20 TITELTHEMA STICHWORT - SWISS HISTORIC HOTELS

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20 TITELthema Stichwort
20 TITELTHEMA STICHWORT - SWISS HISTORIC HOTELS
14 | 2009                                                                                                              Beobachter        21

Heisse Tipps der
                                                                                             Sie waren vor allen anderen da:
                                                                                             Upperclass-Touristen aus
                                                                                             England eroberten im
                                                                                             19. Jahrhundert die Alpen.

   coolen Briten
                                                                                             Auf den Routen von einst
                                                                                             ­locken Hotelpaläste und
                                                                                              spektakuläre Touren –
                                                                                              ­abseits der Massenpfade.
                                                                                             Text: Thomas Angeli, Daniel Benz,
                                                                                             Tatjana Stocker und Dominique Strebel

                                                                      D
                                                                                                             as Walliser Brot ist zum
                                                                                                             Wegwerfen», schreibt 1863
                                                                                                             die englische Pastoren-
                                                                                                             tochter Jemima Morrell in
                                                                                                             ihr Reisetagebuch. «Hung-
                                                                                             rige Touristen verspüren keine Lust,
                                                                                             ­einen zehn Zentimeter dicken Brotlaib
                                                                                              erst aus ­einer unessbaren dicken Kruste
                                                                                              her­auszubrechen. Haben sich die hie-
                                                                                              sigen ­ Bäcker heimlich mit den Zahn-
                                                                                              ärzten verbündet?»
                                                                                                  Die 31-jährige Miss Morrell gehört
                                                                                              zu einer kleinen Gruppe von acht Eng-
                                                                                              ländern, die im Auftrag von Thomas
                                                                                              Cook, dem umtriebigen Organisator von
                                                                                              Gesellschaftsreisen, zu Fuss oder in der
                                                                                              Kutsche die Schweiz erkunden – von
                                                                                              Genf zum Montblanc, nach Martigny,
                                                                                              Leukerbad, über die Gemmi nach Kan-
                                                                                              dersteg, von Interlaken über den Brünig
                                                                                              nach Luzern und dann auf die Rigi.
                                                                                                  Morrells Gruppe löst den ersten
                                                                                              grossen Tourismusboom der Schweiz
                                                                                              aus. Bald tummeln sich in den Alpen die
                                                                                              Professoren, Ingenieure, Fabrikanten
                                                                                              und Bankiers der britisch-viktoriani­
                                                                                              schen Gesellschaft, die im Zuge früher
                                                                                              Industrialisierung zu Wohlstand gelangt
                                                                                              waren. Für sie werden Ende des 19. Jahr-
                                                                                              hunderts Hotelpaläste, Zahnrad- und
                                                                                              andere Bergbahnen gebaut.
                                                                                                  Den Schweizern kommt dabei im
                                                                                              besten Fall die Rolle der Sherpas, Berg-
                                                                                              führer, Wirte oder Hoteliers zu. Schwei-
                                                foto: schweizerisches landesmuseum, zürich

                                                                                              zer wandern zu jener Zeit selten im eige-
                                                                                              nen Land. Es fehlt ihnen am Geld und
                                                                                              an der (bezahlten) Freizeit. Erst ab den
                                                                                              1960er Jahren wird in der Schweiz die
                                                                                              Fünftagewoche eingeführt. Und erst seit
                                                                                              1966 gibt es landesweit obligatorische
 Pioniere des Alpintourismus:                                                                 Ferien (zwei Wochen).
 abenteuerlustige Gäste auf dem Ornygletscher                                                     Mit dem Ersten Weltkrieg endet der
 im Montblanc-Gebiet, anno 1895                                                               klassische Alpentourismus der Englän-
20 TITELTHEMA STICHWORT - SWISS HISTORIC HOTELS
22 TITELthema Wandern

  der. In die Lücke springen die Schweizer,
  die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im
  Lauf des Wirtschaftswunders längere Wan-
  derferien zunehmend auch selbst leisten
  können. Rot besockte Kampfwanderer               lauterbrunnental

                                                   Goethes Geistern lauschen
  durchpflügen die Alpen, bald auch genuss-
  orientierte Turnschuhspaziergänger und
  Goretex-bejackte Wohlstandsabenteurer.
  Wandern wird modisch (siehe auch den             Ein Klassiker des historischen Tourismus: Das Lauterbrunnental
  Essay «Das Massen­wanderphänomen»,
  Seite 25).
                                                   inspirierte Autoren zu Hymnen auf seine Schönheit.
     Gemäss einer jüngst durchgeführten

