Frau und Sucht - SuchtMagazin

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Frau und Sucht - SuchtMagazin
Frau und Sucht                                                                        02/2020

  Grundlagen                        Fachfrauen im Fokus           Arbeiten mit Frauen
  Konsum- und Rollenmuster          Suchtfachfrauen im Gespräch   Frauen in Kontakt- & Anlaufstellen
  Mädchengerechte                   Fotoserie: «Who is your       Konsum in der Schwangerschaft
  Suchtprävention                   female role model today?»     Internetbezogene Störungsbilder
der Suchtarbeit und Suchtpolitik
Interdisziplinäre Fachzeitschrift
Inhalt

4    «Frauen sichten Süchte» – in der Vergangenheit
     und in der Gegenwart
     Irmgard Vogt

14   Frauen in der Suchtarbeit:
     gewohnte Strukturen aufbrechen
     Gespräch mit Larissa Hauser, Marita Mullis und Marisa Schürch

22   Mädchengerechte Suchtprävention
     Christa Berger

27   Frauen in den Kontakt- und Anlaufstellen
     Franziska Schicker

32   Suchtmittelkonsum während der Schwangerschaft
     Tina Fischer

36   Internetbezogene Störungen bei Frauen –
     ein unerkanntes Gesundheitsproblem?
     Lara Scherer, Kai W. Müller, Lisa Mader

42   Fotoserie:
     Who is your female role model today?
     Gabi Vogt

46   Fazit.
     ForschungsSpiegel von Sucht Schweiz
     Aktueller Stand der Epidemiologie bei suchtgenerierenden
     Substanzen in der Schweiz

45   Bücher

51   Newsflash

52   Veranstaltungen
FRAU UND SUCHT

                      Frauen in den Kontakt- und
                      Anlaufstellen
2020-2                In den Kontakt- und Anlaufstellen (K&A) können seit fast dreissig Jahren im
Jg. 46                geschützten Rahmen und unter hygienischen Bedingungen psychoaktive
S. 27-30
                      Substanzen konsumiert werden. Wie sich Frauen in diesen niederschwelli-
                      gen Einrichtungen bewegen und wie man als Fachperson mit ihren Anliegen
                      umgeht, davon handelt dieser Artikel.

                      FRANZISKA SCHICKER
                      Sozialarbeiterin FH, Stabsmitarbeiterin und Mitarbeiterin Fachteam Beratung Kontakt- und Anlaufstellen Zürich,
                      Selnaustrasse 27, CH-8001 Zürich, franziska.schicker@zuerich.ch

