ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie

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ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
ADHS - Macht gute Erziehung
   Therapie überflüssig?

       Prof. Dr. Rainer Dollase
    Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
         VBE, Bachschule Detmold
                  24.4.2008
ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
Gliederung

1. Vorbeugen ist besser als heilen... - wirklich?
2. Wie wächst ein Mensch auf? Ein Modell
3. Kernpunkte der guten Erziehung - Für das
   Ergebnis gibt es keine Garantie
ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
1. Vorbeugen ist besser als heilen... - Wirklich?
ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
Eine einfache Idee...

•   Vorbeugen ist besser als heilen...
•   Gute Erziehung macht Therapie überflüssig
•   Die Gesellschaft macht Menschen krank -
    Änderungen machen den Menschen gesund
ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
Das SSSM
•   „Standard Social Science Model“ (Tooby
    &Cosmides)

•   vulgo: „Wir können doch nicht neben jeden
    Menschen einen Psychologen stellen...“
•   oder: „Struktur und Organisation ist alles...“
•   = Entpersönlichung/ Deindividuation
•   Therapie ist teuer und unnötig
ADHS - Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? - Prof. Dr. Rainer Dollase Universität Bielefeld, Abt. Psychologie
• Richtigmachen bringt Erfolg - Falschmachen
  bringt Misserfolg = ein Märchen

• Erzieherischer Machbarkeitswahn = Erziehung
  erreicht alles was sie will - Das Gegenteil ist
  richtig
Ein paar facts...

• trotz bester Erziehung können sich
  Misserfolge einstellen
• trotz miserabler Erziehung können Kinder
  gelingen (invulnerable Kinder)
• Konkordanzraten Schizophrenie bei eineiigen
  Zwillingen (Meehl)
• Längsschnitt Studien von Risikokindern
Wertediskrepanz Lehrer und Schüler
                  religiös sein                                        BJ       H
               Gehorsamkeit                              J     H       B
         was zu sagen haben                              JH        B
               Ehrgeizig sein                    H       J     B
                   Sauberkeit                J
                                             H             B
                   Wohlstand                 J H B
                 Erfolg haben             JH           B
                    Sicherheit                J B
                                              H
              Bescheidenheit                       BH
                                                    J
             Leben genießen           HJ         B
           Schutz der Umwelt                 B       J
                                                     H
   abwechslungsreiches Leben              HJB
             unabhängig sein              HB J
         soziale Gerechtigkeit            BH J
             Hilfsbereitschaft         BH J
                     Toleranz          BH          J
                   Ehrlichkeit        HBJ
                      Frieden         B HJ
                                  1    1,5     2       2,5     3   3,5      4   4,5   5   5,5   6

                                      B      Lehrer (ca.85)
                                      J      Schüler SI (ca.175)
                                      H      Schüler SII (ca.225)
•   Folgen der verstärkten Kollektivbetreuung
    von Kindern...
Probleme der Kollektiverziehung

• 1. Die Herstellung von Bindung ist erschwert
• 2. Das kleine Kind ist ein Cliquenwesen
• 3. Sprach- und Denkentwicklung erfordert
  Interaktion mit Erwachsenen
• 4. Individuelle Unterschiede der Kinder
  bezüglich Eignung für Gruppe
• 5. Kollektive und Aggression
Lehrkräfte und Mitschüler als
         Ärgernisse
• Judith Rich Harris „Ist Erziehung sinnlos?“
• beschreibt die Macht der Gleichaltrigen
• Wer hat eigentlich Interesse an der
  Vorbeugung?

