Amazon kennt dich schon - Vom Einkaufsparadies zum Datenverwerter Carsten Knop

 
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Carsten Knop

Amazon
kennt dich schon
Vom Einkaufsparadies zum Datenverwerter
Vorwort

Als Jeff Bezos im Jahr 1994 von der Ostküste der Vereinigten Staaten
Richtung Westen fuhr, hatte er eine Idee im Kopf, die die Art und
Weise wie Menschen Bücher kaufen, vollkommen verändern sollte.
Das Unternehmen, das er in Seattle gründete, heißt Amazon. Zu-
nächst wurde es belächelt: Bücher über das Internet versenden, wie
sollte man damit Geld verdienen? Bald schon, so hieß es, werde Ama-
zon pleite sein. Die Anlaufkosten seien viel zu hoch, die Margen zu
niedrig. War es nicht viel inspirierender, seine Bücher aus der Buch-
handlung zu beziehen? Aber Bezos’ Idee überlebte das Zerplatzen der
Internetblase. Sie führte zu einem Welterfolg. Das Unternehmen wird
an der Börse sogar ehrgeiziger bewertet als der Elektronikkonzern
Apple.
Längst verkauft Amazon viel mehr als Bücher. Amazon hat fast alles
im Angebot, was Menschen brauchen. Das Unternehmen wird über
die elektronischen Bücher auf seinen „Kindle“-Lesegeräten zum Se-
gen und Fluch für Verlage zugleich – und sammelt dabei en passant
seit Jahren Daten über die Einkaufsgewohnheiten seiner Kunden. So
hat Bezos Amazon nicht nur zum Pionier und Effizienz-Weltmeister
des Onlinehandels gemacht. Er kennt seine Kunden viel besser als
traditionelle Einzelhändler. Die könnten mit den neusten Trends in
der Informationstechnologie rund um das Stichwort „Big Data“ in
mancher Hinsicht zwar bald nachziehen. Aber Bezos ist schon wieder
einen Schritt weiter: Er vermietet die Kapazität seiner Rechenzent-
ren an Dritte; er verdient Geld mit der Vermarktung seiner in der
digitalen Datenwolke „Cloud“ vorgehaltenen Programme zur Aus-
wertung von Kundendaten. Und irgendwann fliegt er vielleicht sogar
ins Weltall.
Dabei gilt, wie immer bei Bezos: Wer zahlt, darf mit auf die Reise.
Auch dieses Buch ist eine Reisebeschreibung: Es handelt von der Reise
des Jeff Bezos – von seinen familiären Wurzeln in Texas über seine
Ausbildung, seine ersten Karriereschritte an der Ostküste der Verei-
nigten Staaten, bis hin zur Unternehmensgründung im hohen Nord-
westen. Es versucht, auch im Rahmen einer persönlichen Begegnung
mit Bezos, die Frage zu beantworten, was ihn beruflich antreibt, war-
um er stets bereit ist, für große Zukunftspläne viel zu investieren –
und welche strategischen Überlegungen hinter Amazon.com stecken.

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Es handelt damit zwangsläufig von einer Reise durch die Welt der
Daten – und wie diese zum Nutzen von Unternehmen (und vielleicht
auch von Konsumenten) gesichtet und ausgewertet werden können.
Auch die in Deutschland zuständige Gewerkschaft Verdi ist schon zu
der Vermutung gelangt, dass alle Aktivitäten letztlich einer großen
Datensammlung dienen.
Dabei muss sich die Gewerkschaft im Alltag vor allem um manches
Unbill kümmern, das den vielen tausend Saison- und Leiharbeitern
von Amazon widerfahren kann. Berichte über eine schlechte Behand-
lung dieser Arbeitskräfte haben die Deutschen Anfang 2013 bis hin
zur Bundesarbeitsministerin aufgeschreckt, die sogleich eine Unter-
suchung der Arbeitsbedingungen ankündigte.
Das Buch ist aber auch für die Wettbewerber von Amazon interessant:
Es zeigt Möglichkeiten auf, wie man auf die Herausforderung durch
Bezos’ Unternehmen reagieren kann. Aussagen und Analysen zu
Amazon gibt es aus der Branche übrigens viele – je näher man aber
Ansprechpartnern kommt, die unmittelbar auf Amazon und seine
Dienstleistungen angewiesen sind, desto weniger wollen sie über ihre
Beziehungen sagen. An dieser Stelle zeigt sich, wie groß die Macht
von Amazon schon ist.
Schließlich handelt das Buch von einer persönlichen Reise des Autors
als Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durch die
Vereinigten Staaten, von Gesprächen mit Buchhändlern, Berichten in
Tageszeitungen über das Phänomen Amazon, vom Besuch insolven-
ter Internetunternehmen im Silicon Valley, von neuen Anfängen in
Deutschland – und von einer Wanderung durch wunderbare Natur,
die Bezos so gerne einmal von ganz oben betrachten möchte. An eini-
gen dieser Stellen ist das Buch damit kein reines Sachbuch mehr.
Aber Bücher sind ja stets mit Emotionen verbunden, beim Autor,
beim Leser, beim Verleger und beim Händler: Willkommen in der
Welt von Amazon.

