Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
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Adipositas-Consensus 2016 Association Suisse pour l’Etude du Métabolisme et de l’Obésité Schweiz. Arbeitsgruppe Metabolis- mus und Obesitas Vorsitz Die Autoren Prof. Dr. Kurt Laederach Prof. Dr. Kurt Laederach Universität Bern Dr. Dominique Durrer Departement Klinische Forschung PD Dr. Philipp Gerber Murtenstrasse 21 PD Dr. Zoltan Pataky 3010 Bern Wir bedanken uns bei den ASEMO-Vorstandsmitgliedern für ihr aktives Mitwirken beim Korrektorat sowie für die konstruktive Kritik.
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 Epidemiologie 3 Prävention der Adipositas 3 Pathophysiologie und allgemeine Ursachen der Adipositas 7 Klinische Evaluierung 21 Somatische Komorbiditäten - Folgeerkrankungen bei Adipositas 26 Psychiatrische Komorbiditäten 28 Konservative Behandlungsmethoden 29 Chirurgische Behandlung der Adipositas 42 Literaturverzeichnis 47 Tabellenverzeichnis 61 Abbildungsverzeichnis 61
Einleitung (Hauptautor: Prof. Dr. Kurt Laederach) Der vorliegende Verarbeitungsprozesse ab, ein Umstand dem genü- «Consensus Adipositas» umfasst die dritte und voll- gend Rechnung getragen werden muss. Die soziale ständig überarbeitete Version der beiden vorherge- Unterstützung ist einer der wichtigsten Faktoren zur henden Ausführungen (1999 und 2006). Sie wurde Aufrechterhaltung und/oder Wiedergewinnung der erstmals vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag psychischen und körperlichen Stabilität. Sie schützt gegeben und ist als Richtlinie für die Grundversorgung und stützt das Selbstbild und das Selbstwertgefühl gedacht, zusammen mit den präventiven Aktionen des eines Menschen und hilft dadurch, Gefühle der Hilflo- BAG. Ziel dieses Konsensus ist es, interessierten Ärzten sigkeit, Ängste und Unsicherheit zu vermeiden oder ein Instrument zur Verfügung zu stellen, das auf wis- zu beseitigen. Erfährt jemand emotionale Zuwendung senschaftlicher Basis hilft, die Problematik der Adipo- und soziale Anerkennung, so wird er in der Regel ei- sitas im Rahmen eines fächerübergreifenden Konzepts nem krisenhaften Ereignis weniger schutzlos ausge- von Soziologie, Psychologie und Medizin zu verstehen liefert sein und dementsprechend weniger ängstlich und damit besser behandeln zu können. und depressiv reagieren als jener, der nicht über diese Ressourcen verfügt. Der Consensus Adipositas 2016 besteht aus verschie- denen Kapiteln, an welchen die genannten Autoren Hauptbelastungsfaktoren aus der Sicht der Patienten mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung gear- sind fehlende Orientierungshilfen, Kommunikations- beitet haben und aus einer Kurzzusammenfassung defizite und das Fehlen von Bezugspersonen. Die Ab- (executive summary), die in 2 A4-Seiten die wichtigs- hängigkeit, in der sich der Patient befindet, hängt von ten Inhalte übersichtlich darstellt. Die hinzugefügte Li- der realen Krankheitssituation ebenso ab, wie von der teratur soll dem Interessierten helfen, sich rasch in be- damit verbundenen Störung des Selbstwertgefühls. stimmte Inhalte einzulesen und stellt damit den Stand Als Reaktion auf eine Verletzung der eigenen Kompe- des aktuellen Wissens dar. tenzen und Fähigkeiten, können regressive Elemente beobachtet werden, deren Besprechung und Bewälti- Die Betrachtungsweise dieses Konsensus unterschei- gungsmöglichkeiten in ein biopsychosoziales Behand- det sich von den beiden vorhergehenden darin, dass lungskonzept Eingang finden müssen. hier - einem zeitgemässen psychosozialen Medizinmo- dell folgend - verschiedene Fachbereiche verschränkt Innerhalb der Gesundheitsbildung war früher der Be- dargestellt werden, die nachgewiesenermassen zu handlungsstil praktisch ausschliesslich auf die Fachleu- einem potentiellen Behandlungserfolg beitragen. Un- te ausgerichtet und nicht auf die inneren und äusseren sere Betrachtungsweise umfasst deshalb die Notion, Bedürfnisse der Patienten. Die persönliche Mitarbeit dass weder Gesundheit noch Krankheit statische Be- der Patienten muss heute selbstverständlich nicht nur griffe sind, sondern vielmehr einen fliessenden Über- berücksichtigt, sondern als eigentliches Ziel der Ge- gang darstellen Mit Gesundheit ist viel weniger eine sundheitsbildung herangeformt werden. Die Theorie idealtypische Norm gemeint, als ein Zustand, ein an- der „Reasoned Action“ [1] nimmt persönliche Überzeu- gemessenes Leben ohne allzu grosse Beschwerden zu gungen und subjektive Normen des Patienten als wich- führen, wie dies eine wenig perfekte Umwelt und ein tigste Einflussgrössen an. Je konkreter ein Patient seine wenig perfekter Mensch erlauben. Die gleichen mul- Absicht formuliert, desto treffender ist die Vorhersage tifaktoriellen Einwirkungen bestimmen nicht nur die und die (erwünschte) Verhaltensänderung. Ungünstig Auslösung, sondern auch den Verlauf der Adipositas. ist beispielsweise die Formulierung “ich möchte Ge- Bei den schädigenden Einwirkungen spielen generell wicht abnehmen”, günstiger wäre “ich werde morgens bestimmte Risikoverhalten wie Rauchen, Alkoholabu- anstatt drei Scheiben Weissbrot mit Marmelade, ein sus und letztlich auch das Nichtbefolgen ärztlicher An- Vollkornbrötchen mit Käse essen”. Neben der Absicht ordnungen (Non-Compliance) eine wichtige Rolle, auf ist die Frage, ob sich eine Person sicher ist, in der täg- welche jedoch nicht detailliert eingegangen wird. lichen Wirklichkeit eine entsprechende Verhaltensän- derung ausführen zu können bzw. über längere Zeit Im Weiteren ist zu bedenken, dass Krankheit und beizubehalten. Die Absicht, also der Wunsch, ein Ver- Krankheitsbewältigung, besonders bei der Adipositas halten auszuführen, die Kompetenzerwartung, also die mit all ihren somatischen und psychosozialen Folgen Sicherheit, diese Handlungen auch wirklich durchfüh- nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien ren zu können, die Ergebniserwartung, also die Sicher- und im Besonderen Lebenspartner und Lebenspartne- heit, dass aus einer Handlung bestimmte Ergebnisse rinnen betrifft. Dies fordert allen Beteiligten Lern- und erfolgen und die Bedrohung durch eine gefährliche 1