Zum Einstieg ein paar Zahlen                  gen sich Menschen mit den unterschied-           ten konsumieren, haben gelernt, sich
Die K&A der Stadt Zürich werden von           lichsten familiären und beruflichen               «durchzuschlagen» und zeigen dies mit
ca. 950 KlientInnen genutzt.1 Wie so          Hintergründen, Krankheiten und Le-               einem resoluten Auftreten.
häufig bei Suchterkrankungen bilden die        bensgeschichten. Der Umgangston unter                Einige Klientinnen berichten, dass
Frauen die kleinere Gruppe der Klientel.      der Klientel ist teilweise rau, es geht um       sie den Zusammenhalt unter den Klien-
In Zürich machen sie ein Drittel aus,         Substanzen und Geld, um Beziehungen.             tinnen während der offenen Drogen-
ähnliche Zahlen werden es auch in ande-       Häufig spielen sich kleinere und grössere         szene als stärker empfunden haben als
ren Einrichtungen der Schweiz sein.           soziale Dramen ab. Das Verhalten der             heute. Tatsächlich werden Freundschaf-
    Auf der Seite der Mitarbeitenden          anderen, sei es das der Mitklientel oder         ten in den Kontakt- und Anlaufstellen
arbeiten 48 Frauen und 30 Männer, was         von VertreterInnen des Hilfesystems,             eher bei Männern beobachtet, seltener
für Gesundheits- und Sozialberufe ein         wird oft kommentiert und beschäftigt             unter Frauen, was es diesen wohl auch
eher ausgeglichenes Verhältnis ist. Die       die Konsumierenden im Alltag teilweise           schwerer macht, sich mit ihren Anliegen
Stellenprozente für das sogenannte            stark, sicherlich auch deshalb, weil eine        zu positionieren.
Kernteam betragen in der Regel maximal        sinnvolle Tagesstruktur fehlt.
80 %, können jedoch kurzzeitig erhöht             Junge Klientinnen und Neueinsteige-          Frauenspezifische Anforderungen
werden, wenn ein bestimmtes Projekt           rinnen in den Kontakt- und Anlaufstellen         und Risiken
geplant werden muss. Ca. die Hälfte der       sieht man häufig in Partnerschaften mit           Schwerstabhängige Frauen sind be-
Mitarbeitenden der K&A arbeiten mit ei-       langjährigen, älteren Klienten, die ihnen        sonderen Risiken ausgesetzt. Von uns
nem 50 %-Pensum oder weniger. Da alle         durch ihre Szenekontakte den Zugang zu           Fachleuten an vorderster Front wird
drei Einrichtungen in Zürich 365 Tage im      Substanzen vereinfachen.                         beobachtet, dass Frauen, die unter einer
Jahr in Betrieb sind und eine Mindestbe-          Auf der anderen Seite haben wir              schwerwiegenden Suchterkrankung lei-
legung beim Personal zwingend ist, um         Klientel mit psychischen Beeinträchti-           den, schneller verwahrlosen als Männer
den Betrieb aufrechtzuerhalten, müssen        gungen wie z. B. Borderlinestörungen,            in derselben Situation. Das harte Leben
Krankheitsausfälle schnell und zuverläs-      posttraumatischen Belastungsstörungen            «auf der Gasse», draussen ohne Schutz
sig abgedeckt werden können.                  oder Schizophrenie. Diese leben je nach          zu schlafen und nächtelanges Unter-
    In zwei der drei städtischen Kon-         Behandlungsstatus teilweise sehr eigen-          wegssein, setzt Frauen physisch und psy-
takt- und Anlaufstellen leiten Frauen die     ständig, eher jedoch unter desolaten             chisch eher zu.
Teams. Je höher die Kaderstufe, desto         Umständen und benötigen im täglichen                 Es gibt Klientinnen, die sich, um sich
seltener sind jedoch Frauen vertreten,        Kontakt viele Ressourcen der Mitarbei-           Drogen zu beschaffen, prostituieren.
dies gilt für die ganze Stadtverwaltung.      tenden der Anlaufstellen.                        Dies geschieht im Gegensatz zu früher
Diesbezüglich wurde der Handlungs-                Suchtmittelabhängige Klientinnen             nicht mehr so öffentlich, wie damals am
und Förderungsbedarf erkannt und              befinden sich oftmals in sehr symbioti-           Sihlquai in Zürich, bevor die Strassen-
Massnahmen sind im Gleichstellungs-           schen, teils langjährigen Beziehungen. Es        prostitution zum Strichplatz verlegt
plan der Stadt Zürich geplant.2               entsteht der Eindruck «ohne den Partner          wurde, auf dem Sexarbeitende nun ge-
                                              geht’s nicht, mit ihm auch nicht». Ältere        schützt arbeiten können. In sozialen Me-
Wie sich Klientinnen durch die An-            Konsumentinnen ohne Partner sind eher            dien wie Facebook und Tinder werden
laufstellen navigieren                        als Einzelgängerinnen unterwegs. Vor             Kontakte geknüpft. Es gibt auch Frauen,
In den Kontakt-und Anlaufstellen bewe-        allem Klientinnen, die seit Jahrzehn-            die sich in beziehungsähnlichen Konstel-

