Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED

Die Seite wird erstellt Luis Wiedemann
 
WEITER LESEN
Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
Adipositas-Consensus 2016

          Association Suisse pour l’Etude du
          Métabolisme et de l’Obésité
          Schweiz. Arbeitsgruppe Metabolis-
          mus und Obesitas

Vorsitz                                                                               Die Autoren

Prof. Dr. Kurt Laederach                                                              Prof. Dr. Kurt Laederach
Universität Bern                                                                      Dr. Dominique Durrer
Departement Klinische Forschung                                                       PD Dr. Philipp Gerber
Murtenstrasse 21                                                                      PD Dr. Zoltan Pataky
3010 Bern

Wir bedanken uns bei den ASEMO-Vorstandsmitgliedern für ihr aktives Mitwirken beim Korrektorat sowie für die
konstruktive Kritik.
Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
Inhaltsverzeichnis

Einleitung                                                      1

Epidemiologie                                                   3

Prävention der Adipositas                                       3

Pathophysiologie und allgemeine Ursachen der Adipositas         7

Klinische Evaluierung                                          21

Somatische Komorbiditäten - Folgeerkrankungen bei Adipositas   26

Psychiatrische Komorbiditäten                                  28

Konservative Behandlungsmethoden                               29

Chirurgische Behandlung der Adipositas                         42

Literaturverzeichnis                                           47

Tabellenverzeichnis                                            61

Abbildungsverzeichnis                                          61
Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
Einleitung

(Hauptautor: Prof. Dr. Kurt Laederach) Der vorliegende      Verarbeitungsprozesse ab, ein Umstand dem genü-
«Consensus Adipositas» umfasst die dritte und voll-         gend Rechnung getragen werden muss. Die soziale
ständig überarbeitete Version der beiden vorherge-          Unterstützung ist einer der wichtigsten Faktoren zur
henden Ausführungen (1999 und 2006). Sie wurde              Aufrechterhaltung und/oder Wiedergewinnung der
erstmals vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag            psychischen und körperlichen Stabilität. Sie schützt
gegeben und ist als Richtlinie für die Grundversorgung      und stützt das Selbstbild und das Selbstwertgefühl
gedacht, zusammen mit den präventiven Aktionen des          eines Menschen und hilft dadurch, Gefühle der Hilflo-
BAG. Ziel dieses Konsensus ist es, interessierten Ärzten    sigkeit, Ängste und Unsicherheit zu vermeiden oder
ein Instrument zur Verfügung zu stellen, das auf wis-       zu beseitigen. Erfährt jemand emotionale Zuwendung
senschaftlicher Basis hilft, die Problematik der Adipo-     und soziale Anerkennung, so wird er in der Regel ei-
sitas im Rahmen eines fächerübergreifenden Konzepts         nem krisenhaften Ereignis weniger schutzlos ausge-
von Soziologie, Psychologie und Medizin zu verstehen        liefert sein und dementsprechend weniger ängstlich
und damit besser behandeln zu können.                       und depressiv reagieren als jener, der nicht über diese
                                                            Ressourcen verfügt.
Der Consensus Adipositas 2016 besteht aus verschie-
denen Kapiteln, an welchen die genannten Autoren            Hauptbelastungsfaktoren aus der Sicht der Patienten
mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung gear-        sind fehlende Orientierungshilfen, Kommunikations-
beitet haben und aus einer Kurzzusammenfassung              defizite und das Fehlen von Bezugspersonen. Die Ab-
(executive summary), die in 2 A4-Seiten die wichtigs-       hängigkeit, in der sich der Patient befindet, hängt von
ten Inhalte übersichtlich darstellt. Die hinzugefügte Li-   der realen Krankheitssituation ebenso ab, wie von der
teratur soll dem Interessierten helfen, sich rasch in be-   damit verbundenen Störung des Selbstwertgefühls.
stimmte Inhalte einzulesen und stellt damit den Stand       Als Reaktion auf eine Verletzung der eigenen Kompe-
des aktuellen Wissens dar.                                  tenzen und Fähigkeiten, können regressive Elemente
                                                            beobachtet werden, deren Besprechung und Bewälti-
Die Betrachtungsweise dieses Konsensus unterschei-          gungsmöglichkeiten in ein biopsychosoziales Behand-
det sich von den beiden vorhergehenden darin, dass          lungskonzept Eingang finden müssen.
hier - einem zeitgemässen psychosozialen Medizinmo-
dell folgend - verschiedene Fachbereiche verschränkt        Innerhalb der Gesundheitsbildung war früher der Be-
dargestellt werden, die nachgewiesenermassen zu             handlungsstil praktisch ausschliesslich auf die Fachleu-
einem potentiellen Behandlungserfolg beitragen. Un-         te ausgerichtet und nicht auf die inneren und äusseren
sere Betrachtungsweise umfasst deshalb die Notion,          Bedürfnisse der Patienten. Die persönliche Mitarbeit
dass weder Gesundheit noch Krankheit statische Be-          der Patienten muss heute selbstverständlich nicht nur
griffe sind, sondern vielmehr einen fliessenden Über-       berücksichtigt, sondern als eigentliches Ziel der Ge-
gang darstellen Mit Gesundheit ist viel weniger eine        sundheitsbildung herangeformt werden. Die Theorie
idealtypische Norm gemeint, als ein Zustand, ein an-        der „Reasoned Action“ [1] nimmt persönliche Überzeu-
gemessenes Leben ohne allzu grosse Beschwerden zu           gungen und subjektive Normen des Patienten als wich-
führen, wie dies eine wenig perfekte Umwelt und ein         tigste Einflussgrössen an. Je konkreter ein Patient seine
wenig perfekter Mensch erlauben. Die gleichen mul-          Absicht formuliert, desto treffender ist die Vorhersage
tifaktoriellen Einwirkungen bestimmen nicht nur die         und die (erwünschte) Verhaltensänderung. Ungünstig
Auslösung, sondern auch den Verlauf der Adipositas.         ist beispielsweise die Formulierung “ich möchte Ge-
Bei den schädigenden Einwirkungen spielen generell          wicht abnehmen”, günstiger wäre “ich werde morgens
bestimmte Risikoverhalten wie Rauchen, Alkoholabu-          anstatt drei Scheiben Weissbrot mit Marmelade, ein
sus und letztlich auch das Nichtbefolgen ärztlicher An-     Vollkornbrötchen mit Käse essen”. Neben der Absicht
ordnungen (Non-Compliance) eine wichtige Rolle, auf         ist die Frage, ob sich eine Person sicher ist, in der täg-
welche jedoch nicht detailliert eingegangen wird.           lichen Wirklichkeit eine entsprechende Verhaltensän-
                                                            derung ausführen zu können bzw. über längere Zeit
Im Weiteren ist zu bedenken, dass Krankheit und             beizubehalten. Die Absicht, also der Wunsch, ein Ver-
Krankheitsbewältigung, besonders bei der Adipositas         halten auszuführen, die Kompetenzerwartung, also die
mit all ihren somatischen und psychosozialen Folgen         Sicherheit, diese Handlungen auch wirklich durchfüh-
nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Familien      ren zu können, die Ergebniserwartung, also die Sicher-
und im Besonderen Lebenspartner und Lebenspartne-           heit, dass aus einer Handlung bestimmte Ergebnisse
rinnen betrifft. Dies fordert allen Beteiligten Lern- und   erfolgen und die Bedrohung durch eine gefährliche