Situation, sagen eine Handlungsänderung mit grosser eher dem psychologischen Gesundheitsbewusstsein Sicherheit vorher. Frauen und Männer verfolgen dabei zugerechnet [3]. So erkennen Personen eigene Risiko- generell unterschiedliche Gesundheitskonzepte. Män- verhaltensweisen wie übermässiges Essen, Rauchen ner beschreiben ihre Gesundheit eher über Aspekte oder Trinken, durchaus als gefährlich an. Diese Verhal- wie „Abwesenheit von Krankheit“ und „Leistungsfä- tensweisen haben oft jedoch eine wichtige Funktion in higkeit“. Frauen scheinen Gesundheitskonzepte zu der Bewältigung von Belastungen. Es zeigt sich auch, verfolgen, die „Wohlbefinden“, also die Zufriedenheit dass die klassischen Risikofaktoren in der subjektiven mit dem Leben insgesamt und „Körpererleben“, also Einschätzung von Laien fast keine Rolle für Gesundheit z.B. keine Schmerzen und Behinderungen zu haben, oder Krankheit spielen. Psychische Ausgeglichenheit, umfassen [2]. Dies interagiert allerdings mit den Fakto- positive soziale Beziehungen und Zeit zur Ruhe und ren Alter und Sozialstatus: Personen mit höherem So- Entspannung haben die grösste Bedeutung. Danach zialstatus scheinen stärker auf ihren Körper zu achten folgen körperliche Bewegung, gut kontrollierte Ernäh- und Beschwerden eher zu verbalisieren und sind mit rung und eine gesunde Umwelt. Aus den dargestellten ihrer Gesundheit zufriedener. Mit zunehmendem Alter Faktoren und dem persönlichen Konzept von Gesund- gerät der Faktor der Leistungsfähigkeit gegenüber der heit lässt sich ableiten, dass erstens eine Person nur Fitness bzw. Stärke ins Zentrum der Aufmerksamkeit erreicht werden kann, ihr Verhalten zu ändern, wenn und die Zufriedenheit mit der Gesundheit nimmt ab. ihr subjektives Bedingungsgefüge für Gesundheit be- Interessant ist festzuhalten, dass das männliche Ge- rücksichtigt wird und zweitens ein Schwerpunkt der sundheitskonzept „Abwesenheit von Krankheit und gesundheitsbildnerischen Arbeit auf der Steigerung Störungen“ dem organisch-medizinisch ausgepräg- der Selbstwirksamkeitserwartung liegt, da dies eine ten Gesundheitsbewusstsein zugeordnet wird, das wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche häufig mit einem Verständnis von Krankheit und Ge- Handlungsausführung ist [4]. sundheit als „schicksalhaftem Prozess“ einhergeht. Das weibliche Gesundheitskonzept „Wohlbefinden“ wird Konkrete Aufgaben der Betreuung umfassen deshalb: Diagnostik der Erkrankung mit Definition des Gesundheitsschadens (falls noch nicht ausreichend erfolgt oder falls die vorliegenden Befunde nicht mehr aktuell sind), Funktionsdiagnostik (körperli- che, mentale und psychische Leistungsmöglichkeiten und Grenzen) und psychosoziale Diagnostik. Erstellung eines Behandlungsplans für den Patienten, der auf Ergebnissen der Verlaufsdiag- nostik aufbaut und die individuellen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Patienten sowie besondere Anforderungen an ihn in Beruf und Alltag berücksichtigt. Eine eingehende Information des Patienten über die Erkrankung und deren Folgen sowie die Kontrolle des Verste- hens dieser Informationen durch wiederholte ärztliche und Teamgespräche. Optimierung der medizinischen Therapie und Durchführung von physikalischen, psychologischen und anderen Therapiemassnahmen. Die Förderung einer angemessenen Krankheitsverarbeitung und Einstellung zur Erkrankung wie Akzeptanz und Verarbeitung der definitiven Behinderungen, Motivationen zur aktiven Krank- heitsverarbeitung und Aufbau eines eigenverantwortlichen Gesundheitsbewusstseins. Verhaltensmodifikationen mit dem Ziel, eine krankheitsadäquate Ernährungs-, Bewegungs- und Freizeitgestaltung auszubilden und gesundheitsschädliche Verhalten abzubauen sowie gesund- heitsfördernde Verhaltensweisen zu bahnen. Training von Restfunktionen und Ausbildung neuer Fertigkeiten zur vollständigen oder teilwei- sen Kompensation von Einschränkungen in Funktionen. Anleitung und Schulung in Möglichkeiten der Selbstkontrolle und Selbstbehandlung der Erkran- kung. Beratung und eventuelle Behandlung von Bezugspersonen über den adäquaten Umgang mit dem Rehabilitanden und seiner Erkrankung/Behinderung. Planung und Anregung der Nachsorge, eingeschlossen Berufsförderung. Dabei erscheint gerade die kooperative multidisziplinäre Vorgehensweise besonders erfolgversprechend. 2
Epidemiologie (Hauptautor: Prof. Dr. Kurt Laederach) Basierend auf die Altersgruppe von 11 bis 15 Jahre aus der Schweiz die Schweizerische Gesundheitsbefragung 2012 wird mit 8,0% unter dem Durchschnitt (13,3%) derselben die Prävalenz von Übergewicht in der Schweiz bei OECD-Altersgruppe liegt [7]. Die Tendenz ist bei die- Männern mit 39%, bei Frauen mit 23%, die von Adi- ser Altersgruppe für das Schuljahr 2014/15 erfreulich, positas mit 11% bei Männern und mit 9% bei Frau- weil sich der Durchschnittswert auf 17,3% etwas ver- en geschätzt [5]. Insgesamt waren im Jahr 2012 41% ringert hat (dies insbesondere wegen den Kindergar- der Wohnbevölkerung über 15 Jahren übergewichtig tenkindern und Kindern mit Migrationshintergrund) oder adipös, was eine Zunahme um 4% gegenüber [10]. Trotz diesem erfreulichen Zwischenergebnis ist 2007 und von 11% gegenüber 1992 bedeutet [6] die Kostenlast für die Gesamtgesellschaft enorm [9]: (S.36). Damit verzeichnete die Schweiz gemäss einer Die direkten und indirekten Kosten von Übergewicht OECD-Studie (2010) [7] zwar einen Anstieg in der und Adipositas in der Schweiz sind seit 2002 von Fr. Bevölkerung mit überhöhtem Körpergewicht (Über- 2,7 Mia. auf Fr. 8 Mia. im Jahr 2012 gestiegen [6] (S.46). gewicht und Adipositas), liegt aber noch unter dem Für das Jahr 2007 liegen aufgeschlüsselte Schätzun- OECD-Durchschnitt von über 50%. gen vor: die gesamten mit Übergewicht und Adipo- sitas verbundenen Kosten belaufen sich demnach Bei Kindern und Jugendlichen leiden zwischen 3% jährlich auf rund Fr. 5,8 Mia. (direkte Krankheitskosten und 20%, je nach Geschlecht, Altersgruppe oder Fr. 3,83 Mia., was rund 7 Prozent der gesamten Ge- Region an Übergewicht oder Fettleibigkeit [8]. Im sundheitskosten von Fr. 52,7 Mia. entspricht sowie Fr. Durchschnitt bleibt dieser Wert seit einigen Jahren 1,97 Mia. indirekte Kosten) [11]. relativ stabil bei 19% [6] (S. 39), wobei aber auch hier Prävention der Adipositas (Hauptautoren: Prof. Dr. Kurt Laederach, PD Dr. Zoltan Massnahmen, die eine Beibehaltung des Normalge- Pataky) Während für Rauchstopp und Einschränkung wichts oder die Prävention einer späteren Gewichts- des Alkoholkonsums klare Daten für die Effektivität zunahme zum Ziel haben, müssen den Zielgruppen präventiver Massnahmen vorliegen, ist dies bei der angepasst werden: Adipositas bisher (noch) nicht der Fall. Bei Kindern zeigen entsprechende Studien erstmals, dass ein 1. Gesamtbevölkerung effektives Betreuungsprogramm nur dann zu einer 2. Einzelgruppen, die besonders Adipositas-ge- langfristigen Gewichtsreduktion bei Kindern führt, fährdet sind (Personen mit psychosozialen Pro- wenn die Eltern als Zielgruppe für Verhaltensände- blemen, Personen, die unter Bewegungsarmut rung einbezogen sind [12][13]; Evidenzklasse (EK) Ib. leiden, Patienten, die gewichtsfördernde Medika- Präventionsprogramme bei Erwachsenen allerdings, mente einnehmen) die auf eine gesunde Lebensweise und die Bekämp- 3. Hochrisiko-Patienten, die bereits übergewichtig fung kardiovaskulärer Risikofaktoren