1968 eine Zeitenwende? - Die Jugendrebellion und ihre Folgen

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Wissenschaftsgeschichte

       1968 – eine Zeitenwende?
       Die Jugendrebellion und ihre Folgen

       D     as Jahr 1968 ist zu einem
             Symbol für eine Wende in Po-
       litik und Kultur der Bundesrepub-
       lik Deutschland geworden. Eine
       einflussreiche Publizistik sucht al-
       lerdings auch, alle Schäden und
       Irrtümer der jüngsten deutschen
       Geschichte den »68ern« zuzu-
       schreiben. Franziska Augstein hat
       in der Süddeutschen Zeitung am
       8. April dieses Jahres zutreffend

       Vietnamkongress in Berlin im Februar
       1968 – am Rednerpult einer der führen-
       den Köpfe der Studentenbewegung KD
       Wolf: Die Auseinandersetzung mit der
       amerikanischen Politik in Vietnam ge-
       hört zu den zentralen Themen der 68er.
       Während seines Jura-Studiums enga-
       giert sich Karl Dietrich ebenso wie sein
       jüngerer Bruder Frank. KD Wolff sitzt
       von 1965 bis 1967 im Studentenparla-
       ment und im AStA der Goethe-Universi-
       tät, ist von 1967 bis 1968 erster Vorsit-
       zender des Sozialistischen Deutschen
       Studentenbundes (SDS).

       und gut zwischen der berechtigten                                                                                       Deutschland im
       Kritik der damaligen Jugendrebel-                                                                                       Herbst 1967: Bei
       len und ihren zum größten Teil                                                                                          der Feier zum
                                                                                                                               Rektorenwechsels
       unrealistischen und verstiegenen
                                                                                                                               an der Universität
       »Lösungen« für die Probleme der                                                                                         Hamburg demons-
       Zeit unterschieden. Die Entwick-                                                                                        trieren Studenten
       lung der Bundesrepublik zu einem                                                                                        im Audimax gegen
       liberalen und demokratischen Ge-                                                                                        die Ernennung
       meinwesen ging keinesfalls gradli-                                                                                      des Universitäts-
       nig von der Regierung Konrad                                                                                            rektors mit dem
                                                                                                                               Spruchband »Un-
       Adenauers zur langen Kanzler-
                                                                                                                               ter den Talaren
       schaft Helmut Kohls vonstatten.                                                                                         Muff von 1000
       Während der Volksaufstand vom                                                                                           Jahren«.
       17. Juni 1953 in der DDR von der
       Regierung mit aktiver Unterstüt-
       zung der sowjetischen Besatzung
       unterdrückt wurde, scheiterte die
       radikale Kritik der 68er nicht ganz
       so vollständig, auch wenn sie als
       Folge der Spaltung unter den Re-
       bellen und der selbstmörderischen           sind unter uns« gezeigt wurde,        ten), SDS (Sozialistischer Deut-
       Entgleisung einer Minderheit zum            kam es zu heftigen Reaktionen         scher Studentenbund) und Jung-
       anarchistischen Terrorismus                 vonseiten der ehemaligen Wehr-        liberale waren froh, dass ein »Bund
       schließlich unrühmlich endete.              machtsangehörigen [siehe auch         freier Studenten«, der sich keiner
          Als Angehöriger der ersten               »Wie ich die ›68er‹ erlebte«, Seite   Partei verbunden fühlte, ihnen zur
       Nachkriegsgeneration war mir                87]. Die demokratischen Parteien      Seite stand. Ein durchaus deutsch-
       noch die Haltung der Studierenden           konnten nur wenige Studenten als      freundlicher Vortrag des bekannten
       in jenen Jahren lebendig in Erin-           Mitglieder für ihre Jugendvereini-    Schweizerischen Theologen Karl
       nerung. Als 1947 in Tübingen der            gungen rekrutieren. RCDS (Ring        Barth, in dem er auf die Notwen-
       antinazistische Film »Die Mörder            Christlich-Demokratischer-Studen-     digkeit der Auseinandersetzung