• ein haarsträubendes Beispiel...
Risiken des Rauchens

• absolutes oder individuelles Risiko (Krebs-
  und HKK): 1,3%
• relatives Risiko im Vergleich zu
  Nichtrauchern: 10 fach (Nichtraucher Risiko
  0,13%)
• Bevölkerungsrisiko = absolute Anzahl Fälle,
  die auf Rauchen zurückzuführen sind: 1,3%
  von 20 Mill. Rauchern = 260 000 Fälle; aber
  26 000 Nichtraucher werden auch befallen
Problem

• Vorbeugen wirkt nicht bei allen
• Prävention ist bei vielen unnötig
• das gilt auch für „gute Erziehung“
• sie ist allerdings gesellschaftlich von Gewinn
Verbreitung von Störungen

•   rund 15 -22% unserer Kinder/ Jugendlichen
    haben Verhaltensstörungen (je nach Studie)
•   nur 17% werden behandelt
•   davon wiederum nur 17% adäquat
    (Wittchen, 2000)
Wirksamkeit von Psychotherapie
 bei Kindern und Jugendlichen
bei folgenden Störungen...
•   Erinnern Sie sich?

•   Eine „Effektstärke“ von 0.71 ist deutlich mehr
    als der Unterschied zwischen Deutschland
    und Finnland bei PISA
2. Wie wächst ein Mensch auf? Ein Modell
Ein Modell - Wie wächst ein Mensch auf?
                   (1)

1.   Ziel der Entwicklung: ein realistisches Bild von der Welt
     und sich selbst haben - und damit wirksam im eigenen
     Interesse handeln können
2.   Kinder und Jugendliche entwickeln sich nach einem
     evolutionären Programm - Tricks der Evolution sind die
     Angewiesenheit auf Bezugspersonen und die
     angeborene Selbständigkeit in der
     Informationsaufnahme
3.   Kinder und Jugendliche nehmen alle Informationen auf,
     die sie für relevant und richtig halten - Glaubwürdigkeit
     der erziehenden Erwachsenen ist also wichtig
Ein Modell -Wie wächst ein Mensch
             auf? (2)
1. Kinder und Jugendliche sind sowohl zur selbständigen
Erkundung der Umwelt als auch auf das Lernen durch
Bezugspersonen und andere programmiert
2. Sie lernen deshalb selbständig und durch Anleitung/
Anregung von Bezugspersonen und Gleichaltrige
3. Manche Fakten,Probleme, Denkweisen können Kinder
und Jugendliche nicht durch selbständiges Lernen oder
durch Gleichaltrige erlernen
4. Fremdgesteuerte Lern- und Bildungsprozesse sind
deshalb genauso normal wie selbstgesteuerte
5. Die Bewertung, was sinnvoll im Sinne der besseren
Daseinsbewältigung ist, trifft das Kind. Glaubwürdigkeit
der Informationsquelle ist entscheidend.
Wer erzieht also unsere Kinder?
• wir alle
• TV, Medien, Eltern, Gleichaltrige (Harris),
  Klassenkameraden, andere Erwachsene,
  Lehrkräfte
• empirisch haben alle etwa eine identisch
  hohe Korrelation mit dem
  Erziehungserfolg (z.B. Ausbleiben von
  Aggressivität, r ca. .20)
                                          27
Empirischer Beleg

• Der “autoritative Erziehungsstil” - eine
  Kombination aus Führung und Herzlichkeit
  hat gegenüber allen anderen Erziehungsstilen
  die besten Resultate
• Er erzeugt ein Maximum an Glaubwürdigkeit
Neue Konzepte

• guided participation
• epistemic authorities
• consense implies correctness
• (Kruglanski u.a. 2006)
Aber....

• Die Auseinandersetzung des
  Heranwachsenden mit sich und der Umwelt
  lässt sich nur unsicher prognostizieren...
weil.....

