PATIENTENLEITLINIE "Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter" - AG ADHS
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ADHS Deutschland e. V. Leitlinie 53 PATIENTENLEITLINIE „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ Anpassung der oben genannten Leitlinie für Patienten, Angehörige und Interessierte Klaus-Peter Grosse, Klaus Skrodzki Die S3-Leitlinie wurde federführend entwickelt von der unter Berücksichtigung der Korrekturvorschläge Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, von ADHS-Deutschland e. V., Sabina Millenet, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), der Deut- Wolfgang Retz, Ulrich Kohns und schen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Kirsten Stollhoff Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendme- dizin (DGSPJ). Vorbemerkungen An der Leitlinie zu ADHS im Kindes-, Jugend- und Er- Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird in der an- wachsenenalter waren viele Fachleute beteiligt: Kinder- gepassten Leitlinie für Patienten nur die männliche Form und Jugendärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Psy- verwendet. Es sind stets Personen aller Geschlechter glei- chologen, Psychiater, Psychotherapeuten, Nervenärzte, chermaßen gemeint. Ergotherapeuten, Heilpädagogen, Motopäden sowie Pati- enten- und Angehörigenvertreter. Was ist eine Leitlinie für Patienten? Die Handlungsempfehlungen stützen sich auf das beste derzeit verfügbare medizinische Wissen. Dennoch ist eine Mit einer Leitlinie für Patienten sollen Inhalte einer von Leitlinie keine Zwangsvorgabe. Jeder Mensch hat seine ei- Fachleuten erstellten Leitlinie in eine allgemeinverständ- gene Krankengeschichte und eigene Wünsche. In begrün- liche Sprache übertragen werden. Die Empfehlungen der deten Fällen muss der Behandelnde sogar von den Emp- Leitlinie für Patienten beruhen auf dem besten derzeit ver- fehlungen einer Leitlinie abweichen. fügbaren Wissen. Damit werden bei ihrer Erstellung die Die Leitlinie für Fachleute (Langfassung und Kurzfassung) Qualitätsanforderungen an verlässliche Patienteninforma- ist im Internet frei zugänglich: tionen berücksichtigt. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-045.html. Dort sind auch die Literaturstellen aufgelistet, auf denen Was ist die Grundlage für diese Leitlinie für Patienten? Aussagen der dieser Leitlinie beruhen. Grundlage dieser Leitlinie für Patienten ist die S3-Leit- Wer sind die Zielgruppen dieser Leitlinie für Patien- linie „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung ten, Angehörige und Interessierte? (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“. S3 bedeutet, dass die Leitlinie nach den höchsten Ansprüchen • Von ADHS betroffene Menschen sowie deren Angehöri- erstellt wurde, die in Deutschland gelten. Neben allgemei- ge und andere Bezugspersonen; nen Informationen über das Krankheitsbild ADHS enthält • interessierte Personen, die sich eingehender informieren diese Leitlinie Handlungsempfehlungen für Ärzte, Psycho- möchten; therapeuten und andere Berufsgruppen, die Patienten mit • Selbsthilfeorganisationen; ADHS betreuen. Da sie für Fachleute geschrieben wurde, • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Patienteninforma- ist sie nicht für jeden verständlich. In der vorliegenden tions- und Beratungsstellen; Leitlinie für Patienten übersetzen wir die Empfehlungen in • ärztliche Fachgruppen, Angehörige anderer Heil- und eine allgemein verständliche Sprache. Dabei orientiert sich Gesundheitsberufe sowie Fachleute verschiedener Ver- die Patientenleitlinie eng an der Leitlinie für Fachleute, sorgungsstrukturen; gibt diese aber nicht in voller Ausführlichkeit und im Ori- • die Öffentlichkeit. ginal-Wortlaut wieder. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
54 Leitlinie ADHS Deutschland e. V. Was sind die Ziele dieser Leitlinie für Patienten, Ange- die Expertengruppe aufgrund ihrer eigenen Erfahrung ge- hörige und Interessierte? meinsam ein bestimmtes Vorgehen empfehlen, das sich in der Praxis als hilfreich erwiesen hat. Das nennt man einen • Die Zielgruppen sollen über die in der von Fachleuten „Expertenkonsens“. erstellten Leitlinie empfohlene Versorgung und diesen In dieser Leitlinie wurde diese Benennung für den Emp- Empfehlungen zugrunde liegenden Erkenntnisse in all- fehlungsgrad übernommen. Wenn dort steht, Ihr Arzt oder gemeinverständlicher Sprache informiert werden. Ihr Psychotherapeut soll, sollte oder kann so oder so vor- • Der Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung in gehen, dann wird damit der Empfehlungsgrad der Leitlinie der Betreuer-Patient-Beziehung soll gefördert werden. wiedergegeben. Wenn die Empfehlung nicht auf Studien- • Die aktive Beteiligung der Betroffenen am Behandlungs- daten, sondern auf Expertenmeinung beruht, wird dies mit prozess soll gefördert werden. „Expertenkonsens“ beschrieben. • Die Zusammenarbeit aller an der Behandlung beteiligten medizinischen Berufsgruppen soll dargestellt werden. Allgemein zu ADHS • Der Austausch mit anderen Betroffenen soll gefördert werden. Was ist ADHS? • Auf weitergehende Informationsmöglichkeiten soll hin- gewiesen werden. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine in der Kindheit beginnende Entwicklungsstörung Wie werden die Empfehlungen in der Leitlinie bewertet? mit den Kernsymptomen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und/oder motorische Unruhe. Diese Symptome1 müssen Die Empfehlungen einer Leitlinie beruhen soweit wie mindestens 6 Monate anhalten, in verschiedenen Lebens- möglich auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. bereichen auftreten und mit einer zumindest mäßigen Be- Manche dieser Erkenntnisse sind eindeutig und durch aus- einträchtigung im sozialen- und Leistungsbereich einher- sagekräftige Studien abgesichert, haben damit eine „hohe gehen. Evidenzstärke“. Andere wurden in Studien beobachtet, Die Symptome und die mit ihr verbundenen Funktions- von denen anzunehmen ist, dass sie zuverlässige Ergebnis- einschränkungen bleiben in vielen Fällen bis ins Erwachse- se liefern. Sie haben damit eine „moderate Evidenzstärke“. nenalter bestehen. Manchmal gibt es in unterschiedlichen Studien auch wi- dersprüchliche Ergebnisse, die haben dann eine „schwache Wie verändert sich die Ausprägung der Kernsymptome / sehr schwache Evidenzstärke“. mit dem Alter? Alle Daten werden einer kritischen Wertung durch eine Expertengruppe unterzogen. Berücksichtigt wird dabei Die Kernsymptome der ADHS sind in den verschiedenen auch, wie bedeutsam ein Ergebnis aus Sicht der Betroffe- Altersstufen unterschiedlich ausgeprägt. nen ist. Das Resultat dieser gemeinsamen Abwägung spie- Im Vorschulalter steht meist die starke Bewegungsunruhe gelt sich in den Empfehlungen der Leitlinie wider: Je nach und Hyperaktivität im Vordergrund. Auch im Schulalter Datenlage und Einschätzung der Leitliniengruppe gibt es wird ein Kind mit ADHS zu einem großen Teil in Situa- unterschiedlich starke