10 Positionen zu einer Gesundheitsreform in Deutschland
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Politik 7/2002 Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz 10 Positionen zu einer Gesundheitsreform in Deutschland allokation zwischen den Kassen (Risikostrukturausgleich, Der Vorsitzende des Sachverständigenrates für die Konzer- RSA) mit Versorgungsmodellen chronisch Kranker kann tierte Aktion im Gesundheitswesen erläutert im vorliegenden allerdings lediglich als Ausgangspunkt dienen, aber keine Beitrag und in dem anschließenden Interview mit „das Kran- Dauerlösung sein. kenhaus“-Chefredakteur Peter Ossen seine am 15. Mai 2002 beim Berliner Hauptstadtkongress vorgestellten Thesen zur 2 Die vom „Runden Tisch“ angekündigten ersten An- sätze zur Stärkung der Prävention sind notwendig, reichen aber als langfristige Investition in die Gesundheit Gesundheitsreform. keinesfalls aus. Im Bereich der Prävention bedarf es eines nationalen Um- 1 Das deutsche Gesundheitswesen leistet auf Grund verschiedener qualitativer und struktureller Defizite nicht das, was es angesichts des finanziellen, technischen denkens und gesetzlicher Anpassungen; auch außerhalb der GKV ist eine eigenständige Finanzierung von Präven- und personalen Ressourceneinsatzes leisten könnte. tionsprogrammen und -maßnahmen notwendig. Diese Feststellung ergibt sich aus dem internationalen ☛ Wir brauchen endlich eine den Vorgaben der WHO ent- Vergleich gesundheitlicher und ökonomischer Indika- sprechende Antiraucherpolitik; die deutschen Blockaden toren, aber auch aus der detaillierten Bewertung der Ver- auf der EU-Ebene gegen solche Bestrebungen müssen sorgung wichtiger chronischer Volkskrankheiten, die der aufhören. Es ist einfach beschämend, wenn in Dokumen- Sachverständigenrat 2001 vorgenommen hat. Dessen ten der WHO und amerikanischer Tabakkonzerne be- Analyse befindet sich im Übrigen in Übereinstimmung mit stätigt wird, dass eine „Pro-Raucher-Politik“ in Deutsch- den Stellungnahmen von nahezu 200 wissenschaftlich- land „besonders erfolgreich“ installiert werden konnte. klinischen Fachverbänden, Körperschaften des Gesund- heitswesens einschließlich der Ärzteschaft und Vereini- ☛ Es fehlt in Deutschland ebenso eine zukunftsorientierte gungen chronisch Kranker in Deutschland, die der Rat im nationale Förderpolitik für Präventionsforschung und für Jahr 2000 gesammelt und auf seiner Homepage hinterlegt öffentliche Gesundheit („Public Health“). Auf Industrie- hat. Die Defizite betreffen sowohl Über- wie Unter- als forschung ist hier mangels „verkäuflicher“ Produkte nicht auch teilweise damit zusammenhängende Formen der zu hoffen. Fehlversorgung. Überversorgung war unter anderem in akutmedizinischen Bereichen, Unterversorgung dagegen Die öffentliche Förderung der Genomforschung liefert zur bei chronischen Krankheiten und ihren verschiedenen Prävention der großen Volkskrankheiten – entgegen Präventionsstufen sowie in der Rehabilitation zu be- verschiedentlich geäußerter, politisch gefärbter euphori- obachten. Der Rat wies in seiner Schlussbetrachtung scher Einschätzungen – keinen maßgeblichen Beitrag. Die bereits damals darauf hin, dass eine kurzfristige ausglei- genetischen Risiken für die großen Volkskrankheiten be- chende Saldierung dieser verschiedenen Versorgungs- ruhen auf „polymorphen“ (zudem exogen modulierten) defizite schwierig ist und, abgesehen von Arzneimittel- Genmustern und ihre Wirkung, das heißt die so genannte Markteingriffen, nicht die von der Politik vielleicht erhoff- Genexpression, wird zudem stark von der Umwelt und ten 9-stelligen Euro-Beträge freisetzen könne. Der Abbau nicht zuletzt vom eigenen Verhalten beeinflusst. Gezielte von Defiziten im Gesundheitswesen ist vielmehr ein dyna- genetische Eingriffe