Frankfurt, im Frühjahr 2013
Carsten Knop

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1.    Unsere alte Buchhandlung

Beginnen wir mit meinem Vater, einem sehr belesenen Mann. Als er
starb, hinterließ er viele Bücher. Wenn man sie aufblättert, findet
sich, meist auf der dritten Seite, sein handgeschriebener Name und
das Jahr sowie der Monat, in dem er das Buch gekauft hat. Er war
Oberstudienrat, unterrichtete an unserem Gymnasium unter ande-
rem Deutsch, und las. Wenn er einmal kein Buch las, war es eine Zei-
tung. Gerne auch die Frankfurter Allgemeine, die mich zu jener Zeit
erschreckte. Ein Bild auf der ersten Seite gab es da noch lange nicht,
gleichwohl erschienen meinem Vater Zeitung oder Buch zu jeder Zeit
spannender zu sein, als der Krimi oder die Abendshow im Fernsehen.
Die hießen damals „Dalli Dalli“, „Der große Preis“, „Derrick“ oder
„Ein Fall für Zwei“. Er aber las, und als er etwas älter und der Abend
etwas später wurde, schlief er darüber auch einmal ein. Einen Com-
puter, der meinen Vater vom Bücher- oder Zeitungslesen hätte abhal-
ten können, gab es damals noch nicht – ein Commodore 64 stand al-
lenfalls im Kinderzimmer, das Wort Internet hatte noch nie jemand
gehört, die Mauer teilte Deutschland in zwei Hälften, die Welt insge-
samt fühlte sich etwas enger an, aber – und das wusste ich damals
durchaus – die Welt der Bücher war so weit wie man sie sich nur
vorstellen konnte.
Natürlich hatte mein Vater auch eine Stamm-Buchhandlung. Als sie
starb, war mein Vater lange tot. Sie stand in Hörde, einem Stadtteil
meiner Dortmunder Heimat. Geschlossen hat sie im Jahr 2008, am
Ende einer fast 100 Jahre währenden Geschichte. Die Buchhandlung
hieß Neumann, sie sah von außen sehr klein aus. Aber wenn man die
Tür öffnete und eintrat, entdeckte man als Kind einen langen, nach
hinten leicht ansteigenden Raum mit – so erschien es dem Schüler
jedenfalls damals – recht hohen Wänden, ebenso hohen Regalen und
Büchern in einer Zahl, die man in seinem Leben niemals würde lesen
können. Wenn es draußen kalt war, war es innen warm. Die Bücher
verströmten zudem einen Papiergeruch, der die Nase eine Weile be-
schäftigte. Dann ging man stöbern. Und zum Glück waren die Besu-
che in der Buchhandlung keine Seltenheit.
An manchen Tagen wurde es besonders aufregend. Dann musste ein
Buch bestellt werden. Obwohl die Buchhandlung so viele Bücher vor-
rätig zu haben schien, suchte mein Vater erstaunlich häufig nach

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Werken, die es eben doch nicht unmittelbar im Laden zu kaufen gab.
Dann wurde sein Name, den die Buchhändlerinnen ohnehin kann-
ten, notiert, der Titel des Buchs natürlich auch, und es wurde eine
Bestellkarte ausgefüllt. Alles gehe sehr schnell hieß es stets, man wer-
de sich melden, entweder per Telefon oder mit einer Postkarte. Natür-
lich wurde das Buch nicht nach Hause geschickt, wir mussten es ab-
holen. Also gab es eine Gelegenheit, wieder nach Hörde zu fahren
und die Buchhandlung zu besuchen – und dabei vielleicht abermals
ein weiteres, neues Buch zu entdecken.