                                                                    27
FRAU UND SUCHT

lationen befinden, in diesen jedoch Geld     Junge Konsumentinnen äussern manch-           mit eingebunden. Tatsache im Berufs-
für gewisse Dienstleistungen bekommen.      mal direkt nach dem Konsum, auf dem           alltag ist jedoch, dass es sich meist um
Die Grenzen sind nicht mehr so klar         sog. «Flash», den Wunsch nach Kindern         die Mütter handelt, da diese ihre Kinder
ersichtlich. Es kann vorkommen, dass        und einer Familie. Ihre Vorstellung des       meist alleine betreuen.
obdachlose schwerstabhängige Frauen         Familienlebens ist sehr idealisiert und
mehrere Tage bis Wochen bei solchen         harmonisch und hat wenig mit der rea-         Begleitung schwangerer
«Bekannten» oder «Freunden» wohnen.         len Lebenswelt der Klientinnen zu tun,        Klientinnen innerhalb der Kontakt-
    Wenn Frauen «Kurierdienste» über-       zumal sie aus eigener Erfahrung teil-         und Anlaufstellen
nehmen, können sie ihren Konsum auf         weise eher desolate Familiensituationen       Schwangerschaften werden von sucht-
diese Weise finanzieren. Fällt diese         erlebt haben. Aussagen wie «Wenn ich          betroffenen Frauen meist spät bemerkt.
Möglichkeit weg, zum Beispiel, weil ein     schwanger bin, höre ich sofort auf zu         Aufgrund ihrer Suchterkrankung ist ihr
Dealer inhaftiert ist, kann es vorkom-      konsumieren» oder «Ich würde es nie           Körpergefühl eingeschränkt und die
men, dass ihnen beim Stoffkauf eine          so machen wie meine Eltern» hören wir         Monatsblutung häufig seit Monaten,
andere «Möglichkeit zum Bezahlen»           wöchentlich. Sie beschränken sich vor         wenn nicht Jahren, ausgeblieben. Dies
vorgeschlagen wird. Je nach Suchtdruck      allem – aber nicht nur – auf die Frauen.      hat zur Folge, dass während den ersten
und Verzweiflungsgrad gehen die Frauen            Die Realität in den Anlaufstellen ist,   Wochen der Schwangerschaft ohne Ein-
darauf ein und erbringen eine sexuelle      dass sehr wenige Klientinnen den lan-         schränkung konsumiert wird, was beim
Dienstleistung.                             gen Weg von Therapie, Abstinenz oder          ungeborenen Kind zu Fehlbildungen
                                            reduziertem Konsum nach der Schwan-           und Entwicklungsstörungen führen
Verhütung, sexuell übertragbare             gerschaft und in der Mutterschaft mit         kann. Das ungeborene Kind kann lang-
Krankheiten und Schwangerschaft             all ihren Anforderungen durchhalten.          samer wachsen als in einer suchtfreien
Frauen, die sich innerhalb der Drogen-      Bei älteren Klientinnen sind die Kinder       Schwangerschaft und die Gefahr besteht,
szene bewegen, sind einem erhöhten Ri-      teilweise seit Jahren in Pflegefamilien        dass so die Schwangerschaftswoche und
siko von übertragbaren Krankheiten wie      oder bereits erwachsen. Die betroffenen        somit der Geburtstermin falsch berech-
HIV, Hepatitis oder Geschlechtskrank-       Frauen leiden unter Schuldgefühlen und        net werden. Fällt es in den Anlaufstellen
heiten ausgesetzt. Einerseits besteht das   glauben, sie hätten als Mütter versagt.       auf, dass eine Klientin einen gewölbten
Risiko einer Ansteckung während des         Diese Gefühle versuchen sie u. a. mit         Bauch hat oder etwas unter einem wei-
Konsums, andererseits durch sexuellen       dem Konsum von psychoaktiven Subs-            ten Pullover oder einer Jacke verstecken
Kontakt – und dort sind die Frauen na-      tanzen erträglicher zu machen.                möchte, wird sie angesprochen und mög-
turgemäss eher gefährdet.                        Einige jüngere konsumierende Müt-        lichst vor Ort ein Schwangerschaftstest
    Ebenfalls ist das Risiko einer un-      ter betreuen mit Unterstützung von            gemacht. Bestätigt sich der Verdacht auf
gewollten Schwangerschaft erhöht, da        Beiständen und Familienbegleitungen           eine Schwangerschaft, wird die Klientin
meist eine effiziente Verhütung fehlt. In     ihre Kinder zu Hause. In diesen Fällen        über Risiken des Konsums für das un-
diesen Fällen sollte nicht die Pille die    ist es wichtig, dass alle Beteiligten gut     geborene Kind, über den Einbezug der
erste Wahl der Verhütungsmethode sein,      zusammenarbeiten und wir als Sucht-           Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde
da sie einer zuverlässigen und regelmäs-    fachleute an vorderster Front Verände-        (KESB), Unterstützungsangebote sowie
sigen Einnahme bedarf (und sie schützt      rungen im Konsumverhalten festhalten          notwendige ärztliche Untersuchungen
auch nicht vor den sexuell übertragbaren    und an die verantwortlichen Personen          informiert.
Krankheiten). So können Frauen z. B.        (z. B. Beistände/Kindsbeistände) rück-            Eine Schwangerschaft unter diesen
aufgrund ihres Substanzkonsums er-          melden. In den Kontakt- und Anlauf-           Umständen ist immer eine emotionale
brechen, was den Schutz durch die Pille     stellen wird meist zuerst beobachtet,         Belastung für die Klientin. Auch für
gefährdet und es muss resp. müsste eine     dass ein Vater oder eine Mutter wieder        professionelle Mitarbeitende in den
zusätzliche Verhütungsmethode ange-         mehr konsumiert oder sich «szenennah»         Kontakt- und Anlaufstellen ist diese The-
wendet werden.                              bewegt. Das heisst, dass die Eltern (z. T.    matik nicht einfach. Mit einer schwange-
    Hormonspiralen oder andere dauer-       mit Kind) in der Nähe der Anlaufstellen       ren Klientin zu arbeiten, die ein Bier in
hafte Verhütungsmethoden sind zur           gesichtet werden und sich über mehrere        der Hand hat oder an einer Base-Pfeife
Vermeidung von Schwangerschaften            Stunden im Umkreis aufhalten oder dass        zieht, intravenös konsumiert und dazu
grundsätzlich zu empfehlen. In der Pra-     andere KlientInnen von ihrem Kontakt          noch obdachlos ist, fordert eine inten-
xis raten wir den Klientinnen, während      zu Mutter oder Vater erzählen und sich        sive Auseinandersetzung mit der eigenen
des Geschlechtsverkehrs auf der Ver-        in deren Wohnungen aufhalten. Unter           Rolle. Man findet sich schnell bei sozial-
wendung von Kondomen zu bestehen,           diesen Umständen ist es wichtig, dass         ethischen Themen wie individuelle Frei-
damit sie vor übertragbaren Krankheiten     transparent kommuniziert wird, nicht          heit und der Tatsache, dass ein Kind für
geschützt sind.                             nur mit anderen Institutionen, sondern        den Rest seines Lebens gesundheitlich
                                            vor allem mit den betroffenen Müttern,         und sozial beeinträchtigt sowie auf die
Vorstellung von heilem Familienle-          damit eine gute, tragfähige Lösung ge-        Unterstützung von Institutionen ange-
ben vs. Realität der sozialen Situa-        funden werden kann. Wenn vorhanden,           wiesen sein könnte.
tion von Klientinnen                        werden auch die Väter in die Gespräche