                                                   D
  Studie des Bundesamts für Sport sind heute                 er Staubbachfall macht seinem      den ­anderen Stammgästen im Saal die
  39 Prozent der Deutschschweizer regel-                     Namen alle Ehre: Knapp 300         ­Neuigkeiten des Tages auszutauschen.
  mässig mit Wanderschuhen und ­Rucksack                     Meter stürzt er über eine Fels-     War das vorhin auf der Wanderung
  unterwegs. Der Verein Schweizer Wander-          wand zu Tal, zu einem Schleier aus            nun ein «swallowtail», ein Schwalben-
  wege sieht in der Schweiz jährlich «bis zu       feinsten Tröpfchen zerstäubend. Ein           schwanz? Ganz sicher ist man nicht;
  1,3 Millionen Menschen aller Altersgrup-         Naturschauspiel, das sich im 18. und          einigt sich dann aber darauf, dass der
  pen» am Wandern. Das Bundesamt für               19. Jahrhundert kaum ein Reisender            Falter «very pretty» aussah, sehr schön.
  Landestopographie vermeldet bei den              entgehen liess: Das Berner Oberländer         Das suchten wohl schon die «Cookites»,
  Wanderkarten «kontinuierlich steigende           Dorf Lauterbrunnen mit seinem Was-            wie man die Entdeckungsreisenden
  Umsätze», und der Schweizer Alpen-Club           serfall gehörte zu den unbestrittenen         auf den Spuren von Tourismuspionier
  (SAC) – notabene gegründet 1863 als Reak-        Höhepunkten der klassischen Tour              Thomas Cook nannte: die Natur als
  tion auf den Alpine Club der Engländer –         durch die Schweizer Alpen. «Über dem          pittoreskes Bilderbuch.
  verzeichnet starke Zuwachsraten bei den          Tal erhob sich der Dom der Jungfrau,
  Mitgliedern sowie ein ständiges Wachstum         der jungfräulichen Königin des Ober-         Der höchste Wasserfall der Schweiz
  bei den Übernachtungen.                          landes, deren schneebedecktes Tuch           Der Staubbach, zu dem Dichter, Maler
                                                   einen starken Kontrast zur grünen Tal-       und betuchte Reisende pilgerten, stürzt
  Die Eroberung der Seitentäler                    sohle bildete», notierte die Pastoren-       noch heute imposant und im freien Fall
  Kein Wunder, dass man auf zahlreichen            tochter Jemima Morrell am 4. Juli 1863       ins Tal. Auf einem Zickzackpfad gelangt
  Gipfeln anstehen muss, um sich ins Gipfel-       in ihr Reisetagebuch.                        man zur Galerie in der Felswand, von
  buch eintragen zu können. Futsch ist die               Vor der jungen Engländerin hatten      der aus sich das Wasserspiel aus nächs-
  Einsamkeit, verstellt die Suche nach dem         bereits Dichter wie Goethe, Words-           ter Nähe erleben lässt – eine Dusche
  Erhabenen, «the sublime», das die eng-           worth oder Byron den Wasserfall be-          je nach Windverhältnissen inbegriffen.
  lischen Upperclass-Touristen des 19. Jahr-       wundert und in ihren Werken verewigt         Der Staubbachfall ist nicht der einzige
  hunderts gemäss einer aktuellen National-        – Goethe in seinem «Gesang der Geis-         spektakuläre Wasserfall im «schönsten
  fonds-Studie in den Schweizer Alpen              ter über den Wassern». Lord Byron, der       Trogtal der Alpen»: Der Mürrenbachfall
  suchten.                                         das Berner Oberland im September             weiter hinten im Tal gilt mit seinen
          Da lohnt sich eine Rückbesinnung auf     1816 bereiste, schwärmt in seinem            417 Metern als höchster Wasserfall des
  Jemima Morrell. «The English» wanderten          ­« Alpine Journal»: «Nie habe ich Ähn-       Landes (er wurde eben erst im April
  noch mit Stil. Sie nächtigten in ausge-           liches beobachtet. Er [der Wasserfall]      nochmals vermessen), und vom Bu-
  suchten Hotelpalästen (siehe Seite 27) und        sieht genau wie ein Regenbogen aus,         chenbachfall, einem Mekka für Ex-
  dinierten im gepflegten Speisesaal. Und als       der herunterkam, eine Visite zu ma-         tremsportler aus aller Welt, stürzen sich
  ihnen zu viele Touristen in die Schweiz           chen, und [ist] so nahe, dass man           Basejumper vom überhängenden Fel-
  drängten, wichen sie in Seitentäler aus. So       ­hineinschreiten kann.»                     sen in die Tiefe – aber einzelne auch in
  entstanden einsame Hotelkästen, die zu                 Etwas vom Geist aus den Anfängen       den Tod.
  ­erwandern sich auch heute lohnt, sei es im        des Tourismus ist in der Gegend heute          Noch in diesem Sommer werden
   Made­ranertal (Seite 26), sei es im Binntal       noch spürbar. Zum Beispiel im Hotel        sieben der insgesamt 72 (!) Wasserfälle
   (Seite 24).                                       Falken im autofreien Wengen, das man       ausgeschildert und mit Infotafeln ver-
          Aber Achtung: Wer sich auf die Suche       von Lauterbrunnen her nach steiler,        sehen. «Wir wollen unsere Wasserfälle
   nach dem English Way of Hiking macht,             kurzer Fahrt in der Zahnradbahn er-        ins rechte Licht rücken und ihnen wie-
   sollte es auf jeden Fall vermeiden, Post­         reicht. Im denkmalgeschützten Belle-       der die Bedeutung zukommen lassen
   karten zu verschicken. Über diese Er­             Epoque-Bau fühlt man sich um min-          wie vor 200 Jahren», sagt Andrea Hess
   rungenschaft des ausgehenden 19. Jahr-            destens 100 Jahre zurückversetzt – nach    vom örtlichen Tourismusbüro. Ob
   hunderts rümpfte der britische «Standard»         «Little Britain», wie Beverly Wood,        ­naturselige Romantikerin von damals
   bereits 1899 indigniert die Nase: «Der            einer der guten Geister des Hauses und      oder gestresster Erholungssuchender
   ­reisende Teutone scheint es als seine            selbst Engländerin, scherzt. Im «salle à    von heute: Beim Betrachten der Was-
    ­feierliche Pflicht zu betrachten, von jeder     manger», der im Originalzustand von         serfälle scheint die Zeit förmlich still-
     ­Sta­tion seiner Reise eine Postkarte zu        1895 erhalten wurde, betreiben die          zustehen. 
      ­schicken, als befände er sich auf einer       ­Ladys und Gentlemen beim Dinner           Hotel Falken: Doppelzimmer ab 220 Franken;
       Schnitzeljagd.»                       n       vornehm Konversation, um danach mit       Infos unter www.hotelfalken.com
20 TITELTHEMA STICHWORT - SWISS HISTORIC HOTELS
Idyll in malerischer Landschaft: Lauterbrunnen
                                                                                                                                                    mit seinem berühmten Staubbachfall um 1900