Wahre Schätze aus dem Buchregal

Manchmal waren, jedenfalls aus meiner damaligen Sicht, wahre
Schätze dabei: Die Memoiren von Heinz Rühmann zum Beispiel habe
ich einmal entdeckt, obwohl ich gar nicht danach gesucht hatte, ein-
fach beim Stöbern in der Buchhandlung. Mein Opa sah dem deut-
schen Schauspieler, dem ein so langes Leben beschieden war, dass ich
ihn noch lebend im Fernsehen kennenlernen konnte, gerne zu.1 Das
Besondere war dann auch, dass diese spezielle Ausgabe sogar handsi-
gniert angeboten wurde. Es ist, wie ich finde, noch immer eines der
schönsten Weihnachtsgeschenke, die ich meinem Opa jemals ge-
macht habe.
Mit Beginn des Studiums habe ich die Buchhandlung nie wieder be-
treten. Sie hat sich danach zwar noch fast zwanzig Jahre lang gehal-
ten. Dann kam das Ende; irgendetwas sei im Schulbuchgeschäft
schief gelaufen, war damals in der örtlichen Presse zu lesen. Hinzu
kam zu jener Zeit ein Strukturwandel, der Hörde zu seinem Nachteil
veränderte – und etwas, was mein Vater in seinem Leben nicht mehr
kennengelernt hatte: Die Möglichkeit, Bücher über das Internet zu
bestellen. Mehrere Jahre musste Dortmund-Hörde in der Folge auf
eine Buchhandlung verzichten. Nicht nur für manchen Hörder dürf-
te das ein schwerer Verlust gewesen sein. Ein Stadtteil mit mehr als
50.000 Einwohnern und einem großen Einzugsgebiet umliegender
Dortmunder Stadtteile hatte für Bücher keine Anlaufstelle mehr.
Erst in jüngster Zeit hat sich gezeigt, dass das den Menschen in Dort-
mund ganz offensichtlich nicht gereicht hat. Die Großbuchhandlun-
gen in der Innenstadt sind austauschbar: mit ihrer anonymen Bera-

1    Heinz Rühmanns Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus wurde daheim immer wieder diskutiert. Sein Leben ist
     in dieser Hinsicht sehr differenziert zu betrachten. Wer daran Interesse hat: Der Eintrag über ihn im Online-Lexikon
     Wikipedia ist hervorragend.

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tung, mit dem immer größeren Zusatzsortiment, das in seiner Bü-
cherferne eher an einen Tchibo-Laden erinnert, und austauschbar
eben auch mit dem ebenso anonymen „Einkaufserlebnis“ im Internet.
Hinzu kommt dabei noch die Frage, die sich jedem stellt, der nun
lieber online einkaufen geht: Will man, dass das gesamte Einkaufs-
und Leseverhalten in irgendeinem Rechenzentrum in einem anderen
Land gespeichert und ausgewertet wird? Ist es nicht schöner, das Wis-
sen, die Empathie des Buchhändlers von nebenan zu nutzen, der den
Kunden noch persönlich kennt? Mancher Bücherfreund findet hier-
auf inzwischen spannende eigene Antworten, die ihn zum Beispiel in
innovative Stadtteilbuchhandlungen führen. Bis zu dieser noch recht
jungen Entwicklung sind aber viele Jahre vergangen.
Dazwischen liegt eine Idee des Amerikaners Jeff Bezos, dazwischen
liegt seine Unternehmensgründung im fernen Seattle – und im vor-
vergangenen Jahr eine weitere, dann wieder in Dortmund-Hörde.
Dies ist deshalb die Geschichte eines Einkaufsparadieses, das zum
globalen Datensammler und -verwerter wurde, und einer grauen Ein-
kaufswüste im Ruhrgebiet, in der durch liebevolle Eigeninitiative
Pflanzen der Hoffnung sprießen.