sind hier praktisch nicht zu erwarten, mischer Prozess, der auch zeitweilige Kostensteigerun- umwelt- bzw. verhaltensabhängige Einflüsse dagegen gen nicht ausschließt. Der Rat forderte ferner auf Grund umso mehr. der festgestellten Defizite das Ende einer bloß pauschalen Kostendämpfung und Kostenbetrachtung (SVR-Gutach- Zur notwendigen Stärkung aller Formen der Präven- ten 2000/01). tion gehören Strukturen und Maßnahmen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention einschließlich präventiv- Die 2001/02 erfolgten Reformschritte im Teilsystem ge- orientierter Rehabilitation, Patientenschulungen und einer setzliche Krankenversicherung hinsichtlich einer stärker bislang völlig fehlenden Prävention vor und in der bedarfs- und qualitätsorientierten Mittelverteilung und Pflege. Notwendig sind ferner sowohl Programme, die einer angestrebten Strukturverbesserung in der Versor- auf Bevölkerungs- oder Gruppenebene (zum Beispiel gung chronisch Kranker sowie der Ausgabendämpfung in Gruppenzahnprophylaxe in Kindertagesstätten und Schu- dem weit überproportional expansiven Arzneimittelsektor len) als auch bei Individuen ansetzen (zum Beispiel indi- weisen insoweit in die richtige Richtung. Die finanz- viduelle Zahnprophylaxe oder Ernährungs- und „Rücken- technische Verknüpfung einer risikoadäquateren Mittel- schulen“). 523
7/2002 Politik Den Versicherungen sollte die Möglichkeit eingeräumt nicht nur befristete Anlauf- bzw. Entwicklungskosten ge- werden, Bonusregelungen analog der Zuzahlungsminde- meint, sondern dauerhafte Kosten durch einen erhöhten rung beim gesetzlichen Zahnersatz anzubieten oder nach Aufwand für Controlling und Vertragsverwaltung. Dieser dem Beispiel bestimmter Privatversicherer begünstigte muss durch Erfolge bei medizinisch verbesserten und „Präventionstarife“ einzuführen, ebenso Beitragsrück- zugleich wirtschaftlich sparsamen Behandlungen erst erstattungen auf die Arbeitgeberanteile bei erfolgreichen überkompensiert werden, um wenigstens marginal zu betrieblichen Gesundheitsförderungen mit niedrigen einer Ausgabendämpfung beitragen zu können. Hauptziel Krankenständen. neuer Managementinstrumente kann nur eine Qualitäts- verbesserung der Versorgung sein. ☛ Die Gesellschaft kann nicht länger umstandslos die zunehmend unbezahlbar werdende gesundheitliche ☛ Leider operiert die Politik im Bereich der Disease- Reparaturoption als Hauptentwicklungsziel des Gesund- Management-Programme (DMP), ebenso wie bei der heitswesens weiterverfolgen, wenn sie in einigen Jahren Fallpauschalenvergütung der Krankenhäuser, derzeit mit mit mehr als 10 Millionen Diabetikern und 30 Millionen einem für Qualität und Kosten nachteiligen, illusorisch Rückenkranken rechnen muss, deren Zahl sich durch die kurzen Zeitplan. einfache Vermeidung von Übergewicht, Fehlernährung und physischer Immobilität halbieren ließe. Auch der Ent- Die Eile beruht möglicherweise auf dem fahrlässig genähr- wicklung psychischer Störungen oder Fehlhaltungen ist ten Missverständnis, die Politik könne mit der Einführung mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken. von DMPs und mit einer DRG-Finanzierung in den Krankenhäusern kurzfristig und in erheblichem Umfang 3 Angesichts der demographischen Zusatzbelastungen der kommenden Jahre und des bereits hohen Bei- tragsniveaus bedarf es – unmittelbar nach der Bundes- „Geld im System“ sparen. Dies ist nach internationalen Er- fahrungen, insbesondere aus den USA, nicht der Fall. tagswahl – weiterer Reformschritte – sozial ausgewogen, Andererseits ist das derzeitige lohnabhängige Beitrags- aber ohne „Denkverbote“. niveau in der GKV mit 14,0 Prozent allein schon mit Blick auf die bereits hohe Sozialabgabenquote in Deutschland, Die notwendige Verbesserung von Qualität und Effizienz die