                                                                                                                    1
Adipositas-Consensus 2016 - SGED-SSED
Situation, sagen eine Handlungsänderung mit grosser          eher dem psychologischen Gesundheitsbewusstsein
Sicherheit vorher. Frauen und Männer verfolgen dabei         zugerechnet [3]. So erkennen Personen eigene Risiko-
generell unterschiedliche Gesundheitskonzepte. Män-          verhaltensweisen wie übermässiges Essen, Rauchen
ner beschreiben ihre Gesundheit eher über Aspekte            oder Trinken, durchaus als gefährlich an. Diese Verhal-
wie „Abwesenheit von Krankheit“ und „Leistungsfä-            tensweisen haben oft jedoch eine wichtige Funktion in
higkeit“. Frauen scheinen Gesundheitskonzepte zu             der Bewältigung von Belastungen. Es zeigt sich auch,
verfolgen, die „Wohlbefinden“, also die Zufriedenheit        dass die klassischen Risikofaktoren in der subjektiven
mit dem Leben insgesamt und „Körpererleben“, also            Einschätzung von Laien fast keine Rolle für Gesundheit
z.B. keine Schmerzen und Behinderungen zu haben,             oder Krankheit spielen. Psychische Ausgeglichenheit,
umfassen [2]. Dies interagiert allerdings mit den Fakto-     positive soziale Beziehungen und Zeit zur Ruhe und
ren Alter und Sozialstatus: Personen mit höherem So-         Entspannung haben die grösste Bedeutung. Danach
zialstatus scheinen stärker auf ihren Körper zu achten       folgen körperliche Bewegung, gut kontrollierte Ernäh-
und Beschwerden eher zu verbalisieren und sind mit           rung und eine gesunde Umwelt. Aus den dargestellten
ihrer Gesundheit zufriedener. Mit zunehmendem Alter          Faktoren und dem persönlichen Konzept von Gesund-
gerät der Faktor der Leistungsfähigkeit gegenüber der        heit lässt sich ableiten, dass erstens eine Person nur
Fitness bzw. Stärke ins Zentrum der Aufmerksamkeit           erreicht werden kann, ihr Verhalten zu ändern, wenn
und die Zufriedenheit mit der Gesundheit nimmt ab.           ihr subjektives Bedingungsgefüge für Gesundheit be-
Interessant ist festzuhalten, dass das männliche Ge-         rücksichtigt wird und zweitens ein Schwerpunkt der
sundheitskonzept „Abwesenheit von Krankheit und              gesundheitsbildnerischen Arbeit auf der Steigerung
Störungen“ dem organisch-medizinisch ausgepräg-              der Selbstwirksamkeitserwartung liegt, da dies eine
ten Gesundheitsbewusstsein zugeordnet wird, das              wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche
häufig mit einem Verständnis von Krankheit und Ge-           Handlungsausführung ist [4].
sundheit als „schicksalhaftem Prozess“ einhergeht. Das
weibliche Gesundheitskonzept „Wohlbefinden“ wird

        Konkrete Aufgaben der Betreuung umfassen deshalb:

          Diagnostik der Erkrankung mit Definition des Gesundheitsschadens (falls noch nicht ausreichend
          erfolgt oder falls die vorliegenden Befunde nicht mehr aktuell sind), Funktionsdiagnostik (körperli-
          che, mentale und psychische Leistungsmöglichkeiten und Grenzen) und psychosoziale Diagnostik.
          Erstellung eines Behandlungsplans für den Patienten, der auf Ergebnissen der Verlaufsdiag-
          nostik aufbaut und die individuellen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Patienten sowie
          besondere Anforderungen an ihn in Beruf und Alltag berücksichtigt. Eine eingehende
          Information des Patienten über die Erkrankung und deren Folgen sowie die Kontrolle des Verste-
          hens dieser Informationen durch wiederholte ärztliche und Teamgespräche.
          Optimierung der medizinischen Therapie und Durchführung von physikalischen, psychologischen
          und anderen Therapiemassnahmen.
          Die Förderung einer angemessenen Krankheitsverarbeitung und Einstellung zur Erkrankung
          wie Akzeptanz und Verarbeitung der definitiven Behinderungen, Motivationen zur aktiven Krank-
          heitsverarbeitung und Aufbau eines eigenverantwortlichen Gesundheitsbewusstseins.
          Verhaltensmodifikationen mit dem Ziel, eine krankheitsadäquate Ernährungs-, Bewegungs- und
          Freizeitgestaltung auszubilden und gesundheitsschädliche Verhalten abzubauen sowie gesund-
          heitsfördernde Verhaltensweisen zu bahnen.
          Training von Restfunktionen und Ausbildung neuer Fertigkeiten zur vollständigen oder teilwei-
          sen Kompensation von Einschränkungen in Funktionen.
          Anleitung und Schulung in Möglichkeiten der Selbstkontrolle und Selbstbehandlung der Erkran-
          kung.
          Beratung und eventuelle Behandlung von Bezugspersonen über den adäquaten Umgang mit
          dem Rehabilitanden und seiner Erkrankung/Behinderung.
          Planung und Anregung der Nachsorge, eingeschlossen Berufsförderung. Dabei erscheint gerade
          die kooperative multidisziplinäre Vorgehensweise besonders erfolgversprechend.

2
Epidemiologie

(Hauptautor: Prof. Dr. Kurt Laederach) Basierend auf       die Altersgruppe von 11 bis 15 Jahre aus der Schweiz
die Schweizerische Gesundheitsbefragung 2012 wird          mit 8,0% unter dem Durchschnitt (13,3%) derselben
die Prävalenz von Übergewicht in der Schweiz bei           OECD-Altersgruppe liegt [7]. Die Tendenz ist bei die-
Männern mit 39%, bei Frauen mit 23%, die von Adi-          ser Altersgruppe für das Schuljahr 2014/15 erfreulich,
positas mit 11% bei Männern und mit 9% bei Frau-           weil sich der Durchschnittswert auf 17,3% etwas ver-
en geschätzt [5]. Insgesamt waren im Jahr 2012 41%         ringert hat (dies insbesondere wegen den Kindergar-
der Wohnbevölkerung über 15 Jahren übergewichtig           tenkindern und Kindern mit Migrationshintergrund)
oder adipös, was eine Zunahme um 4% gegenüber              [10]. Trotz diesem erfreulichen Zwischenergebnis ist
2007 und von 11% gegenüber 1992 bedeutet [6]               die Kostenlast für die Gesamtgesellschaft enorm [9]:
(S.36). Damit verzeichnete die Schweiz gemäss einer        Die direkten und indirekten Kosten von Übergewicht
OECD-Studie (2010) [7] zwar einen Anstieg in der           und Adipositas in der Schweiz sind seit 2002 von Fr.
Bevölkerung mit überhöhtem Körpergewicht (Über-            2,7 Mia. auf Fr. 8 Mia. im Jahr 2012 gestiegen [6] (S.46).
gewicht und Adipositas), liegt aber noch unter dem         Für das Jahr 2007 liegen aufgeschlüsselte Schätzun-
OECD-Durchschnitt von über 50%.                            gen vor: die gesamten mit Übergewicht und Adipo-
                                                           sitas verbundenen Kosten belaufen sich demnach
Bei Kindern und Jugendlichen leiden zwischen 3%            jährlich auf rund Fr. 5,8 Mia. (direkte Krankheitskosten
und 20%, je nach Geschlecht, Altersgruppe oder             Fr. 3,83 Mia., was rund 7 Prozent der gesamten Ge-
Region an Übergewicht oder Fettleibigkeit [8]. Im          sundheitskosten von Fr. 52,7 Mia. entspricht sowie Fr.
Durchschnitt bleibt dieser Wert seit einigen Jahren        1,97 Mia. indirekte Kosten) [11].
relativ stabil bei 19% [6] (S. 39), wobei aber auch hier

Prävention der Adipositas

(Hauptautoren: Prof. Dr. Kurt Laederach, PD Dr. Zoltan     Massnahmen, die eine Beibehaltung des Normalge-
Pataky) Während für Rauchstopp und Einschränkung           wichts oder die Prävention einer späteren Gewichts-
des Alkoholkonsums klare Daten für die Effektivität        zunahme zum Ziel haben, müssen den Zielgruppen
präventiver Massnahmen vorliegen, ist dies bei der         angepasst werden:
Adipositas bisher (noch) nicht der Fall. Bei Kindern
zeigen entsprechende Studien erstmals, dass ein            1. Gesamtbevölkerung
effektives Betreuungsprogramm nur dann zu einer            2. Einzelgruppen, die besonders Adipositas-ge-
langfristigen Gewichtsreduktion bei Kindern führt,            fährdet sind (Personen mit psychosozialen Pro-
wenn die Eltern als Zielgruppe für Verhaltensände-            blemen, Personen, die unter Bewegungsarmut
rung einbezogen sind [12][13]; Evidenzklasse (EK) Ib.         leiden, Patienten, die gewichtsfördernde Medika-
Präventionsprogramme bei Erwachsenen allerdings,              mente einnehmen)
die auf eine gesunde Lebensweise und die Bekämp-           3. Hochrisiko-Patienten, die bereits übergewichtig
fung kardiovaskulärer Risikofaktoren zielen, zeigten          sind, aber noch nicht unter Adipositas leiden
hinsichtlich des Körpergewichts nur eine minimale
Wirkung oder waren bislang unwirksam [14] EK III;          Für die Prävention der Adipositas gibt es zahlreiche
[15] EK III; [16] EK III. Grundsätzlich werden ein ge-     Ansätze. Grundsätzlich muss jede Strategie, die sich
sunder Lebensstil mit regelmässiger körperlicher Be-       eine Eindämmung der Pandemie zum Ziel setzt, die
wegung und eine fettmoderate, stärkebetonte, nah-          Gewichtserhaltung für alle und eine akzeptable Ge-
rungsfaserreiche Ernährung propagiert [17] EK IV.          wichtsreduktion für diejenigen im Auge haben, die
                                                           bereits übergewichtig oder adipös sind. Die Präven-
Die Prävention von Adipositas ist bei der Kontrolle        tion der Adipositas erfordert aber weitere Massnah-
dieser akuten Pandemie von grundlegender Bedeu-            men, die über eine gesundheitsförderliche Ernährung
tung. Hierbei sind zwei Hauptziele zu verfolgen:           hinausgehen. Sie stellt eine gesamtgesellschaftliche
                                                           Aufgabe dar, die auch auf die Änderung adipogener
1. Prävention der Gewichtszunahme                          Lebensbedingungen zielen muss [18]. Besonders bei
2. Beibehaltung des Gewichts nach einer Phase der          der Adipositas ist die Primärprävention am sinnvolls-
   Gewichtsreduzierung                                     ten und kosteneffizientesten [19][20]. Mit zunehmen-