zielen, zeigten sind, aber noch nicht unter Adipositas leiden hinsichtlich des Körpergewichts nur eine minimale Wirkung oder waren bislang unwirksam [14] EK III; Für die Prävention der Adipositas gibt es zahlreiche [15] EK III; [16] EK III. Grundsätzlich werden ein ge- Ansätze. Grundsätzlich muss jede Strategie, die sich sunder Lebensstil mit regelmässiger körperlicher Be- eine Eindämmung der Pandemie zum Ziel setzt, die wegung und eine fettmoderate, stärkebetonte, nah- Gewichtserhaltung für alle und eine akzeptable Ge- rungsfaserreiche Ernährung propagiert [17] EK IV. wichtsreduktion für diejenigen im Auge haben, die bereits übergewichtig oder adipös sind. Die Präven- Die Prävention von Adipositas ist bei der Kontrolle tion der Adipositas erfordert aber weitere Massnah- dieser akuten Pandemie von grundlegender Bedeu- men, die über eine gesundheitsförderliche Ernährung tung. Hierbei sind zwei Hauptziele zu verfolgen: hinausgehen. Sie stellt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, die auch auf die Änderung adipogener 1. Prävention der Gewichtszunahme Lebensbedingungen zielen muss [18]. Besonders bei 2. Beibehaltung des Gewichts nach einer Phase der der Adipositas ist die Primärprävention am sinnvolls- Gewichtsreduzierung ten und kosteneffizientesten [19][20]. Mit zunehmen- 3
der Dauer und Ausprägung der Adipositas wird die senheit, ständige Wachsamkeit und Selbstkontrolle, Behandlung jedoch immer schwieriger, komplexer keine Gefährdung von bereits Erreichtem und Wahr- und teurer [21][22] EK IIa. nehmung positiver Auswirkungen, beim Einzelnen sowie im sozialen Umfeld [23]. Aus Sicht einer Kosten-Nutzen-Rechnung und im Sin- ne einer effizienten Reduzierung der Prävalenz und Hierbei sind alle relevanten Interessengruppen zu Inzidenz der Adipositas ist wahrscheinlich eine Verrin- berücksichtigen: die Gesundheitsbehörden, der Be- gerung der Faktoren, die zu einer adipositas-freund- reich der Politik und Wirtschaft, die Arbeitswelt, So- lichen Umgebung führen, am rentabelsten. Gesell- ziologen, Stadtplaner, die Lebensmittelindustrie, schaftliche und umweltbezogene Faktoren haben zu Journalisten, Marketingexperten usw.. Alle müssen einer Änderung der persönlichen Gewohnheiten in ihren Beitrag leisten, damit jeder Einzelne die Mög- den Bereichen Ernährung und körperliche Betätigung lichkeit hat, seinen Lebensstil zu ändern. Da gerade beigetragen. Daher muss vorrangig auf dieser Ebe- im allgemeinen Umfeld die meisten Faktoren zu fin- ne gehandelt werden. Erfolgreiche Selbstmanage- den sind, die eine bewegungsarme Lebensweise und ment-Strategien sowie geleitete Change-Programme eine hyperkalorische Ernährung fördern, besteht die basieren grundsätzlich auf den fünf Faktoren: Chara- Aufgabe jetzt darin, Anreize für eine Änderung dieser ketristika der (angepassten) Erfolgsmethode, lang- Lebensweise zu entwickeln. fristige Sensiblilisierung zu Disziplin und Entschlos- Interventionsbereich Beispiele möglicher Strategien –– Einrichtung eines landesweiten Programms zur Bekämpfung der Adipositas –– Anstoss einer landesweiten Debatte über die Änderung einer „adipositas-freund- lichen“ Umwelt zur Förderung einer ausgeglichenen Ernährung und körperlicher Politik Aktivitäten –– Vorschläge zu Gesetzesänderungen zur Unterstützung der im KVG definierten am- bulanten und stationären Präventions- und Behandlungsprogramme von Überge- wicht und Adipositas –– Senkung der Mehrwertsteuer auf gesunde Lebensmittel (z.B. Gemüse, Obst) –– Besteuerung energiereicher Nahrungsmittel, deren zusätzlicher Gehalt an Zucker und gesättigten Fetten einen bestimmten Prozentsatz übersteigt –– Schaffung einer Infrastruktur und eines sicheren Umfelds für regelmässige körperli- che Aktivitäten (Stadtplanung) –– Schulung von Ärzten und Pflegepersonal hinsichtlich einer spezifischen Behand- lung und Nachsorge adipöser Patienten Gesundheitssystem –– Förderung der therapeutischen Ausbildung (mit einem biopsychosozialen Ansatz) des Pflegepersonals –– Einrichtung von Programmen zur Prävention und Behandlung von Adipositas in je- dem Kanton –– Förderung des Selbstmanagements –– Lehrplan: Integration und Förderung von Ernährungserziehung und Sportunter- Öffentliches richt Bildungswesen, Schulen –– Verfügbarkeit gesunder Zwischenmahlzeiten in der Schule und der schulischen Umgebung –– Progressive Verminderung des Vertriebs zuckerhaltiger Getränke und hochkalori- scher Lebensmittel (Schokoriegel, Kekse...) –– Standardisierte, leicht lesbare Kennzeichnung von Lebensmitteln Lebensmittelindustrie –– Schrittweise Reduzierung des Gehalts an gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz in Lebensmitteln 4
–– Arbeitszeiten, die Lebensmittelhygiene und körperliche Betätigung ermöglichen Arbeitgeber –– Betriebsrestaurants, in denen auf die Grundsätze einer gesunden Ernährung geach- tet wird –– Konstruktiver Beitrag zur landesweiten Debatte über den Kampf gegen Adipositas Medien –– Förderung der Werbung für gesunde Lebensmittel –– Einschränkung der Werbung für energiereiche Lebensmittel mit Zuckerzusätzen oder gesättigten Fetten Tabelle 1: Interventionsbereiche und mögliche Strategien Primärprävention Im Rahmen der ärztlichen Konsultation ist für die Prä- und Arbeitsbedingungen, und die dem Übergewicht vention der Adipositas ein individueller Ansatz erfor- beigemessene Bedeutung. derlich, der auf der Abklärung der Faktoren basiert, welche das Risiko einer Gewichtszunahme oder einer Der Prozess muss langfristig kontrolliert werden. Resistenz gegen eine Gewichtsreduktion darstellen. Allgemeine Empfehlungen für eine Änderung des Ratschläge, die auf eine Änderung des Lebensstils ab- Lebensstils sollten bestimmte Punkte wie z. B. eine zielen, müssen bestimmte Faktoren berücksichtigen, unausgeglichene Ernährung, Essstörungen, die Le- wie beispielsweise - um nur einige zu nennen - be- bens- und Arbeitsbedingungen oder das Ausmass stehende Essstörungen, gestörte Lebensverhältnisse des Übergewichts berücksichtigen. –– Bei der ersten Konsultation: Wiegen des Patienten in Unterwäsche, Messen der Waist Circumference, Berechnung des BMI –– Wiegen des Patienten bei jedem Praxisbesuch (mindestens zweimal pro Jahr) –– Identifizierung von Patienten mit einem Hang zu Übergewicht/Adipositas (Personen, die gerade mit dem Rauchen aufgehört haben, Schwangere, Patienten, die gewichtsför- dernde Medikamente wie Neuroleptika, Psychopharmaka, Kortikosteroide, Betablocker Arztpraxen, usw. einnehmen), ggf. Überweisung an einen Spezialisten oder in eine Spezialklinik Allgemeinmediziner, Hausärzte –– Den Patienten motivieren, sich ausgewogen zu ernähren (fünf Portionen Gemüse und Obst pro Tag) und auf zuckerhaltige Getränke und energiereiche Lebensmittel (z. B. auf Fastfood) zu verzichten –– Den Patienten