                                                                                                                                                    Tour 1: Den Fällen nach                                                 Der Charme der guten alten Zeit: das denkmalgeschützte Hotel Falken im autofreien Wengen

                                                                                                                                                    Route: Bahnhof Lauterbrunnen (795 Meter),
                                                                                                                                                    Staubbachfall, Trümmelbachfall, Ägerten-
                                                                                                                                                    bachfall, ­Mürrenbachfall, Bushaltestelle
                                                                                                                                                    ­Stechelberg (910 Meter)
                                                                                                                                                     Gehzeit: 2 Stunden; beim Besuch der
Infografik: golden section graphics; Quelle: swisstopo; fotos: Photochrom collection/Photoglob/Key, Carol Urfer/carofoto.ch (2), Hotel Falken (3)

                                                                                                                                                     ­Trümmelbachfälle (höhlenartige Galerien
                                                                                                                                                      im Fels) 3 Stunden einberechnen
                                                                                                                                                      Charakteristik: leichte Wanderung auf guten
                                                                                                                                                      Wegen; auch mit Kinderwagen machbar
                                                                                                                                                      Jahreszeit: das ganze Jahr über; auch
                                                                                                                                                      ­Winterwanderweg
                                                                                                                                                       Karte: LK 254, 264, 1:50 000 Lauterbrunnen

                                                                                                                                                                                                                                                                           Erbaut 1895: Im Speisesaal und im Garten
                                                                                                                                                                                         LAUTER-                                                                           des «Falken» liessen es sich die britischen
                                                                                                                                                                         100

                                                                                                                                                                                         BRUNNEN                                                                           Upperclass-Touristen gutgehen.
                                                                                                                                                                          0

                                                                                                                                                                                      Wei
                                                                                                                                                                                         sse

                                                                                                                                                         16
                                                                                                                                                                                        Lütschine

                                                                                                                                                             00                                                     0
                                                                                                                                                                                                                 160
                                                                                                                                                                                                       1400
                                                                                                                                                                  140
                                                                                                                                                                     0
                                                                                                                                                      18
                                                                                                                                                        00

                                                                                                                                                                                                                        0
                                                                                                                                                                                                                  180
                                                                                                                                                                                                 00
                                                                                                                                                                                               14