• der Prozess des Heranwachsens durch viele
  Faktoren, die voneinander unabhängig sind,
  bestimmt wird
• das bedingt: zufällige und ungünstige
  Konstellationen, die zu Krisen führen können..
• 3. Kernpunkte der guten Erziehung - Für das
  Ergebnis gibt es keine Garantie
Kernpunkte der Erziehung
•   Erziehung richtig einordnen
     – 1. Erziehung braucht Zeit
     – 2. Erziehung ist nicht nur Erziehung
     – 3. Erziehung erreicht nicht alles
•   Erziehung ist Beziehung
     – 4. Kinder und Jugendliche haben Bedürfnisse, die befriedigt werden
       müssen
     – 5. Kinder und Jugendliche brauchen Bezugspersonen und Bindung
     – 6. Kinder und Jugendliche brauchen Akzeptanz,Empathie, Kongruenz
•   Erziehung ist Hilfe zur Lebensbewältigung
     – 7. Kinder und Jugendliche benötigen ein realistisches Selbst- und Weltbild
     – 8. Kinder und Jugendliche lernen auf verschiedenen Wegen
     – 9. Kinder und Jugendliche brauchen bei der Lebensbewältigung Hilfe
Erziehung richtig einordnen
1. Erziehung braucht Zeit (Organisation des Alltags in der
Familie - Verhinderung von Schlüsselkindern -
psychologische Verringerung der Gruppengröße in
Tageseinrichtung und Schule - Kollektivierung reduzieren)
2. Erziehung ist nicht nur Erziehung (räumliche
Umgebung, Material, gemeinsame Erfahrungen mit den
Erziehungspersonen,Vermehrung der nichtpädagogischen
Interaktionen, funktionale und heimliche Erziehung)
3. Erziehung erreicht nicht alles (Sisyphosmentalität,
Schicksalsakzeptanz, Grenzen der Erziehung, Erziehung als
Wahrscheinlichkeit, Erziehung als existentielle
Herausforderung)
Die neuen Temperamentsdimensionen*

1. Aktivität- Passivität
2. Regelmäßigkeit biologischer Funktionen vs. Unregelmäßigkeit
3. Annäherung - Vermeidung (Hemmung)
4. Anpassungsvermögen
5. Sensorische Reizschwelle (hoch - niedrig)
6. Stimmungslage (negative - positive Emotionalität)
(7. Intensität ,später weggefallen)
(8. Ablenkbarkeit 9. Ausdauer = zusammengelegt)
7.„Aufmerksamkeit/Ausdauer“
* nach Zentner, M. Die Wiederentdeckung des Temperaments, Fischer
TB,1999
Die „Big Five“
               (nach Borkenau u.a.)

• Extraversion - Introversion
• Soziale Verträglichkeit -
  Unverträglichkeit
• Gewissenhaftigkeit - Nachlässigkeit
• Emotionale Stabilität - Instabilität
• Intellekt/Offenheit - unwissend,
  ungebildet
Erziehung ist Beziehung

• 4. Kinder und Jugendliche haben Bedürfnisse, die befriedigt
  werden müssen (Mangelmotive wie Geltungs- und
  Zugehörigkeitsbedürfnisse müssen vor Entfaltungsmotiven
  wie Wissens- und Selbstverwirklichungsmotiven befriedigt
  werden)
• 5. Kinder und Jugendliche brauchen Bezugspersonen und
  Bindung (prompte und lebensalterliche Angemessenheit
  der Reaktion auf Bedürfnisse und Probleme)
• 6. Kinder und Jugendliche brauchen Akzeptanz,Empathie
  und Kongruenz ( Wertschätzung, Einfühlungsvermögen
  und Verständnis sowie echte, fassadenfreie
  Persönlichkeiten,Vorbilder, Reversibilität)
Bedürfnishierarchie
                   (nach Maslow)

1. Physische Bedürfnisse: Überlebensbedürfnis,
Sicherheitsbedürfnis
2. Soziale Bedürfnisse: Zugehörigkeitsbedürfnis,
Geltungsbedürfnis
3. Leistungsbedürfnisse: Wissens- und
Verständnisbedürfnis, Könnensbedürfnis
4. Ästhetische Bedürfnisse
5. Selbstverwirklichung
Die Grundlage: Bindung schaffen
    (Bindungstheorie: Bowlby, Ainsworth, Spangler &Zimmermann, Grossmann, Klaus und Karin)