Maastricht-Kriterien und den lohnintensiven deutschen der Versorgungsstrukturen und der Prävention ist eine Dau- Arbeitsmarkt als eine politische Obergrenze zu betrachten, eraufgabe jedweder, auch zukünftiger Reformen. Darüber die schnellstmöglich gesenkt werden sollte. Es drohen zu- hinaus bedarf es in der nächsten Legislaturperiode weiterer dem weitere Belastungen der Sozialabgaben aus der Reformschritte, um die im Wesentlichen lohnabhängig gleichfalls lohnabhängigen und defizitären Pflegeversiche- finanzierte GKV angesichts des schrumpfenden Anteils der rung. Zwar könnte ein Anspringen der Konjunktur im kom- Erwerbspersonen und der Alterung der Versicherten finan- menden Jahr mit deutlich steigenden Grundlohnsummen ziell zu sichern. Einflüsse aus dem Arbeitsmarkt, eine seit scheinbar den Reformdruck in der GKV mildern. Dies sollte den 80er Jahren sinkende Lohnquote, aber auch überwie- dann jedoch für Beitragssatzsenkungen in der Kombination gend schwächende Eingriffe des Gesetzgebers auf der mit weiteren Reformschritten verwendet werden. GKV-Einnahmenseite (ausgenommen die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse) haben dazu ge- führt, dass seit 1994 der Anteil der beitragspflichtigen GKV- Einnahmen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) tendenziell sinkt, 4 Eine Gesundheitsreform in Deutschland kann nicht allein auf die GKV bzw. das SGB V reduziert sein. Sie muss sich zugleich auf Pflege, auf Rehabilitation, auf während ihr Ausgabenanteil am BIP in etwa gleich bleibt. sonstige Sozialgesetzbücher, das BSHG sowie auf den Zu beachten ist, dass der so genannte medizinische und öffentlichen Gesundheitsdienst – mit seinen vernachläs- medizinisch-technische Fortschritt sich per saldo nach aller sigten präventiven Funktionen im gemeindlichen und im Erfahrung stets kostenexpansiv ausgewirkt hat und dies schulischen Raum – beziehen. vermutlich weiterhin tun wird. Dies war in den vergangenen 25 Jahren – neben Kapazitätseinflüssen von der Anbieter- Dafür bedarf es der vom Sachverständigenrat wiederholt seite her und weit mehr als sozio-demographische Ein- angeregten gemeinsamen, akteursübergreifenden ge- flüsse – die bestimmende Expansionsgröße der GKV- sundheitlichen Zielbildungen und einer breiten politischen Ausgaben und letztlich die Ursache für die ständigen Mehrheit für eine Reform. Blicken wir auf die engere GKV- ausgabendämpfenden gesetzgeberischen Eingriffe. Reform, so ist keine der infrage kommenden finanziellen und anreizwirksamen Reformoptionen politisch attraktiv. In der Summe aller dieser Einflüsse stieg, als Ausdruck einer strukturellen Unterfinanzierung, der durchschnitt- Auf der Ausgabenseite: liche Beitragssatz in der GKV praktisch Jahr für Jahr an. In ● die Bereinigung des Leistungskatalogs durch Aus- Zukunft werden zusätzlich die demographischen Faktoren schluss von Leistungen, sei es durch den Gesetzgeber ein rasch ansteigendes Gewicht gewinnen (mit Beitrags- selbst oder durch („rechtsfest“ gemachte) gemeinsame satzszenarien von bis zu 24 Prozent und mehr). Es ist Entscheidungsgremien der Selbstverwaltungskörper- ferner zu beachten, dass die derzeit von der Regierung schaften (so genannte Bundesausschüsse); und den gesetzlichen (sowie auch privaten) Kranken- versicherungen entwickelten Managementinstrumente ● die teilweise Umfinanzierung von Ausgaben durch Um- („Disease“- und „Vertrags“-Management) in sich selbst wandlung in nicht mehr voll solidarisch zu finanzierende einen kostensteigernden Effekt beinhalten. Damit sind Satzungsleistungen; 524