                                                                28
SUCHTMAGAZIN               02/2020

    Seit Anfang 2019 sind die Vorschrif-      reitet werden und gemeinsam mit ihnen         fend notwendigen Interventionen und
ten zur Meldung von hilfsbedürftigen          der weitere Verlauf geplant wird. Es gilt     rechtlichen Bedingungen andererseits ist
Kindern und Erwachsenen an die KESB           mit allen möglichen Mitteln zu verhin-        es jedoch möglich, dass die Beziehungen
neu geregelt. Auch wenn zukünftige            dern, dass eine schwangere Frau unter         zwischen den Sozialarbeitenden und den
Kindswohlgefährdungen nicht ausge-            prekären Bedingungen gebärt und u. U.         Klientinnen tragfähig bleiben.
schlossen werden können, ist es wichtig,      ihr Kind danach aussetzt oder gar tötet.          Dazu noch ein paar Zahlen: Die
dass eine Meldung an die KESB erfolgt,            In den Kontakt- und Anlaufstel-           US-amerikanische ACE-Studie5 unter-
damit schon vor der Geburt ein Helfer-        len wird der schwangeren Klientin die         suchte zwischen 1995 und 1997 den
netz aufgebaut werden kann. Gemäss            Anzahl der Konsumeinheiten einge-             Zusammenhang von belastenden und
Art. 314d ZGB sind Fachpersonen melde-        schränkt, wohlwissend, dass es nicht          traumatischen Kindheitserlebnissen
pflichtig «1. aus den Bereichen Medizin,       kontrollierbar ist, was sie ausserhalb der    und physischen und psychischen Er-
Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung,     K&A konsumiert.                               krankungen. 17 000 Erwachsene wurden
Bildung, Sozialberatung, Religion und             Lebt die Mutter nach der Geburt           befragt und ein deutlicher Zusammen-
Sport, die beruflich regelmässig Kontakt zu    mit dem Kind zu Hause oder in einem           hang wurde erkannt: Suchtmittelmiss-
Kindern haben; 2. wer in amtlicher Tätig-     stationären Aufenthalt in einer Mutter-       brauch im Haushalt ist mit 26,9 % das
keit von einem solchen Fall erfährt».3        Kind-Einrichtung, wird in den Anlauf-         am zweithäufigsten genannte trauma-
    Nun, was heisst das in der Praxis? In     stellen eine Konsumagenda eingerichtet.       tische Kindheitserlebnis direkt nach
den Kontakt- und Anlaufstellen Zürich         In dieser ist ersichtlich, wie häufig in den   körperlicher Misshandlung mit 28,3 %.
wird der Klientin eine Sozialarbeiterin       Kontakt- und Anlaufstellen konsumiert         Solche Erfahrungen erhöhen im Erwach-
aus dem Team der Sozialberatung der           wird und ob sich das Konsumverhalten          senenalter nachweislich das Risiko von
niederschwelligen Einrichtungen zur           steigert. Ist dies der Fall, wird die Kon-    Depressionen und anderen psychischen
Seite gestellt. Dieses Setting ist für die    sumagenda mit der Klientin angeschaut         Erkrankungen sowie auch von transge-
Klientin im Rahmen des Möglichen ver-         und die Kindsbeistandschaft von der           nerationalem Substanzmissbrauch.
pflichtend und kann wieder aufgehoben          zuständigen Sozialarbeiterin oder dem
werden, wenn die Schwangerschaft ab-          Sozialarbeiter informiert. Idealerweise       Gewalt, sexualisierte Gewalt und
gebrochen oder das Kindswohl nach Ge-         informiert die Klientin selbst die Bei-       deren Folgen
burt gesichert ist. Lässt sich die Klientin   standschaft und deklariert offen ihr ver-      Frauen sind schon als Mädchen einer
jedoch nicht zu einer Zusammenarbeit          ändertes Konsumverhalten. Ist ihr das         erhöhten Gefahr der sexualisierten Ge-