                                                                                                                                                       MÜRREN
                                                                                                                                                                                  0

                                                                                                                                                                                                                1800
                                                                                                                                                                               100

                                                                                                                                                                                                    2200

                                                                                                                                                                                                           2648,5 Meter

                                                                                                                                                                                                    Schwarzmönch            Detaillierte Tourenbeschreibung und weitere
                                                                                                                                                        500 m             MATTA                                             ­nützliche Informationen unter:
                                                                                                                                                                                                                             www.beobachter.ch/wandern
20 TITELTHEMA STICHWORT - SWISS HISTORIC HOTELS
Detaillierte Touren-
24 TITELthema wandern                                                                             beschreibung und
                                                                                                  weitere nützliche
                                                                                                  Informationen:
  binntal                                                                                         www.beobachter.ch/
                                                                                                  wandern

  Churchill nahm                                    «Zwischen Simplon und Gotthard»:

  die Hintertür                                     Hotel Ofenhorn in Binn VS
                                                    Unten: Hotelprospekt um 1915

  Schon der spätere britische
  Kriegspremier weilte im
  ­«Ofenhorn». Heute erstrahlt das
   Hotel wieder in altem Glanz.

  D
          er Mann hat schon einiges gesehen
          in seinem noch kurzen Leben. Aus
          Kuba hat er über den Krieg gegen
  die Spanier berichtet, in Indien hat er Polo
  gespielt und in Pakistan gegen Aufstän-
  dische gekämpft. Woran mag der welt­
  gewandte Haudegen denken, als die Fels-
  wände der Twingi-Schlucht immer näher
  kommen und die Binna tief unten immer
  lauter rauscht? Pafft er seine berühmte Zi-
  garre? Geht er zu Fuss oder lässt er sich in
  einem Maultierkarren über den kaum zwei
  Meter breiten Saumpfad fahren? Der junge
  Mann ist froh, im besten – im einzigen –
  Haus am Platz, im «Ofenhorn», ein Zimmer
  reserviert zu haben. Er betritt das Hotel        Tour 2: Auf der Sonnenseite                                   2503,1 Meter
                                                                                                           Eggerhorn                      2200           ch
  durch die Hintertür, den üblichen Eingang                                                                                                          d ba
  für die noblen Gäste, die so vom gemeinen         Route: Binn (1400 Meter), Meili (2020),                                                      Fäl
  Volk abgeschirmt werden.                          Sattulti (2128), Meili (2020), Fäld (1547),                             1900

      Der junge Herr erhält Zimmer Nummer           Binn (1400)                                                                      170
                                                                                                                                           0
  16, und mit den Anmeldeformalitäten mag           Gehzeit: 5 Stunden
                                                                                                                                          FÄLD
  er sich nicht lange aufhalten. Er schreibt        Charakteristik: eine Tour, auf der                                             1600
  keinen Beruf ins Gästeregister, keinen Ab-        zuerst etwas Kondition und danach
                                                                                                                                   1800
  reiseort und kein Ziel, bloss: W. Churchill,      ­Trittsicherheit gefragt ist
                                                                                                             a
                                                                                                                 BINN
  London.                                            Jahreszeit: Juni bis September                        nn
                                                                                                      Bi
                                                     Karte: LK 265, 1:50 000 Nufenen                                                                 500 m