zu körperlicher Betätigung motivieren (mindestens 30 Minuten Gehen pro Tag) und ihm Tipps für eine angemessene körperliche Aktivität geben (siehe z. B. www.hepa.ch) –– Den Patienten auf die schädliche Wirkung sämtlicher Diäten hinweisen Tabelle 2: Strategien zur Adipositas-Prävention seitens der Allgemeinmedizin Unabhängig von der Zielgruppe kommt der Energie- kann. bilanz einen zentralen Stellenwert zu. Die über die Nahrung aufgenommene Energie muss dem Bedarf Die Bewegung im Alltag (non exercise movement) der Person entsprechen; dieser Bedarf verändert sich besonders das normale Gehen, ist mit zunehmen- mit der körperlichen Aktivität, die bei jeder Gelegen- dem Alter eingeschränkt. Gesunde und aktive ältere heit ausgeübt werden sollte, da die Wiederholung Menschen zeigen einen Drittel weniger Alltagsbewe- eine additive Wirkung verursacht. Hierbei sollte be- gung (AAU) im Vergleich zu sitzenden jüngeren Men- tont werden, dass das Körpergewicht leichter über schen. Diese Differenz in „non exercise movement“ eine Kontrolle der Energiezufuhr als über eine Stei- legt nahe, dass mit dem Alterungsprozess der bio- gerung der körperlichen Aktivität gesteuert werden logische Antrieb zu Aktivität geringer sein könnte. 5
Organgewebe (trunk lean body mass) ist relativ resis- scher Status bei Frauen einen Risikofaktor für Über- tent gegenüber altersbedingten Veränderungen der gewicht und Adipositas darstellt. Für Männer ist die Körperzusammensetzung, im Gegensatz zu Muskel- Beziehung zwischen sozioökonomischem Status und gewebe (besonders die Beinmuskulatur) das tenden- Übergewicht widersprüchlich [34]. Die inverse Rela- ziell verloren geht. Eindrücklich ist die altersbeding- tion von Schulbildung und Übergewicht zeigt sich te Abnahme der Muskelmasse (0.5kg pro 2 Jahre). bei Männern und Frauen [35]. Die höhere Prävalenz Die Abnahme der Muskelmasse ist ein wesentlicher von Übergewicht und Adipositas bei Menschen mit Faktor des verminderten Grundumsatzes (REE). Es tiefem Bildungsniveau zeigte sich wiederholt in den gilt daher in jedem Fall, dass vermehrte körperliche schweizerischen Gesundheitsbefragungen von 2002 Aktivität zu einem nachhaltigeren Erhalt der Skelett- bis 2012 [36][37] Übergewichtige ihrerseits haben muskelmasse führt [24]. Zudem belegen zahlreiche aber auch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt Studien, dass Prävention und Gesundheitsförderung und leiden vermehrt an körperlichen und psychi- auch im höheren Lebensalter wirksam sind [25][26] schen Störungen was mit den entsprechenden sozi- Zudem wird durch Bewegung auch die Problema- alen Folgen verbunden ist. tik der Insulinresistenz günstig beeinflusst, dies be- sonders eindrücklich bei postmenopausalen Frauen Unter den zahlreichen Programmen zur Adipo- [27] Dem Erhalt der Bewegungsfähigkeit soll hohe sitas-Prävention sind multidisziplinäre, auf der thera- Bedeutung zugemessen werden [28]. Personen, die peutischen Schulung basierende Ansätze am effizien- sich mehr bewegen, weisen bessere kognitive und testen (medizinische, diätetische und psychologische mentale Funktionen auf und leiden weniger häufig Ebene). Sämtliche Strategien zur Eindämmung dieser unter Stimmungsstörungen [29]. Dazu gibt es neuer- Pandemie müssen darauf abzielen, dass die Bevölke- dings auch Befunde, dass sogar die Inzidenz der Alz- rung ihr Gewicht hält bzw. dass übergewichtige oder heimer-Demenz durch regelmässige Bewegung ver- adipöse Personen ihr Gewicht reduzieren. Auf kanto- mindert werden kann [30]. Ein neuerer Aspekt betrifft naler und auf Bundesebene müssen Bedingungen, die Supplementation von Nahrungsbestandteilen unter denen diese Ziele erreicht werden können, ge- zur Veränderung von Stimmung, Emotion und Affekt. schaffen und gefördert werden; ausserdem müssen Erwähnenswert sind darin Studien, die in definierten adäquate Evaluierungsinstrumente zur Verfügung Populationen nach Änderungen dieser Funktionen stehen unter der kontrollierten Einnahme von PUFA (polyun- saturated fatty acids, beispielsweise omega-3-Fett- säuren) gesucht haben [31][32]. Netto scheint ein Ef- Sekundärprävention fekt vorhanden zu sein, möglicherweise ist er jedoch bei Normalpersonen so gering, dass er im Gegensatz Die Therapie der Komorbiditäten der Adipositas soll zu psychisch Erkrankten (z.B. Patienten mit Schizo- unabhängig von der Gewichtsveränderung erfolgen. phrenie) keine wesentlichen Effekte zu haben scheint Die Notion, dass jemand zuerst Gewicht verlieren soll, [33]. Andere Zugaben wie z.B. Catechine oder Flava- bevor beispielsweise Dyslipidämie oder Hypertonie noide zur Modulation bestimmter Körperfunktionen behandelt wird ist nicht zielführend. Neben den me- wie Immunsystem, Befindlichkeit, oder emotionale dizinischen Aspekten einer Krankheit spielen für die Stabilität sind ebenfalls umstritten. Gesellschaft jedoch auch ökonomische Fragen eine wichtige Rolle. Somit wird die Krankheit selber zur Zwischen Adipositas und psychosozialer Situation ökonomischen Belastung für die Gesellschaft und der besteht eine wechselseitige Wirkung. Verschiedene Kranke sozusagen von ihr in seiner Nützlichkeit bzw. Studien zeigen auf, dass ein niedriger sozioökonomi- Schädlichkeit betrachtet (siehe QUALYs; [38]). Stufenschema zur Prävention von Adipositas Bariatrische Chirurgie Medikamentöse Unterstützung Self-Management Änderung des Life-Styles Abb. 1: Stufenschema zur Prävention von Adipositas 6
Pathophysiologie und allgemeine Ursachen der Adipositas (Hauptautor: Prof. Dr. Kurt Laederach) Übergewicht Bilanz des Energiestoffwechsels und Adipositas sind immer häufiger auftretende klini- Grundumsatz GU (basal metabolic rate) sche Ausdrucksformen von Störungen der Gewichts- Unter dem GU versteht man den Energieverbrauch regulation, deren Ursachen vielfältig sind; immer unter strikten Ruhebedingungen. Er soll in Rücken- häufiger finden sich Fälle, in denen eine Essstörung lage, 12-14 Stunden nach der letzten Mahlzeit, kurz zugrunde liegt. Oft sind die betroffenen Personen nach dem Aufwachen, bei völliger körperlicher Ruhe, bereits früher durch andere klinische Präsentationen fieberfrei und unter thermoneutralen Bedingungen von Essstörungen aufgefallen (z.B. Bulimie oder Ano- (27-31 Grad Celsius in unmittelbarer Körperumge- rexie). Das wiederholte Gespräch mit Betroffenen und bung) gemessen werden. Der GU deckt den Ener- die sorgfältige Anamnese vermögen die allermeisten giebedarf aller inneren Organe, wie z.B. der stoff- (quantitativen und qualitativen) Abweichungen vom wechselaktiven Leber, der Nieren, des Gehirns und normalen Essen aufzudecken [150][89]. Nervensystems, des Herzmuskels, der Skelettmuskeln und der glatten Muskeln usw. Sogar Fettgewebe ver- Risikofaktoren braucht etwas Energie und vor allem die