       Forschung Frankfurt 2/2008                                                                                                                    85

12 UNI 2008_02 Teil 03 PSG.indd 85                                                                                                    26.06.2008 12:28:26 Uhr
Wissenschaftsgeschichte

                                                                                            Der Marsch der       jungen Kritikern genannt wurden)
                                                                                            Bürgerrechtler auf   achtete die USA als führende Wirt-
                                                                                            Washington: Im       schaftsmacht, Helfer beim Wieder-
                                                                                            August 1963 hält
                                                                                                                 aufbau und Beschützer vor der aus
                                                                                            Martin Luther
                                                                                            King seine histo-
                                                                                                                 dem Osten drohenden Roten Ar-
                                                                                            rischen Rede         mee sehr hoch. Zugleich betrachte-
                                                                                            »I Have a Dream«     ten diese Kreise aber die Amerika-
                                                                                            am Lincoln Me-       ner noch immer leicht hochmütig
                                                                                            morial. Der Theo-    als »kulturlos«, und viele von ih-
                                                                                            loge und charis-     nen lehnten die populäre Musik
                                                                                            matischer Bürger-
                                                                                                                 und Kinowelt von jenseits des Oze-
                                                                                            rechtler, der 1964
                                                                                            den Friedens-
                                                                                                                 ans ab. Für die mit der als Autori-
                                                                                            nobelpreis erhält,   tät empfundenen Gesellschaft un-
                                                                                            rüttelt nicht nur    zufriedenen und gegen sie allmäh-
                                                                                            die amerikanische    lich mehr und mehr rebellierenden
                                                                                            Gesellschaft auf –   jungen Deutschen waren Protest-
                                                                                            auch viele deut-     methoden der amerikanischen
                                                                                            sche Jugendliche
                                                                                                                 Studierenden wie »Go-ins, Teach-
                                                                                            und Studenten so-
                                                                                            lidarisieren sich.
                                                                                                                 ins, Love-ins« dagegen willkom-
                                                                                                                 men übernommene Kampfformen.
                                                                                                                    Ein wichtiger Wendepunkt in
                                                                                                                 der Entwicklung war der 2. Juni
                                                                                                                 1967: An diesem Tag kam der Stu-
                                                                                                                 dent Benno Ohnesorg durch einen
                                                                                                                 Schuss des Polizeiobermeisters
                                     mit und Überwindung der Nazi-        te der nach wie vor benachteiligten    Karl-Heinz Kurras ums Leben. Oh-
                                     ideologie hinwies, fand kaum ge-     Afroamerikaner. Die Ermordung          nesorg, der an der Freien Universi-
                                     nügend Zustimmung. Auch wenn         von John F. Kennedy im Jahr 1963       tät Romanistik und Germanistik
                                     das demokratisches Bewusstsein       und die seines Bruders Robert          studierte, nahm an einer Demonst-
                                     gewachsen war, trat erst im Laufe    1968 fanden ebenso wie der Mord        ration gegen den als Staatsgast
                                     der 60er Jahre eine nachhaltige      an dem charismatischen Anwalt          nach Berlin angereisten iranischen
                                     Wendung ein.                         der Afroamerikaner, Martin Luther      Schah teil, er war unbewaffnet
                                                                          King, insbesondere in der deut-        und wurde von hinten angeschos-
                                        »Go-ins« und andere Folgen        schen Jugend große Beachtung           sen. Der Berliner Polizeipräsident
                                        der amerikanischen Rebellion      und führten zu einem differenzier-     wie auch der Regierende Bürger-
                                        Studentische und gymnasiale       teren Verhältnis der Jugendlichen      meister Heinrich Albertz, die zu-
                                     Jugendliche entdeckten die Bedeu-    gegenüber den USA, als es noch         nächst die Tat des Polizisten vertei-
                                     tung der Dritten Welt und ihres      bei der älteren Generation anzu-       digt hatten, traten wenig später
                                     Kampfes gegen Kolonialmächte so-     treffen war. Das »konservative Es-     nach Selbstkritik zurück. Kurras
                                     wie die Rebellion an amerikani-      tablishment« (wie die politisch        wurde mit der entlastenden Be-
                                     schen Universitäten und die Revol-   führenden Kreise jetzt von den         gründung »Putativnotwehr« frei-