bewegen, sind uns Fachpersonen die            nicht möglich oder verweigert die Klien-      walt ausgesetzt. Gemäss der Schweizer
Hände gebunden, da das ungeborene             tin dies gar, erfolgt die Information über    Optimus-Studie6 von 2012 erleben 22 %
Kind rechtlich noch nicht geschützt           die zuständigen Sozialarbeitenden.            der Mädchen und 8 % der Jungen einen
werden kann. Dieses Dilemma gilt es als                                                     sexuellen Übergriff mit körperlichem
Fachpersonen auszuhalten. In den meis-        Transgenerationale Suchtthematik              Kontakt. Schwere Vernachlässigung, Ge-
ten Situationen sind die schwangeren          Man kann nicht über die Mütter reden,         walterfahrungen im Kindesalter sowie
Frauen jedoch froh um die Unterstüt-          ohne auch die Kinder mit einzubeziehen.       sexuelle Gewalterfahrungen können zu
zung.                                         Zunehmend konsumieren auch erwach-            Posttraumatischen Belastungsstörungen
    Die Sozialarbeiterin koordiniert den      sene Kinder von abhängigen Frauen in          bis hin zu Dissoziativen Persönlichkeits-
Fall und hält immer wieder Rücksprache        den Kontakt- und Anlaufstellen – man          störungen führen. Werden diese bei
mit der Klientin. Die Sozialarbeiterin        könnte sagen, wir sind mit den Kindern        Menschen mit Abhängigkeitserkrankun-
arbeitet mit spezifischen AkteurInnen          der 1980er- und 90er-Jahre konfrontiert.      gen nicht erkannt und behandelt oder
des Helfernetzes zusammen, z. B. mit          Wurden früher Kinder, teils aus Über-         gar falsch diagnostiziert, sind abstinente
der Abteilung Risikoschwangerschaften         forderung des Helfernetzes mit der The-       Phasen selten langanhaltend.
des Triemlispitals in Zürich, der Gynäko-     matik, teils als «Stabilisierungshilfe» bei       Substanz- und Medikamentenkon-
logie des Ambulatorium Kanonengasse           ihren abhängigen Eltern, insbesondere         sum können als Selbstmedikation ver-
der Stadt Zürich und der Fachgruppe           Müttern, gelassen,4 gibt es heute unter-      wendet werden, um sich «abzustellen»
Schwangerschaft/Elternschaft, in der          schiedliche Ansätze, um Kinder von            und «stumpf» zu machen. Vergangene
VertreterInnen der oben genannten Ins-        belastenden Kindheitserfahrungen zu           sowie anhaltende Gewalterfahrungen
titutionen und Abteilungen der Stadt Zü-      schützen. Wichtig in den Anlaufstellen        (auch sexualisierte Gewalt) können so
rich sich treffen und austauschen. Aus-        ist, dass wir mit den Frauen und Müttern      eher ausgehalten werden und innere
serdem melden wir das ungeborene Kind         gemeinsam arbeiten, das Kindswohl je-         Spannungen werden erträglicher ge-
der KESB, damit schon vorgeburtliche          doch oberste Priorität hat. Dies kann ein     macht. Unter Fachleuten der Suchtarbeit
Massnahmen getroffen werden können.            Widerspruch sein, ist doch die gegensei-      wird geschätzt, dass die Anzahl Men-
Ein Mensch ist zwar erst mit der Geburt       tige Vertrauensbasis eines der wichtigs-      schen, die an einer Traumafolgestörung
offiziell rechtsfähig, doch es entspricht       ten Instrumente in der Arbeit mit den         leiden, bei Schwerstabhängigen im Ver-
«Best Practice», dass auch ungeborene         Klientinnen. Mit einer akzeptierenden         gleich zur Durchschnittsbevölkerung
Kinder und ihre suchtbelasteten Mütter        Haltung einerseits und einer klaren,          erhöht ist (vgl. Catani & Potthast 2012;
so gut wie möglich auf die Geburt vorbe-      transparenten Kommunikation betref-           Lüdecke et al. 2010.