Skelettmus- Grundsätzlich können mehrere wesentliche Faktoren kulatur, selbst wenn sie nicht „arbeitet“ (Fettverbren- zur Gewichtszunahme führen: nung). Die Muskelmasse, d.h. die nicht-fette Masse (in • Biologische Faktoren: wie Geschlecht, Alter, neu- der die Muskelmasse den wichtigsten Anteil bildet) roendokrine und genetische Faktoren bestimmt die Höhe des Grundumsatzes, der somit • Genetische Variabilität, die im Rahmen einer er- auch von Geschlecht und Alter abhängt. höhten somatischen Vulnerabilität zu verstehen sind wie beispielsweise Defekte in Leptinsynthe- Nicht ganz so streng sind die Bedingungen für den se, Leptinrezeptoren, Melanocortinrezeptoren, Ruhe-Nüchtern-Umsatz (RNU). Dieser wird auch 12- Insulinresistenz 14 Stunden nach der letzten Mahlzeit, morgens, be- • Epigenetik (pränatal und postnatal) kleidet, bei 24-26 Grad C Raumtemperatur und beim • Umweltfaktoren, in bezug auf körperlichen, wirt- bequemen Sitzen oder im Liegen gemessen. Der RNU schaftlichen und sozio-ökonomischen Status, in liegt ca. 5% über dem GU. dem die Personen sich entwickeln • Soziales Umfeld (siehe: [63]) GU und RNU erfassen alle in Ruhe und postabsorptiv • umweltbedingte Faktoren wie Nahrungsange- ablaufenden Arbeitsprozesse wie: bot, Food-engineering, Food-processing, Nah- • Biochemische Reaktionen im Intermediärstoff- rungsmittelaromatisierung, erhöhter Fett- und wechsel für Wachstum, Umbau, Neubildung, Er- Zuckeranteil in Fertigprodukten haltung und Speicherung der Makronährstoffe • Verhaltensfaktoren, die sich aus komplexen so- im Organismus (Glykogen, Proteine und Lipide) zio-psychologischen Determinanten wie Ge- • Transportprozesse: Transport von Metaboliten wohnheiten, Emotionen, Verhaltensmuster, Glau- (Stoffwechselzwischenprodukte) und komplexen ben und kognitiven Erfahrungen im Laufe des Stoffwechselprodukten über Zellmembranen so- Lebens entwickeln wie intrazellulär, Ionentransporte bei Nervenakti- • Bewegungsmangel (sedentary life-style) vitäten und Informationsprozessen • Stress und Schlafmangel • unwillkürliche mechanische Arbeit: Herz-Kreis- lauf-Arbeit, Atmung, Erhaltung des Muskeltonus Stets ist im Vergleich zum Verbrauch (Grundumsatz und Anteil physischer Arbeit) eine erhöhte Kalorien- Auf Grund des Gesamtenergiebedarfs wird die täg- bilanz zu beobachten. Eine Gewichtszunahme kann lich benötigte Grundnährstoffzufuhr berechnet. Be- auch durch iatrogene Faktoren wie die Einnahme ge- rechnung des Grundumsatzes (sog. Harris-Bene- wisser Medikamente ausgelöst werden. Ausserdem dict Formel): spielen bei Patienten mit Komorbiditäten die Effekte von Medikamenten (Neuroleptica, Antidepressiva, Frauen REE (kcal / d) = 655 + 9.6 x Körpergewicht in Insulin, Betablocker u.a) eine Rolle in der Regulation kg + 1.8 x Grösse in cm – 4.7 x Alter von Hunger und Sättigung, welche jedoch bezogen Männer REE (kcal / d) = 66.5 + 13.8 x Körpergewicht in auf die Gesamtheit von Patienten mit Adipositas eine kg + 5.0 x Grösse in cm – 6.8 x Alter untergeordnete Bedeutung haben [84] GU = ca. 40 kcal pro m² Körperoberfläche und Stunde 7
(die Körperoberfläche spielt eine grosse Rolle bei der geschlechts- und altersunabhängig und hängt nur Wärmeabgabe. Sie lässt sich aus Körpergrösse und von Art und Menge der aufgenommenen Nahrung -gewicht berechnen oder einfach anhand eines No- ab. Sie macht 8 - 15% des täglichen Energieumsatzes mogrammes ablesen). aus und entspricht 2 - 4% der mit Fett, 4 - 7% der mit Kohlenhydraten und 18 - 25% der mit Protein aufge- Der Grundumsatz steigt mit dem Gewicht und nimmt nommenen Energiemenge. mit dem Alter ab. Es gilt folgende Übereinkunft i.S.v. Die postprandiale Thermogenese hält nach einer Festlegung auf der Basis von mehreren Zehntausend proteinreichen Mahlzeit ca. doppelt so lange an wie Messungen weltweit: nach einer kohlenhydrat- oder fettreicher Mahlzeit Energieumsatz pro kg Körpergewicht ca. 1 kcal/kg gleichen Energiegehaltes. pro Stunde Energieumsatz pro kg Körpergewicht ca. 25 kcal/kg pro Tag Energieumsatz (Durchschnittswerte der deutschen Gesellschaft für Ernäh- Der Energieumsatz kann mittels der Kalorimetrie er- rung (DGE) mittelt werden. Da die direkte Kalorimetrie messtech- nisch sehr aufwendig ist (Messung der Wärmeabgabe Der Grundumsatz (GU) deckt den Energiebedarf aller des Organismus in einem geschlossenen Raum, sog. inneren Organe. Er wird bei Frauen folgendermassen Kalorimeter), wird heute in der Regel die indirekte berechnet: 700 + 7 x kg Körpergewicht, bei Männern Kalorimetrie angewendet. Deren Prinzip beruht dar- 900 + 10 x kg Körpergewicht.[236] auf, dass die Nährstoffe oxidativ zu Wasser (H2O), Richtwert für einen 25-jährigen Erwachsenen: 100 kJ Kohlendioxid (CO2) und stickstoffhaltigen Pro- (Kilojoule) pro Kilogramm (kg) Körpergewicht (1 kCal dukten abgebaut werden. Somit lässt sich der Nähr- entspricht 4.2 kJ). stoffumsatz über die Atemgasanalyse (O2-aufnahme und CO2-abgabe) und die Stickstoffausscheidung im Urin erfassen und der Energieumsatz unter Verwen- dung der bekannten physiologischen Brennwerte berechnen. Der Energieverbrauch bzw. -bedarf setzt sich aus dem Grundumsatz (GU), der nahrungsin- duzierten Thermogenese, dem Kalorienverbrauch durch unwillkürliche Bewegungen (sog. Non-Exer- Tabelle 3: Durchschnittswerte cise Activity Thermogenesis, NEAT) und vor allem dem Bedarf für körperliche Aktivität (Arbeits- bzw. (Durchschnittswerte der deutschen Gesellschaft für Ernäh- Leistungsumsatz) zusammen. Die NEAT und der rung (DGE); siehe auch [49]) Leistungsumsatz variieren stark von einer Person zur anderen, da sie vom Verhalten abhängig sind und vom Fasten, Diäten und Medikamenten (siehe oben) Postprandiale Thermogenese beeinflusst werden können. Die nahrungsinduzierte Thermogenese (thermoge- Bei körperlicher Aktivität kann man den Leistungs- ne Wirkung der Nahrung) entspricht der Steigerung umsatz je nach Belastungsdauer und -intensität mit des Energieumsatzes nach Nahrungsaufnahme. GU x 1.5 bis GU x 2.1 veranschlagen. Während des Körpertemperatur und Wärmeabgabe an die Um- Zeitraums intensiver Muskelarbeit kann ein Mehrfa- gebung steigen nach der Nahrungsaufnahme. Die ches des GU umgesetzt werden. Der Arbeitsumsatz postprandiale Thermogenese beruht darauf, dass bei leichter körperlicher Arbeit macht ca. 30% des für Verdauung, Resorption und Transport der Nähr- GU aus. Generell wird der individuelle Energiever- stoffe Energie benötigt wird und dass die diskonti- brauch bzw. -bedarf gerne überschätzt! Der Energie- nuierliche Nahrungsaufnahme eine zwischenzeitli- verbrauch bei körperlicher Belastung hängt wesent- che Speicherung von Nährstoffen erfordert, um eine lich vom Ausmass der eingesetzten Muskelmasse ab kontinuierliche Energieversorgung aller Körperzellen (je mehr Muskeln arbeiten müssen, desto höher der zu gewährleisten. Der Energieaufwand für diese Leis- Energieumsatz) und natürlich von der Intensität der tungen bewirkt eine postprandiale Steigerung des Muskelarbeit. Am besten kann man den Energiever- Grundumsatzes. Die postprandiale Thermogenese ist 8