                                                                                                                   3
der Dauer und Ausprägung der Adipositas wird die          senheit, ständige Wachsamkeit und Selbstkontrolle,
Behandlung jedoch immer schwieriger, komplexer            keine Gefährdung von bereits Erreichtem und Wahr-
und teurer [21][22] EK IIa.                               nehmung positiver Auswirkungen, beim Einzelnen
                                                          sowie im sozialen Umfeld [23].
Aus Sicht einer Kosten-Nutzen-Rechnung und im Sin-
ne einer effizienten Reduzierung der Prävalenz und        Hierbei sind alle relevanten Interessengruppen zu
Inzidenz der Adipositas ist wahrscheinlich eine Verrin-   berücksichtigen: die Gesundheitsbehörden, der Be-
gerung der Faktoren, die zu einer adipositas-freund-      reich der Politik und Wirtschaft, die Arbeitswelt, So-
lichen Umgebung führen, am rentabelsten. Gesell-          ziologen, Stadtplaner, die Lebensmittelindustrie,
schaftliche und umweltbezogene Faktoren haben zu          Journalisten, Marketingexperten usw.. Alle müssen
einer Änderung der persönlichen Gewohnheiten in           ihren Beitrag leisten, damit jeder Einzelne die Mög-
den Bereichen Ernährung und körperliche Betätigung        lichkeit hat, seinen Lebensstil zu ändern. Da gerade
beigetragen. Daher muss vorrangig auf dieser Ebe-         im allgemeinen Umfeld die meisten Faktoren zu fin-
ne gehandelt werden. Erfolgreiche Selbstmanage-           den sind, die eine bewegungsarme Lebensweise und
ment-Strategien sowie geleitete Change-Programme          eine hyperkalorische Ernährung fördern, besteht die
basieren grundsätzlich auf den fünf Faktoren: Chara-      Aufgabe jetzt darin, Anreize für eine Änderung dieser
ketristika der (angepassten) Erfolgsmethode, lang-        Lebensweise zu entwickeln.
fristige Sensiblilisierung zu Disziplin und Entschlos-

 Interventionsbereich        Beispiele möglicher Strategien

                             –– Einrichtung eines landesweiten Programms zur Bekämpfung der Adipositas
                             –– Anstoss einer landesweiten Debatte über die Änderung einer „adipositas-freund-
                                lichen“ Umwelt zur Förderung einer ausgeglichenen Ernährung und körperlicher
 Politik                        Aktivitäten
                             –– Vorschläge zu Gesetzesänderungen zur Unterstützung der im KVG definierten am-
                                bulanten und stationären Präventions- und Behandlungsprogramme von Überge-
                                wicht und Adipositas
                             –– Senkung der Mehrwertsteuer auf gesunde Lebensmittel (z.B. Gemüse, Obst)
                             –– Besteuerung energiereicher Nahrungsmittel, deren zusätzlicher Gehalt an Zucker
                                und gesättigten Fetten einen bestimmten Prozentsatz übersteigt
                             –– Schaffung einer Infrastruktur und eines sicheren Umfelds für regelmässige körperli-
                                che Aktivitäten (Stadtplanung)

                             –– Schulung von Ärzten und Pflegepersonal hinsichtlich einer spezifischen Behand-
                                lung und Nachsorge adipöser Patienten
 Gesundheitssystem
                             –– Förderung der therapeutischen Ausbildung (mit einem biopsychosozialen Ansatz)
                                des Pflegepersonals
                             –– Einrichtung von Programmen zur Prävention und Behandlung von Adipositas in je-
                                dem Kanton
                             –– Förderung des Selbstmanagements

                             –– Lehrplan: Integration und Förderung von Ernährungserziehung und Sportunter-
 Öffentliches                   richt
 Bildungswesen,
 Schulen                     –– Verfügbarkeit gesunder Zwischenmahlzeiten in der Schule und der schulischen
                                Umgebung
                             –– Progressive Verminderung des Vertriebs zuckerhaltiger Getränke und hochkalori-
                                scher Lebensmittel (Schokoriegel, Kekse...)

                             –– Standardisierte, leicht lesbare Kennzeichnung von Lebensmitteln
 Lebensmittelindustrie
                             –– Schrittweise Reduzierung des Gehalts an gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz in
                                Lebensmitteln

4
–– Arbeitszeiten, die Lebensmittelhygiene und körperliche Betätigung ermöglichen
 Arbeitgeber
                                    –– Betriebsrestaurants, in denen auf die Grundsätze einer gesunden Ernährung geach-
                                       tet wird

                                    –– Konstruktiver Beitrag zur landesweiten Debatte über den Kampf gegen Adipositas
 Medien                             –– Förderung der Werbung für gesunde Lebensmittel
                                    –– Einschränkung der Werbung für energiereiche Lebensmittel mit Zuckerzusätzen
                                       oder gesättigten Fetten

Tabelle 1: Interventionsbereiche und mögliche Strategien

Primärprävention

Im Rahmen der ärztlichen Konsultation ist für die Prä-                und Arbeitsbedingungen, und die dem Übergewicht
vention der Adipositas ein individueller Ansatz erfor-                beigemessene Bedeutung.
derlich, der auf der Abklärung der Faktoren basiert,
welche das Risiko einer Gewichtszunahme oder einer                    Der Prozess muss langfristig kontrolliert werden.
Resistenz gegen eine Gewichtsreduktion darstellen.                    Allgemeine Empfehlungen für eine Änderung des
Ratschläge, die auf eine Änderung des Lebensstils ab-                 Lebensstils sollten bestimmte Punkte wie z. B. eine
zielen, müssen bestimmte Faktoren berücksichtigen,                    unausgeglichene Ernährung, Essstörungen, die Le-
wie beispielsweise - um nur einige zu nennen - be-                    bens- und Arbeitsbedingungen oder das Ausmass
stehende Essstörungen, gestörte Lebensverhältnisse                    des Übergewichts berücksichtigen.

                                –– Bei der ersten Konsultation: Wiegen des Patienten in Unterwäsche, Messen der Waist
                                   Circumference, Berechnung des BMI
                                –– Wiegen des Patienten bei jedem Praxisbesuch (mindestens zweimal pro Jahr)
                                –– Identifizierung von Patienten mit einem Hang zu Übergewicht/Adipositas (Personen,
                                   die gerade mit dem Rauchen aufgehört haben, Schwangere, Patienten, die gewichtsför-
                                   dernde Medikamente wie Neuroleptika, Psychopharmaka, Kortikosteroide, Betablocker
 Arztpraxen,
                                   usw. einnehmen), ggf. Überweisung an einen Spezialisten oder in eine Spezialklinik
 Allgemeinmediziner,
 Hausärzte                      –– Den Patienten motivieren, sich ausgewogen zu ernähren (fünf Portionen Gemüse und
                                   Obst pro Tag) und auf zuckerhaltige Getränke und energiereiche Lebensmittel (z. B. auf
                                   Fastfood) zu verzichten
                                –– Den Patienten zu körperlicher Betätigung motivieren (mindestens 30 Minuten Gehen
                                   pro Tag) und ihm Tipps für eine angemessene körperliche Aktivität geben (siehe z. B.
                                   www.hepa.ch)
                                –– Den Patienten auf die schädliche Wirkung sämtlicher Diäten hinweisen
Tabelle 2: Strategien zur Adipositas-Prävention seitens der Allgemeinmedizin

Unabhängig von der Zielgruppe kommt der Energie-                      kann.
bilanz einen zentralen Stellenwert zu. Die über die
Nahrung aufgenommene Energie muss dem Bedarf                           Die Bewegung im Alltag (non exercise movement)
der Person entsprechen; dieser Bedarf verändert sich                   besonders das normale Gehen, ist mit zunehmen-
mit der körperlichen Aktivität, die bei jeder Gelegen-                 dem Alter eingeschränkt. Gesunde und aktive ältere
heit ausgeübt werden sollte, da die Wiederholung                       Menschen zeigen einen Drittel weniger Alltagsbewe-
eine additive Wirkung verursacht. Hierbei sollte be-                   gung (AAU) im Vergleich zu sitzenden jüngeren Men-
tont werden, dass das Körpergewicht leichter über                      schen. Diese Differenz in „non exercise movement“
eine Kontrolle der Energiezufuhr als über eine Stei-                   legt nahe, dass mit dem Alterungsprozess der bio-
gerung der körperlichen Aktivität gesteuert werden                     logische Antrieb zu Aktivität geringer sein könnte.