Empfehlungen. Das wird auch in der tionen auffallen, in welchen von ihm erwartet wird, ruhig Sprache ausgedrückt: sitzen zu bleiben. Ab dem Jugendalter zeigt sich die Hyper- • „ soll“ (starke Empfehlung): Nutzen und/oder Risiko aktivität oftmals nicht mehr in gesteigerter körperlicher sind eindeutig belegt und sehr bedeutsam, die Ergebnis- Aktivität, sondern vielmehr in Form von innerer Unruhe se stammen aus sehr gut durchgeführten Studien („Evi- oder Fahrigkeit. Diese innere Form der Unruhe bleibt auch denzstärke hoch“); im Erwachsenenalter noch bestehen. • „sollte“ (Empfehlung): Nutzen und/oder Risiko sind Auch das Symptom der Unaufmerksamkeit verändert sich belegt und bedeutsam, die Ergebnisse stammen aus gut im Lauf der Entwicklung. Die Störung der Aufmerksam- durchgeführten Studien(„Evidenzstärke moderat“); keit ist besonders im Schulalter offensichtlich, zumal die • „ kann“ (Empfehlung offen): Die Ergebnisse stammen kontinuierliche konzentrierte Mitarbeit eine wesentliche entweder aus weniger hochwertigen Studien, oder die Anforderung an Schulkinder darstellt und eine Störung der Ergebnisse aus zuverlässigen Studien sind nicht eindeu- Konzentration im Unterricht direkt beobachtbar und fest- tig („Evidenzstärke schwach / sehr schwach“), oder der stellbar ist. Mit zunehmendem Alter erhöht sich entwick- belegte Nutzen ist nicht sehr bedeutsam. lungsbedingt die Aufmerksamkeitsspanne, doch bleibt sie Manche Fragen sind für die Versorgung wichtig, wurden aber nicht in Studien untersucht. In solchen Fällen kann 1 Symptome - Krankheitszeichen Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
ADHS Deutschland e. V. Leitlinie 55 im Vergleich mit Gleichaltrigen ohne ADHS häufig redu- Bei Personen, die von ADHS betroffen sind, kommen be- ziert, was auch im Erwachsenenalter den Alltag Betroffener stimmte Erbanlagen häufiger vor als in der sonstigen Bevöl- noch erheblich einschränken kann. kerung. Jede einzelne dieser Erbanlagen erhöht das Krank- Auch die Impulsivität geht üblicherweise mit zunehmen- heitsrisiko für ADHS allerdings nur in geringem Maß. Erst dem Alter zurück, bringt aber auch längerfristig erhebliche in ihrer Kombination und in Wechselwirkung mit Umwelt- Funktionseinschränkungen im Alltag mit sich. faktoren tragen sie zur Entstehung einer ADHS bei. Angesichts der entwicklungsabhängigen Abnahme ADHS- typischer Symptome nimmt die Häufigkeit von ADHS Was ist über die Bedeutung von Umwelteinflüssen bei vom Kindes- und Jugendalter bis ins Erwachsenenalter hin der Entstehung von ADHS bekannt? ab. Etwa 50 bis 80% der im Kindesalter Betroffenen weisen auch als Erwachsene noch ADHS-Symptome auf. Ein Drit- Kinder von Raucherinnen haben ein zwei- bis vierfach er- tel zeigt sogar noch das Vollbild der Störung. höhtes Risiko, eine ADHS zu entwickeln. Unklar ist aller- dings, ob dabei das Nikotin in der Schwangerschaft oder Wie häufig ist ADHS? andere mit dem Rauchen verbundene Risikofaktoren wie etwa eine ADHS bei der Mutter eine ursächliche Rolle ge- Bei Kindern und Jugendlichen wurde ADHS in 5,3% bei spielt hat. Bei weiteren Umweltgiften besteht der Verdacht, Untersuchungen an größeren Bevölkerungsgruppen gefun- an der Entstehung von ADHS beteiligt zu sein, so zum Bei- den, wobei international keine wesentlichen Unterschiede spiel für PCB (polychloriertes Biphenylen), wenn Mütter bestehen. In Deutschland ist nach Elternberichten eine in der Schwangerschaft einer erhöhten Belastung mit PCB Diagnosehäufigkeit von etwa 5% anzunehmen. Im Erwach- ausgesetzt waren, oder für Blei, für das erhöhte Werte im senenalter wurde eine Häufigkeit von 2,5% festgestellt. Blut von Kindern mit ADHS gefunden wurden. Die ur- sächliche Bedeutung dieser Umweltgifte ist aber noch un- Welche Risiken können mit ADHS einhergehen? geklärt. Auch Frühgeburtlichkeit wird als Risikofaktor diskutiert, ADHS ist mit funktionellen Beeinträchtigungen verbun- da ADHS bei Frühgeborenen häufiger ist als bei Reifgebo- den, die häufig zu Problemen im Bereich von Schule, Aus- renen. bildung und Beruf und zu sozialen Schwierigkeiten in der Ungünstige psychosoziale Bedingungen wie Armut, Ver- Familie, im Kontakt mit Gleichaltrigen und Beziehungs- nachlässigung, psychische Erkrankungen der Eltern sind partnern führen. bei Kindern mit ADHS häufiger. Längsschnittstudien haben gezeigt, dass von ADHS be- troffene Erwachsene einen niedrigeren Ausbildungsstand Wie wirken Erbanlagen und Umwelteinflüsse zusammen? erreichen, ein geringeres Einkommen und eine geringere berufliche Stellung haben, ein erhöhtes Risikoverhalten Ob und wie sich bestimmte Umwelteinflüsse bei einer Per- zeigen, häufiger in Verkehrsunfälle verwickelt sind und son auswirken, kann davon beeinflusst werden, welche Erb- häufiger Gesetzesübertretungen begehen. anlagen diese Person hat. Welche Ursachen hat ADHS? Welche Besonderheiten des Gehirns gibt es bei ADHS? Die Ursachen von ADHS sind verschiedenartig und bisher Im Vergleich zu einer Gruppe von gesunden Kindern ha- noch nicht vollständig geklärt. ben Kinder mit ADHS ein etwas kleineres Gehirn. Stär- Sicher ist, dass dabei viele sich gegenseitig beeinflussende ker ausgeprägt ist diese Volumenminderung in verschie- Faktoren beteiligt sind. Eine entscheidende Rolle spielen denen Bereichen des Stirnhirns, im Nucleus caudatus2 dabei erbliche Veranlagungen und Umwelteinflüsse in der und im Kleinhirn. Sie ist umso stärker, je schwerer die Zeit vor, während und kurz nach der Geburt, die die Ent- ADHS-Symptomatik ist. wicklung von Aufbau und Funktion des Gehirns beeinflus- Als funktionelle Besonderheiten zeigten Kinder mit ADHS sen. eine geringere Hirnaktivität in Stirnhirnbereichen und ver- änderte Aktivierungsmuster im vorderen Hirnwindungs- Was ist über die erbliche Veranlagung für ADHS bekannt? gürtel, im Stirnhirn und weiteren damit in Verbindung stehenden Hirn- und Kleinhirnstrukturen. Eine vermehrte ADHS tritt in Familien gehäuft auf. Bei Geschwistern oder Aktivierung zeigten hingegen Bereiche, die mit dem Sehen, Eltern erkrankter Kinder liegt die Wahrscheinlichkeit zwi- schen 10 und 35%, ebenfalls an ADHS erkrankt zu sein. 2 Nucleus caudatus – Schweifkern, Teil der Basalganglien neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