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5.      Die Kunden wollen Service –
        Mein Treffen mit Jeff Bezos

          „Der Online-Verkauf hat in Deutschland noch viel größere
                          Chancen als in den Vereinigten Staaten.“

     „Es ist sinnvoll, unser Wissen im Verkauf über das Internet nicht
                                 ausschließlich für Bücher zu nutzen.“
                                                          – Jeff Bezos –

Wer der Zentrale von Amazon im amerikanischen Seattle einen Be-
such abstattet, braucht keine Krawatte mitzunehmen. Am wenigsten
würde man unter den in der Regel sehr jungen Amazon-Mitarbeitern
wohl mit Wanderschuhen, Jeans und Karohemd auffallen. Auch für
ein Gespräch mit Bezos ist ein Anzug überflüssig. Der Amazon-Grün-
der hatte für dieses Kleidungsstück beruflich wahrscheinlich zuletzt
zu seiner Zeit als Angestellter von Bankers Trust Verwendung. Längst
bevorzugt er einen zwanglosen Kleidungsstil, dem seine Mitarbeiter
gerne folgen. Einer entsprechenden Vorahnung gehorchend, hatte
auch ich meinen Anzug vor dem Flug von der amerikanischen Ost- an
die Westküste im New Yorker Büro gelassen.
Amazon verkaufte zum Zeitpunkt meines Besuchs in Seattle im Spät-
sommer 1999 seit fast genau vier Jahren Bücher über das Internet.
Und obwohl inzwischen zahlreiche Wettbewerber hinzugekommen
waren, dürfte der Marktanteil von Amazon im Heimatland zu diesem
Zeitpunkt mindestens 75 Prozent betragen haben. Es war gar nicht
kompliziert gewesen, den Termin zu bekommen. Denn Amazon und
Bezos hatten inzwischen ihren Blick auch auf den deutschen Markt
geworfen. Die Aufbruchsstimmung, die das Ambiente verströmte,
nahm dem Besucher zudem jede Nervosität.
Gerade erst waren Bezos und seine Mitarbeiter umgezogen. Die Ver-
waltung der größten Buchhandlung im Internet befand sich nun in
einem ehemaligen, denkmalgeschützten Krankenhaus, das auf ei-
nem Hügel oberhalb der Innenstadt von Seattle liegt. Ein Schild, das
am Eingang auf das Unternehmen mit seinem schon damals inter-

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national bekannten Markennamen hinweisen würde, suchte man
allerdings vergeblich. Innen erinnerte der Eingangsbereich eher an
den Empfangsraum in einer großen Jugendherberge. In den Büros
saßen die Mitarbeiter hinter Holzschreibtischen, die sie selbst ge-
baut hatten.
Darauf angesprochen, hatte der damals erst 35 Jahre alte Bezos zum
ersten Mal Gelegenheit, in sein stets raumfüllendes und wirklich be-
merkenswertes Gelächter auszubrechen: „Weißt du, wer die ersten
drei Tische zusammengeschraubt hat?“, fragte er. „Das war ich. Wir
haben sie auf unserer Auktionsseite versteigert. Weißt du, wie viel sie
gebracht haben? Mehr als 35 000 Dollar. Und wer hat sie wohl ge-
kauft? Das war meine Mutter.“ Doch Spaß beiseite: Bezos, der so lo-
cker redet, dabei aber gar nicht lässig, sondern eher ein wenig ma-
nisch und zugleich sehr kontrolliert auftritt, hatte mit seiner Idee,
Bücher und zu jenem Zeitpunkt auch schon Compact Discs, Videofil-
me, Spielzeug oder Elektrogeräte über das Internet zu verkaufen, ein
Unternehmen wie eben Bertelsmann dazu veranlasst, das eigene Kon-
zept des Buchverkaufs vollkommen in Frage zu stellen. Danach hat er
nicht aufgehört, auch sein eigenes Geschäftsmodell ständig in Frage
zu stellen – in seinem Fall mit Erfolg.