                                                                                                                          5
Organgewebe (trunk lean body mass) ist relativ resis-             scher Status bei Frauen einen Risikofaktor für Über-
tent gegenüber altersbedingten Veränderungen der                  gewicht und Adipositas darstellt. Für Männer ist die
Körperzusammensetzung, im Gegensatz zu Muskel-                    Beziehung zwischen sozioökonomischem Status und
gewebe (besonders die Beinmuskulatur) das tenden-                 Übergewicht widersprüchlich [34]. Die inverse Rela-
ziell verloren geht. Eindrücklich ist die altersbeding-           tion von Schulbildung und Übergewicht zeigt sich
te Abnahme der Muskelmasse (0.5kg pro 2 Jahre).                   bei Männern und Frauen [35]. Die höhere Prävalenz
Die Abnahme der Muskelmasse ist ein wesentlicher                  von Übergewicht und Adipositas bei Menschen mit
Faktor des verminderten Grundumsatzes (REE). Es                   tiefem Bildungsniveau zeigte sich wiederholt in den
gilt daher in jedem Fall, dass vermehrte körperliche              schweizerischen Gesundheitsbefragungen von 2002
Aktivität zu einem nachhaltigeren Erhalt der Skelett-             bis 2012 [36][37] Übergewichtige ihrerseits haben
muskelmasse führt [24]. Zudem belegen zahlreiche                  aber auch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt
Studien, dass Prävention und Gesundheitsförderung                 und leiden vermehrt an körperlichen und psychi-
auch im höheren Lebensalter wirksam sind [25][26]                 schen Störungen was mit den entsprechenden sozi-
Zudem wird durch Bewegung auch die Problema-                      alen Folgen verbunden ist.
tik der Insulinresistenz günstig beeinflusst, dies be-
sonders eindrücklich bei postmenopausalen Frauen                  Unter den zahlreichen Programmen zur Adipo-
[27] Dem Erhalt der Bewegungsfähigkeit soll hohe                  sitas-Prävention sind multidisziplinäre, auf der thera-
Bedeutung zugemessen werden [28]. Personen, die                   peutischen Schulung basierende Ansätze am effizien-
sich mehr bewegen, weisen bessere kognitive und                   testen (medizinische, diätetische und psychologische
mentale Funktionen auf und leiden weniger häufig                  Ebene). Sämtliche Strategien zur Eindämmung dieser
unter Stimmungsstörungen [29]. Dazu gibt es neuer-                Pandemie müssen darauf abzielen, dass die Bevölke-
dings auch Befunde, dass sogar die Inzidenz der Alz-              rung ihr Gewicht hält bzw. dass übergewichtige oder
heimer-Demenz durch regelmässige Bewegung ver-                    adipöse Personen ihr Gewicht reduzieren. Auf kanto-
mindert werden kann [30]. Ein neuerer Aspekt betrifft             naler und auf Bundesebene müssen Bedingungen,
die Supplementation von Nahrungsbestandteilen                     unter denen diese Ziele erreicht werden können, ge-
zur Veränderung von Stimmung, Emotion und Affekt.                 schaffen und gefördert werden; ausserdem müssen
Erwähnenswert sind darin Studien, die in definierten              adäquate Evaluierungsinstrumente zur Verfügung
Populationen nach Änderungen dieser Funktionen                    stehen
unter der kontrollierten Einnahme von PUFA (polyun-
saturated fatty acids, beispielsweise omega-3-Fett-
säuren) gesucht haben [31][32]. Netto scheint ein Ef-             Sekundärprävention
fekt vorhanden zu sein, möglicherweise ist er jedoch
bei Normalpersonen so gering, dass er im Gegensatz                Die Therapie der Komorbiditäten der Adipositas soll
zu psychisch Erkrankten (z.B. Patienten mit Schizo-               unabhängig von der Gewichtsveränderung erfolgen.
phrenie) keine wesentlichen Effekte zu haben scheint              Die Notion, dass jemand zuerst Gewicht verlieren soll,
[33]. Andere Zugaben wie z.B. Catechine oder Flava-               bevor beispielsweise Dyslipidämie oder Hypertonie
noide zur Modulation bestimmter Körperfunktionen                  behandelt wird ist nicht zielführend. Neben den me-
wie Immunsystem, Befindlichkeit, oder emotionale                  dizinischen Aspekten einer Krankheit spielen für die
Stabilität sind ebenfalls umstritten.                             Gesellschaft jedoch auch ökonomische Fragen eine
                                                                  wichtige Rolle. Somit wird die Krankheit selber zur
Zwischen Adipositas und psychosozialer Situation                  ökonomischen Belastung für die Gesellschaft und der
besteht eine wechselseitige Wirkung. Verschiedene                 Kranke sozusagen von ihr in seiner Nützlichkeit bzw.
Studien zeigen auf, dass ein niedriger sozioökonomi-              Schädlichkeit betrachtet (siehe QUALYs; [38]).

Stufenschema zur Prävention von Adipositas

                                                                                    Bariatrische Chirurgie
                                                                       Medikamentöse Unterstützung
                                                                      Self-Management
                                                     Änderung des Life-Styles
Abb. 1: Stufenschema zur Prävention von Adipositas