56 Leitlinie ADHS Deutschland e. V. der räumlichen Wahrnehmung und Verarbeitung moto- DSM-5 unterscheidet drei Erscheinungsbilder einer rischer Reize verbunden sind. Das lässt darauf schließen, ADHS: vorwiegend unaufmerksames, vorwiegend hyper- dass Kinder mit ADHS Reize anders verarbeiten als gesun- aktiv-impulsives oder gemischtes Erscheinungsbild, je nach- de Kinder. Weitere Besonderheiten der Hirnströme konn- dem, welche der drei Kernsymptome besonders ausgeprägt ten im Ruhe-EEG3 und auch bei durch Reize hervorgerufe- vorhanden sind, Beginn vor dem Alter von 12 Jahren. nen EEG-Veränderungen gefunden werden. Bei welchen Personen sollte eine ADHS-Diagnostik All diese Unterschiede ließen sich nur im Gruppenver- durchgeführt werden? gleich zwischen Kindern mit ADHS und gesunden Kin- dern zeigen. Sie sind nicht ausschließlich bei ADHS zu fin- Eine diagnostische Abklärung auf ADHS sollte veranlasst den und nicht bei jedem Kind mit ADHS gleichermaßen. werden bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die Auch ist noch unklar, inwieweit diese Besonderheiten des folgende Auffälligkeiten aufweisen: Entwicklungsstörun- Gehirns Ursache oder Folge der Symptomatik sind. gen oder Lern- / Leistungsprobleme oder Verhaltenspro- bleme oder andere in Frage kommende psychische Stö- Empfehlungen rungen (siehe unten) und bei denen diese Probleme mit Hinweisen auf Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit DIAGNOSTIK und Konzentration oder auf erhöhte Unruhe oder Impulsi- vität kombiniert sind. Welche Kriterien müssen für die Diagnose ADHS er- füllt sein? Wer sollte eine ADHS-Diagnostik durchführen? Für die Diagnose ADHS müssen die Diagnosekriterien Bei Kindern und Jugendlichen sollte dies durch einen nach DSM4-5 oder ICD5-10 (das sind internationale Klas- Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psycho- sifikationssysteme für Krankheiten) erfüllt sein. Dazu muss therapie, einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeu- unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne ten oder einen psychologischen Psychotherapeuten mit deutliche Hyperaktivität ausgeprägt sein, nicht dem Alter Zusatzqualifikation für Kinder und Jugendliche oder einen und Entwicklungsstand entsprechen und zu mindestens Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Erfahrung mäßiger Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Be- und Fachwissen in der Diagnostik von ADHS durchge- zugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und führt werden. Beruf führen. Diese Auffälligkeiten müssen durchgehend Bei Erwachsenen sollte die diagnostische Abklärung länger als 6 Monate bestehen und bereits im Kindesalter durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vorhanden gewesen sein. Facharzt für Neurologie, Facharzt für psychosomatische Die Symptome dürfen nicht besser durch andere körperli- Medizin oder durch ärztliche oder psychologische Psycho- che oder psychische Störungen erklärt werden können. therapeuten vorgenommen werden. Wenn Hinweise auf zusätzliche psychische oder körperli- Was sind die Unterschiede zwischen den Diagnosekrite- che Störungen oder Erkrankungen bestehen oder andere rien der Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-10? psychische oder körperliche Störungen oder Erkrankungen als Ursache in Frage kommen, sollte dies abgeklärt werden. In der ICD-10 wird das Krankheitsbild als „Hyperkineti- Wenn in der diagnostizierenden Praxis die Möglichkeiten sche Störung“ (HKS) bezeichnet. Dabei müssen alle drei zur Abklärung nicht ausreichen, sollte eine Überweisung Kernsymptome: Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hy- an einen Spezialisten aus dem entsprechenden Fachgebiet peraktivität vorhanden sein: „Einfache Aktivitäts- und Auf- veranlasst werden. merksamkeitsstörung“. Wenn zusätzlich eine Störung des Wenn die Diagnose durch einen Kinder- und Jugendli- Sozialverhaltens vorliegt, lautet die Diagnose „Hyperkine- chenpsychotherapeuten oder durch einen psychologischen tische Störung des Sozialverhaltens“, Beginn vor dem Alter Psychotherapeuten gestellt wird, sollte die immer erfor- von 7 Jahren. derliche körperliche Untersuchung zusätzlich durch einen Im DSM-5 wird das Krankheitsbild als „Aufmerksamkeits- Arzt erfolgen. defizit-/Hyperaktivitätsstörung“ bezeichnet (ADHS). Welche diagnostischen Maßnahmen sollen routinemä- 3 EEG – Elektroenzephalogramm – Aufzeichnung der Hirnströme ßig eingesetzt werden? 4 DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5 I CD – International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems Grundlage für die Diagnose ADHS sollen sein: Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
ADHS Deutschland e. V. Leitlinie 57 1. eine umfassende Befragung des Patienten und – v.a. bei Welche Bedeutung haben Fragebogenverfahren und Ver- Kindern und Jugendlichen – seiner Bezugspersonen (vor haltensbeobachtungen bei der Diagnostik von ADHS? allem der Eltern, wenn möglich auch der Lehrer / Erzie- her, einschließlich schriftlicher Berichte und Zeugnisse), Die Diagnose ADHS sollte nicht ausschließlich auf der die inhaltlich gegliedert folgende Themen umfassen soll: Grundlage von Fragebogenverfahren oder Verhaltensbeob- a) Wie ist die aktuelle ADHS-Symptomatik: Welche Sym- achtungen gestellt werden. Fragebogenverfahren für Eltern, ptome liegen vor? Wie häufig und wie stark ausgeprägt Lehrer oder Patienten sind aber hilfreich und sollten auch sind sie in verschiedenen Lebensbereichen (Familie, zur ergänzenden Erfassung der Symptomatik oder zusätz- Schule, Freizeitbereich)? Welche Unterschiede in der lich vorhandener Symptome eingesetzt werden. Ausprägung gibt es in diesen Lebensbereichen (z. B. bei Verhaltensbeobachtungen außerhalb der Untersuchungs- Hausaufgaben, bei Familienaktivitäten)? situation (z. B. in der Schule) sollten vor allem dann zum b) Wie schränken die ADHS-Symptome die Funktionsfä- Einsatz kommen, wenn die Symptomatik nicht eindeutig higkeit ein (z. B. in den Beziehungen, der Leistungsfä- erfasst werden kann. higkeit, der Teilhabe)? c) Welche psychischen Symptome oder Störungen oder Welche Bedeutung haben testpsychologische Untersu- körperliche Erkrankungen bestehen außerdem noch? chungen bei der Diagnostik von ADHS? d) Wie sind die aktuellen und wie waren die früheren Rah- menbedingungen? Welche Möglichkeiten zur Unter- Die Diagnose ADHS soll nicht ausschließlich auf der stützung und welche Belastungen gibt es in der Familie Grundlage von psychologischen Tests gestellt oder ausge- und in Kindergarten / Schule oder am Arbeitsplatz? schlossen werden. Gibt es Probleme mit der psychischen und körperlichen Allerdings können testpsychologische Untersuchungen Gesundheit der Bezugspersonen? die Diagnostik ergänzen. Sie sind zur Beantwortung spe- e) Wie und wann haben sich erste Symptome der ADHS zifischer Fragestellungen notwendig (z. B. bei Verdacht auf gezeigt und wie hat sich die Symptomatik dann weiter schulische Überforderung oder auf Intelligenzminderung, entwickelt? Welche Vorbehandlungen gab es im Zusam- Entwicklungsstörungen oder neuropsychologische Störun- menhang damit? gen). f) Welche Möglichkeiten zur Unterstützung, welche Wün- Verhaltensbeobachtungen während testpsychologischer sche und Bedürfnisse hat der Patient und seine Bezugs- Untersuchungen können ergänzende Hinweise auf das personen? Vorliegen einer ADHS-Symptomatik liefern. ADHS-Sym- g) Welche Krankheiten sind in der Familie bekannt? Gibt ptome müssen jedoch nicht notwendigerweise während es insbesondere Anhaltspunkte dafür, ob bei engen Fa- der Untersuchung auftreten. milienangehörigen Anzeichen für eine ADHS bestehen? 