                                     Der Tod von Benno
                                     Ohnesorg: Am
                                     2. Juni 1967 wird
                                     der 26-Jährige bei
                                     einer Demonstrati-
                                     on unter ungeklär-
                                     ten Umständen
                                     von dem Kriminal-
                                     obermeister Karl-
                                     Heinz Kurras er-
                                     schossen. Dies ist
                                     das entscheidende
                                     Ereignis für die
                                     Ausweitung der
                                     Studentenrevolte
                                     in der gesamten
                                     Bundesrepublik.

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12 UNI 2008_02 Teil 03 PSG.indd 86                                                                                                         26.06.2008 12:28:28 Uhr
Wissenschaftsgeschichte

          Bericht des Zeitzeugen: Wie ich die »68er« erlebte

          A   ls ich im Wintersemester
              1945/46 an der Tübinger
          Universität mein Studium auf-
                                               wünschenswert; Seminare mit star-
                                               kem Zulauf konnten durch solche
                                               Gruppenarbeiten intensiver gestal-
          nahm, waren viele Studierende        tet werden. Allerdings mussten die
          noch deutlich von der Naziideo-      Teilnehmer deutlich machen, wel-
          logie und von Misstrauen gegen       chen individuellen Anteil sie an sol-
          die Besatzungsmacht geprägt.         chen Arbeiten hatten. Drei Konflik-
          Bei der Vorführung des Films         te mit Protestierern sind mir in
          »Die Mörder sind unter uns«          Erinnerung geblieben. Relativ
          wurden laute Proteste der in ih-     harmlos war ihre Forderung, unser
          rer »Ehre gekränkten« ehemali-       Institut »Rosa Luxemburg Institut«
          gen Wehrmachtsangehörigen            zu taufen. Ich lobte – mit ironi-
          laut. Der erste Tübinger Univer-     schem Unterton – die Idee mit dem
          sitätsrektor Hermann Schneider,      Hinweis: Rosa Luxemburg sei eine
          ein »Alt-Germanist«, behauptete      besonders fleißige und erfolgreiche     weise den Grund für die Nützlich-          Vor dem Hör-
          in seiner Antrittsrede dem Sinne     Studentin der Universität Zürich        keit einer Beschäftigung mit der           saal V der Uni-
          nach, zum Glück habe die Ger-        gewesen und könne schon deshalb         antiken Demokratie, die zum Bei-           versität Frank-
          manistik nichts mit den Nazi-        allen Studierenden der Politikwis-      spiel noch für Jean-Jacques Rous-          furt: Theodor W.
                                                                                                                                  Adorno diskutiert
          ideologien zu tun gehabt. Das        senschaft ein Vorbild sein.             seau in der Neuzeit einflussreich
                                                                                                                                  lebhaft mit den
          führte immerhin zu seinem bal-           In meiner Eigenschaft als Senats-   gewesen war, die aber aufgrund             Studenten, ob er
          digen Rücktritt, weil der franzö-    beauftragter für studentische Veran-    der anderen sozialökonomischen             seine nach Stö-
          sische Hochschuloffizier diese       staltungen, die mit Staatsgeldern       Verhältnisse in einer Sklavenhal-          rungen wochen-
          Äußerung bedenklich fand. Eine       unterstützt wurden, lehnte ich es       ter-Gesellschaft und in einer mo-          lang ausgesetzte
          von mir gegründete Vereinigung       auf einer Vollversammlung des SDS       dernen marktwirtschaftlichen               Vorlesung »Ein-
          demokratischer Studenten wur-        am 21. November 1967 ab, Geld für       Klassengesellschaft und den dort           führung in dia-
                                                                                                                                  lektisches Den-
          de von der französischen Besat-      einen Vortrag zum Thema »Enteig-        entstehenden Problemen der mo-
                                                                                                                                  ken« wieder
          zung unterstützt. Hochschul-         net Springer« zu genehmigen; die-       dernen Demokratien nicht verein-           aufnehmen kann
          gruppen der demokratischen           ses Thema könnte aber sehr wohl         bar ist. Hannah Arendts Forde-             – allerdings auch