                                                                  29
FRAU UND SUCHT

Arbeit mit Frauen in den Kontakt-           Mühe, die Anweisung von Frauen anzu-             Das Thema Verhütung müsste pro-
und Anlaufstellen Zürich                    nehmen. Beleidigungen können dann            aktiver angegangen werden, bei KlientIn-
In der Arbeit mit Frauen sollte berück-     schnell sexualisiert ausgesprochen           nen. Klientinnen im gebärfähigen Alter
sichtigt werden, dass bei gewissen The-     werden («Schlampe» etc.). Es fallen          sollten regelmässig vom Fachpersonal
men nur Mitarbeiterinnen mit ihnen          auch Macho-Sprüche, die eher an ein          auf ihre Verhütung angesprochen und
arbeiten. Müssen im Medizinzimmer be-       Stammtischniveau erinnern, in dieser         entsprechend begleitet werden, z. B. zu
stimmte Körperteile kontrolliert werden,    Szene ein wenig dazugehören, in einem        einer gynäkologischen Praxis.
zum Beispiel wegen Abszessverdacht          durchschnittlichen Berufsumfeld jedoch           Was den Kindesschutz bei Eltern
aufgrund intravenösen Leistenkonsums,       nicht mehr toleriert und als zeitgemäss      mit einer Suchterkrankung betrifft, gibt
oder wenn ein Schwangerschaftstest ge-      empfunden würden. Das Klientel wird          es noch einiges an Handlungsbedarf.
macht werden muss, wird das von weib-       jeweils vom gesamten Team klar ange-         Viele Fachleute, die von einem Kind in
lichen Mitarbeitenden übernommen.           wiesen, solche Sprüche zu unterlassen,       einer suchtbetroffenen Familie erfahren,
Zudem ist es bei gewissen Klientinnen       allenfalls wird für eine gewisse Zeit ein    wissen nicht genau, was sie mit dieser
empfehlenswert, Beratungsgespräche          Hausverbot ausgesprochen.                    Information anfangen sollen. Es steht
bei offener Türe sowie unter Umständen           Das Bewusstsein für die Nähe-Dis-        auch immer gleich die Angst im Raum,
auch in einer Zweierbesetzung durchzu-      tanz-Thematik ist für Mitarbeitende          dass ein Kind den Eltern sofort entzogen
führen. In semi-professionellen Institu-    im niederschwelligen Suchtbereichen          würde, was Fachpersonen davon ab-
tionen z. B. aus dem kirchlichen Bereich,   ausserordentlich wichtig. Wir kennen die     halten kann, genauer hinzuschauen und
in denen häufig Freiwillige arbeiten, wird   Klientel häufig seit Jahren, wenn nicht       Massnahmen zu ergreifen. Das Thema
der Nähe- und Distanzthematik oft zu        Jahrzehnten, und es kann ein Gefühl          ist häufig ein Tabuthema, dabei wären
wenig Beachtung geschenkt, sodass es        der Nähe entstehen, das für die Klientel     Unterstützung und allenfalls eine Inter-
zu Übergriffen oder Anschuldigungen          nicht immer klar trennbar von einer rein     vention wichtig, um transgenerationale
von Übergriffen kommen kann. Mit einer       professionellen Beziehung ist. Es liegt in   Suchterkrankungen zu reduzieren. Bei
professionellen Vorgehensweise kann         der Verantwortung der Mitarbeitenden,        schwangeren Frauen und Frauen, die
dies praktisch ausgeschlossen werden.       diese Linie nicht zu überschreiten und       ihre Kinder zuhause betreuen und Subs-
    Im Betriebskonzept der Kontakt-         auf Avancen und Komplimente nicht ein-       tanzen konsumieren, ist es wichtig, dass
und Anlaufstellen Zürich bezieht sich       zugehen. Fachmitarbeitende sollten sich      es Handlungsanleitungen für Fachperso-
die spezielle Arbeit mit Frauen aus-        immer bewusst sein, in welchem Um-           nen gibt. Auch Fachgruppen können sich
schliesslich auf Betreuung und Beglei-      feld sie sich befinden. Diese und andere      explizit und vernetzt um die Thematik
tung in Bezug auf Verhütung, Schutz bei     Themen sollten regelmässig in Super-         kümmern.
Geschlechtsverkehr, Schwangerschaft         visionen und Teamsitzungen bearbeitet
und Mutterschaft. Frauenspezifische          werden, diese fördern die reflektierte
Angebote, die über die Beratung und Be-     Betrachtung der eigenen Rolle. Es ist        Literatur
                                                                                         Catani, C./Potthast, N. (2012): Trauma und
treuung hinausgehen (z. B. ein Frauen-      ebenfalls zu empfehlen, die Nähe-Dis-