2. die Verhaltensbeobachtung des Patienten und – bei Welche Bedeutung haben Labor- und apparative medi- Kindern und Jugendlichen – wie Patient und Eltern zinische Untersuchungen für die Diagnostik von ADHS? in der Untersuchungssituation miteinander umgehen. ADHS Symptome müssen dabei nicht notwendigerwei- Eine routinemäßige Durchführung von Laboruntersu- se auftreten; chungen oder apparativen medizinischen Untersuchungen 3. die körperliche Untersuchung und die Beurteilung des ist im Rahmen der ADHS-Diagnostik nicht erforderlich. Entwicklungsstandes. Sie sollen aber durchgeführt werden, wenn das für die Ab- klärung möglicher zugrundeliegender somatischer Erkran- Welche Bedeutung haben die Selbsteinschätzungen der kungen oder für differenzialdiagnostische Abklärungen Patienten für die Diagnostik? von Bedeutung ist. Der Bericht der Eltern und anderer Bezugspersonen ist im Gibt es altersspezifische Besonderheiten, die bei der Kindesalter von entscheidender Bedeutung. Daneben soll- Diagnostik zu berücksichtigen sind? te bei Kindern und Jugendlichen zur Beurteilung der kli- nischen Bedeutsamkeit und der Beeinträchtigung aufgrund Die Symptomatik der ADHS ist in unterschiedlichen Al- der ADHS-Symptomatik das eigene Erleben berücksich- tersgruppen verschieden ausgeprägt. Folgende altersspezi- tigt werden. fische Besonderheiten sollten bei der Diagnostik berück- Bei Erwachsenen basiert die Beurteilung überwiegend auf sichtigt werden: den eigenen Angaben, die mit denen enger Bezugsperso- • Die Diagnose einer ADHS soll vor dem Alter von drei nen – sofern verfügbar – abgeglichen werden sollten. Jahren nicht gestellt werden. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
58 Leitlinie ADHS Deutschland e. V. • Bei Kindern im Alter von drei bis vier Jahren kann die Erregungsniveau erhöht ist. Diagnose in der Regel nicht hinreichend sichergestellt werden. Organische Erkrankungen können Verhaltensweisen aus- • Bei Kindern im Vorschulalter soll die Diagnose in der lösen, die fälschlicherweise als ADHS Symptome interpre- Regel nur bei sehr starker Ausprägung der Symptomatik tiert werden: gestellt werden. • Seh- oder Hörstörungen, die als Unaufmerksamkeit fehl- • Bei jüngeren Kindern können sehr stark ausgeprägte Un- interpretiert werden; ruhe, Impulsivität und Ablenkbarkeit sowie Störungen • Anfallsleiden, die als Unaufmerksamkeit oder motori- der Regulation Risikofaktoren für die Entwicklung einer sche Unruhe fehlinterpretiert werden; ADHS sein. • Schilddrüsenfunktionsstörungen. • Je jünger die Kinder sind, umso schwieriger ist eine Ab- grenzung zu Normvarianten. Bei weiteren organischen Erkrankungen wie z. B. bei der • Im Jugend- und Erwachsenenalter muss die im Verlauf Fetalen Alkohol Spektrum Störung (FASD) und anderen, der Pubertät oft einsetzende Verminderung der Hyper- zumeist seltenen Erkrankungen, können Symptome von aktivität berücksichtigt werden. ADHS zusätzlich vorhanden sein. Störungen, die von ADHS abgegrenzt werden können, Welche psychischen Störungen oder körperlichen Er- können aber auch gemeinsam mit einer ADHS als zusätzli- krankungen sind von ADHS abzugrenzen? che Störung auftreten. Merkmale von Hyperaktivität, Impulsivität und Unauf- Welche zusätzlichen Störungen sind häufig gemeinsam merksamkeit können auch bei anderen psychischen Stö- mit ADHS vorhanden und sollen beachtet werden? rungen auftreten. Diese zeigen jedoch zusätzliche Merkma- le, welche üblicherweise nicht bei ADHS vorkommen. Zusätzliche Störungen sind häufig. Sie können sich un- In Betracht zu ziehen sind: günstig auf die Prognose auswirken. • Störungen des Sozialverhaltens, die mit Verweigerung Bei Kindern kommen oppositionelles Trotzverhalten und von Aufgaben einhergehen können, die Anstrengung andere Störungen des Sozialverhaltens, Tic-Störungen, verlangen; umschriebene Entwicklungsstörungen (der Motorik, der • Tic- und Tourette-Störungen, die durch plötzlich ein- Sprache, der schulischen Fertigkeiten), Angststörungen, schießende Bewegungen und Laute gekennzeichnet sein depressive Störungen, Autismus-Spektrum-Störungen und können; ab dem Jugendalter Substanzkonsumstörungen und Per- • umschriebene Entwicklungsstörungen und Lernstörun- sönlichkeitsstörungen zusätzlich zur ADHS am häufigsten gen, die mit Unaufmerksamkeit einhergehen können; vor. • Intelligenzminderung, bei der eine Überforderung Sym- Bei Hinweisen darauf soll eine Abklärung und nötigenfalls ptome einer ADHS auslösen kann; eine Behandlung entsprechend den jeweiligen Leitlinien • Autismus-Spektrum-Störungen, bei denen aufgrund der erfolgen. autistischen Symptomatik Unaufmerksamkeit oder auch Impulsivität ausgelöst werden kann; Vorgehensweise bei der Behandlung • depressive Störungen, bei denen Konzentrationsproble- me auftreten können; Wie sollte ausgewählt werden, welche Behandlung für • Angststörungen, bei denen Unaufmerksamkeit und Un- einen bestimmten Patienten am besten geeignet ist? ruhe in Zusammenhang mit Angst auftreten kann; • bipolare Störungen, bei denen episodisch Überaktivität, Nachdem die Diagnose gestellt ist, sollte bei Kindern, Ju- Impulsivität undKonzentrationsprobleme auftreten; gendlichen und Erwachsenen mit ADHS abgeklärt wer- • Substanzkonsumstörungen, bei denen durch Substanz- den, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt. Diese soll- konsum Symptome einer ADHS ausgelöst werden kön- ten dem Patienten vorgestellt und erläutert werden, damit nen; er sich mit diesem Wissen dafür oder dagegen entscheiden • psychotische Störungen, in deren Verlauf auch kann (informierte Entscheidung). Außerdem sollte vom ADHS-Symptome auftreten können; Behandler erfragt werden, welche dieser Behandlungsmög- • medikamenteninduzierte Störungen; lichkeiten vom Patienten und seinen Bezugspersonen ge- • Schlafstörungen, einschließlich Schlafapnoe, die mit Mü- wünscht und mit getragen werden (partizipative Entschei- digkeit und Unaufmerksamkeit einhergehen; dungsfindung). • Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), wobei das Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
ADHS Deutschland e. V. Leitlinie 59 Bei der Auswahl der Therapie sollten persönliche Faktoren 7. Im Erwachsenenalter ist die medikamentöse Therapie (z. B. Leidensdruck), Umgebungsfaktoren, der Schwere- auch bei leichter und mittelgradiger Ausprägung und grad der Störung sowie zusätzlich vorhandener Störungen Beeinträchtigung (neben der Psychoedukation) die The- und die Teilhabe berücksichtigt werden. rapie der ersten Wahl (vorausgesetzt dies entspricht den Wünschen des Patienten). Wie soll die Behandlungsplanung erfolgen? 