          Parteien waren so schwach, dass      unter dem Titel »Pressekonzentrati-     rung, demokratische Politik solle          an diesem Tag
          sie meist zusammen mit uns           on als Gefahr für die Demokratie«       sich nicht mit Wirtschaftsfragen           ohne Erfolg.
          Gastredner (meist demokratische      behandelt werden. Dieser auch von       beschäftigen, stammt noch aus ih-
          Politiker) einluden.                 meinen Assistenten unterstützte         rer problematischen Orientierung
                                               Vorschlag wurde abgelehnt. In der       an der klassischen Polisdemokratie.
             »Atmosphäre in Frankfurt          Folge wurde auf Anregung des            Derartige Wünsche von Vorle-
             wohltuend … kritischer«           Rechtssoziologen Prof. Wiethölter       sungsbesuchern hielt ich nicht nur
             Auch wenn sich die Verhält-       die Funktion eines professoralen        für legitim, sondern sogar für hilf-
          nisse im Laufe der Jahre in Tü-      »Vormunds« für mit öffentlichen         reich und nützlich.
          bingen verändert hatten, so          Geldern unterstützte studentische
          empfand ich doch im Unter-           Veranstaltungen abgeschafft.                                                       Der Politikwis-
          schied dazu 1963 die soziokultu-         In einem meiner Seminare setz-                                                 senschaftler
          relle Atmosphäre in Frankfurt als    te ich mich mit der unüberlegten                                                   Iring Fetscher
          wohltuend offener und selbstbe-      Identifikation linker Studenten mit                                                (rechts) und der
          wusst kritischer. Da ich mich        palästinensischen Israel-Feinden                                                   Sozialphilosoph
          schon früh intensiv mit Marx         auseinander und wies darauf hin,                                                   Jürgen
                                                                                                                                  Habermas im
          und dem sowjetischen Marxis-         dass ehemalige Nazis sich mit ihren
                                                                                                                                  April 1975 im
          mus beschäftigt hatte, konnte ich    Publikationen für palästinensische                                                 Hörsaal VI der
          mit den rebellischen linken Stu-     Israel-Feinde engagiert hätten, un-                                                Goethe-Universi-
          denten mühelos diskutieren und       ter anderem ein ehemaliger nieder-                                                 tät: Gemeinsam
          ihnen auch auf diesem Gebiet         sächsischer Rechtsradikaler. Die           Die Bitte eines SDS-Studenten,          mit Rudi
          wissenschaftlich fundiertes Wis-     voreilige Identifikation Israels mit    in einem Artikel für ihre Zeitung          Dutschke neh-
          sen vermitteln. Solange die Aus-     einer »US-amerikanischen getarn-        die chinesische »Kulturrevolution«         men sie an einer
          einandersetzung der Studieren-       ten Kolonie« beruhe auf einem his-      darzustellen, lehnte ich allerdings        Solidaritätsver-
                                                                                                                                  anstaltung für
          den mit dem »Establishment«          torischen Erkenntnisfehler. Zu wei-     ab, da ich im Gegensatz zu ihrer ir-
                                                                                                                                  einen in Jugos-
          relativ zivil vonstatten ging,       teren Störungen ist es während          regeleiteten Begeisterung für die          lawien unter-
          konnte ich sie verstehen und so-     meiner Vorlesungen und Seminare         »befreite Jugend und ihren Kampf           drückten Gesell-
          gar unterstützen. Eine aktive        in der Folge nur selten gekommen,       gegen die Bürokratie« eingesehen           schaftstheoreti-
          Mitwirkung der Studierenden an       Studierende verlangten allerdings       hatte, dass es sich um ein höchst          ker teil.
          der Planung von Seminaren            bei Themen, deren aktuelle Bedeu-       grausames Manöver Mao Tse
          ebenso wie die Anfertigung von       tung ihnen nicht einleuchtete, eine     Tungs handelte, der auf diese Wei-
          Seminararbeiten durch kleine         erklärende Begründung. So entwi-        se seine bedrohte Machtposition
          Arbeitsgruppen hielt ich sogar für   ckelte ich wunschgemäß beispiels-       retten wollte.            Iring Fetscher