Politik 7/2002 ● die Umwandlung in Zuzahlungsleistungen mit Selbst- behalten, wobei diese Selbstbehalte durchaus auch sozial gestaffelt sein könnten; ● die steuerfinanzierte Verlagerung in andere Bundes- haushalte (zum Beispiel familienpolitische Leistungen der GKV). Auf der Einnahmenseite: ● die stärkere Verlagerung der GKV-Mitfinanzierung auf andere öffentliche oder auf private Haushalte, ● auf andere Einkommensarten ● sowie höhere Versicherungspflichtgrenzen oder Bei- tragsbemessungsgrenzen. Im Finanzierungsverhältnis zur PKV – hier steht die Ver- schiebung der bisherigen „Friedensgrenze“ bei der Pflichtversicherungsgrenze zur Diskussion – ist allerdings deren Quersubventionierungsbeitrag im Krankenhaus- und Praxissektor mitzubedenken. ☛ Keine der genannten Optionen reicht alleine für eine nennenswerte langfristige und beitragssenkende Wirkung aus; keine kann daher im Reformprozess von vornherein ausgeschlossen werden. Es wird vielmehr eine Mischung aller dieser Maßnahmen nötig werden, was die politische Umsetzung der Reform nicht leichter macht. 5 Das derzeitige SGB V reguliert zu sehr von Institutionen und Verfahrensdetails her und führt in der Summe nicht nur zu Intransparenz für Politik, Bürger, Patienten und die einzelnen Leistungserbringer, sondern auch zum Verlust von Innovationskraft und zu überlangen Innovationszeiten. Das SGB V leidet auch für Fachleute in seinen Details und Wechselwirkungen an Intransparenz und Überregulation und bezieht sich zudem auf eine Vielzahl von zum Teil unterschiedlichen Rechtskreisen angehörenden Institutio- nen und Verbänden. Modernisierungsdefizite, beispiels- weise bei der Mammographie und bei nahezu allen onko- logischen Behandlungsketten, fehlende flächendeckende Diabetesprogramme, der schleppende Ausbau und die unzureichende Modernisierung von Individual-Präven- tionsprogrammen für ältere Menschen sowie von ambu- lanten Rehabilitationsangeboten nach oder neben der stationären Rehabilitation machen die Innovationsbremse im deutschen Gesundheitswesen deutlich. Diese Liste könnte man verlängern. Ferner ist eine Fülle nicht um- gesetzter Bestimmungen festzustellen (zum Beispiel dreiseitige Verträge zwischen ambulanter und statio- närer Versorgung, „Integrationsverträge“, „Strukturverträ- ge“ etc.). Der Gesetzgeber sollte daher zukünftig bei einer Neu- fassung des SGB V stärker von den Zielen als von Instru- menten und Institutionen her denken und das Regel- werk erheblich verschlanken. Die Spitzenverbände der Kassen und die gemeinsame Selbstverwaltung zwischen Krankenkassen, Ärzten, Krankenhausverbänden und an- deren Leistungserbringern bedürfen eines gesetzlichen Rahmens, der nicht Detailregulationen und Institutionen
7/2002 Politik vorgibt, sondern auf der Basis gesundheitlicher und und Fortbildung müssen den eigenverantwortlichen und wirtschaftlicher Zielvorstellungen Kriterien und Inhalte des gut informierten Bürger, den kompetenten Patienten, zum Allgemeininteresses festlegt, zum Beispiel im Sinne von Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Dienstleistungen „Pflichtenheften“ mit allgemeinen Qualitätsstandards, machen. Selbstorganisation und Mitwirkung der Patienten Standards des Zugangs für Versicherte und für Kranke so- sind über die ersten Ansätze in der Gesundheitsreform wie Standards der Transparenz von Kosten und Qualität. 2000 hinaus weiter zu stärken. Auf dieser Basis lässt sich ein gemeinsamer „Sicher- Die Gesundheitsberufe, allen voran Ärzte und Pflege- stellungsauftrag“ von Kassen und Verbänden der Leis- berufe, sollten bereits in der Aus- und Weiterbildung, un- tungserbringer bei gleichzeitiger vertraglicher Vielfalt ter anderem in gemeinsamen „Partner“-Seminaren und verwirklichen, gleichgültig, ob die Verbände der Leis- „Fokus“-Gruppen mit Patienten, lernen, diese als Partner, tungserbringer öffentlich-rechtlich wie die KVen oder insbesondere im Umgang mit chronischer Krankheit oder privatrechtlich wie die Verbände der Krankenhäuser orga- bei Chronifizierungsrisiken akuter Erkrankungen, zu be- nisiert sind. Innerhalb eines klaren zielorientierten und greifen. inhaltlichen Rahmenwerkes – im Ansatz ähnlich den 2001 verabschiedeten Rehabilitationsbehandlungszielen im neuen SGB IX – kann sich dann ein gezügelter Wett- bewerb um die beste Lösung entfalten. 