8. Zusätzlich bestehende Störungen sollen leitliniengerecht behandelt werden. Bei der Entscheidung, welche Stö- 1.Die Behandlung der ADHS soll im Rahmen eines mul- rung zuerst behandelt werden soll, soll u. a. der Schwere- timodalen therapeutischen Gesamtkonzeptes erfolgen, grad der Störungen berücksichtigt werden. was bedeutet, dass verschiedene Behandlungsarten be- rücksichtigt werden. Es soll dazu ein Behandlungsplan Erläuterung aufgestellt werden. Entsprechend der individuellen Sym- ptomatik, dem Funktionsniveau, der Teilhabe sowie den Schweregradeinteilung der ADHS-Symptomatik: Wünschen des Patienten und seines Umfeldes können dabei psychosoziale (was damit gemeint ist, wird weiter Leichtgradig: unten erläutert) und medikamentöse sowie ergänzende Die vorliegenden Symptome reichen aus, damit die Dia- Interventionen kombiniert werden. gnose ADHS gestellt werden kann. Zusätzliche Symptome 2. Grundsätzlich soll eine umfassende Psychoedukation an- bestehen nicht oder nur in geringem Ausmaß. geboten werden, bei der der Patient und seine wichtigen Die Symptome führen zu nur geringfügigen Beeinträchti- Bezugspersonen über ADHS aufgeklärt werden, ein indi- gungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funkti- viduelles Störungskonzept entwickelt wird und Behand- onsbereichen. lungsmöglichkeiten dargestellt werden mit dem Ziel, eine partizipative Entscheidungsfindung zu ermöglich. Weite- Mittelgradig: re Erläuterungen zu „Psychoedukation“ siehe unten. Die Ausprägung der Symptomatik und der funktiona- 3. Bei Kindern vor dem Alter von sechs Jahren soll primär len Beeinträchtigung liegt zwischen „leichtgradig“ und psychosozial (einschließlich psychotherapeutisch) (siehe „schwergradig“. Es gibt dabei 2 Möglichkeiten: Erläuterungen) interveniert werden. Eine medikamen- 1. Die Ausprägung der Symptomatik übersteigt deutlich töse Behandlung der ADHS-Symptomatik soll nicht vor das zur Diagnosestellung erforderliche Ausmaß, aber es dem Alter von drei Jahren angeboten werden. bestehen nur geringfügige Beeinträchtigungen in sozia- 4. Bei ADHS von einem leichten Schweregrad (weiter un- len, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen, ten wird ausgeführt, wie ADHS nach Schweregraden oder eingeteilt werden kann) soll primär psychosozial inter- 2. Die Ausprägung der Symptomatik ist gering, aber es be- veniert werden. In Einzelfällen kann bei behandlungsbe- steht eine deutliche funktionelle Beeinträchtigung. dürftiger ADHS-Restsymptomatik ergänzend eine medi- kamentöse Behandlung angeboten werden. Schwergradig: 5. Bei mittelgradiger ADHS soll in Abhängigkeit von den Die Anzahl der Symptome übersteigt deutlich die zur Di- Lebensumständen des Patienten, seines Umfeldes, den agnosestellung erforderliche Anzahl oder mehrere Symp- Wünschen des Patienten und seiner wichtigen Bezugs- tome sind besonders stark ausgeprägt und die Symptome personen sowie den Behandlungsmöglichkeiten nach beeinträchtigen die soziale, schulische oder berufliche einer umfassenden Psychoedukation entweder eine in- Funktionsfähigkeit in erheblichem Ausmaß. tensivierte psychosoziale (einschließlich intensivierte psychotherapeutische) Intervention oder eine medika- Erläuterung mentöse Behandlung oder eine Kombination angeboten werden. Definition Psychosoziale Interventionen 6. Bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer ADHS soll primär eine medikamentöse Therapie nach einer intensi- Psychosoziale Interventionen umfassen die nach einer ven Psychoedukation angeboten werden. In die medika- Ausbildung erlernten, bewussten und geplanten psycholo- mentöse Therapie kann eine parallele intensive psycho- gischen, psychotherapeutischen und sozialen Maßnahmen soziale Intervention integriert werden. In Abhängigkeit zur Verminderung von ADHS oder zusätzlich vorhande- von dem Verlauf der Pharmakotherapie sollen bei be- nen psychischen Störungen. handlungsbedürftiger ADHS-Restsymptomatik psycho- Psychosoziale Interventionen können direkt an den Pa- soziale Interventionen angeboten werden. tienten oder seine Bezugspersonen (z. B. Eltern, Lehrer, neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
60 Leitlinie ADHS Deutschland e. V. Partner) gerichtet sein oder auch das nähere oder weitere Wie soll bei Nichtansprechen auf die therapeutischen Umfeld des Patienten (Familie, Kindertagestätte, Schule, Maßnahmen vorgegangen werden? Arbeitsplatz, Gemeinde) einbeziehen. Psychosoziale In- terventionen können von verschiedenen Berufsgruppen Wenn die durchgeführten medikamentösen oder nicht- durchgeführt werden, wenn sie eine entsprechende Quali- medikamentösen (z. B. Elterntraining, psychosoziale, ein- fikation besitzen, beispielsweise Psychologen und Psycho- schließlich psychotherapeutische Intervention) therapeu- therapeuten, Ärzten, Pädagogen, Ergotherapeuten oder tischen Maßnahmen keine oder nur sehr geringe Wirkung Sozialarbeitern. zeigen, soll vom Behandler erneut überprüft werden: Generell: Definition Psychoedukation • ob die Diagnosekriterien einer ADHS erfüllt sind; • ob das schlechte therapeutische Ansprechen ggf. durch Psychoedukation umfasst die Aufklärung und Beratung vorhandene zusätzliche Störungen / Erkrankungen er- des Patienten oder seiner Bezugspersonen zum Störungs- klärt werden kann; bild und seinen Ursachen sowie zum Verlauf und zu den • wie Patienten und Sorgeberechtigte gegenüber den einge- möglichen Maßnahmen. Neben der Aufklärung über mög- setzten therapeutischen Interventionen eingestellt sind; liche Beeinträchtigungen sollten dabei besonders auch die • inwieweit Sorgeberechtigte / sonstige Betreuungsperso- individuellen Stärken und schützenden und fördernden nen die Behandlung des Patienten unterstützen und der Möglichkeiten beachtet werden. Dies sind zum Beispiel Patient selbst zu einer Behandlung motiviert ist; besondere sportliche Kompetenz, Spontanität, Kontakt- • ob die Befürchtung einer Bloßstellung die Akzeptanz ge- freudigkeit oder Kreativität, um diese für den Patienten genüber der Therapie beeinträchtigt. und seine psychosoziale Umgebung erfahrbar werden zu Zusätzlich bei Pharmakotherapie: lassen. Gemeinsam mit dem Patienten und seinen Be- • wie regelmäßig die Einnahme des Präparates erfolgt ist, zugspersonen wird auf der Basis dieser Informationen ein ob unerwünschte Wirkungen auftraten und wie in diesem individuelles Störungskonzept zu den vermutlichen Ur- Zusammenhang die Einhaltung der Therapieziele einzu- sachen und dem vermutlichen Verlauf der Symptomatik schätzen ist; im individuellen Fall erarbeitet und es werden konkrete • ob das Präparat in ausreichender Dosierung und in ange- Strategien zur Bewältigung der Problematik oder ihrer messener Verteilung über den Tag verordnet und einge- Folgen in den verschiedenen Lebensbereichen des Patien- nommen wurde. ten entwickelt. Psychoedukation stellt die Grundlage aller weiterführenden psychosozialen (einschließlich psycho- Wie soll mit fortbestehenden zusätzlich bestehenden therapeutischen) und medikamentösen Maßnahmen dar Störungen oder Problemen umgegangen werden? und stellt den Betroffenen Informationen zur Verfügung, die eine gemeinsame Entscheidungsfindung, „shared de- Bei erfolgreicher medikamentöser oder nichtmedikamen- cision making“ (SDM) möglich machen. Bei intensiveren töser Therapie der ADHS-Kernsymptomatik soll gemein- psychosozialen (einschließlich psychotherapeutischen) sam mit dem jeweiligen Patienten und seinen Bezugsperso- Maßnahmen werden Maßnahmen durchgeführt, welche nen überprüft werden, ob zusätzlich