       Forschung Frankfurt 2/2008                                                                                                                       87

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Wissenschaftsgeschichte

                                                                                                                    Auseinandersetzung mit der Staatsge-
                                                                                                                    walt in Frankfurt: Demonstranten provo-
                                                                                                                    zieren im Mai 1969 die Polizei durch
                                                                                                                    den Hitler-Gruß, um die Polizisten als
                                                                                                                    Faschisten darzustellen.

                                                                                                                    (so auch Richtern) der Bundesre-
                                                                                                                    publik noch immer viele ehemalige
                                                                                                                    Nazis, die sich oft entschuldigend
                                                                                                                    als verdienstvolle Antikommunis-
                                                                                                                    ten verstanden, die schon vor 1945
                                                                                                                    gleichsam NATO-Kämpfer gewesen
                                                                                                                    waren.

                                                                                                                        Marcuse, Horkheimer, Adorno –
                                                                                                                        und die Protestierer
                                                                                                                        An einigen Universitäten ent-
                                                                                                                    deckten Studierende Publikationen
                                                                                                                    von Professoren, die sich in der
                                                                                                                    Nazizeit der herrschenden Ideolo-
                                                                                                                    gie angepasst hatten und keine of-
                                                                                                                    fene Selbstkritik übten, oft auch
                                                                                                                    belastende eigene Publikationen
                                                                                                                    aus Universitätsbibliotheken ver-
                                                                                                                    schwinden ließen. Im Gegensatz
                                                                                                                    dazu lehrten an der Frankfurter
                                                                                                                    Universität aus dem Exil heimge-
                                                                                                                    kehrte Antinazis wie Max Horkhei-
                                                                                                                    mer und Theodor W. Adorno, die
                                                                                                                    schon aus diesem Grund Verständ-
                                                                                                                    nis für die rebellischen antinazisti-
                                                                                                                    schen Jugendlichen hatten. Noch
                                                                                                                    eindeutiger trat Herbert Marcuse,
                                                                                                                    der in den USA lehrte und vor sei-
                                                                                                                    ner Emigration dem Institut für
                                                                                                                    Sozialforschung angehört hatte, für
                                                                                                                    die Anliegen der Jugendrebellion
                                                                                                                    ein. Herbert Marcuse hatte schon
                                                                                                                    in den USA ein neues welthistori-
                                                                                                                    sches revolutionäres Subjekt in der
                                                                                                                    Verbindung der Befreiungsbewe-
                                                                                                                    gung der Dritten Welt mit der Re-
                                                                                                                    bellion der akademischen Jugend
                                                                                                                    diagnostiziert. Das ehemals revolu-
                                                                                                                    tionär gewesene Proletariat war –
                                                                         Einführung in die Kritische Theorie: Das   so seine Diagnose – durch gestiege-
                                                                         philosophische Seminar von Max Hork-       nen Wohlstand und Manipulation
                                                                         heimer und Theodor W. Adorno, das sie      der Massenmedien für diese Auf-
                                                                         über viele Jahre gemeinsam angeboten
                                                                                                                    gabe verloren. Wolfgang Abend-
                                                                         haben, ist bei den Studenten in den
                                                                         1960er Jahren sehr gefragt.
                                                                                                                    roth, der wegen seines Antifaschis-
                                                                                                                    mus in einer Strafeinheit eingesetzt
                                                                                                                    war und den Krieg knapp überlebt
                                                                                                                    hatte, verteidigte ebenso die rebel-
                                                                         gesprochen und lediglich in den            lischen Studenten.
                                                                         Innendienst versetzt. Dieses Ereig-            Generell kam es in Frankfurt zu
                                                                         nis führte nicht nur in Berlin zu          offeneren Diskussionen mit den
                                                                         wütenden Demonstrationen und               Protestierenden, zu Auseinander-
                                                                         heftigen Verurteilungen der ver-           setzungen aber kam es mit Max
                                                                         antwortlichen Politiker vonseiten          Horkheimer, Theodor W. Adorno
                                                                         der rebellischen Studenten. Wäh-           und ihrem Schüler Jürgen Haber-
        Herbert Marcuse, der schon zu den Gründungsmitgliedern des
                                                                         rend sich die politischen Parteien         mas, weil die Studenten die Bezie-
        Instituts für Sozialforschung gehört hatte und ebenso wie
        Horkheimer und Adorno in die USA emigriert war, gilt als en-     in den westlichen Demokratien in           hung von Theorie und Praxis zu
        gagierter und einflussreicher Sozialphilosoph der Jugendrevol-   der Regel als Erben des Antifa-            »kurzschlüssig« interpretierten.
        te, die von Kalifornien ausgehend in den späten 1960er Jah-      schismus verstanden, gab es unter          Adorno erkannte die Gefahr schon,
        ren die Universitätsstädte der westlichen Welt ergreift.         Politikern und höheren Beamten             bevor der studentische Anarchis-