brauch bei einer bestimmten Belastungsintensität • Hunger (psychologische Erklärung): Unangeneh- mittels einer Ergospirometrie ermitteln (Fahrrad oder mes, teils schmerzhaftes Gefühl in der Magenge- Laufband), entweder nach der Formel: gend bei längerer Zeit ohne Nahrungsaufnahme; meist temporär auftretend. kcal = VO2 (Sauerstoffaufnahme x 60 x 5 • Appetit: Psychischer Zustand, der sich durch lust- pro Stunde in Liter pro Minute) voll geprägtes Verlangen, etwas (oft Bestimmtes) (Faktor 60 = Umrechnung min --> Std, Faktor 5 = Umrech- zu essen auszeichnet. Appetit kann auch gleich- nung Liter O2 --> kcal), zeitig auf andere lustvolle Empfindungen ausge- wobei man für jede Belastungsstufe entsprechend richtet sein. der jeweiligen O2-Aufnahme den Kalorienverbrauch • Lust: Besonders intensive und angenehme Emp- errechnen kann, oder, wenn man nur die maximale findung, die sich entweder in geistiger (Ästhetik, Sauerstoffaufnahme (VO2max) kennt, den Energie- Erfolgserlebnis) oder körperlicher (Orgasmus, verbrauch prozentuell davon ermitteln kann: Entspannung) Art äussert. z.B. bei 70% VO2max --> VO2max x 0.7 x 60 x 5 . Appetenzverhalten/ Sättigung/ Hunger Eine noch einfachere Ermittlung des Energiever- brauchs ermöglicht eine Software, die bei jeder Be- Bezüglich der subjektiv als unangenehm empfunde- lastungsstufe anhand der Sauerstoffaufnahme (VO2) nen Reizsituation „Hunger“ führt die Appetenzphase auch die metabolische Einheit „MET“ errechnet: zur Suche nach Nahrung, welche bei Erfolg in die End- 1 MET ist die O2-Aufnahme einer erwachsenen handlung (Konsumation) mündet, so dass der biolo- Person im Sitzen = 3.5 ml VO2 pro Minute und kg gische Sinn erfüllt und zugleich der Hunger gesättigt Körpergewicht. bzw. die Bedürfnisspannung herabgesetzt wird. 1 MET = 50 kcal/m2 /h = 58 Watt/m2 Sättigung entsteht durch ein komplexes Zusammen- spiel zwischen dem Magen-Darm-Trakt und dem Das Energieäquivalent von 1 MET in kcal/min = ca. Zentralnervensystem. Diese grundlegenden Regula- 1 kcal pro kg Körpergewicht und Stunde (bei einem tionsmechanismen werden sehr stark durch kogni- Körpergewicht von z.B. 70 kg entspricht 1 MET ca. 1.2 tive Faktoren wie Wissen, Einstellungen und Vermu- kcal/min). tungen sowie durch sensorische Einflüsse (Aussehen, Geschmack, Geruch, Konsistenz) verändert. Der Ge- Man braucht also nur die MET der jeweiligen Belas- nuss der Nahrung überspielt sehr schnell die Sätti- tungsstufe, die einen interessiert mit dem Körperge- gungsregulation und begünstigt eine übermässige wicht zu multiplizieren, um den Kalorienverbrauch Energieaufnahme. Dazu kommt, dass die Empfin- pro Stunde für diese Belastungsintensität zu ermit- dung des „vollen Bauchs“ seit dem Lebensbeginn teln. Daneben lässt sich mittels BIA (Bioelektrische untrennbar mit dem Gefühl der mütterlichen Zuwen- Impedanzanalyse) der Grundumsatz sowie der täg- dung und der Geborgenheit verbunden ist. Mangelt liche Gesamtenergieverbrauch anhand der Körper- es später an diesem Geborgenheitsgefühl, z.B. im gewebszusammensetzung in Verbindung mit dem Rahmen von unerfüllten Beziehungswünschen, so Ausmass der körperlichen Aktivität ermitteln, wobei gelingt es mit Essen diese Spannung kurzfristig ab- diese Messmethode bei Über- und Untergewicht sehr zubauen. Durch diese Mechanismen verliert Essen ungenau ist da sie auf Nomogrammen beruht. seine ursprüngliche physiologische Funktion und wird mehr zu einer Bewältigungsstrategie negativer Gefühle [91] Es treten damit unwiderstehliche Essge- Regulation von Hunger und Sättigung lüste („food-craving“) auf, denen nachgegeben wird und die zur Aufnahme unverhältnismässiger Mengen • Hunger (physiologische Erklärung): Empfindung, an Nahrungsmitteln („binge eating“) führen, häufig die auftritt, wenn ein bestimmtes Glycogenni- nachts („night-eating“) und in schwierigen Lebensla- veau in der Leber unterschritten wird. Das in der gen (problem eating). Ein Gefühl der Sättigung wird Regel unangenehme Gefühl selbst, entsteht im oft nicht mehr verspürt [48]. Betreffend der Emotio- Hypothalamus und wird durch Rezeptoren in Le- nalität sind verschiedene Affekte im Essverhalten und ber und Magen ausgelöst. im Auslösen von Ess-Episoden oder sogar Essanfällen 9
zu erwähnen. Diese sind auch geschlechtsspezifisch on zurückzuführen sind [201]. Kurzzeitige Interventi- [141]. Allgemein kann gesagt werden, dass Trauer onen mit einer Hormonersatztherapie (mit oder ohne wie Ärger bei Frauen wichtigere Impulse für impulsi- gleichzeitige Androgengabe) können helfen, die ves Essverhalten oder sensorisches Essen darstellen Muskelmasse zu erhalten und die Fettansammlung als bei Männern. Andererseits stellen bei beiden Ge- geringer ausfallen zu lassen. Dabei sind andere wirk- schlechtern Freude für ein hedonistisches Essverhal- same Interventionen (gesunde Ernährung, erhöhte ten deutlich der Ängstlichkeit oder Trauer vor, wobei Bewegungsaktivität) nicht zu vernachlässigen. Trauer auf der anderen Seite beim sensorischen Essen wichtiger erscheint. Gleiches gilt – mutatis mutandur – ebenfalls für Män- ner, die besonders an den Folgen der Andropause mit verminderter Bewegungsaktivität, grösserer Einlage- Adipositas rung von Speicherfetten im Abdomen zusammen mit Veränderungen der Lebensgewohnheiten lei- Als kritische Lebensphase für die Entwicklung von den. Alle diese Faktoren sind grundsätzlich obesogen Übergewicht und Adipositas wird (neben der frühen und können gegebenenfalls wie oben erwähnt mit Kindheit, Pubertät, Schwangerschaft) die Menopause vermehrter bewusster Bewegungsaktivität teilweise angesehen. Die Verminderung von Östradiol, Proges- kompensiert werden. teron und Testosteron scheint verschiedene Einflüsse auf die Nahrungsaufnahme, aber auch auf die Wir- kung der körperlichen Aktivität zu haben. Die ver- Pharmakologische Einflussfaktoren minderte Hormonwirkung erhöht das Risiko zu einer Gewichtszunahme. Es gibt eine Reihe von Medikamenten, die für andere Indikationen verschrieben werden, jedoch einen Ein- Die Gewichtsveränderungen im Klimakterium va- fluss auf die Gewichtsentwicklung ausüben können riieren zwischen +2,25 kg während drei Jahren und [170]. Gewichtszunahme als Nebenwirkungen von +5,4 kg während der ersten acht Jahren nach der Me- bestimmten Antidepressiva und Neuroleptica ist ein nopause [191]. Die regionale Fettverteilung gilt als wichtiger Faktor und sollte sorgfältig überwacht wer- starker Prädiktor für Adipositas-assozierte Gesund- den. heitsrisiken. Die Körperfettverteilung