• Eine sichere Bindung stellt sich dann ein, wenn die
  Bedürfnisse prompt und angemessen beantwortet
  werden
• Aus einer sicheren Bindung erfolgt eine Loslösung
  (Selbständigkeit)
• Zwischenstufe: die Satellitenbeziehung
• Die Herstellung von sicherer Anfangsbindung ist
  wichtig für erfolgreiches Lernen
Der alltägliche Umgang: Akzeptanz, Empathie, Kongruenz

Begegnung von Mensch zu Mensch
 (Carl Rogers - Lernen in Freiheit; Tausch/Tausch - Erziehungspsychologie)

1. Akzeptanz = Achtung, Wärme,
Rücksichtnahme
2. Empathie = nicht wertendes,
einfühlendes Verstehen
3. Kongruenz =Echtheit, Fehlen von
Fassadenhaftigkeit
Erziehung ist Hilfe zur Lebensbewältigung

 7. Kinder und Jugendliche benötigen ein realistisches Selbst- und
 Weltbild (eigene Fähigkeiten richtig einschätzen können, die
 Umwelt, die soziale Umgebung angemessen verstehen erzeugt
 Handlungsfähigkeit,Vermeidung von Illusionierung und
 Desillusionierung)
 8. Kinder und Jugendliche lernen auf verschiedenen Wegen (durch
 selbständige Auseinandersetzung mit Umwelt, durch Anleitung und
 Belehrung, durch Information, durch Herausforderung und
 Zielsetzung, durch Entwicklungsaufgaben, durch Bindung geschieht
 lernen)
 9. Kinder und Jugendliche brauchen bei der Lebensbewältigung
 Hilfe (die Selbständigkeit kann problematische Folgen haben,
 Gruppen sind oft ein Entwicklungsrisiko,Probehandlungen laufen
 schief, Schicksalsschläge müssen überwunden werden)
Die Methoden der Überzeugung
                    (nach Robert Cialdini, 1998)

1. Mit anderen im Ausgleich leben wollen: es ist mir
unangenehm, auf Kosten anderer zu leben, wer mir was gibt,
dem gebe ich zurück
2.Verpflichtungen einhalten: wer A sagt, muß auch B sagen,
wenn ich etwas versprochen habe, halte ich mich daran
3. Tun, was sich bewährt hat: alle tun es, alle haben es , es hat
großen Erfolg, es gibt tolle Vorbilder, deswegen tue ich es auch
4. Sympathischen Menschen folgen: war attraktiv, hat mich
gelobt, war kooperationsbereit, deswegen tue ich es auch
5. Kompetenten Ratgebern folgen: besaß fachliche Autorität,
wußte genau Bescheid, hat alles richtig vorhergesagt, deswegen
tue ich es
Fazit
• „Erziehung“ ist eine evolutionäre Notwendigkeit.
• Sie ist keine Manipulation, Formung etc. sondern eine begleitende
  Beziehung des Heranwachsenden bei seiner selbständigen
  Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt. Deshalb sind
  therapiebedürftige Krisen nie auszuschliessen.
• Der Heranwachsende will ein realistisches Selbst- und Weltbild
  erwerben, damit er wirkungsvoll handeln kann.
• Erziehung ist umso einflussreicher je glaubwürdiger sie zeigen
  kann, dass ihre Inhalte zur wirkungsvollen Auseinandersetzung
  führen. Glaubwürdig sind auch andere, verderbliche Quellen.
• Einfluss gewinnt man auch durch Beziehung, Kompetenz, Bindung
  und Sympathie zum Heranwachsenden - aber den gewinnen auch
  andere
Wann ist Erziehung gut? - Wenn sie
glaubwürdig ist.... aber andere sind auch
glaubwürdig

Bereiten wir unsere Kinder richtig auf die
Zukunft vor? - Wenn wir die Zukunft richtig
kennen würden... und andere glauben sie auch
zu kennen
•   Erspart gute Erziehung die Therapie?

•   Nein - aber wir begleiten unsere Kinder
    durch dick und dünn und bieten ihnen in
    Krisen auch therapeutische Hilfen an...
Ende
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