlen 2016, S. 23.

Abbildung 7:
Monatliche Asylantragszahlen und Registrierungen in den Jahren 2015 und 2016

250.000

200.000

150.000

100.000

 50.000

      0
          Jan. 15

                    Feb. 15

                              März 15

                                        Apr. 15

                                                  Mai 15

                                                           Juni 15

                                                                     Juli 15

                                                                               Aug. 15

                                                                                         Sep. 15

                                                                                                   Okt. 15

                                                                                                             Nov. 15

                                                                                                                       Dez. 15

                                                                                                                                 Jan. 16

                                                                                                                                           Feb. 16

                                                                                                                                                     März 16

                                                                                                                                                               Apr. 16

                                                                                                                                                                         Mai 16

                                                                                                                                                                                  Juni 16

                                                                                                                                                                                            Juli 16

                                                                                                                                                                                                      Aug. 16

                                                                                                                                                                                                                Sep. 16

                                                                                                                                                                                                                          Okt. 16

                                                                                                                                                                                                                                    Nov. 16

                                                                                                                                                                                                                                              Dez. 16

                    Asylantragszahlen                                  EASY-Registrierung

Anmerkungen: Registrierungen mittels EASY dienen als Indikator für die Zuwanderung der jüngsten Zuwande-
rungswelle. Durch Doppelerfassungen und nicht registrierte Ausreisen bilden die Registrierungen nur einen
ungefähren Wert ab. Durch Revision der Statistiken weichen die Gesamtjahreszahlen von einer Aufsummierung
der Monatszahlen ab. 
Quelle: BAMF, 2017.

                                                                                                                                                                                                                                                                               25
Z U WA NDE R U NG NA CH DEUTSCH LAN D VON 1945 BI S H EUTE

Im historischen               zweier Merkmale kennzeichnet: Zum einen stieg           zu bekämpfen. Die Entwicklung der Arbeitsmig-
Verlauf haben                 sie über die betrachtete Zeit an. Zum anderen           ration wird vor allem durch die Expansion der
unterschiedliche              lassen sich Phasen identifizieren, in denen es zu       Europäischen Union und durch die Umsetzung
politische oder               besonders starker Zuwanderung kam. Diese                der Personenfreizügigkeit bestimmt. Diese Art
wirtschaftliche               wurden jeweils durch sehr konkrete Anlässe aus-         der Zuwanderung findet heute gegenüber Zeiten
Sondersituationen             gelöst. Dazu zählen die Vertreibung nach dem            der Gastarbeiteranwerbung gleichmäßiger und
sowohl den                    Zweiten Weltkrieg, die Abkommen zur Rück-               in ihrer Zusammensetzung vielfältiger statt.
Zuwanderungsum-               kehr von Spätaussiedlern sowie die Kriege im
fang als auch die             ehemaligen Jugoslawien. Heute sind es vor allem
Zusammensetzung               Konflikte im Nahen Osten, die viele Menschen
der Gruppe der                zur Flucht bewegen. Die weitere Entwicklung
Zuwanderer                    der Zuwanderungszahlen wird davon abhän-
bestimmt.                     gen, ob es gelingt, die Fluchtursachen wirksam

Abbildung 8:
Fluchtrouten nach Europa in den Jahren 2015 und 2016

Festgestellte illegale Grenzübertritte
an der EU-Außengrenze
                                                                                                                     Östliche Landroute
Insgesamt
                                                                                                                     1.927
in 2015       1.822.177
                                                                                                                     1.349
in 2016       511.371

                                                                                                      Westliche Balkanroute

                                                                                                      764.038
                                                                                                      130.261

                                                                         Zirkuläre Route von
                                                                         Albanien nach Griechenland

                                                                         8.932
                                                                         5.121
                                            Westliche Mittelmeerroute                                           Östliche Mittelmeerroute

                                            7.004                                                               885.386

                                            10.231                                                              182.277
                                                                        Zentrale Mittelmeerroute
                   Westafrikanische Route
                                                                        153.946
                   874
                                                                        181.459
                   671

Anmerkungen: Die Erfassung illegaler Grenzübertritte an den Außengrenzen Europas zeigt Fluchtrouten, die Menschen nach Europa
wählen. Die Zahlen beziehen sich auf die Jahre 2015 und 2016, die Gliederung nach Herkunftsstaaten jedoch nur auf das Jahr 2016.
Quelle: Frontex, 2017.

26                                                                                                                    Malteser Migrationsbericht 2017
ZUWAN D E R UN G N ACH DE UT S CHL AN D V ON 1 9 4 5 BIS H EU T E

Abbildung 9:
Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) nach Herkunftsländern in den Jahren 2015 und 2016

2015                                                                                     2016

       33 %                                   34 %                                               27,5 %                                                     36 %

                                                                                                 2,5 %

                                                                                                   4%
          7%
                                           11 %
                   7%
                                8%                                                                              13 %                              17 %

               Syrien           Afghanistan          Irak         Albanien            Kosovo                  Iran             Eritrea           Sonstige

Anmerkungen: Im Jahr 2015 stellten insgesamt 477.000 Personen einen Asylantrag in Deutschland. 2016 waren es 746.000.
Die Größe der Abbildungen ist proportional zur Anzahl der Anträge pro Jahr. 
Quelle: BAMF, 2017.

Abbildung 10:
Altersstruktur der Asylantragsteller aus den Jahren 2015 und 2016 im Vergleich zur deutschen Bevölkerung

                        25           20       15        10         5           0          5              10            15           20         25

                                                                                   65 Jahre und älter

                                                                                   von 60 bis unter 65 Jahre

                                                                                   von 55 bis unter 60 Jahre

                                                                                   von 50 bis unter 55 Jahre

                                                                                    von 45 bis unter 50 Jahre

                                                                                      von 40 bis unter 45 Jahre

                                                                                        von 35 bis unter 40 Jahre

                                                                                          von 30 bis unter 35 Jahre

                                                                                              von 25 bis unter 30 Jahre

                                                                                                  von 18 bis unter 25 Jahre

                                                                                      von 16 bis unter 18 Jahre

                                                                                                                            bis unter 16 Jahre

                      250.000    200.000   150.000   100.000    50.000         0        50.000      100.000          150.000     200.000     250.000

                 männliche Asylantragsteller            weibliche Asylantragsteller             männliche Bevölkerung                      weibliche Bevölkerung

Anmerkungen: Untere Skala: Anzahl der Asylanträge der jeweiligen Gruppe. Obere Skala: Anteil der Personen der jeweiligen
Referenzgruppe in Deutschland in Prozent. 
Quelle: BAMF (2017), Statistisches Bundesamt (2017) und eigene Berechnungen.

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