  88                                                                                                                     Forschung Frankfurt 2/2008

12 UNI 2008_02 Teil 03 PSG.indd 88                                                                                                              26.06.2008 12:28:29 Uhr
Wissenschaftsgeschichte

       mus gewalttätige Formen entwi-          wirklichen, wurde freudig begrüßt.       Der Autor
       ckelte: »Die Kritik am Anarchis-        Einer der populärsten Studenten-
                                                                                         Prof. Dr. Iring
       mus ist nicht hinfällig geworden.       führer, Rudi Dutschke, reiste nach
                                                                                         Fetscher, 86, war
       Seine Wiederkehr ist die eines Ge-      Prag, um die Unterstützung deut-          von 1963 bis zu
       spenstes. Die Ungeduld gegenüber        scher studentischer Rebellen zum          seiner Emeritierung
       der Theorie, die in ihm sich mani-      Ausdruck zu bringen. Am 11. April         im Jahre 1987 Pro-
       festiert, treibt den Gedanken nicht     1968 kommt es in Berlin zu einem          fessor für Politik-
       über sich hinaus. Indem sie ver-        lebensgefährlichen Revolveratten-         wissenschaft an der
       gisst, fällt sie hinter sich zurück.«   tat auf Dutschke, an dessen Spät-         Goethe-Universität
                                                                                         mit dem Schwer-
       Ebenso klar wies er schon 1968 da-      folgen er 1979 stirbt. Von seinen
                                                                                         punkt politische
       rauf hin, dass es ein Irrtum ist, zu    Anhängern wird vor allem die              Theorie und Ideen-
       meinen, »im Zusammenhang kol-           Springer-Presse für den Anschlag          geschichte. Dem
       lektiver Aktion werde besser ge-        des nazistisch beeinflussten ar-          Selbstverständnis
       dacht«. Marcuses Weg wollten die        beitslosen Josef Bachmann verant-         nach ein Brücken-
       meisten Frankfurter Kollegen nicht      wortlich gemacht. Die Bildzeitung         bauer zwischen
       folgen, für die Studenten hatte er      hatte durch ihre Angriffe auf de-         Geist und Politik
                                                                                         suchte Fetscher nicht die Nische einer auf die Universität
       dagegen etwas Faszinierendes. Zu-       monstrierende Studenten die At-
                                                                                         begrenzten Denkschule, sondern engagierte sich öffentlich –
       gleich blickten sie auch im Mai         mosphäre für dieses Verbrechen            unter anderem in der Grundwertekommission beim Partei-
       1968 sehnsuchtsvoll und bewun-          bereitet.                                 vorstand der SPD und als Berater des früheren Regierenden
       dernd nach Frankreich, wo die Ak-                                                 Berliner Bürgermeisters Willy Brandt (SPD). Kenner und
       tion gemeinsam von Studenten,              Impulse für die Wende?                 Wegbegleiter bescheinigten Fetscher ein radikales kritisches
       linken Intellektuellen und Arbei-          Die Phase der Jugendrebellion          Denken mit einer »wohlwollend-optimistischen Grundhal-
       tern getragen wurde, während            in der Bundesrepublik hat bei den         tung«. Zu seinem Forschungsschwerpunkt machte Fetscher
                                                                                         neben der Geschichte der politischen Theorien und Philoso-