                                                                                            Sucht: Implikationen für die Psychotherapie.
brunch), wurden ausprobiert, fanden je-     tanz-Thematik mit den entsprechenden            Bern: Hogrefe.
doch wenig Anklang und waren schlecht       Erwartungen und Konsequenzen in Leit-        Inauen, N./Schicker, F. (2020): Von umstrittenen
besucht. Über die sicherlich unterschied-   bildern auszuformulieren.                       Pionierprojekten zum Erfolgsmodell. In: M.
                                                                                            Krebs/R. Mäder/T. Mezzera (Hrsg.), Soziale
lichen Gründe für die Ablehnung kann
                                                                                            Arbeit und Sucht. Wiesbaden: Springer (im
nur spekuliert werden. Die Praxiserfah-     Ausblick                                        Erscheinen).
rung zeigt, dass die Frauen teils in der    In Zukunft werden uns sicherlich die         Lüdecke, C./Sachsse, U./Faure, H. (2010): Sucht
Nacht arbeiten und neben ihrem Sucht-       alternden Suchtmittelabhängigen be-             – Bindung – Trauma. Psychotherapie von
                                                                                            Sucht und Traumafolgen im neurobiologi-
druck und der Konsummittelbeschaffung        schäftigen. Durch die gute Gesundheits-
                                                                                            schen Kontext. Stuttgart: Schattauer.
wenig Ressourcen haben, sich noch auf       versorgung ist die Lebenserwartung
weitere Angebote einzulassen.               der Klientinnen und Klienten deutlich        Endnoten
                                            gestiegen im Vergleich zu Zeiten der         1
                                                                                           Zur Geschichte der K&A, vgl. Inauen & Schi-
Fachmitarbeiterinnen in der K+A             offenen Szenen vor dreissig bis vier-           cker (2020).
                                                                                         2
                                                                                           Vgl. den Gleichstellungsplan der Stadt Zürich
Der Umgang mit der vorwiegend männ-         zig Jahren. Und doch leiden sie unter
                                                                                           2019-2022: https://tinyurl.com/w6phjvs
lichen Klientel stellt besondere Anfor-     chronischen Erkrankungen, welche auf         3
                                                                                           Merkblatt der KOKES – Konferenz für Kin-
derungen an die Mitarbeiterinnen. Das       den teils jahrzehntelangen Konsum von          des- und Erwachsenenschutz vom 25. Janu-
Frauenbild der Klientel scheint viel-       Substanzen zurückzuführen sind (COPD,          ar 2019: https://tinyurl.com/wyzd4z8
                                                                                         4
                                                                                           Vgl. Artikel auf watson vom 17.02.2020:
fach von Stereotypen geprägt, teilweise     Hepatitis C, Organerkrankungen). Ein-
                                                                                           https://tinyurl.com/uyhy8cp
auch aufgrund der kulturellen Hinter-       richtungen müssen sich auf einen er-         5
                                                                                           Zusammenfassung der Adverse Childhood
gründe der Klienten aus patriarchalen       höhten pflegerischen Bedarf vorbereiten.        Experiences (ACE) Studie:
Familienstrukturen. Gerade wenn eine        Sie müssen rollstuhlgängig sein und es         https://tinyurl.com/w9l8fmj
                                                                                         6
                                                                                           Vgl. https://tinyurl.com/tztetcr
Sanktion ausgesprochen werden muss,         braucht mehr Platz für die psychisch
                                                                                         Zugriff Links: 01.04.2020
weil z. B. gegen die Hausordnung ver-       stark belastete Klientel, dies gilt für
stossen wurde, haben manche Klienten        Frauen und Männer gleichermassen.