6
Pathophysiologie und allgemeine Ursachen der Adipositas

(Hauptautor: Prof. Dr. Kurt Laederach) Übergewicht       Bilanz des Energiestoffwechsels
und Adipositas sind immer häufiger auftretende klini-    Grundumsatz GU (basal metabolic rate)
sche Ausdrucksformen von Störungen der Gewichts-         Unter dem GU versteht man den Energieverbrauch
regulation, deren Ursachen vielfältig sind; immer        unter strikten Ruhebedingungen. Er soll in Rücken-
häufiger finden sich Fälle, in denen eine Essstörung     lage, 12-14 Stunden nach der letzten Mahlzeit, kurz
zugrunde liegt. Oft sind die betroffenen Personen        nach dem Aufwachen, bei völliger körperlicher Ruhe,
bereits früher durch andere klinische Präsentationen     fieberfrei und unter thermoneutralen Bedingungen
von Essstörungen aufgefallen (z.B. Bulimie oder Ano-     (27-31 Grad Celsius in unmittelbarer Körperumge-
rexie). Das wiederholte Gespräch mit Betroffenen und     bung) gemessen werden. Der GU deckt den Ener-
die sorgfältige Anamnese vermögen die allermeisten       giebedarf aller inneren Organe, wie z.B. der stoff-
(quantitativen und qualitativen) Abweichungen vom        wechselaktiven Leber, der Nieren, des Gehirns und
normalen Essen aufzudecken [150][89].                    Nervensystems, des Herzmuskels, der Skelettmuskeln
                                                         und der glatten Muskeln usw. Sogar Fettgewebe ver-
Risikofaktoren                                           braucht etwas Energie und vor allem die Skelettmus-
Grundsätzlich können mehrere wesentliche Faktoren        kulatur, selbst wenn sie nicht „arbeitet“ (Fettverbren-
zur Gewichtszunahme führen:                              nung). Die Muskelmasse, d.h. die nicht-fette Masse (in
• Biologische Faktoren: wie Geschlecht, Alter, neu-      der die Muskelmasse den wichtigsten Anteil bildet)
    roendokrine und genetische Faktoren                  bestimmt die Höhe des Grundumsatzes, der somit
• Genetische Variabilität, die im Rahmen einer er-       auch von Geschlecht und Alter abhängt.
    höhten somatischen Vulnerabilität zu verstehen
    sind wie beispielsweise Defekte in Leptinsynthe-     Nicht ganz so streng sind die Bedingungen für den
    se, Leptinrezeptoren, Melanocortinrezeptoren,        Ruhe-Nüchtern-Umsatz (RNU). Dieser wird auch 12-
    Insulinresistenz                                     14 Stunden nach der letzten Mahlzeit, morgens, be-
• Epigenetik (pränatal und postnatal)                    kleidet, bei 24-26 Grad C Raumtemperatur und beim
• Umweltfaktoren, in bezug auf körperlichen, wirt-       bequemen Sitzen oder im Liegen gemessen. Der RNU
    schaftlichen und sozio-ökonomischen Status, in       liegt ca. 5% über dem GU.
    dem die Personen sich entwickeln
• Soziales Umfeld (siehe: [63])                          GU und RNU erfassen alle in Ruhe und postabsorptiv
• umweltbedingte Faktoren wie Nahrungsange-              ablaufenden Arbeitsprozesse wie:
    bot, Food-engineering, Food-processing, Nah-         • Biochemische Reaktionen im Intermediärstoff-
    rungsmittelaromatisierung, erhöhter Fett- und            wechsel für Wachstum, Umbau, Neubildung, Er-
    Zuckeranteil in Fertigprodukten                          haltung und Speicherung der Makronährstoffe
• Verhaltensfaktoren, die sich aus komplexen so-             im Organismus (Glykogen, Proteine und Lipide)
    zio-psychologischen Determinanten wie Ge-            • Transportprozesse: Transport von Metaboliten
    wohnheiten, Emotionen, Verhaltensmuster, Glau-           (Stoffwechselzwischenprodukte) und komplexen
    ben und kognitiven Erfahrungen im Laufe des              Stoffwechselprodukten über Zellmembranen so-
    Lebens entwickeln                                        wie intrazellulär, Ionentransporte bei Nervenakti-
• Bewegungsmangel (sedentary life-style)                     vitäten und Informationsprozessen
• Stress und Schlafmangel                                • unwillkürliche mechanische Arbeit: Herz-Kreis-
                                                             lauf-Arbeit, Atmung, Erhaltung des Muskeltonus
Stets ist im Vergleich zum Verbrauch (Grundumsatz
und Anteil physischer Arbeit) eine erhöhte Kalorien-     Auf Grund des Gesamtenergiebedarfs wird die täg-
bilanz zu beobachten. Eine Gewichtszunahme kann          lich benötigte Grundnährstoffzufuhr berechnet. Be-
auch durch iatrogene Faktoren wie die Einnahme ge-       rechnung des Grundumsatzes (sog. Harris-Bene-
wisser Medikamente ausgelöst werden. Ausserdem           dict Formel):
spielen bei Patienten mit Komorbiditäten die Effekte
von Medikamenten (Neuroleptica, Antidepressiva,           Frauen    REE (kcal / d) = 655 + 9.6 x Körpergewicht in
Insulin, Betablocker u.a) eine Rolle in der Regulation              kg + 1.8 x Grösse in cm – 4.7 x Alter
von Hunger und Sättigung, welche jedoch bezogen           Männer    REE (kcal / d) = 66.5 + 13.8 x Körpergewicht in
auf die Gesamtheit von Patienten mit Adipositas eine                kg + 5.0 x Grösse in cm – 6.8 x Alter
untergeordnete Bedeutung haben [84]
                                                         GU = ca. 40 kcal pro m² Körperoberfläche und Stunde

                                                                                                                  7
(die Körperoberfläche spielt eine grosse Rolle bei der      geschlechts- und altersunabhängig und hängt nur
Wärmeabgabe. Sie lässt sich aus Körpergrösse und            von Art und Menge der aufgenommenen Nahrung
-gewicht berechnen oder einfach anhand eines No-            ab. Sie macht 8 - 15% des täglichen Energieumsatzes
mogrammes ablesen).                                         aus und entspricht 2 - 4% der mit Fett, 4 - 7% der mit
                                                            Kohlenhydraten und 18 - 25% der mit Protein aufge-
Der Grundumsatz steigt mit dem Gewicht und nimmt
                                                            nommenen Energiemenge.
mit dem Alter ab. Es gilt folgende Übereinkunft i.S.v.
                                                            Die postprandiale Thermogenese hält nach einer
Festlegung auf der Basis von mehreren Zehntausend
                                                            proteinreichen Mahlzeit ca. doppelt so lange an wie
Messungen weltweit:
                                                            nach einer kohlenhydrat- oder fettreicher Mahlzeit
 Energieumsatz pro kg Körpergewicht ca. 1 kcal/kg
                                                            gleichen Energiegehaltes.
 pro Stunde
 Energieumsatz pro kg Körpergewicht ca. 25 kcal/kg
 pro Tag
                                                            Energieumsatz
(Durchschnittswerte der deutschen Gesellschaft für Ernäh-
                                                            Der Energieumsatz kann mittels der Kalorimetrie er-
rung (DGE)
                                                            mittelt werden. Da die direkte Kalorimetrie messtech-
                                                            nisch sehr aufwendig ist (Messung der Wärmeabgabe
Der Grundumsatz (GU) deckt den Energiebedarf aller
                                                            des Organismus in einem geschlossenen Raum, sog.
inneren Organe. Er wird bei Frauen folgendermassen
                                                            Kalorimeter), wird heute in der Regel die indirekte
berechnet: 700 + 7 x kg Körpergewicht, bei Männern
                                                            Kalorimetrie angewendet. Deren Prinzip beruht dar-
900 + 10 x kg Körpergewicht.[236]
                                                            auf, dass die Nährstoffe oxidativ zu Wasser (H2O),
Richtwert für einen 25-jährigen Erwachsenen: 100 kJ
                                                            Kohlendioxid (CO2) und stickstoffhaltigen Pro-
(Kilojoule) pro Kilogramm (kg) Körpergewicht (1 kCal
                                                            dukten abgebaut werden. Somit lässt sich der Nähr-
entspricht 4.2 kJ).
                                                            stoffumsatz über die Atemgasanalyse (O2-aufnahme
                                                            und CO2-abgabe) und die Stickstoffausscheidung im
                                                            Urin erfassen und der Energieumsatz unter Verwen-
                                                            dung der bekannten physiologischen Brennwerte
                                                            berechnen. Der Energieverbrauch bzw. -bedarf setzt
                                                            sich aus dem Grundumsatz (GU), der nahrungsin-
                                                            duzierten Thermogenese, dem Kalorienverbrauch
                                                            durch unwillkürliche Bewegungen (sog. Non-Exer-
Tabelle 3: Durchschnittswerte                               cise Activity Thermogenesis, NEAT) und vor allem
                                                            dem Bedarf für körperliche Aktivität (Arbeits- bzw.
(Durchschnittswerte der deutschen Gesellschaft für Ernäh-   Leistungsumsatz) zusammen. Die NEAT und der
rung (DGE); siehe auch [49])                                Leistungsumsatz variieren stark von einer Person zur
                                                            anderen, da sie vom Verhalten abhängig sind und
                                                            vom Fasten, Diäten und Medikamenten (siehe oben)
Postprandiale Thermogenese
                                                            beeinflusst werden können.
Die nahrungsinduzierte Thermogenese (thermoge-
                                                            Bei körperlicher Aktivität kann man den Leistungs-
ne Wirkung der Nahrung) entspricht der Steigerung
                                                            umsatz je nach Belastungsdauer und -intensität mit
des Energieumsatzes nach Nahrungsaufnahme.
                                                            GU x 1.5 bis GU x 2.1 veranschlagen. Während des
Körpertemperatur und Wärmeabgabe an die Um-
                                                            Zeitraums intensiver Muskelarbeit kann ein Mehrfa-
gebung steigen nach der Nahrungsaufnahme. Die
                                                            ches des GU umgesetzt werden. Der Arbeitsumsatz
postprandiale Thermogenese beruht darauf, dass
                                                            bei leichter körperlicher Arbeit macht ca. 30% des
für Verdauung, Resorption und Transport der Nähr-
                                                            GU aus. Generell wird der individuelle Energiever-
stoffe Energie benötigt wird und dass die diskonti-
                                                            brauch bzw. -bedarf gerne überschätzt! Der Energie-
nuierliche Nahrungsaufnahme eine zwischenzeitli-
                                                            verbrauch bei körperlicher Belastung hängt wesent-
che Speicherung von Nährstoffen erfordert, um eine
                                                            lich vom Ausmass der eingesetzten Muskelmasse ab
kontinuierliche Energieversorgung aller Körperzellen
                                                            (je mehr Muskeln arbeiten müssen, desto höher der
zu gewährleisten. Der Energieaufwand für diese Leis-
                                                            Energieumsatz) und natürlich von der Intensität der
tungen bewirkt eine postprandiale Steigerung des
                                                            Muskelarbeit. Am besten kann man den Energiever-
Grundumsatzes. Die postprandiale Thermogenese ist