       deutsche Gewerkschafter zwar Kri-       demokratischen Nachbargesell-
                                                                                         phien die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der
       tik an den geplanten Notstandsge-       schaften oft Anteilnahme und              totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. Bekannt wurde er
       setzen übten, aber nicht bereit wa-     Sympathie ausgelöst, die zum Teil         aber vor allem als undogmatischer Marxismusforscher, wobei
       ren, dafür einen Generalstreik zu       sogar gegenüber den späteren Ter-         es ihm »darum ging, den emanzipatorischen Gehalt der
       riskieren.                              roristen noch anhielt. Die histori-       Marx’schen Theorie unter ihren parteioffiziellen Verzerrungen
                                               sche Zeitenwende des Jahres 1989          und Überlagerungen freizulegen« – wie es sein frührer Assis-
          Internationale Aspekte               war weder durch die Rebellen von          tent und späterer Herausgeberkollege Prof. Dr. Herfried
                                                                                         Münkler formulierte. Zu Fetschers bekanntesten Schriften
          der Bewegung                         1968 vorbereitet noch durch sie er-
                                                                                         zählen das Standardwerk »Von Marx zur Sowjetideologie«
          Aktuelle Rückblicke auf 1968         schwert. Sie wurde in der Sowjet-         (1957; 23. Auflage 1987) und das dreibändige Handbuch
       vernachlässigen oft die internatio-     union durch Michail Gorbatschow           »Der Marxismus« (1963 – 1968). 1985 begann Fetscher zu-
       nalen Aspekte dieser Bewegung: In       und seine Mitstreiter ausgelöst und       sammen mit Herfried Münkler mit der Veröffentlichung einer
       den USA kam es zu Studentenpro-         führte unter anderem zu den Leip-         auf fünf Bände angelegten Geschichte politischer Ideen. Im-
       testen gegen den verhängnisvollen       ziger Montagsdemonstrationen, zu          mer wieder wandte sich Fetscher aber auch aktuellen poli-
       Vietnamkrieg und für eine Vollen-       deren Erfolg die evangelische Kir-        tischen Entwicklungen zu. Die politische Kultur in einem
                                                                                         normativen Verständnis beleuchtete er 1990 in dem Buch
       dung der längst versprochenen           che wesentlich beigetragen hat, auf
                                                                                         »Toleranz. Von der Unentbehrlichkeit einer kleinen Tugend
       Gleichberechtigung der Afroameri-       denen aber neben der Parole »wir          für die Demokratie« und in der Essaysammlung »Utopien,
       kaner und der Latinos. Die Protes-      sind das Volk« leider Reichskriegs-       Illusionen, Hoffnungen. Plädoyer für eine politische Kultur
       tierenden lehnten die offizielle        flaggen auftauchten, deren politi-        in Deutschland«.
       amerikanische Politik ab, die ver-      sche Zuordnung jedenfalls nicht
                                                                                         Fetscher wurde 1922 in Marbach/Neckar als Sohn des Arz-
       suchte, die kubanische Revolution       demokratisch sein konnte.
                                                                                         tes und späteren Professors für Hygiene Rainer Fetscher ge-