                                                               30
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finden Sie unter                    2 Frau und Sucht                  2   Digitalisierung                  2   Verhalten und Sucht
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                                                                      4   Genetik                          4   Lebenskompetenzen
                                                                      5   Sucht im Alter                   5   Chancengleichheit
                                                                      6   Schadensminderung, Sucht-        6   Rauchstopp, Digitalisierung,
                                                                          politik, Suchthilfe konkret          Prävention

                                    2017                              2016                                 2015

                                    1 Freizeit                        1   Rückfälle                        1 Kooperation
                                    2 Suchthilfe im deutsch-          2   Sterben und Tod                  2 Aufwachsen heute
                                      sprachigen Raum                 3   Gesundheitsförderung             3 Qualität
                                      (Doppelnummer 2&3/2017)         4   Internationale Suchtpolitik      4 Selbst- vs. Fremd-
                                    4 Alkohol                         5   Behandlung                         verantwortung
                                    5 Diversität                      6   Sport, Soziale Arbeit,           5 Suchthilfe und Polizei
                                    6 Konsum, Prävention,                 Motivational Interviewing,       6 Häusliche Gewalt, Wirksamkeit,
                                      Behandlung                          Alkoholabgabe                      Prävention

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erscheint im Juni 2020

Nr. 4/2020 — Jugendliche
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