8
brauch bei einer bestimmten Belastungsintensität          •   Hunger (psychologische Erklärung): Unangeneh-
mittels einer Ergospirometrie ermitteln (Fahrrad oder         mes, teils schmerzhaftes Gefühl in der Magenge-
Laufband), entweder nach der Formel:                          gend bei längerer Zeit ohne Nahrungsaufnahme;
                                                              meist temporär auftretend.
 kcal            = VO2 (Sauerstoffaufnahme x 60 x 5
                                                          •   Appetit: Psychischer Zustand, der sich durch lust-
 pro Stunde in Liter pro Minute)
                                                              voll geprägtes Verlangen, etwas (oft Bestimmtes)
(Faktor 60 = Umrechnung min --> Std, Faktor 5 = Umrech-       zu essen auszeichnet. Appetit kann auch gleich-
nung Liter O2 --> kcal),                                      zeitig auf andere lustvolle Empfindungen ausge-
wobei man für jede Belastungsstufe entsprechend               richtet sein.
der jeweiligen O2-Aufnahme den Kalorienverbrauch          •   Lust: Besonders intensive und angenehme Emp-
errechnen kann, oder, wenn man nur die maximale               findung, die sich entweder in geistiger (Ästhetik,
Sauerstoffaufnahme (VO2max) kennt, den Energie-               Erfolgserlebnis) oder körperlicher (Orgasmus,
verbrauch prozentuell davon ermitteln kann:                   Entspannung) Art äussert.

    z.B. bei 70% VO2max --> VO2max x 0.7 x 60 x 5 .
                                                          Appetenzverhalten/ Sättigung/ Hunger
Eine noch einfachere Ermittlung des Energiever-
brauchs ermöglicht eine Software, die bei jeder Be-       Bezüglich der subjektiv als unangenehm empfunde-
lastungsstufe anhand der Sauerstoffaufnahme (VO2)         nen Reizsituation „Hunger“ führt die Appetenzphase
auch die metabolische Einheit „MET“ errechnet:            zur Suche nach Nahrung, welche bei Erfolg in die End-
1 MET ist die O2-Aufnahme einer erwachsenen               handlung (Konsumation) mündet, so dass der biolo-
Person im Sitzen = 3.5 ml VO2 pro Minute und kg           gische Sinn erfüllt und zugleich der Hunger gesättigt
Körpergewicht.                                            bzw. die Bedürfnisspannung herabgesetzt wird.

          1 MET = 50 kcal/m2 /h = 58 Watt/m2              Sättigung entsteht durch ein komplexes Zusammen-
                                                          spiel zwischen dem Magen-Darm-Trakt und dem
Das Energieäquivalent von 1 MET in kcal/min = ca.         Zentralnervensystem. Diese grundlegenden Regula-
1 kcal pro kg Körpergewicht und Stunde (bei einem         tionsmechanismen werden sehr stark durch kogni-
Körpergewicht von z.B. 70 kg entspricht 1 MET ca. 1.2     tive Faktoren wie Wissen, Einstellungen und Vermu-
kcal/min).                                                tungen sowie durch sensorische Einflüsse (Aussehen,
                                                          Geschmack, Geruch, Konsistenz) verändert. Der Ge-
Man braucht also nur die MET der jeweiligen Belas-        nuss der Nahrung überspielt sehr schnell die Sätti-
tungsstufe, die einen interessiert mit dem Körperge-      gungsregulation und begünstigt eine übermässige
wicht zu multiplizieren, um den Kalorienverbrauch         Energieaufnahme. Dazu kommt, dass die Empfin-
pro Stunde für diese Belastungsintensität zu ermit-       dung des „vollen Bauchs“ seit dem Lebensbeginn
teln. Daneben lässt sich mittels BIA (Bioelektrische      untrennbar mit dem Gefühl der mütterlichen Zuwen-
Impedanzanalyse) der Grundumsatz sowie der täg-           dung und der Geborgenheit verbunden ist. Mangelt
liche Gesamtenergieverbrauch anhand der Körper-           es später an diesem Geborgenheitsgefühl, z.B. im
gewebszusammensetzung in Verbindung mit dem               Rahmen von unerfüllten Beziehungswünschen, so
Ausmass der körperlichen Aktivität ermitteln, wobei       gelingt es mit Essen diese Spannung kurzfristig ab-
diese Messmethode bei Über- und Untergewicht sehr         zubauen. Durch diese Mechanismen verliert Essen
ungenau ist da sie auf Nomogrammen beruht.                seine ursprüngliche physiologische Funktion und
                                                          wird mehr zu einer Bewältigungsstrategie negativer
                                                          Gefühle [91] Es treten damit unwiderstehliche Essge-
Regulation von Hunger und Sättigung                       lüste („food-craving“) auf, denen nachgegeben wird
                                                          und die zur Aufnahme unverhältnismässiger Mengen
•     Hunger (physiologische Erklärung): Empfindung,      an Nahrungsmitteln („binge eating“) führen, häufig
      die auftritt, wenn ein bestimmtes Glycogenni-       nachts („night-eating“) und in schwierigen Lebensla-
      veau in der Leber unterschritten wird. Das in der   gen (problem eating). Ein Gefühl der Sättigung wird
      Regel unangenehme Gefühl selbst, entsteht im        oft nicht mehr verspürt [48]. Betreffend der Emotio-
      Hypothalamus und wird durch Rezeptoren in Le-       nalität sind verschiedene Affekte im Essverhalten und
      ber und Magen ausgelöst.                            im Auslösen von Ess-Episoden oder sogar Essanfällen

                                                                                                              9
zu erwähnen. Diese sind auch geschlechtsspezifisch        on zurückzuführen sind [201]. Kurzzeitige Interventi-
[141]. Allgemein kann gesagt werden, dass Trauer          onen mit einer Hormonersatztherapie (mit oder ohne
wie Ärger bei Frauen wichtigere Impulse für impulsi-      gleichzeitige Androgengabe) können helfen, die
ves Essverhalten oder sensorisches Essen darstellen       Muskelmasse zu erhalten und die Fettansammlung
als bei Männern. Andererseits stellen bei beiden Ge-      geringer ausfallen zu lassen. Dabei sind andere wirk-
schlechtern Freude für ein hedonistisches Essverhal-      same Interventionen (gesunde Ernährung, erhöhte
ten deutlich der Ängstlichkeit oder Trauer vor, wobei     Bewegungsaktivität) nicht zu vernachlässigen.
Trauer auf der anderen Seite beim sensorischen Essen
wichtiger erscheint.                                      Gleiches gilt – mutatis mutandur – ebenfalls für Män-
                                                          ner, die besonders an den Folgen der Andropause mit
                                                          verminderter Bewegungsaktivität, grösserer Einlage-
Adipositas                                                rung von Speicherfetten im Abdomen zusammen
                                                          mit Veränderungen der Lebensgewohnheiten lei-
Als kritische Lebensphase für die Entwicklung von         den. Alle diese Faktoren sind grundsätzlich obesogen
Übergewicht und Adipositas wird (neben der frühen         und können gegebenenfalls wie oben erwähnt mit
Kindheit, Pubertät, Schwangerschaft) die Menopause        vermehrter bewusster Bewegungsaktivität teilweise
angesehen. Die Verminderung von Östradiol, Proges-        kompensiert werden.
teron und Testosteron scheint verschiedene Einflüsse
auf die Nahrungsaufnahme, aber auch auf die Wir-
kung der körperlichen Aktivität zu haben. Die ver-        Pharmakologische Einflussfaktoren
minderte Hormonwirkung erhöht das Risiko zu einer
Gewichtszunahme.                                          Es gibt eine Reihe von Medikamenten, die für andere
                                                          Indikationen verschrieben werden, jedoch einen Ein-
Die Gewichtsveränderungen im Klimakterium va-             fluss auf die Gewichtsentwicklung ausüben können
riieren zwischen +2,25 kg während drei Jahren und         [170]. Gewichtszunahme als Nebenwirkungen von
+5,4 kg während der ersten acht Jahren nach der Me-       bestimmten Antidepressiva und Neuroleptica ist ein
nopause [191]. Die regionale Fettverteilung gilt als      wichtiger Faktor und sollte sorgfältig überwacht wer-
starker Prädiktor für Adipositas-assozierte Gesund-       den.
heitsrisiken. Die Körperfettverteilung wird dabei teil-
weise hormonell kontrolliert, so dass besonders bei
zentral-adipösen (mit vermehrtem viszeral-adipösen)
Frauen ein androgenes Profil häufiger ist. Das NIH-Ex-
perten-Panel empfiehlt für die Identifizierung von
individuellen Gesundheitsrisiken die Bestimmung
der geschlechtsspezifischen Waist Circumference.
Bei Frauen wird dabei mit einem erhöhten Risiko ab
>88 cm gerechnet (variiert je nach ethnischem Hin-
tergrund).