       zu bekämpfen, und auch eine mili-          Etwas großzügiger beurteilt hat        boren und wuchs in Dresden auf. Den Krieg erlebte er als
       tärische Intervention in Kuba ver-      die Jugendrebellion, die mit dem          aktiver Offizier vor allem an der Ostfront. Über Dänemark
       sucht hatte und später den Sturz        Stichwort »68« umschrieben wird,          kam er nach Dresden zurück und fand seine Mutter verwit-
       des sozialistischen argentinischen      auf dem Umweg über die am                 wet: Am letzten Kriegstag (8. Mai 1945) hatte die SS noch
       Präsidenten Allende förderten.          22. Oktober 1969 gebildete sozialli-      seinen Vater erschossen, als er versuchte Konflikte zwischen
          Die deutschen 68er bezogen ih-       berale Regierung unter Bundes-            Besatzung und der Bevölkerung zu vermeiden und der Roten
                                                                                         Armee die Zusammenarbeit mit Dresdner Antinazis anzubie-
       ren Protest vor allem auf den Viet-     kanzler Willy Brandt doch zum
                                                                                         ten. Die Familie übersiedelte bald nach Westen, wo Fetscher
       namkrieg, in dem die USA ab 1965        Ende der Sowjetunion und ihrer            in Tübingen Philosophie und Germanistik studierte. Er pro-
       den höchst fragwürdigen Demo-           »Satellitenstaaten« beigetragen.          movierte bei Eduard Spranger und war anschließend dessen
       kraten General Ky im Kampf ge-          Brandts Entspannungspolitik ge-           Assistent. Die Habilitation erfolgte bei Theodor Eschenburg.
       gen den kommunistischen Norden          genüber der DDR und letztlich             1963 wurde Fetscher als ordentlicher Professor an die Uni-
       unterstützten. Zu den verehrten         auch gegenüber der Sowjetunion            versität Frankfurt berufen.
       »Helden« der 68er wurden der            sowie der für die Rote Armee un-          Gastprofessuren führten ihn unter anderem an die New
       nordvietnamesische Politiker Ho         erreichbare US-amerikanische Rüs-         School for Social Research in New York (1968/1969), nach
       Chi Min und der Argentinier Che         tungsvorsprung führten zur Resig-         Tel Aviv (1972), an das Netherlands Institute for Advanced
       Guevara, der die kubanische Revo-       nation der sowjetischen Führung           Study Wassenaar (1972/1973), an das Institute for Advan-
       lution zusammen mit Fidel Castro        und ihrer Bereitschaft, die DDR           ced Study der Australian National University Canberra
       anführte und später in Bolivien er-     aufzugeben. In so komplexen his-          (1976) und an das Institute for European Studies der Har-
                                                                                         vard University (1977). Rufe an die Universitäten Konstanz,
       mordet wurde. Der Versuch des           torischen Zusammenhängen ist
                                                                                         Nijmwegen, Wien und New York lehnte Fetscher ab. 2004
       tschechischen Reformkommunis-           freilich die Feststellung eines ein-      wurde er von der philosophischen Fakultät der Universität
       ten Dubček, einen »Sozialismus         deutigen Kausalnexus nicht gut            Osnabrück zum Dr. phil. h.c. ernannt.
       mit menschlichem Antlitz« zu ver-       möglich.                             ◆

       Forschung Frankfurt 2/2008                                                                                                                         89

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