wird dabei teil- weise hormonell kontrolliert, so dass besonders bei zentral-adipösen (mit vermehrtem viszeral-adipösen) Frauen ein androgenes Profil häufiger ist. Das NIH-Ex- perten-Panel empfiehlt für die Identifizierung von individuellen Gesundheitsrisiken die Bestimmung der geschlechtsspezifischen Waist Circumference. Bei Frauen wird dabei mit einem erhöhten Risiko ab >88 cm gerechnet (variiert je nach ethnischem Hin- tergrund). In einer Untersuchung zu Körperfettanteilen und Knochendichte bei gesunden prämenopausalen Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren mittels BIA (body impedance analysis) und DEXA (dual-energy x-ray ab- sorptiometry) fanden Sowers et al. [197], dass bereits bei jungen Frauen ein niedrigerer Muskelanteil ein Ri- sikofaktor für tiefe Knochendichte darstellt. Ein hoher Fettanteil wirkt nur dann protektiv, wenn gleichzeitig ein hoher Anteil an Muskelsubstanz nachweisbar ist Tabelle 4: Effekt von Medikamenten [203]. Frauen in der Menopause weisen oft eine ver- minderte Muskelmasse (Sarkopenie) und gleichzeitig Nach George A. Bray Effekt von Medikamenten auf das Gewicht eine erhöhte abdominale und periphere Fettmenge 2001 [52] auf, welche beide auf die veränderte Hormonsituati- 10
Essverhaltensstörungen Unbehagen beim Essen mit anderen Personen oder sozialer Rückzug und Isolation aufgrund des abwei- Die Störungen des Essverhaltens haben in den letz- chenden Essverhaltens. ten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Die Be- troffenen berichten über lang andauernde Unzu- friedenheit mit der eigenen Figur und haben bereits Binge Eating Störung mehrere Diätversuche hinter sich, bevor sich ein klar erkennbares Krankheitsbild äussert. Auch Knaben Binge Eating Disorder: ca. 5-10% der übergewichti- und Männer, v.a. aus dem leistungssportlichen Be- gen Menschen, besonders bei Erwachsenen im mitt- reich, sind zunehmend betroffen. Die heute gültige leren Lebensalter (bei übergewichtigen Erwachsenen Konzeptualisierung von Essverhaltensstörungen geht mit Teilnahme an Programmen zur Gewichtreduktion nicht mehr von einer strikten Unterteilung in die drei bis 25%). Allgemein steigt die Rate an binge-eating Entitäten „Magersucht“, „Bulimie“ und „Übergewicht“ Störungen mit steigendem BMI; so leiden unter den aus, sondern von einem Essstörungskontinuum. Sie Personen mit BMI über 35 kg/m2bis zu 40% unter ei- berücksichtigt dabei, dass immer mehr Zwischen- ner binge eating Störung, solche über BMI 40 bis über und Mischformen, sog. EDNOS (Eating Disorders 60% [131]. not otherwise specified) vorkommen. Darunter fal- len beispielsweise Übergewicht mit gelegentlichen Entgegen früheren Annahmen werden Essstörun- Ess-Brech-Anfällen sowie auch abführendes und ge- gen aufgrund des oben beschriebenen fliessenden wichtskontrollierendes Verhalten mittels Laxantien, Überganges von verändertem über gestörtem bis Diuretica und/oder übermässiger körperlicher Aktivi- manifest gestörtem Essverhalten als Kontinuum be- tät bei Normalgewicht. schrieben. Kagan und Squires beschrieben 1984 erst- mals die Idee der Kontinuumshypothese [112]. Hinzu Es ist in den letzten Jahren klar geworden, dass be- kommen andere, noch nicht klassifizierte Störungen troffene Personen im Laufe ihres Lebens häufiger wie: night eating (nächtliches anfallsweises Essen), von einem Störungsbild ins andere überwechseln: problem eating (Essen zur Spannungsminderung So bewältigt ein Mädchen beispielsweise sein kind- bei Problemen und emotionalem Upset), craving liches Übergewicht und die damit verbundene so- (zwanghafte, unstillbare Gier nach Essen mit Einver- ziale Ächtung durch striktes Fasten, erlebt dadurch leiben von Speisen, ohne dass Hunger oder Sättigung ein aufwertendes Kontrollgefühl und entwickelt eine eine Rolle spielen), snacking (Zwischendurch-essen) Pubertätsmagersucht, rutscht später ab in den Kont- und nibbling (ständiges, oft nahe am Zwang ste- rollverlust mit Übergang in eine Ess-Brech-Sucht, bis hendes Naschen). Beide letztere sind besonders mit im Erwachsenenalter nach Wegfall des Erbrechens der Auflösung des normalen Mahlzeitenrhythmus sich erneut ein Übergewicht installiert. Ebenso hat verbunden. Eigentliche Hauptmahlzeiten existie- sich die einseitige Zuteilung der Magersucht/ Bulimie ren nicht mehr – es reiht sich „Zwischenmahlzeit an zu den psychiatrischen, respektive der Adipositas zu Zwischenmahlzeit“. Von Betroffenen werden sie als den somatisch-medizinischen Krankheitsbildern als höchst traumatisch beschrieben und führen zu star- unhaltbar erwiesen [133]. ken Schuldgefühlen und zur Selbstabwertung. Allen Essstörungen ist gemeinsam, dass Verhaltens- Im Versuch die Kontinuums-Hypothese für die Patien- probleme sowie kognitive, emotionale und interper- ten mit Normal- bis Übergewicht zu überprüfen, fan- sonale Probleme eng miteinander verbunden sind. den Fitzgibbon et al. [82] eine Bestätigung dieser Betroffene versuchen verzweifelt, durch Manipula- kontinuierlichen Sichtweise bei Patientinnen mit den tion von Nahrungsaufnahme und Körpergewicht Störungsbildern Adipositas, Binge Eating Störung psychischen Stress oder Anpassungsschwierigkeiten und Bulimie sowie zwei dazwischen liegenden Sub- zu beheben oder zu regulieren. Das Verhalten und gruppen „subklinischem Binge Eating“ und „subklini- das Selbstwertgefühl hängen oft enorm oder sogar scher Bulimie“. In einer Untersuchung zu latenten Kri- vollständig von der subjektiven Wahrnehmung der terien der Essverhaltensstörungen fanden Williamson eigenen Figur und des eigenen Körpergewichts ab. et al. [215] drei zentrale Merkmale: Binge Eating, Weitere gemeinsame Elemente sind emotionale Ver- Furcht vor Dicksein/kompensatorisches Verhalten änderungen wie Stimmungslabilität, depressive Sym- und Trieb zum extremen Dünnsein, die ebenfalls für ptomatik etc. und psychosoziale Veränderungen, z.B. den fliessenden Übergang der verschiedenen Aus- 11