In einer Untersuchung zu Körperfettanteilen und
Knochendichte bei gesunden prämenopausalen
Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren mittels BIA (body
impedance analysis) und DEXA (dual-energy x-ray ab-
sorptiometry) fanden Sowers et al. [197], dass bereits
bei jungen Frauen ein niedrigerer Muskelanteil ein Ri-
sikofaktor für tiefe Knochendichte darstellt. Ein hoher
Fettanteil wirkt nur dann protektiv, wenn gleichzeitig
ein hoher Anteil an Muskelsubstanz nachweisbar ist        Tabelle 4: Effekt von Medikamenten
[203]. Frauen in der Menopause weisen oft eine ver-
minderte Muskelmasse (Sarkopenie) und gleichzeitig         Nach George A. Bray Effekt von Medikamenten auf das Gewicht
eine erhöhte abdominale und periphere Fettmenge            2001 [52]
auf, welche beide auf die veränderte Hormonsituati-

10
Essverhaltensstörungen                                   Unbehagen beim Essen mit anderen Personen oder
                                                         sozialer Rückzug und Isolation aufgrund des abwei-
Die Störungen des Essverhaltens haben in den letz-       chenden Essverhaltens.
ten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Die Be-
troffenen berichten über lang andauernde Unzu-
friedenheit mit der eigenen Figur und haben bereits      Binge Eating Störung
mehrere Diätversuche hinter sich, bevor sich ein klar
erkennbares Krankheitsbild äussert. Auch Knaben          Binge Eating Disorder: ca. 5-10% der übergewichti-
und Männer, v.a. aus dem leistungssportlichen Be-        gen Menschen, besonders bei Erwachsenen im mitt-
reich, sind zunehmend betroffen. Die heute gültige       leren Lebensalter (bei übergewichtigen Erwachsenen
Konzeptualisierung von Essverhaltensstörungen geht       mit Teilnahme an Programmen zur Gewichtreduktion
nicht mehr von einer strikten Unterteilung in die drei   bis 25%). Allgemein steigt die Rate an binge-eating
Entitäten „Magersucht“, „Bulimie“ und „Übergewicht“      Störungen mit steigendem BMI; so leiden unter den
aus, sondern von einem Essstörungskontinuum. Sie         Personen mit BMI über 35 kg/m2bis zu 40% unter ei-
berücksichtigt dabei, dass immer mehr Zwischen-          ner binge eating Störung, solche über BMI 40 bis über
und Mischformen, sog. EDNOS (Eating Disorders            60% [131].
not otherwise specified) vorkommen. Darunter fal-
len beispielsweise Übergewicht mit gelegentlichen        Entgegen früheren Annahmen werden Essstörun-
Ess-Brech-Anfällen sowie auch abführendes und ge-        gen aufgrund des oben beschriebenen fliessenden
wichtskontrollierendes Verhalten mittels Laxantien,      Überganges von verändertem über gestörtem bis
Diuretica und/oder übermässiger körperlicher Aktivi-     manifest gestörtem Essverhalten als Kontinuum be-
tät bei Normalgewicht.                                   schrieben. Kagan und Squires beschrieben 1984 erst-
                                                         mals die Idee der Kontinuumshypothese [112]. Hinzu
Es ist in den letzten Jahren klar geworden, dass be-     kommen andere, noch nicht klassifizierte Störungen
troffene Personen im Laufe ihres Lebens häufiger         wie: night eating (nächtliches anfallsweises Essen),
von einem Störungsbild ins andere überwechseln:          problem eating (Essen zur Spannungsminderung
So bewältigt ein Mädchen beispielsweise sein kind-       bei Problemen und emotionalem Upset), craving
liches Übergewicht und die damit verbundene so-          (zwanghafte, unstillbare Gier nach Essen mit Einver-
ziale Ächtung durch striktes Fasten, erlebt dadurch      leiben von Speisen, ohne dass Hunger oder Sättigung
ein aufwertendes Kontrollgefühl und entwickelt eine      eine Rolle spielen), snacking (Zwischendurch-essen)
Pubertätsmagersucht, rutscht später ab in den Kont-      und nibbling (ständiges, oft nahe am Zwang ste-
rollverlust mit Übergang in eine Ess-Brech-Sucht, bis    hendes Naschen). Beide letztere sind besonders mit
im Erwachsenenalter nach Wegfall des Erbrechens          der Auflösung des normalen Mahlzeitenrhythmus
sich erneut ein Übergewicht installiert. Ebenso hat      verbunden. Eigentliche Hauptmahlzeiten existie-
sich die einseitige Zuteilung der Magersucht/ Bulimie    ren nicht mehr – es reiht sich „Zwischenmahlzeit an
zu den psychiatrischen, respektive der Adipositas zu     Zwischenmahlzeit“. Von Betroffenen werden sie als
den somatisch-medizinischen Krankheitsbildern als        höchst traumatisch beschrieben und führen zu star-
unhaltbar erwiesen [133].                                ken Schuldgefühlen und zur Selbstabwertung.

Allen Essstörungen ist gemeinsam, dass Verhaltens-       Im Versuch die Kontinuums-Hypothese für die Patien-
probleme sowie kognitive, emotionale und interper-       ten mit Normal- bis Übergewicht zu überprüfen, fan-
sonale Probleme eng miteinander verbunden sind.          den Fitzgibbon et al. [82] eine Bestätigung dieser
Betroffene versuchen verzweifelt, durch Manipula-        kontinuierlichen Sichtweise bei Patientinnen mit den
tion von Nahrungsaufnahme und Körpergewicht              Störungsbildern Adipositas, Binge Eating Störung
psychischen Stress oder Anpassungsschwierigkeiten        und Bulimie sowie zwei dazwischen liegenden Sub-
zu beheben oder zu regulieren. Das Verhalten und         gruppen „subklinischem Binge Eating“ und „subklini-
das Selbstwertgefühl hängen oft enorm oder sogar         scher Bulimie“. In einer Untersuchung zu latenten Kri-
vollständig von der subjektiven Wahrnehmung der          terien der Essverhaltensstörungen fanden Williamson
eigenen Figur und des eigenen Körpergewichts ab.         et al. [215] drei zentrale Merkmale: Binge Eating,
Weitere gemeinsame Elemente sind emotionale Ver-         Furcht vor Dicksein/kompensatorisches Verhalten
änderungen wie Stimmungslabilität, depressive Sym-       und Trieb zum extremen Dünnsein, die ebenfalls für
ptomatik etc. und psychosoziale Veränderungen, z.B.      den fliessenden Übergang der verschiedenen Aus-