7 Für mehr Qualität und Qualitätstransparenz der Ver- sorgung und mehr Qualität politischer und verband- licher Entscheidungen bedarf es einer industrieunabhän- gig gestärkten Versorgungsforschung. Eine Rahmengesetzgebung sollte auch Vorkehrungen ge- gen dysfunktionale Monopol- und Oligopolbildungen der Der gewachsene Institutionalismus im deutschen System Vertragsparteien treffen und damit Grundsätze des darf kein Selbstzweck sein. Die Institutionen und ihr Kartellrechts aufgreifen. Dies gilt im Übrigen auch für den Zusammenspiel bedürfen der ständigen Flexibilisierung Bereich der privaten Krankenversicherung. Dazu muss die und der Ausrichtung an den Bedürfnissen der Patienten, staatliche Aufsicht mit den Rechten einer Wettbewerbs- aber auch an den berechtigten Bedürfnissen der Gesund- aufsicht – ähnlich wie bei der Telekommunikation oder bei heitsberufe. Ebenso müssen sie auf altbekannte und der Fortführung der deutschen Bahnreform – ausgestattet zukünftige technologische, wissenschaftliche, soziale, werden. Das ständige, auch rechnerische Nachjustieren somatische und psychosomatische Herausforderungen wettbewerblicher Lösungen einschließlich risikogerechter reagieren können. Beitragsausgleiche sollte in Zukunft nicht zu einer perma- nenten Aufgabe des Gesetzgebers werden. Im stationären und ambulanten Sektor bedarf es dazu weiterer qualitätssteigernder Kompetenzbündelungen Eine Vielfalt von Anbietern und Versicherern sollte in der und vertikaler sowie horizontaler Vernetzungen. Lage sein, eine qualitätsgetriebene Erneuerung mit kür- zeren Innovationszeiten sowie mehr Transparenz für Versicherte bei gleichzeitigen Wirtschaftlichkeitsverbes- serungen zu bewirken. Ein verantwortungsbewusstes so- wie attraktives und professionelles Unternehmertum der Kommt die Konzertierte Versicherer und der Leistungsanbieter sollte gefördert werden; Eigeninitiative darf auch auf dieser Ebene nicht Aktion wieder? länger durch bürokratische Reglementierung erstickt wer- den, wie es heute vielfach geschieht. Wettbewerb ohne Fragen von Chefredakteur klare zielorientierte Rahmenvorgaben des Staates führt Peter Ossen an Prof. Dr. allerdings nicht zu den erhofften besseren Lösungen. Friedrich Wilhelm Schwartz 6 Der Patient muss zum zentralen gesundheitspoliti- schen Leitbild für Inhalte und Strukturen gesundheit- licher Dienstleistungen werden. Haben Sie die Positionen als Ratsvorsitzender vorge- tragen oder sind es Ihre „persönlichen“ Thesen? Die Rolle des Patienten im Gesundheitswesen ist im Wandel begriffen und wird sich in den kommenden Jahren Prof. Schwartz: Beides. Ich habe meine Thesen im Rat diskutiert und hohe Zustimmung erhalten. Es gibt Mitglie- weiter in Richtung einer wachsenden Entscheidungskom- der mit besonderen politischen Bindungen, die zur Kos- petenz und Mitsprache beim Behandlungsprozess ent- tenwirkung von Disease Management und DRG-Ein- wickeln. Die Transparenz von Qualität und Kosten des führung deutlich enthusiastischere Positionen als ich Systems und seiner Einzeleinrichtungen muss für die Pa- vertreten. Im Übrigen finden Sie die Inhalte der Thesen tienten, die letztlich in ihrem Auftrag handelnden Profes- sinngemäß in den verschiedenen Gutachten des Rates. sionellen, ebenso natürlich für die Öffentlichkeit und die Politik in allen Bereichen als Daueraufgabe gestärkt wer- Was ist der Kern dieser Thesen? den. Prof. Schwartz: Wir sagen in unserem letzten Gutachten: 25 Jahre pauschaler Kostendämpfung sind genug; wir Die Politik, der Verordnungsgeber, die professionellen und Fortsetzung auf Seite 528 institutionellen Akteure sowie die Institutionen der Aus- 526