  Five o’Clock Tea im noblen Salon
  Einen der ganz Grossen der Weltpolitik

                                                                                                                                                              Infografik: golden section graphics; Quelle: swisstopo; fotos: Andreas Weissen, Klaus Anderegg (2)
  einst als Gast gehabt zu haben, darauf ist         Eine Reservation ist auch da noch            Herbst 1968 ist der Tiefpunkt erreicht: Die
  man im «Ofenhorn» heute noch stolz. Ob-        Pflicht. Sie geschieht meist mit einer           dritte Generation der Familie Schmid
  schon man nicht einmal ganz genau weiss,       schnörkellosen Postkarte: «Expect me Fri-        schliesst das Hotel. Es wird zwar schon
  wann denn der nachmalige britische Pre-        day afternoon 18th», heisst es auf einer er-     1972 von der Entwicklungsorganisation Pro
  mierminister in Schmidigehischere, das         halten gebliebenen Karte aus jener Zeit.         Unter- und Mittelgoms wieder eröffnet,
  heute einfach als Binn bekannt ist, tat­       «Erwarten Sie mich am Freitag, den 18.,          aber den alten Glanz erobert sich das im-
  sächlich logierte. Die einzige Spur des be-    nachmittags. Bitte reservieren Sie ein Zim-      posante Haus erst seit der Übernahme
  rühmten Gastes ist eine Kopie aus dem          mer im zweiten Stock, ruhig, weg vom Bach,       durch die Genossenschaft Pro Binntal im
  mittlerweile verschollenen Gästeregister –     wenn möglich am Ende des Korridors.»             Jahr 1987 allmählich wieder zurück. Sie
  ohne Jahreszahl. Einzig der 19. August ist         Wer einmal da ist, bleibt meist längere      sorgt für eine sorgfältige Renovation: Alte
  als Anreisedatum vermerkt.                     Zeit, in der Regel zwei bis drei Wochen. Man     Böden und Wandmalereien werden frei­
      Als Churchill im «Ofenhorn» absteigt,      promeniert zu den weitverstreuten Weilern        gelegt, moderne Sanitäranlagen eingebaut,
  ist dieses in der britischen High Society      im Binntal, trinkt seinen Five o’Clock Tea       und selbst eine topmoderne Holzschnitzel-
  längst mehr als ein Geheimtipp. Das 1883       im noblen Salon, diniert im von zwei Che-        heizung gehört seit zwei Jahren dazu.
  von Josef und Maria Schmid, dem Post­          minées geheizten «salle à manger» und                Auch Zimmer 16 ist mittlerweile reno-
  halterpaar aus dem benachbarten Ernen,         lässt den Tag im Fumoir ausklingen.              viert, samt moderner Dusche und WC. Die
  eröffnete Hotel ist unter englischen Erho-         Es sind goldene Zeiten im Binntal, aber      Waschschüssel, an der sich einst Churchill
  lungssuchenden derart beliebt, dass es bald    der Erste Weltkrieg setzt ihnen ein jähes        rasiert hat, ist nur noch Dekoration. 
  zu klein ist. Schon 1897 wird auf der Nord-    Ende. Die Gäste kommen spärlicher, das           Hotel Ofenhorn: Doppelzimmer ab 122 Franken;
  seite ein grosser Erweiterungsbau eröffnet.    Geld für einen weiteren Ausbau fehlt. Im         Infos unter www.ofenhorn.ch
14 | 2009                                                                                                                            Beobachter      25

                                                                                    essay

                   Das Massenwanderphänomen
                     Cervelat-Promis tuns, Politiker, Schriftsteller und manchmal auch Nackte: Wandern wird Lifestyle.
                                                            Text: Roger Anderegg; Illustration: Rahel Nicole Eisenring