                                                                                                           11
prägungsformen aller Essstörungen sprechen. Sehr                      einem weitverbreiteten, vielschichtigen und alter-
viele Übergewichtige sind in einem Kreislauf gefan-                   sunabhängigen Phänomen geworden.
gen, in dem sich ein kurzfristiger Gewichtsverlust mit
früher oder später erfolgender erneuter Gewichtszu-
nahme abwechselt. Diese zirkuläre Beschäftigung mit                   Modelle des Essverhaltens
Restriktion, Durchbruch und Ausufern ist in der nach-
                                                                      Essen und Nahrung spielen eine zentrale Rolle in un-
folgenden Abbildung dargestellt [131].
                                                                      serem Alltag und sind damit ein wichtiger Bestandteil
                                                                      unseres Lebens. Die Motivation Nahrung aufzuneh-
                                                                      men ist vielseitig. Die Gefühle oder Empfindungen
                                                                      „Hunger“ sowie „Lust“ oder „Appetit“ sind häufig eng
                                                                      mit einem bestimmtem Geschmacksreiz verbunden,
                                                                      alle drei scheinen ältere Motive zu sein. In früheren
                                                                      Jahrzehnten sei - so schreiben Pudel & Westenhöfer
                                                                      [211] in einem historischen Rückblick - die Nahrungs-
                                                                      wahl nicht aus Vernunftsgründen sondern aufgrund
                                                                      des Nahrungsangebotes getroffen worden. Unklar
                                                                      bleibt, wieso das Ausmass an Essverhaltensstörungen
                                                                      derart massiv in den letzten Jahren zunimmt. Nach-
                                                                      folgend werden Theorien zum Essverhalten diskutiert
Abb. 2: Verhaltenskreis des Essens                                    und in einem neuen Gesamtmodell vorgestellt [146]:
Verhaltenskreis des Essens mit klinischer Präsentation, kognitiven
Kontrollmechanismen und emotionalen Zuständen. Die klinischen
Bilder stellen sich als „Durchgangspräsentationen“ derselben Grund-   Das Drei-Komponenten-Modell
verhaltensstörung des Essens dar [131]
                                                                      Die Steuerung des Essverhaltens beruht gemäss Pu-
Nebst den Aspekten des Geschmacks und der Varian-                     del [170] auf einem Drei-Komponenten-Modell. Pri-
tenvielfalt ist Essen und Essverhalten durch unseren                  märe und sekundäre Motive entwickeln sich zu unter-
sozialen und kulturellen Kontext geprägt. Essverhal-                  schiedlichen Zeitpunkten im Leben, die als
ten bedeutet in verschiedenen Ländern etwas ande-                     Steuerungsaspekte beschrieben werden und sich
res. Allen gleich ist die Nahrungszufuhr, die Art und                 während dem gesamten menschlichen Leben zu be-
Gestaltung des Aktes hingegen ist verschieden. Essen                  stimmten Zeitpunkten gegenseitig ablösen. Es sind
ist ein Grundbedürfnis, um die physiologischen Spei-                  dies die Innensteuerung, die Aussensteuerung und
cher zu füllen. Dadurch steht die Nahrungsaufnahme                    die kognitive Steuerung des Essverhaltens. Die Innen-
in enger Verbindung mit dem Energieverbrauch (engl.                   steuerung versteht Pudel [170] als die biologische Re-
Energy Expenditure) und der Körperfülle. Früher galt                  gulation; die Aussensteuerung hingegen sei das Er-
die Körperfülle als Symbol für Wohlstand und Erfolg.                  gebnis von kulturell-familiären Verhaltensweisen.
Maler bevorzugten deshalb füllige Menschen für ihre                   Dabei würden sich die beiden Aspekte teils konkur-
Bilder. Übergewichtigen wurde Reichtum, Ausgegli-                     rieren und erstere könne je nach soziokulturellem
chenheit und Gemütlichkeit attestiert. Dies hat sich                  Normendruck mit dem zunehmenden Alter an Regu-
in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Überge-                  lationsfähigkeit verlieren (siehe Abbildung 2).
wicht bedeutet nicht mehr Erfolg sondern Misserfolg.
Schlanksein ist heutzutage das erstrebenswerte Ziel
und wird mit den Attributen dynamisch, begehrens-
wert, attraktiv und glücklich gleichgesetzt. Gerade
in den Medien gewinnt dieses Schlankheitsideal seit
den 80er Jahren zunehmende Beachtung. Das Durch-
führen von Diäten führt die „Hitliste“ der Massnah-
men zur Erreichung des Schlankheitsideals an. Bereits
in einer Untersuchung von 1989 fanden die beiden
Autoren Westenhöfer und Pudel [210] dass jede zwei-
te Frau und jeder vierte Mann zum Zeitpunkt der Un-                   Abb.3: Zeitliche Veränderung der Wechselwirkung der Steuerungs-
tersuchung bereits mindestens eine Diät hinter sich                   mechanismen
hatte. Diätverhalten ist demzufolge mittlerweile zu                   (aus Pudel & Westenhöfer, S. 47 [172]

12
Petermann & Häring [164] stellten in ihrer Arbeit die   Sattheit, sowie eine dazwischenliegende Zone. Hun-
familiären Einflussfaktoren auf das Essverhalten bei    ger dient dabei biologisch gesehen zur Verhinderung
adipösen Kindern zusammen. Dabei erachteten sie         von einem Mangel an Energiezufuhr, im Sinne einer
die Aspekte des Modelllernens und der Verstärkung       Minimalaufnahme. Sattheit entspricht dem Völlege-
eines Essmusters bei der Entstehung des Überge-         fühl als obere Grenze der Energiezufuhr. Die dazwi-
wichts als wesentlich beteiligt.                        schen liegende Zone (siehe Abb. 3) wird gemäss Her-
                                                        man und Polivy weitgehend durch psychologische
                                                        Faktoren beeinflusst.
Kognitive Theorie nach Bruch

Hilde Bruch [55] vertrat den Ansatz, dass Überge-
wichtigen die Differenzierung körperlicher Bedürf-
nisse (wie Hungergefühle) und emotionaler Erregung
fehlen würde. In ihrem Konzept [56] führte sie diese
Differenzierungsprobleme auf die Erfahrungen in
der Kindheit zurück, in welcher die Mutter inadäquat
auf die unterschiedlichen Bedürfnisse des Kindes re-
agierte.                                                Abb.4: Boundary Modell nach Herman & Polivy
                                                        (aus Westenhöfer, S.19 [212])

Externalitätstheorie                                    Für Normalgewichtige reguliert sich das Essverhal-
                                                        ten zwischen den beiden Grenzen automatisch und
Auf der Grundlage des Bruch’schen Konzeptes entwi-      unbewusst. In Untersuchungen fanden Herman und
ckelte Schachter [177][178] die Externalitätstheorie.   Polivy [102] bei Übergewichtigen eine hohe Anzahl
Im Gegensatz zu Bruch wies er den externen Reizen       von Betroffenen, die sich einer chronischen Ein-
für die Steuerung des Essverhaltens besonderen Wert     schränkung der Kalorienzufuhr unterziehen. Diese
bei. Heute wird angenommen, dass die von Schach-        sogenannten Restraint Eaters oder gezügelte Esser
ter [178] bezeichnete Aussenreizabhängigkeit im Sin-    [102] charakterisieren sich durch eine Steuerung
ne der Externalitätstheorie eine Folge des gezügelten   des Verhaltens mittels erhöhter kognitiver Kontrolle.
Essverhaltens sein muss.                                Dies führt dazu, dass gerade in Stresssituationen die
                                                        Aufrechterhaltung der kognitiven Kontrolle verloren
                                                        gehen kann, so dass Essattacken die Folge sind. In
Set-point Theorie                                       späteren Untersuchungen konnte der enge Zusam-
                                                        menhang von gezügeltem Essverhalten und Überge-
Eine Forschungsgruppe um Nisbett und Herman ver-        wicht bestätigt werden [201]. Studien zu Stressinduk-
öffentlichten ein alternatives Konzept zum Essverhal-   tion und Essverhalten konnten die Idee der erhöhten
ten, welches als Ursache das wiederholte Hungern        Aufmerksamkeitsanforderung bei gezügelten Essern
in Diätversuchen als Folge von sozialem Druck, nor-     und die damit erhöhte Anfälligkeit von erhöhter Nah-
malgewichtig sein zu müssen, ersieht. Dabei vertrat     rungsaufnahme unter oder nach unterschiedlichen
Nisbett [158][159] einen eher biologischen Ansatz       Stressbedingungen bei gezügelten Essern bestäti-
(Set-point-Theorie) mit der Annahme, dass sich Über-    gen.
gewichtige häufig Diäten unterwerfen und aufgrund
des Hungerns vermehrt auf essrelevante Aussenreize      Die Ursachen für eine Veränderung eines bestimm-
reagieren.                                              ten Essverhaltens oder Essmusters kann anhand der
                                                        beschriebenen Modelle jeweils nur für einen Teil der
                                                        Essgestörten erklärt werden. Unklar bleiben die ur-
Grenzmodell                                             sprünglichen Mechanismen oder Prädispositionen,
                                                        die zu einer langfristigen Anpassung eines physio-
Herman und Polivy [102] übernahmen diesen An-           logischen Grund-bedürfnisses wie „Nahrungszufuhr“
satz und erweiterten ihn zu einem Grenzmodell des       oder „Essverhalten“ führen können.
Essverhaltens oder Boundary-Modell genannt. Es be-
schreibt einerseits die beiden Grenzen Hunger und

                                                                                                         13
Sie können auch lesen