Bestellungen aus aller Herren Länder

Wenige Monate vor der Verabredung in Seattle wurde Bezos’ Unter-
nehmen an der Börse auf dem bis dato erreichten Höchststand mit 36
Milliarden Dollar bewertet; Bezos’ Anteil war damals schon 13 Milli-
arden Dollar wert, hatte also Dimensionen erreicht, die ein normaler
Menschenverstand nicht mehr recht fassen kann. Die Kundenzahl
erreichte beeindruckende 10,7 Millionen. Bestellungen wurden aus
160 Ländern aufgegeben. Für das gesamte Jahr 1999 wurde mit einem
Umsatz von 1,4 Milliarden Dollar und für das Jahr 2000 mit einem
Umsatz von 2,3 Milliarden Dollar gerechnet. Das Geschäft in Deutsch-
land und Großbritannien, das Amazon damals erst seit rund neun
Monaten betrieb, sollte ebenfalls schon 100 Millionen Dollar zum
Umsatz beitragen.
Bezos war mit der bisherigen Entwicklung natürlich sehr zufrieden:
„Auch wenn Du es nicht glaubst, der Online-Verkauf hat in Deutsch-
land noch viel größere Chancen als in den Vereinigten Staaten“, sagte
er zu mir. Ein großer Vorteil sei es nämlich, dass die Postzustellung
erheblich besser funktioniere als etwa in Amerika. „Mehr als 90 Pro-

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zent aller Standardpakete und -päckchen kommen in Deutschland
am nächsten Tag an. Das ist hierzulande nicht zu schaffen.“ Der Vor-
sprung der Deutschen Post gegenüber dem ineffizienten Staatsunter-
nehmen United States Postal Service hat sich seither übrigens eher
noch vergrößert, worüber sich Frank Appel, der Vorstandsvorsitzende
der Post in einem späteren Kapitel noch freuen darf: Gerade der Pa-
ketversand beschert der deutschen Post im Online-Boom deshalb
auch beträchtliche Zuwächse.

Hoffnungsträger Deutschland

Zwar hinke Deutschland bei der Internet-Nutzung insgesamt noch
Amerika hinterher, fuhr Bezos damals fort. „Das wird sich aber än-
dern.“ Bald seien die Telefonkosten nicht mehr so wichtig (auch da-
mit sollte er Recht behalten); die Wachstumschancen der gesamten
Branche seien deshalb gerade in Deutschland überdurchschnittlich
gut. Amazon wollte auch aus diesem Grund im hessischen Bad Hers-
feld sein erstes deutsches Warenverteilzentrum bauen. Zum Einstieg
verkaufte Amazon in Deutschland zunächst nur Bücher. Doch war es
Bezos bereits damals klar, dass auch im Ausland schon sehr bald die
gesamte Amazon-Produktpalette angeboten werden würde.

Das Amazon-Logistizentrum in Bad Hersfeld

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Die Frage, ob er sich auf diesem Weg nicht immer mehr den traditio-
nellen Einzelhandelskonzernen annähere, sich also auf ein Gebiet
begebe, auf dem er keinen Erfahrungsvorsprung mehr habe, beant-
wortete Bezos mit der lapidaren und überaus ernstgemeinten Bemer-
kung, der Wettbewerb interessiere ihn nicht besonders, interessant
seien nur die Kunden. „Wir wissen inzwischen recht gut, wie ein Kun-
de im Internet bedient werden will. Es ist sinnvoll, dieses Wissen
nicht ausschließlich für Bücher zu nutzen. Und wir werden unser
Sortiment auch noch weiter ausbauen.“ Der Wettbewerb werde näm-
lich noch lange brauchen, um das besondere interaktive Einkaufser-
lebnis, das die Kunden von Amazon hätten, zu erreichen. Diesen Vor-
sprung müsse man nutzen.
Mangelndes Selbstbewusstsein plagte Bezos also nicht. Und auch die
Macht der Daten, die das Unternehmen über das Einkaufsverhalten
der Konsumenten sammelte, hatte er früh erkannt. Dabei gab es stets
viele kritische Stimmen, nicht wenigen erschien das Vorgehen von
Bezos dann doch zu draufgängerisch, die Strategie als allzu visionär:
Die Börse hatte zu jener Zeit jedenfalls den Verdacht, dass die kurz
zuvor erreichte hohe Bewertung vielleicht doch arg übertrieben war.
Zum Zeitpunkt des Treffens war das Unternehmen deshalb nur noch
19 Milliarden Dollar und Bezos’ Anteil 7 Milliarden Dollar wert. Bezos
hat das nicht gestört. Und die Aktionäre, die mit ihm die Nerven be-
hielten, wurden stets belohnt.
Die Investitionen in Warenverteilzentren, die Amazon auch in den
Vereinigten Staaten tätigte, wurden scharf kritisiert, da auf das Un-
ternehmen hohe Fixkosten für die Lager zukämen. Zudem mache
Amazon mit jedem verkauften Bestseller, die in den Vereinigten Staa-
ten mit den schon erwähnten hohen Rabatten losgeschlagen werden,
Verlust. Tatsächlich hatte Bezos seine Anleger davor gewarnt, es wer-
de wegen der vielen Unternehmenskäufe wohl doch noch etwas län-
ger dauern, bis man Gewinn machen werde. Zuerst gingen Investitio-
nen in das künftige Wachstum außerhalb des Buchgeschäfts vor. Eine
angesehene amerikanische Wirtschaftszeitung hatte das Unterneh-
men daher schon in „Amazon.bomb“ umgetauft.