               N
                         och in meiner Jugend sahen sie         Handvoll Bergkristalle zurück, und selbst            richten und sich beim Abstieg gerne selber
                         ­allesamt aus, als wären sie gerade    eine eher flache Figur wie der einstige              ein Bein stellen; dann die Gourmets, die
                          der einschlägigen «Sport und          ­Aussenminister Flavio Cotti beorderte               von Bergbeiz zu Bergbeiz pilgern und ihre
               ­Freizeit»-Vitrine im Landesmuseum ent-           ­seinerzeit die Medien zu einer stotzigen           breitspurigen Verdauungsspaziergänge
                sprungen: ausgebeulte, formlose Hosen             Bergwanderung ins heimatliche Maggiatal.           unbeirrt mit Wandern verwechseln; und
                aus schwerem, sackähnlichem Tuch, nass            Und der abtretende Bundesrat Pascal                schliesslich – als numerisch und ökono-
                geschwitzte Flanellhemden, auf dem Kopf           ­Couchepin lud die Journalistenmeute               misch abschreckendste Gruppe – die
                ein verknotetes Taschentuch und an den             ­traditionell zu einem Spaziergang über die       ­Golfer, die frech behaupten, sich in der
                Füssen diese grässlichen roten Socken als           St.-Peters-Insel oder hinauf nach Zimmer-         freien Natur zu bewegen, und dabei
                nationales Spottobjekt. Die reinsten Berg-          wald. Hans-Rudolf Merz schwärmt weiter-           ­keinen Meter Landschaft begehen, der
                zombies, die 100 Meter gegen den Wind               hin bei jeder Gelegenheit von seinen               nicht extra für sie planiert wurde.
                nach kaltem Schweiss rochen.                        ­grünen Appenzeller Hügeln.                            In exakt umgekehrtem Sinne demons-
                     Kreuze ich heute eine Gruppe von                   Wandern hat eindeutig Suchtpotential.          triert eine neue Spezies ihre Naturverbun-
                Wanderern, fühle ich mich auf den Lauf-              Wer einmal damit begonnen hat, hört frei-         denheit: die Nacktwanderer, die selbst auf
                steg einer trendigen Modeschau versetzt:
                In leichte, luftige, farbenfrohe Stoffe ge-
                kleidet, schreiten sie locker aus, so elegant
                wie die Models in den Katalogen von
                Mammut, The North Face und Jack Wolf-
                skin, den führenden Labels der Outdoor-
                fans. In solcher Aufmachung kann man
                selbst nach einer sechsstündigen Bergtour
                getrost einen Apéro in der angesagtesten
                Bar am Ort nehmen, ohne dort das mo-
                dische Bild nachhaltig zu beeinträchtigen.
                     Wandern war schon immer ein Volks-
                sport. Doch in den letzten zehn Jahren
                wurde er zum Lifestylesport. Die Medien
                sind schnell auf den Trend aufgesprungen.
                Im «Tages-Anzeiger» empfiehlt der rührige
                Thomas Widmer wöchentlich eine Aus-
                flugstour zu Fuss. Das Schweizer Fern­
                sehen schickt Moderator Nik Hartmann
                mit seiner Hündin Jabba «Über Stock und
                Stein» quer durch die Schweiz, dieses Jahr
                von Basel auf den Piz Bernina. Und die          willig nicht auf. Und da die Gesamtpopula-           minimalste Bedeckung verzichten. Das
                Zeitschrift «Schweizer Familie» erklärte        tion immer länger gesund bleibt und folg-            in der letzten Saison rund um den Säntis
                letztes Jahr unter reger Anteilnahme ihrer      lich statistisch immer älter wird, sind Um-          beobachtete Phänomen, ein voralpiner
                Leserschaft den dritten Samstag im Sep-         fang und Ausmass der Landplage prognos-              Nachläufer der urbanen Flitzerbewegung,
                tember zum «Nationalen Wandertag».              tizierbar. Alle scheinen es dem Kabarettis-          beweist schlagend, dass das Wandern
                     Wandern ist populär wie nie – und          ten und Schriftsteller Franz Hohler gleich-          ­endgültig in der Neuzeit angelangt ist.
                kann zu Popularität verhelfen. Kein Promi-      tun zu wollen, der in seinem 61. Lebens-                  Nur dass sich jetzt der Wanderer, der
                nenter landauf, landab, der nicht liebend       jahr jede Woche eine Wanderung absol-                 bisher in der Landschaft Stille und medita-
                gern für die «Schweizer Illustrierte» auf       vierte – und sein Unternehmen im Buch                 tive Einkehr suchte, nach einem neuen
                ­einen Gipfel oder doch wenigstens einen        «52 Wanderungen» beschrieb. Wandern ist               Hobby umsehen muss.                      n
                 Hügel kraxeln würde, notfalls auch in Be-      nicht nur zum Lifestyle geworden, sondern
                 gleitung des unverwüstlichen Bergführers       auch zum Lifetimesport.
                 und Selbstdarstellers Art Furrer von der            Doch wie jede Massenbewegung kennt
                 Riederalp. Längst haben auch Bundesräte        auch die Wanderei ihre Dissidentengrup-                              Roger Anderegg
                 die PR-Tauglichkeit des Wanderns ent-          pen. Da sind einmal die Nordic Walker,                               ist Journalist und
foto: privat

                 deckt. Schon Adolf Ogi kletterte auf jeden     ­allesamt sanft motorisch gestört, die mit                           Bergwanderer
                 erreichbaren Gipfel und brachte stets eine      ihren Stöcken einigen Flurschaden an­                               aus Leidenschaft.
Detaillierte Tourenbeschreibung und weitere nützliche
                                                                                           Informationen: www.beobachter.ch/wandern

                                                                                           Die Firma Bally warb auf einer ­Postkarte mit dem
                                                                                           Hotel Maderanertal – damals noch ­«Hotel zum
                                                                                           Schweizerischen Alpenclub» – für ihre (Berg-)Schuhe.

Tour 3: Natur pur
Route: Bergstation Golzernseilbahn                              2600
(1392 Meter), Golzern, Windgällenhütte
                                                          22

(2032), Trittweg, Hotel Maderanertal (1349),
                                                           00

                                                                                                     Balmenwald
Talstation Golzernseilbahn (832)
Charakteristik: zum Teil etwas anstrengende,                                                                          ach
                                                        1800                                                        nb
                                                                                                                ele
aber überaus lohnende und abwechslungs-                                                                    ä rst 00
                                                                                                        Ch      1 4
reiche Bergwanderung                                     1200
                                                                            1546 Meter
                                                                                                                           0
Gehzeit: 5 1⁄2 Stunden                                                      Golzern                                  180
                                                                                                                                 00
Jahreszeit: Juni bis September                          1000                                                                   22
Karte: Urner Wander- und Bikerkarte,                                                                                                  2600
                                                        ACHERLI                                                                              500 m
Blatt Maderanertal, 1:25 000

maderanertal                                          Ohnehin scheint das Hotel seit je Leute    Ökonomiegebäude mit Waschhaus und
                                                 anzuziehen, die sich gerne mal für eine         Bäckerei, eine Villa als Dépendance und