Politik 7/2002 Für mehr Qualität und Qualitätstransparenz der Versor- europäischen Suche nach dem „besten“ Gesundheits- gung sowie mehr Qualität politischer und verbandlicher wesen beteiligen. Entscheidungen ist ferner eine industrieunabhängig ge- stärkte Versorgungsforschung jenseits der heute nahezu Dazu gehören auch europaweit gesicherte Patienten- ausschließlich dominierenden, industriegeförderten klini- rechte und Behandlungszugänge. Der schrittweise Abbau schen Studien notwendig. nationaler Mythenbildungen und Eigenbröteleien wird den politischen Blick aller Beteiligten für das öffnen, was Realitätsnahe Versorgungs- und Qualitätsforschung so- tatsächlich „geht“ oder „nicht geht“, wo das vorgebliche wie die Versorgung an und mit Patienten selbst müssen im Patientenwohl tatsächlich bedroht wird oder eben nicht. Alltag ineinander greifen. Auch die fortgesetzte, seit Jahr- Dies hilft dabei, innovativen und zugleich realistischen zehnten zu beobachtende Ignorierung sozialer und Reformprozessen eine Bresche zu schlagen. psychischer Forschungszusammenhänge bei der Ge- staltung und Umsetzung von alltagsbezogenen Thera- Prof. Schwartz präsentierte die „10 Positionen zur Ge- piekonzepten muss beendet werden. sundheitsreform“ anlässlich der Eröffnung des Kongres- ses „Medizin und Gesundheit“ am 15. Mai 2002 in Berlin. Dazu könnte angesichts der klinikzentrierten Verfassung der meisten deutschen medizinischen Fakultäten ein zu Anschrift des Verfassers: errichtendes Max-Planck-Institut oder ein „Blaue-Liste“- Prof. Dr. med. Friedrich Wilhelm Schwartz, Institut für medizinische und soziale Versorgungsfor- Direktor der Abteilung für Epidemiologie, schung einen bedeutenden Beitrag leisten. Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover, 8 Für die „innere Finanzierung“ der GKV mit ihren ver- schiedenen Vergütungsformen muss das Geld vor allem beim multimorbiden Dauerpatienten den Leistungen Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover ■ folgen; die Vergütungen sollten zunehmend ergebnis- und qualitätsorientiert erfolgen. Dies ist mit Festpreisen nur dann vereinbar, wenn qualitätsabhängige Zu- oder Ab- schläge möglich werden, die bisher allerdings politisch nicht vorgesehen sind. Erst denken, dann handeln. 9 Die „innere Finanzierung“ muss ferner entsprechend dem Bedarf und den Präferenzen von Patienten und der zu Pflegenden vor allem personale Dienstleistungen in Parkhaus als Geschäftsidee. Gesundheitsversorgung und Pflege stärken – und leistet damit zugleich einen wichtigen Beitrag zur Arbeitsplatz- generierung im Dienstleistungssektor Deutschlands. Dies entspricht dem Bedarf und den Präferenzen der Pa- www.vollack.de/parkhaus tienten und gibt dem größten deutschen Dienstleistungs- Teilarbeitsmarkt für vollqualifizierte Arbeitskräfte – der auch in den USA die wichtigste „Jobmaschine“ in der Clinton-Ära war – die dringend benötigten Arbeitsplatz- Ordnung: „Do it yourself!” impulse. Auch eine ambulante sowie stationäre zuwen- Ein Krankenhaus in Mönchen- dungsorientierte, partnerschaftliche Medizin (im Sinne der gladbach: These 6.) ist ohne eine angemessene und qualifizierte In den Zimmern lagen die Fernseh- Programme, die Bedienungsanlei- personelle Besetzung nicht möglich. tung und die Essenspläne auf dem Zimmertisch aus; diese wurden aus Dagegen sind die heute dysproportional und dys- Versehen von den Patienten ins Essen getunkt und verschmutzten. funktional überhöhten Ausgaben im Pharmasektor und in Die Lösung an die Wand zu kleben, Segmenten des Hilfsmittel- und „Medical-Products“- bedeutete verdreckte Wand. Marktes auf