bestehende Störungen über die Beratung bei Psychoedukation hinausgehen und oder Probleme weiter bestehen (z. B. aggressives Verhalten, beispielsweise eine konkrete und detaillierte Anleitung von Ängste oder Lernschwierigkeiten). Für diese begleitenden Eltern oder anderen Bezugspersonen zur Veränderung der Schwierigkeiten sollten jeweils ein individueller Behand- Wechselwirkung mit dem Patienten, sowie Maßnahmen zu lungsplan aufgestellt und entsprechende Maßnahmen ein- Veränderungen von Informationsverarbeitung (einschließ- geleitet werden. lich Einstellungen), Emotionen und Handlungen der Be- zugspersonen und des Patienten und auch konkrete Thera- Weitere Therapiemaßnahmen pieaufgaben für Bezugspersonen und Patient umfassen. Im Rahmen des multimodalen Behandlungsplans sollten Neurofeedback Zielen aus den Bereichen Aktivitäten und Teilhabe Vor- rang eingeräumt werden. Die Zielformulierung sollte ge- Unter welchen Voraussetzungen kann ADHS mit Neu- meinsam mit den Betroffenen und deren Angehörigen er- rofeedback behandelt werden? folgen. Neurofeedback kann im Rahmen eines Behandlungsplanes der ADHS bei Kindern ab dem Alter von sechs Jahren und Jugendlichen ergänzend eingesetzt werden, wenn es nach Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
ADHS Deutschland e. V. Leitlinie 61 einem standardisierten Verfahren (Näheres dazu siehe un- Die Anamneseerhebung sollte bei Kindern, Jugendlichen ten) durchgeführt wird und wenn dadurch eine andere wir- mit ADHS auch die Fragestellung berücksichtigen, ob be- kungsvollere Therapie nicht verzögert oder verhindert wird. stimmte Nahrungsmittel oder Getränke die Symptomatik (v.a. die Hyperaktivität) beeinflussen. Ergeben sich dabei Wie soll Neurofeedback bei ADHS durchgeführt werden? Hinweise auf mögliche Zusammenhänge, sollten Eltern, Betreuungspersonen oder die Betroffenen selbst angehal- Wenn Neurofeedback eingesetzt wird, soll es: ten werden, einige Tage Buch über aufgenommene Nah- • mittels gut untersuchter Verfahren trainiert werden. Sog. rung / Getränke und den Verlauf der ADHS Symptomatik „QEEG-basierte“ Verfahren mit z.T. anderen Frequenz- zu führen. Bestätigt sich hierdurch der Zusammenhang bereichen und Platzierungen der Elektroden sollen nicht zwischen bestimmten Nahrungsmitteln und dem Verhal- verwendet werden; ten, sollte an einen Ernährungsberater verwiesen werden. • Grundsätze der Lerntheorie und Übungen zum Übertra- Das weitere diesbezügliche Vorgehen (z. B. das Weglassen gen des Erlernten in den Alltag umfassen; bestimmter Nahrungsmittel) sollte im Verlauf in gemein- • ausreichend lange trainiert werden (mindestens 25 bis samer Abstimmung zwischen Ernährungsberater und dem 30 Sitzungen), wobei regelmäßig mit dem Kind / Ju- Behandler, sowie den Eltern oder Betreuungspersonen er- gendlichen und Eltern gemeinsam überprüft werden soll, folgen. ob die Fortsetzung der Behandlung durch Hinweise auf Die Eltern oder Bezugspersonen von Kindern oder Ju- eine beginnende Wirksamkeit gerechtfertigt ist. gendlichen mit ADHS sollten in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass nichts bekannt ist über Kommentar zur Empfehlung: Langzeiteffekte, die durch das Weglassen bestimmter Nah- Da es sich bei Neurofeedback um eine Maßnahme auf ver- rungsmittel entstehen können, und auch nur wenige Be- haltenstherapeutischer Basis handelt, sollten die durch- funde zu den Kurzzeiteffekten solcher Diäten vorliegen, führenden Therapeuten eine verhaltenstherapeutische und möglicherweise mit Mangelerscheinungen und Folge- Qualifikation sowie eine fundierte Kenntnis der Stan- schäden zu rechnen ist. dard-Neurofeedback-Trainingsverfahren haben. Darüber hinaus wird – wie auch bei anderen Maßnahmen – Su- Können Omega 3- / Omega 6-Fettsäuren zur Behand- pervision als unerlässlich angesehen. Derzeit gibt es noch lung der ADHS empfohlen werden? keine formalisierte Ausbildung, die zur Durchführung von Neurofeedback qualifiziert. Auch wenn es Befunde gab, die auf einen positiven, aber quantitativ geringen Effekt einer Gabe von Omega 3- und Diätetische Maßnahmen Omega 6-Fettsäuren zur Behandlung der ADHS bei Kin- dern, Jugendlichen und Erwachsenen hindeuteten, kann Was sollte dem Patienten im Hinblick auf Ernährung nach heutigem Stand der Erkenntnis (Nice 2016) keine im Allgemeinen mitgeteilt werden? Empfehlung für eine Nahrungsergänzung mit diesen Sub- stanzen abgegeben werden. Der Behandler sollte Patienten aller Altersgruppen und ihre Angehörigen auf die Wichtigkeit und Bedeutung einer Medikamentöse Maßnahmen ausgewogenen und vollwertigen Ernährung sowie regelmä- ßiger Bewegung bzw. sportlicher Betätigung hinweisen. Kommentar über die Rahmenbedingungen für die Verordnung von Medikamenten bei ADHS (Stand Was soll im Hinblick auf künstliche Farbstoffe beachtet Ende 2017): werden? Für die medikamentöse Behandlung von Kindern und Ju- gendlichen mit ADHS sind in Deutschland vier verschie- Der Versuch, im Rahmen der Ernährung auf künstliche dene Wirkstoffe in einer Vielzahl von Arzneimitteln zur Farbstoffe oder auch andere Nahrungszusätze zu verzich- Einnahme zugelassen. Bei diesen Wirkstoffen können zwei ten, kann sich für einzelne Patienten als hilfreich heraus- Gruppen unterschieden werden: einerseits die sogenann- stellen. Dies soll jedoch nicht als generelle Maßnahme bei ten Stimulanzien (Methylphenidat und Dexamfetamin), Kindern- und Jugendlichen sowie bei Erwachsenen mit andererseits die sogenannten Nicht-Stimulanzien (Atomo- ADHS durchgeführt werden. xetin und Guanfacin). Die Stimulanzien sind den Betäubungsmitteln zugeordnet Was sollte im Hinblick auf Eliminationsdiäten6 beach- tet werden? 6 Eliminationsdiät – Diät unter Auslassung bestimmter – sonst üblicher - Nahrungsbestandteile neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
62 Leitlinie ADHS Deutschland e. V. und ihre Verordnung erfolgt nach dem Betäubungsmittel- bensalter möglich. Bei älteren Personen – eine genaue Al- gesetz. Die Verordnung muss durch einen Spezialisten für tersdefinition wird vom G-BA in den Fachinformationen Verhaltensstörungen bei Kindern durchgeführt werden. nicht angegeben – soll keine Verschreibung vorgenommen Zuvor muss die Diagnose der ADHS anhand einer voll- werden. ständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten und Die Behandlung der ADHS kann im Erwachsenenalter gemäß aktuell gültiger Kriterien (DSM-V oder ICD-10) auch mit Atomoxetin begonnen werden. Hier findet sich in gestellt worden sein. Die Diagnose darf sich nicht allein auf der Fachinformation der Hinweis, dass ab dem 65. Lebens- das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stüt- jahr keine Erfahrungswerte zu dieser Behandlung verfüg- zen. bar sind. Dies ist ein Anhaltspunkt, dass die Behandlung Bezüglich der Auswahl des geeigneten Präparats finden mit Atomoxetin in diesem Alter nur nach besonders kriti- sich darüber hinaus in den Fachinformationen relevante scher Bewertung des Verordnungsanlasses vorgenommen Differenzierungen. werden soll. Die