In H. G. Wells’                                  Weile von der Gegenwart verabschieden –
                                                 wie jener Besucher, der sich am 14. Juni
                                                                                                 ein Holzbau als Kegelbahn. 1887 wurde gar
                                                                                                 eine Kapelle für anglikanische Messen ge-

Zeitmaschine
                                                 1902 ins Gästebuch einschrieb: «Mr. &           baut – damals ziemlich revolutionär im

                                                                                                                                                     Infografik: golden section graphics; Quelle: swisstopo; fotos: Schweizer Heimatschutz, Andrew Fleetwood/Hans-Z’Graggen-Stiftung
                                                 Mrs. H. G. Wells, Author, Sandgate, Eng-        streng katholischen Urnerland.
                                                 land». Wells gilt als Pionier der Science-
                                                 ­Fiction-Literatur. In seinem Werk «Die Zeit-   Frühes Mekka der Nacktwanderer
An dem Ort, der heute zum                         maschine» katapultiert er sich ins Jahr        Der Zeit voraus – nämlich fast 100 Jahre
­Zeitsprung in die Vergangenheit                  802 701 und schildert eine Oberschicht, die    ­bevor das Thema in der Neuzeit für Schlag-
                                                  nie arbeiten muss und scheinbar glücklich,      zeilen sorgen sollte – waren auch jene fri-
 einlädt, blickte in der Gründerzeit              aber völlig unreflektiert in einer paradie-     volen Hotelgäste, die das unberührte Berg-
 ein Gast des Hotels Maderanertal                 sischen Umgebung lebt. Das Kurhaus Ma-          tal besonders naturnah erwanderten: nackt.
 weit in die Zukunft.                             deranertal war in der Gründerzeit mehr-         Überliefert ist, dass Rupert Schäffeler, Pfar-
                                                  heitlich belegt von Sommerfrischlern aus        rer in Bristen, 1916 Massnahmen gegen

H
        eimatschützer haben eine nette Art,       der englischen Elite, die sich im Teehaus       dieses «abscheuliche Gebaren» verlangte.
        Altes vorteilhaft darzustellen. «Der      glücklich dem Nichtstun hingaben und da-        Doch seine Forderung stiess ins Leere. Eine
        Ort atmet den Charme vergangener          bei von den Einheimischen nicht gestört         Intervention sei erschwert, weil es in den
Hotelromantik», schrieben sie über das            werden durften.                                 Sittengesetzen «an Bestimmungen man-
Hotel Maderanertal im Kanton Uri, als sie             Jenes Teehaus ist der einzige Hotelteil,    gelt, welche sich speziell mit diesen moder-
es samt seinen Nebengebäuden zum schüt-           der heute nicht mehr zu sehen ist; es wurde     nen Kulturmenschen befassen», teilte die
zenswerten Ortsbild von nationaler Bedeu-         1978 abgebrochen. Den Bau des Haupt-            Urner Regierung hilflos mit.
tung erklärten. Weniger blumig heisst das:        hauses initiierten Basler Alpinisten im Jahr        Heute hat sich das Maderanertal mit der
Den Hotelbauten, im späten 19. Jahrhun-           1864. Das schlichte, klassizistische Ge­        Moderne versöhnt. Die Anlage wird gerade
dert erstellt, sieht man jedes ihrer Jahre an.    bäude nannten sie «Hotel zum Schweize-          renoviert – «aber nur sanft», wie Inhaber To-
Aber das ist gut so. Denn es ermöglicht           rischen Alpenclub». Durch den Ansturm           bias Fedier versichert. Zum Glück: So bleibt
Wanderern einen unverfälschten Zeit-              ausländischer Gäste folgten in rascher          sie ein Grandhotel ohne Grössenwahn in
sprung in eine ferne Epoche: Zimmer ohne          ­Folge weitere Bauten, die das Ensemble im      einer spektakulären Berglandschaft.
Jacuzzi und Wireless-Anschluss, dafür mit          Maderanertal kulturhistorisch bedeutend       Hotel Maderanertal: Doppelzimmer ab 100 Franken;
Waschtopf und Chaiselongue.                        machen: das noblere Engländerhaus, das        Infos unter www.hotel-maderanertal.ch
14 | 2009                                             Beobachter
                                                                          AY
                                                                   RAILAW NGEBOT
                                                                       BI-A
                                                                   KOM