ein – auch im internationalen Vergleich – angemessenes Maß zurückzuführen. Allein eine Halbie- Im Patientenzimmer: für Essenspläne! rung des auf ungezügelter Rezeptierung, falschen Herr Gäbelein, der Einkäufer, fand die Packungsgrößen und insbesondere mangelnder Arzt- Lösung: das catch-ball-SYSTEM! Patienten-Kommunikation beruhenden Arzneimittelmülls Die Essenspläne hängen an der in Deutschland würde (Stand 2000) pro Jahr rund catch-ball-Schiene, sauber, leicht 3,2 Mrd. € für neue Dienstleistungsarbeitsplätze zusätz- einzuschieben, leicht abzunehmen, Im Stationszimmer: als Infobord! alles mit einer Hand und hygienisch! lich verfügbar machen. Im Stationszimmer wird das System Fordern Sie weitere Informationen als „Infobord” eingesetzt. 10 Das deutsche Gesundheitswesen muss sich durch institutionelle Flexibilisierung und objektives Benchmarking im Vergleich mit unseren Nachbarn an der und ein Muster zum Testen an! Franz Mensch GmbH · Gewerbering 20-21 · 86922 Eresing Tel. 0 81 93/93 93-0 · Fax 0 81 93/93 93-26 527
7/2002 Politik Fortsetzung des Interviews mit Prof. Schwartz men müssen, dass man sich auch um die professionellen von Seite 526 Arbeitsbedingungen von Ärzten in Zukunft mehr Gedanken machen muss. Das gilt aber für die Pflegeberufe gleicher- fordern mehr Zielbildung, Patientenorientierung, Präven- maßen. Beides unterstützt im Übrigen meine These von tionsorientierung, qualitätszentriertes Vorgehen bis in die mehr Investitionen im personalen Bereich. Vergütungen hinein und einen gezügelten Wettbewerb unter klaren staatlichen Rahmenvorgaben. Wie weit dieser gehen Beim Deutschen Ärztetag in Rostock wurde heftige sollte, dazu gibt es innerhalb des Rates allerdings unter- Kritik an den „Expertenvorschlägen“ zur Gesundheits- schiedliche Auffassungen. Wir appellieren ferner an eine reform laut. Fühlen Sie sich angesprochen? internationale Orientierung. Das schärft den Blick: Zum Bei- spiel hat der amerikanische Minister Thompson auf dem Prof. Schwartz: Zunächst einmal nein, weil im politischen Berliner Hauptstadtkongress die Investition von 4,5 Mrd. Teil der Deutschen Ärztetage Ärztefunktionäre auf jedem Dollar in mehr Prävention und die Überprüfung alternativer Deutschen Ärztetag seit 1870 höchst selten nur sachge- Verfahren zur DRG-Finanzierung angekündigt. recht und ausgewogen formuliert haben. Da sind immer auch innerärztlicher Wahlkampf und Machtproben mit der Sie plädieren für ein Ende einer bloß pauschalen Ko- Politik im Spiel. Zugleich leider auch ja: Obwohl sich die stendämpfung. Was soll an deren Stelle treten? Kritik des Ärztetages vor allem gegen Ratsmitglieder mit besonderer Politiknähe richtet, ist der gesamte Rat betrof- Prof. Schwartz: Kostendämpfung meint Ausgabendämp- fen. Als Vorsitzender und in Übereinstimmung mit unserer fung. Ich habe gezeigt und gesagt, dass die Ausgaben der Ratsmehrheit vertrete ich die Auffassung, dass eine „Äqui- GKV sich konform mit dem deutschen Bruttoinlandspro- distanz“ der Ratsmitglieder zu allen politischen Parteien für dukt (BIP) entwickeln. Vergleicht man die GKV mit dem dessen Arbeit förderlich ist. Dienstleistungssektor der Volkswirtschaft, wohin sie eigent- lich gehört, dann wächst sie zu diesem unterproportional. Welche Auswirkungen wird das DRG-System in Dazu trugen 5 große Kostendämpfungsgesetze in zweiein- Deutschland auf mittlere Sicht haben? halb Jahrzehnten bei. An den abgeschotteten Sektoren und den ungelösten Schnittstellenproblemen, an der wenig nut- Prof. Schwartz: Das Beste, was man über das DRG-Sys- zerfreundlichen Versorgungsteilung, insbesondere für lang- tem im Moment sagen kann, ist, dass die gewachsenen fristig Kranke, an der zu geringen Präventionsorientierung Strukturen in den Krankenhäusern gründlich überdacht haben diese Gesetze