Fachinformationen zu den Medikamenten enthalten Wenn eine Behandlung während der Jugend mit darüber hinaus weitere Hinweise dazu, was bei der Verord- Oros-Methylphenidat oder entsprechenden Generika er- nung bezüglich der Auswahl eines geeigneten Medikamen- folgte, kann diese in das Erwachsenenalter fortgeschrieben tes zu beachten ist: werden. So sind die Wirkstoffe Methylphenidat und Atomoxetin Weiterführende Informationen zu den einzelnen Medika- grundsätzlich zur Behandlung der ADHS zugelassen. Da- menten sollen den jeweiligen aktuellen Fachinformationen gegen ist Dexamfetamin nur dann zugelassen, wenn zuvor entnommen werden. mit Methylphenidat behandelt wurde und diese Behand- Die Autoren dieser Leitlinie weisen ausdrücklich darauf lung nicht ausreichend wirksam war. Guanfacin ist nur hin, dass alle Angaben ohne Gewähr sind und jegliche Haf- dann zugelassen, wenn für diese Patienten eine Behand- tung durch fehlerhafte, unvollständige oder veraltete Infor- lung mit Stimulanzien nicht in Frage kommt, unverträglich mationen ausgeschlossen wird. ist oder sich als unwirksam erwiesen hat. Unter „Off-Label-Use“ wird der zulassungsüberschreitende Für Methylphenidat liegen Darreichungsformen mit un- Einsatz eines Arzneimittels verstanden, insbesondere bei mittelbarer (unretardierter) und verzögerter (retardierter) der Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außer- Wirkstofffreisetzung vor. Es finden sich jeweils verschiede- halb der von den nationalen oder europäischen Zulassungs- ne Medikamente, welche alle den gleichen Wirkstoff bein- behörden genehmigten Anwendungsgebiete (Definition halten, sich jedoch teilweise hinsichtlich der Füll- und Zu- des G-BA). Um diese Medikamente als „Off-Label-Use“ satzstoffe unterscheiden. Insbesondere bei den retardierten einzusetzen, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Darreichungsformen kommen hierdurch Unterschiede in • Nachgewiesene Wirksamkeit, der zeitlichen Freisetzung des Wirkstoffs und der Wirk- • Günstiges Nutzen-Risikoprofil, dauer zu Stande. Diese können in der Behandlung für die • Fehlende Alternativen, Auswahl des Präparats bzw. eine Umstellung dessen von • Heilversuch. Bedeutung sein und für den Patienten von Nutzen sein. Weiterhin hat der behandelnde Arzt eine besondere Auf- Aus der Wirkstoffgruppe der Amfetamine sind zwei Arz- klärungspflicht über mögliche Konsequenzen (keine neimittel für die Behandlung der ADHS bei Kindern und Herstellerhaftung usw.) gegenüber dem Patienten. Eine Jugendlichen ab sechs Jahren zugelassen, wenn das An- gemeinsame Entscheidungsfindung ist notwendig. Ein sprechen auf eine zuvor erhaltene Behandlung mit Methyl- „Off-Label-Use“ ist dementsprechend nur bei schwerwie- phenidat als unzureichend angesehen wird. Dexamfeta- genden Erkrankungen zulässig, wenn es keine Behand- minhemisulfat (Attentin®) und Lisdexamfetamindimesilat lungsalternative gibt. Nach dem Stand der wissenschaftli- (Elvanse®) stellen jeweils verschiedene Aufbereitungen des chen Erkenntnisse muss die begründete Aussicht bestehen, Wirkstoffes Dexamfetamin dar. dass die Behandlung zu einem Erfolg führt. Seit Januar 2016 ist in Deutschland zudem Guanfacin (In- tuniv®) zugelassen. Für die zulassungsgemäße Verordnung Bei welchen Patienten ist eine Behandlung mit Medika- ist Voraussetzung, dass eine Behandlung mit Stimulanzien menten angezeigt? nicht in Frage kommt, unverträglich ist oder sich als un- wirksam erwiesen hat. Bei der Entscheidung für eine Behandlung mit Medika- Die Behandlung von Erwachsenen ab dem 18. Lebensjahr menten sollten unterschiedliche Gesichtspunkte beachtet kann mit zwei Methylphenidat Präparaten mit verzögerter werden: unter anderem das Alter des Patienten, der Schwe- Wirkungsfreisetzung begonnen werden (Medikinet adult®, regrad der Symptomatik und die daraus folgende Schwere Ritalin adult®). Die Verschreibung ist bis ins höhere Le- der Beeinträchtigung in verschiedenen Lebensbereichen, Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
ADHS Deutschland e. V. Leitlinie 63 die Wünsche der Familie und des Patienten sowie die bundenen Kontrolluntersuchungen vornehmen. Zur Wirksamkeit von im Vorfeld bereits eingeleiteten psycho- Überprüfung der Wirksamkeit bzw. der weiteren Not- sozialen (einschließlich psychotherapeutischen) Maßnah- wendigkeit der Behandlung bzw. zur bedarfsorientierten men. Anpassung der Dosierung sollen jedoch in regelmäßigen Bei Patienten im Kleinkind- bzw. Vorschulalter ab drei Abständen auch weiterhin Vorstellungen bei den Spezia- Jahren sollte eine Behandlung mit Medikamenten nur mit listen erfolgen, denen die Aufsicht über die Behandlung besonderer Vorsicht erwogen werden, da hierzu nur unzu- obliegt. reichende wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Zuvor sollten nichtmedikamentöse Behandlungsmöglichkeiten Kommentar zur Empfehlung: wie z. B. Elterntraining (s.u.) ausgeschöpft worden sein. Verschreibende Ärzte müssen die rechtlichen Vorschriften Im Schulalter ist die Empfehlung zur Behandlung mit und Regelungen kennen, die im Zusammenhang mit der Medikamenten im Rahmen des Behandlungsplanes v.a. Verordnung von Stimulanzien, die dem Betäubungsmittel- vom Schweregrad der Symptomatik sowie den Wünschen gesetz unterliegen, gelten (gesetzliche Vorgabe). des jeweiligen Patienten und seiner Familie abhängig. Bei Eine medikamentöse Behandlung von Kindern und schwerer Ausprägung der Symptomatik und deutlicher Jugendlichen mit einer ADHS soll von Fachpersonal Beeinträchtigung hierdurch sollte den Patienten und ih- (Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsy- ren Familien nach ausführlicher Psychoedukation als Ers- chiatrie und Psychotherapie, sowie Ärztinnen und Ärzten tes zur Behandlung mit Medikamenten geraten werden, mit Fachkunde für Kinder- und Jugendpsychiatrie; ent- sofern Vorstellungen und Wünsche der Betroffenen nicht sprechend erfahrenen Fachärzten für Kinder- und Jugend- dagegen sprechen. Auch bei moderater Ausprägung bzw. medizin) durchgeführt werden. Beeinträchtigung ist eine Behandlung mit Medikamenten Bei Erwachsenen mit ADHS soll die medikamentöse Be- angezeigt, wenn der Patienten und seine Familie diese Be- handlung von Ärzten durchgeführt werden, die über um- handlungsmöglichkeit bevorzugen, ebenso bei mangelnder fassende Kenntnisse bezüglich ADHS sowie im Bereich Wirksamkeit vorherig eingeleiteter nichtmedikamentöser der medikamentösen Therapie bei psychiatrischen Störun- Behandlungen. Im Gegensatz dazu wird im Erwachsenen- gen und die häufig im Erwachsenenalter zusammen mit alter aufgrund der vorliegenden Evidenz eine Behandlung ADHS auftretenden Erkrankungen verfügen. mit Medikamenten (neben der Psychoedukation) als erste Behandlungsmöglichkeit auch bei leichter und moderater Welche Präparate sind zur Behandlung empfohlen? Ausprägung und Beeinträchtigung angesehen (vorausge- setzt dies entspricht dem Wunsch des Patienten). Wenn eine medikamentöse Behandlung angezeigt ist, sol- len Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin und Wer soll eine medikamentöse Behandlung durchführen? Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin als Be- handlungsmöglichkeiten der ADHS in Betracht gezogen • Eine medikamentöse Behandlung soll nur von einem werden. Dabei sollte beachtet werden, was aktuell für die entsprechend befähigten Facharzt für Kinder- und Ju- Zulassung der entsprechenden Medikamente gilt. gendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psy- chotherapie, für Nervenheilkunde, für Neurologie und Nach welchen Kriterien sollten die passenden Medika- / oder Psychiatrie oder für Psychiatrie und Psychothera- mente ausgewählt werden? pie, oder ärztlichen Psychotherapeuten initiiert und un- ter dessen Aufsicht angewendet werden. Dieser soll über Bei einer Entscheidung für eine Behandlung mit Medika- Kenntnisse im Bereich ADHS und der Kontrolle einer menten sollten bei der Wahl des Wirkstoffes bzw. der Zu- Behandlung mit Medikamenten verfügen. bereitungsform folgende Aspekte berücksichtigt werden: • Bei drei- bis sechsjährigen Kindern soll die Verschrei- • die Zulassungsbedingungen; bung durch einen Arzt mit besonderen Kenntnissen zu • die erwünschte Wirkdauer und was die Medikamente Verhaltensstörungen in dieser Altersgruppe erfolgen. bewirken; • Die Entscheidung für eine Behandlung mit Medikamen- • die unterschiedliche Art und Weise der unerwünschten ten soll nur nach gesicherter Diagnosestellung auf der Wirkungen der Medikamente; Basis einer sorgfältigen Anamnese und Untersuchung er- • das Vorliegen bestimmter gleichzeitig bestehender Stö- folgen. rungen / Erkrankungen (z. B. Tic-Störungen, epilepti- • Nach erfolgreicher medikamentöser Einstellung durch sche Erkrankungen). Wie dies die Auswahl der Medika- die jeweiligen Spezialisten können in Ausnahmefällen mente beeinflusst, wird weiter unten dargestellt. auch Hausärzte Folgeverordnungen und die damit ver- • besondere Umstände, welche die Bereitschaft des Pati- neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
64 Leitlinie ADHS Deutschland e. V. enten beeinträchtigen könnten, die Empfehlungen zur Was soll beim einzelnen Patienten bei der Auswahl des medikamentösen Behandlung einzuhalten; z. B. Furcht Medikamentes berücksichtigt werden? eines Kindes oder Jugendlichen vor Ausgrenzung, wenn ein kurz wirksames Präparat während der Schulzeit ein- • Wenn die Entscheidung für eine medikamentöse Be- genommen werden muss; handlung gefallen ist, soll der Behandler bei Patienten • die Gefahr des Missbrauchs der Substanz durch den Pati- mit ADHS ohne bedeutsame Komorbiditäten die Be- enten bzw. der Weitergabe der Medikamente an Dritte; handlung mit Stimulanzien beginnen, wenn bei diesem • die Wünsche des Patienten und ggf. seiner Sorgeberech- Patienten sonst nichts dagegen spricht. tigten. • Es ist nicht zugelassen, die Behandlung mit Amfetamin- Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS, präparaten (Attentin, Elvanse) zu beginnen, wenn nicht bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine zuvor ein Behandlungsversuch mit Methylphenidat er- Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezia- folgt war. listen mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und • Die Behandlung mit Intuniv ist für Kinder und Jugendli- Sucht erfolgen. che im Alter von 6-17 Jahren nur dann zugelassen, wenn eine Behandlung mit Stimulanzien nicht in Frage kommt Welche Untersuchungen sollten vor Beginn einer Be- oder unverträglich ist oder sich als unwirksam erwiesen handlung mit Medikamenten durchgeführt werden? hat. • Bei Patienten mit ADHS und gleichzeitig vorhandener Vor dem Beginn einer Behandlung mit Medikamenten Störung des Sozialverhaltens oder antisozialer Persön- sollte eine erneute körperliche und neurologische Unter- lichkeitsstörung soll auch die Behandlung mit Stimulan- suchung erwogen werden. Besonders erfragt werden sollen zien begonnen werden. Symptome, die auf eine Herz-Kreislauferkrankung hin- • Bei Patienten mit ADHS und koexistierenden Ticstörun- weisen könnten (z. B. Kreislaufzusammenbruch oder eine gen sollen Stimulanzien oder alternativ Atomoxetin oder nicht erklärliche Atemnot) und eventuelle familiäre Vorbe- Guanfacin gewählt werden. lastungen im Hinblick auf Erkrankungen des Herz-Kreis- • Bei Patienten mit ADHS und gleichzeitig vorhandenen laufsystems. Angststörungen sollen Stimulanzien oder alternativ Ato- Vor jeder Einstellung mit Medikamenten sollen zumindest moxetin gewählt werden. Puls und Blutdruck sowie das Körpergewicht und die Kör- • Bei Patienten mit ADHS und Substanzkonsum mit er- pergröße bestimmt werden. höhtem Risiko für nicht bestimmungsgemäßen Ge- Die Durchführung eines EKGs sollte dann erfolgen, wenn brauch der Medikamente sollen langwirksame Stimulan- sich aus der Vorgeschichte oder bei einer körperlichen Un- zien oder alternativ Atomoxetin oder Guanfacin gewählt tersuchung Hinweise auf eine Herz-Kreislauferkrankung werden. ergeben oder eine entsprechende familiäre Belastung vor- • Bei Patienten, bei denen sich eine Behandlung mit Sti- liegt. Falls nötig sollte dann ein Kardiologe bzw. Kinderkar- mulanzien als ineffektiv erwiesen hat, obwohl die Dosis diologe zu Rate gezogen werden. bis zur maximal verträglichen Höhe gesteigert wurde, soll ein anderes Stimulanz, Atomoxetin oder Guanfacin Kommentar zur Empfehlung: gewählt werden. Die Voruntersuchungen orientieren sich an häufig auf- tretenden und bedeutsamen unerwünschten Wirkungen Bei Patienten mit ADHS, deren Symptomatik weder auf (welche unerwünschten Wirkungen es gibt, wird weiter Stimulanzien (Methylphenidat, Dexamfetamin) noch auf unten ausgeführt). Da Puls- und Blutdrucksteigerungen Atomoxetin oder Guanfacin anspricht bzw. bei welchen sowie Appetitminderung und Auswirkungen auf das Län- die genannten Medikamente zu nicht ertragbaren uner- genwachstum zu den häufigsten unerwünschten Wirkun- wünschten Wirkungen führen, kann eine Kombination gen zählen, wird empfohlen standardmäßig Puls, Blut- verschiedener Wirkstoffe erwogen werden, unter Beach- druck, Körpergewicht und Körpergröße zu bestimmen. tung der jeweiligen Fachinformation. Da andere unerwünschte Wirkungen seltener auftreten, Wenn mehrere Medikamente zur Behandlung in Frage ist eine standardmäßige Untersuchung vor Beginn einer kommen und als gleichwertig zu betrachten sind, sollte zu- medikamentösen Therapie nicht empfohlen und sollte im nächst das kostengünstigere Präparat gewählt werden. Einzelfall dann durchgeführt werden, wenn sich aus der Antipsychotika sollen für die Behandlung einer ADHS eigenen Krankheitsvorgeschichte oder der Krankheitsvor- ohne assoziierte Störungen nicht eingesetzt werden. geschichte der Familie Hinweise auf das Vorliegen einer Bei Patienten mit ADHS und stark ausgeprägter Impuls- Herz-Kreislauferkrankung ergeben. kontrollstörung und aggressivem Verhalten kann die be- Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes. neue AKZENTE Nr. 117 3/2020
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