                                                                     30 %
                                                                   BIS

                                                                    RABATT
                                                                   ZU

  Touren und Tipps

  Wandern mit dem Beobachter
  n Bildstrecken: Auf unserer Website finden Sie schöne
  ­ ildstrecken und weitere historische Fotos zu den drei
  B
  ­Wanderungen, Links zur Route von Jemima Morrell sowie
                                                                    Entdecken Sie die Freiberge
   zu weiteren historischen Hotels und ein Forum, in dem Sie
   sich mit anderen Wanderbegeisterten austauschen können.
                                                                    gemütlich mit dem Bike.
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  W                                                                 die Jura-Velotour.
  zur Verfügung, was Sie für Ihren Ausflug brauchen: Die
  ­detaillierten Routen, Wetterberichte, Anfahrtsverbindungen,      Im Juli führt Sie Ihre Entdeckungsreise durch die Freiberge
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  www.beobachter.ch/wandern.                                        Stahlross und danach in den Sattel Ihres Mietvelos, und fahren
                                                                    Sie durchs Paradies der Pferde: entlang endloser Weiden und
  Hier werden Sie sich wohl fühlen: Weitere Hotels                  durch romantische Wälder. Von hoch oben in Saignelégier
  mit Geschichte und illustren Gästen                               (1000 m ü. M.) bis tief hinunter nach Glovelier (518 m ü. M.).
                                                                    Und zwischendurch lohnt sich ein Abstecher zum Etang de
  n  Hotel Alpin Palace, Mürren BE: Erbaut anno 1874,               la Gruère, dem grössten Moor der Schweiz, in dem Sie sich
  ­ eherbergte einst auch den englischen Feldmarschall
  b                                                                 auch abkühlen können. Also: nichts wie hin in die Freiberge.
  Lord Bernard Montgomery.                                          Das Angebot erhalten Sie vom 1. bis 31. Juli 2009 an jedem
  Doppelzimmer ab 145 Franken; www.palace-muerren.ch                bedienten Bahnschalter.
  n Hotel Bella Tola, St-Luc VS: Im preisgekrönten histori­
                                                                    Weitere Ausflugstipps: www.sbb.ch/entdecken
  schen Hotel fühlt man sich ins 19. Jahrhundert zurück­
  versetzt. Zimmer im Originalzustand, Teatime inklusive.
  Doppelzimmer ab 160 Franken; www.bellatola.ch

  n  Hotel Giessbach, Brienz BE: Hotelpalast von 1873 in
  i­dyllischer Umgebung. Beliebter Etappenort der englischen
   Alpen­touristen um die Jahrhundertwende.
   Doppelzimmer ab 220 Franken; www.giessbach.ch

  n  Hotel Rosenlaui, Meiringen BE: Wunderschönes Belle-
  ­ poque-Hotel, das illustre Gäste beherbergte: Johann
  E                                                                 Wettbewerb.
  ­Wolfgang von Goethe, Leo Tolstoi, Friedrich Nietzsche.
                                                                    Wo liegen die Freiberge?
   Doppelzimmer ab 100 Franken; www.rosenlaui.ch

  n  Hotel Monte Rosa, Zermatt VS: Alpines Belle-Epoque-
  ­ otel, wo Matterhorn-Erstbesteiger Edward Whymper oft
  H
  nächtigte – wie auch der US-Schriftsteller Mark Twain, der         Name/Vorname
  ­unter anderem eine Satire auf Alpenexpeditionen schrieb.
                                                                     Adresse
   Doppelzimmer ab 225 Franken; www.monterosazermatt.ch
                                                                     PLZ/Ort
  n   Kurhaus Val Sinestra, Sent GR: Selbst der holländische         E-Mail
  Prinz Heinrich zu Mecklenburg nächtigte hier. Heute
  richtet sich das ehemalige Heilbad an Familien und Gruppen.       10 Duo-Tageskarten 2. Klasse gewinnen und zu zweit auf Entdeckungsreise gehen!
                                                                    Antwort ins weisse Feld schreiben und Coupon senden an: SBB, Wettbewerb «Entdecken»,
  Doppelzimmer ab 96 Franken; www.valsinestra.ch
                                                                    3024 Bern. Die Gewinner werden ausgelost. Einsendeschluss ist der 31. Juli 2009. Über den
                                                                    Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
  Weitere historische Hotels unter www.historic-hotels.ch           Mitarbeitende der SBB sowie von allen beteiligten Partnern dürfen nicht teilnehmen.

                                                                    JUNE0709 Beo
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