prägungsformen aller Essstörungen sprechen. Sehr einem weitverbreiteten, vielschichtigen und alter- viele Übergewichtige sind in einem Kreislauf gefan- sunabhängigen Phänomen geworden. gen, in dem sich ein kurzfristiger Gewichtsverlust mit früher oder später erfolgender erneuter Gewichtszu- nahme abwechselt. Diese zirkuläre Beschäftigung mit Modelle des Essverhaltens Restriktion, Durchbruch und Ausufern ist in der nach- Essen und Nahrung spielen eine zentrale Rolle in un- folgenden Abbildung dargestellt [131]. serem Alltag und sind damit ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Die Motivation Nahrung aufzuneh- men ist vielseitig. Die Gefühle oder Empfindungen „Hunger“ sowie „Lust“ oder „Appetit“ sind häufig eng mit einem bestimmtem Geschmacksreiz verbunden, alle drei scheinen ältere Motive zu sein. In früheren Jahrzehnten sei - so schreiben Pudel & Westenhöfer [211] in einem historischen Rückblick - die Nahrungs- wahl nicht aus Vernunftsgründen sondern aufgrund des Nahrungsangebotes getroffen worden. Unklar bleibt, wieso das Ausmass an Essverhaltensstörungen derart massiv in den letzten Jahren zunimmt. Nach- folgend werden Theorien zum Essverhalten diskutiert Abb. 2: Verhaltenskreis des Essens und in einem neuen Gesamtmodell vorgestellt [146]: Verhaltenskreis des Essens mit klinischer Präsentation, kognitiven Kontrollmechanismen und emotionalen Zuständen. Die klinischen Bilder stellen sich als „Durchgangspräsentationen“ derselben Grund- Das Drei-Komponenten-Modell verhaltensstörung des Essens dar [131] Die Steuerung des Essverhaltens beruht gemäss Pu- Nebst den Aspekten des Geschmacks und der Varian- del [170] auf einem Drei-Komponenten-Modell. Pri- tenvielfalt ist Essen und Essverhalten durch unseren märe und sekundäre Motive entwickeln sich zu unter- sozialen und kulturellen Kontext geprägt. Essverhal- schiedlichen Zeitpunkten im Leben, die als ten bedeutet in verschiedenen Ländern etwas ande- Steuerungsaspekte beschrieben werden und sich res. Allen gleich ist die Nahrungszufuhr, die Art und während dem gesamten menschlichen Leben zu be- Gestaltung des Aktes hingegen ist verschieden. Essen stimmten Zeitpunkten gegenseitig ablösen. Es sind ist ein Grundbedürfnis, um die physiologischen Spei- dies die Innensteuerung, die Aussensteuerung und cher zu füllen. Dadurch steht die Nahrungsaufnahme die kognitive Steuerung des Essverhaltens. Die Innen- in enger Verbindung mit dem Energieverbrauch (engl. steuerung versteht Pudel [170] als die biologische Re- Energy Expenditure) und der Körperfülle. Früher galt gulation; die Aussensteuerung hingegen sei das Er- die Körperfülle als Symbol für Wohlstand und Erfolg. gebnis von kulturell-familiären Verhaltensweisen. Maler bevorzugten deshalb füllige Menschen für ihre Dabei würden sich die beiden Aspekte teils konkur- Bilder. Übergewichtigen wurde Reichtum, Ausgegli- rieren und erstere könne je nach soziokulturellem chenheit und Gemütlichkeit attestiert. Dies hat sich Normendruck mit dem zunehmenden Alter an Regu- in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Überge- lationsfähigkeit verlieren (siehe Abbildung 2). wicht bedeutet nicht mehr Erfolg sondern Misserfolg. Schlanksein ist heutzutage das erstrebenswerte Ziel und wird mit den Attributen dynamisch, begehrens- wert, attraktiv und glücklich gleichgesetzt. Gerade in den Medien gewinnt dieses Schlankheitsideal seit den 80er Jahren zunehmende Beachtung. Das Durch- führen von Diäten führt die „Hitliste“ der Massnah- men zur Erreichung des Schlankheitsideals an. Bereits in einer Untersuchung von 1989 fanden die beiden Autoren Westenhöfer und Pudel [210] dass jede zwei- te Frau und jeder vierte Mann zum Zeitpunkt der Un- Abb.3: Zeitliche Veränderung der Wechselwirkung der Steuerungs- tersuchung bereits mindestens eine Diät hinter sich mechanismen hatte. Diätverhalten ist demzufolge mittlerweile zu (aus Pudel & Westenhöfer, S. 47 [172] 12
Petermann & Häring [164] stellten in ihrer Arbeit die Sattheit, sowie eine dazwischenliegende Zone. Hun- familiären Einflussfaktoren auf das Essverhalten bei ger dient dabei biologisch gesehen zur Verhinderung adipösen Kindern zusammen. Dabei erachteten sie von einem Mangel an Energiezufuhr, im Sinne einer die Aspekte des Modelllernens und der Verstärkung Minimalaufnahme. Sattheit entspricht dem Völlege- eines Essmusters bei der Entstehung des Überge- fühl als obere Grenze der Energiezufuhr. Die dazwi- wichts als wesentlich beteiligt. schen liegende Zone (siehe Abb. 3) wird gemäss Her- man und Polivy weitgehend durch psychologische Faktoren beeinflusst. Kognitive Theorie nach Bruch Hilde Bruch [55] vertrat den Ansatz, dass Überge- wichtigen die Differenzierung körperlicher Bedürf- nisse (wie Hungergefühle) und emotionaler Erregung fehlen würde. In ihrem Konzept [56] führte sie diese Differenzierungsprobleme auf die Erfahrungen in der Kindheit zurück, in welcher die Mutter inadäquat auf die unterschiedlichen Bedürfnisse des Kindes re- agierte. Abb.4: Boundary Modell nach Herman & Polivy (aus Westenhöfer, S.19 [212]) Externalitätstheorie Für Normalgewichtige reguliert sich das Essverhal- ten zwischen den beiden Grenzen automatisch und Auf der Grundlage des Bruch’schen Konzeptes entwi- unbewusst. In Untersuchungen fanden Herman und ckelte Schachter [177][178] die Externalitätstheorie. Polivy [102] bei Übergewichtigen eine hohe Anzahl Im Gegensatz zu Bruch wies er den externen Reizen von Betroffenen, die sich einer chronischen Ein- für die Steuerung des Essverhaltens besonderen Wert schränkung der Kalorienzufuhr unterziehen. Diese bei. Heute wird angenommen, dass die von Schach- sogenannten Restraint Eaters oder gezügelte Esser ter [178] bezeichnete Aussenreizabhängigkeit im Sin- [102] charakterisieren sich durch eine Steuerung ne der Externalitätstheorie eine Folge des gezügelten des Verhaltens mittels erhöhter kognitiver Kontrolle. Essverhaltens sein muss. Dies führt dazu, dass gerade in Stresssituationen die Aufrechterhaltung der kognitiven Kontrolle verloren gehen kann, so dass Essattacken die Folge sind. In Set-point Theorie späteren Untersuchungen konnte der enge Zusam- menhang von gezügeltem Essverhalten und Überge- Eine Forschungsgruppe um Nisbett und Herman ver- wicht bestätigt werden [201]. Studien zu Stressinduk- öffentlichten ein alternatives Konzept zum Essverhal- tion und Essverhalten konnten die Idee der erhöhten ten, welches als Ursache das wiederholte Hungern Aufmerksamkeitsanforderung bei gezügelten Essern in Diätversuchen als Folge von sozialem Druck, nor- und die damit erhöhte Anfälligkeit von erhöhter Nah- malgewichtig sein zu müssen, ersieht. Dabei vertrat rungsaufnahme unter oder nach unterschiedlichen Nisbett [158][159] einen eher biologischen Ansatz Stressbedingungen bei gezügelten Essern bestäti- (Set-point-Theorie) mit der Annahme, dass sich Über- gen. gewichtige häufig Diäten unterwerfen und aufgrund des Hungerns vermehrt auf essrelevante Aussenreize Die Ursachen für eine Veränderung eines bestimm- reagieren. ten Essverhaltens oder Essmusters kann anhand der beschriebenen Modelle jeweils nur für einen Teil der Essgestörten erklärt werden. Unklar bleiben die ur- Grenzmodell sprünglichen Mechanismen oder Prädispositionen, die zu einer langfristigen Anpassung eines physio- Herman und Polivy [102] übernahmen diesen An- logischen Grund-bedürfnisses wie „Nahrungszufuhr“ satz und erweiterten ihn zu einem Grenzmodell des oder „Essverhalten“ führen können. Essverhaltens oder Boundary-Modell genannt. Es be- schreibt einerseits die beiden Grenzen Hunger und 13
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