Das Geschäftsmodell verstehen

Bezos focht das nicht an: „Ja, die Artikel lese ich“, räumte er zwar ein.
„Aber ich denke mir dann nur, dass diese Leute unser Geschäftsmo-
dell eben noch immer nicht verstanden haben. Und dann bin ich ei-

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gentlich ganz zufrieden.“ Die neuen Warenverteilzentren seien uner-
lässlich; die Rabatte für den Gewinn nicht so bedeutend, wie vermu-
tet werde, und den Aktienkurs behalte er ohnehin nicht jeden Tag im
Auge. Das sage er auch den Mitarbeitern, die am Unternehmen ja
ebenfalls beteiligt seien.
Nach den künftigen Entwicklungsmöglichkeiten befragt, schloss Be-
zos damals recht überraschend den Einstieg in den traditionellen,
an Geschäfte gebundenen Einzelhandel nicht aus. „Wenn unsere
Kunden das eines Tages wollen, werden wir es tun.“ Bisher – und
daran hat sich bis heute nichts verändert, auch wenn es erste Diskus-
sionen um ein sogenanntes „Multi-Channel-Konzept“ für Amazon
gibt – habe er allerdings nicht das Gefühl, dass seine Kunden dies
wünschten. Denen gehe es darum, gut und vor allem schnell bedient
zu werden.
Einen eventuellen Einstieg von Amazon in das Geschäft des Online-
Aktienhandels, dem er selbst ja schon einmal so nah gewesen war,
schloss Bezos hingegen aus. Das sei dann doch zu weit vom Kernge-
schäft seines neuen Unternehmens entfernt. Verbesserungspotential
sah Bezos schon damals vor allem in den Möglichkeiten, das Angebot
von Amazon individuell auf den jeweiligen Nutzer zuzuschneiden.
Gerade auf diesem Gebiet lägen die großen Möglichkeiten des Inter-
net, und hier gebe es noch viel zu tun.
Gewiss hatte Bezos zu diesem Zeitpunkt also bereits den Gedanken,
Amazon zu einem großen und systematischen Datensammler von
Kundeninteressen zu machen: „Amazon kennt dich schon“ – eine sol-
che Aussage hätte für Bezos nichts Bedrohliches in sich, geht es für
ihn vordergründig doch immer nur um den besten Kundenservice,
hintergründig gewiss aber vor allem um das beste Geschäft. Das
stand, wie von Bezos formuliert, zu jenem Zeitpunkt noch immer
ganz im Zeichen des ungestümen Wachstumswillens. So ging es zu
Zeiten des allgemeinen Internet-Hypes auch noch eine Weile weiter.
Aber irgendwann musste selbst Bezos kräftig auf die Bremse treten.
Anders als anderen Internetunternehmern gelang es ihm, dem Kont-
rollfreak, in den folgenden Jahren aber, sein Amazon-Projekt unter
Kontrolle zu behalten. Es war zum Zeitpunkt des Zerplatzens der In-
ternetblase groß genug, um nicht umzufallen. Doch auf das Kapitel
„Wachsen, wachsen, wachsen“ folgte nach dem Ende der Begeiste-
rung an den Börsen zunächst das Kapitel „Sparen, sparen, sparen“.

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