nichts geändert. Wir müssen mehr werden müssen. Realistisch muss man feststellen, dass die von den Patienten, von ihren Problemen her denken und or- Politik bei der Einführung des Systems über dessen Folgen, ganisieren. Diese Ziele müssen in das Gesetz und die Ver- insbesondere auch auf die nachstationären Bereiche der tragspartner zu dem besten Weg dorthin durch mehr Flexi- ambulanten ärztlichen Versorgung, der pflegerischen Ver- bilisierung fähig gemacht, aber auch zugleich verpflichtet sorgung, der ambulanten und stationären Rehabilitation, zu werden. wenig nachgedacht hat. Die Krankenhäuser werden zu „In- tensivstationen“, alle anderen Dienste müssen dringend Mehr personale Zuwendung im Gesundheitswesen ko- ausgebaut werden, die ersparten Krankenhaustage lösen stet mehr Geld. Wird die Gesellschaft bereit sein, diese sich nur zum kleinsten Teil „in Luft auf“. Das verlangt eine gi- Leistungen für ihre schwächsten Glieder – die Alten und gantische Kraftanstrengung von allen Beteiligten, wenn wir Kranken – zu erbringen und zu bezahlen? am Ende wirklich eine bedarfsgerechte und kostengünstige Prof. Schwartz: Im System gibt es Ineffizienzreserven, cha- Versorgung haben wollen. rakterisiert durch Überversorgung an einer und Unterver- Ist eine „breite politische Mehrheit“ für eine sorgung an anderer Stelle. Deren Beseitigung darf aller- Gesundheitsreform in Deutschland Ihrer Meinung nach dings nicht mit einer weiteren Aufblähung des überhaupt denkbar? Verwaltungsapparates bezahlt werden. Schon jetzt haben wir seit 1998 mehr als 14 000 Vollzeitkräfte im Therapie- und Prof. Schwartz: Wenn nach der Wahl eine wahrhaftige Pflegebereich entlassen und für fast jeden dritten Entlasse- Situationsanalyse auf den Tisch kommt, die holzschnittarti- nen eine Verwaltungskraft eingestellt. Im Übrigen hat der gen Heilsversprechungen vom Tisch kommen, Denkverbo- Rat in seinem letzten Gutachten – mit durchaus positiver te aufgehoben werden, der Patient – wenigstens in Gedan- politischer Resonanz – auf Milliardenreserven im Arzneimit- ken – immer dabei ist, der gute Wille da ist und die telmarkt hingewiesen. Das ist ein Problem, das wir mit den Konjunktur nicht zu stark anzieht und der Zwang zur Eini- Amerikanern teilen. Auch der Medical-Products-Markt ist in gung bleibt – dann halte ich es für denkbar. diesem Sinne noch kein intakter Markt. Horst Seehofer hat die umgehende Einberufung der Teilen Sie die Befürchtung von Prof. Hoppe, dass ein Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen gefordert, „Versorgungsnotstand“ in Deutschland droht? um die „finanzielle Katastrophe der GKV“ abzuwenden. Erleben wir demnächst die Wiedergeburt dieses Gre- Prof. Schwartz: Bundesärztepräsident Hoppe formuliert miums – und mit welchen Perspektiven? widersprüchlich: Wenn der Rat die Versorgung der chro- nisch Kranken in Deutschland kritisiert, wirft er uns Prof. Schwartz: Ministerin Ulla Schmidt hat die Fortführung Schwarzmalerei vor; wenn er selbst spricht, thematisiert er des Runden Tisches in Aussicht gestellt. Dieser ist von den seit 3 Jahren den Versorgungsnotstand. Er verknüpft diesen beteiligten Institutionen her ja fest deckungsgleich mit der jetzt allerdings zusätzlich mit der Tatsache, dass der Arzt- im Gesetz vorgesehenen Konzertierten Aktion: Als Vertreter nachwuchs in strukturschwachen Gebieten Ostdeutsch- des Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion bevor- lands und in einigen Spezialfächern auch in Ballungsgebie- zuge ich selbstverständlich dieses Label. In der Sache ten deutlich schwieriger zu gewinnen ist als bisher. Die Zeit steckt hinter beiden Ansätzen dieselbt Notwendigkeit: ohne des Ärzteüberangebots ist vorbei. Man wird ihm zustim- Konsens keine vernünftige Reform. ■ 528
Sie können auch lesen