Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus - Markus Widenmeyer
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Markus Widenmeyer Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus Buch WoG 2.A 150115.indd 3 15.01.15 13:11
Inhalt 1. Einleitung ............................................................................................... 7 2. Drei Formen des Naturalismus ........................................................... 15 2.1 Der Welt- und Götterentstehungsmythos Babylons ........................................ 17 2.2 Die Schattenwelt in Platons Höhlengleichnis ................................................... 22 2.3 Der Naturalismus in seiner heutigen Form ...................................................... 24 3. Naturalismus und Menschenbild ...................................................... 29 3.1 Naturalismus und Moral ..................................................................................... 32 3.2 Naturalismus und Freiheit .................................................................................. 41 3.3 Naturalismus und Erkenntnisfähigkeit ............................................................. 54 4. Naturalismus, Politik und Gesellschaft ............................................ 61 4.1 Der Verlust der Moral ........................................................................................... 64 4.2 Der Verlust des Menschen ................................................................................... 78 4.3 Die „machtvolle Propagandakampagne“ des Naturalismus ......................... 84 5. Grenzen der Naturwissenschaft ......................................................... 95 5.1 Prinzipielle Grenzen der Naturwissenschaft .................................................... 98 5.2 Die Naturwissenschaft als Kulturprodukt ........................................................ 112 6. Naturalismus und das Problem der Ordnung ................................. 119 7. Naturalismus und das Problem des Geistigen ................................ 145 7.1 Das Geistige (Teil 1), Subjekt und Bewusstseinsinhalte .................................. 150 7.2 Das Geistige (Teil 2), Intentionalität ................................................................... 157 7.3 Können wir auf Geist verzichten? ...................................................................... 164 7.4 Die Identitätstheorie ............................................................................................. 166 7.5 Ist Geist emergent? ................................................................................................ 174 7.6 Alternativen zum Naturalismus ......................................................................... 178 8. Gott oder Mythos? ................................................................................. 193 8.1 Das Scheitern des Naturalismus ......................................................................... 195 8.2 Der Theismus ......................................................................................................... 197 8.3 Die Flucht vor Gott ............................................................................................... 209 8.4 Der Glaube an Gott ............................................................................................... 222 Dank ............................................................................................................... 228 Verzeichnis einiger philosophischer Begriffe ........................................ 229 Literaturverzeichnis ..................................................................................... 231 Buch WoG 2.A 150115.indd 5 15.01.15 13:11
1 Einleitung Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen Buch WoG 2.A 150115.indd 7 15.01.15 13:11
9 Modernes Denken ist, dass wir bei dem, was wir für wahr oder falsch halten, uns oft von unseren Wün- Das Wort „modern“ klingt für die meisten schen und Gefühlen leiten lassen. Wir hal- Menschen positiv. Sie sind mehr oder weni- ten etwas für wahr, weil es uns angenehm ger stark bestrebt, „modern“ zu leben und erscheint, oder für falsch, weil es uns unan- zu denken. Eine wesentliche Bedeutung genehm erscheint. In der Regel versuchen des Wortes „modern“ ist „der herrschenden wir nachträglich eine Begründung für eine Denk- und Lebensweise entsprechend“. gern gehegte Überzeugung zu finden. Man Wahrscheinlich waren die Menschen in nennt dies „Rationalisierung“. Ähnlich wie diesem Sinne schon immer mehrheitlich bei Suchtkranken tun wir uns manchmal modern. Es gibt hier aber eine recht proble- recht schwer, liebgewordene Denk- und Le- matische Seite: Moderne Menschen glauben benskonzepte aufzugeben, selbst wenn ge- mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gen sie, objektiv betrachtet, sehr gewichtige und Unbeirrbarkeit an die jeweils vorherr- Gründe im Raum stehen sollten. Die Phi- schenden Sichtweisen über die Welt und losophin Barbara Zehnpfennig formulierte über das, was gerade als richtig und falsch dies in Bezug auf den Fall Sokrates so:1 gelten soll – ohne es meist wirklich geprüft zu haben. Nicht selten sind sie dabei über „Der Widerstand, der Sokrates entge- abweichende Sichtweisen empört, weil genschlug, ist der Widerstand gegen sie es als lächerlich, übelwollend oder ge- die Aufgabe der eigenen Prämissen. fährlich ansehen, andere als die allgemein Da es sich in der Regel um Prämissen vertretenen Meinungen zu haben oder zu handelt, auf denen Lebensgebäude er- äußern. Es kann so weit gehen, dass dieje- richtet sind, wird die Vehemenz des Wi- nigen, die die herrschenden Ansichten in derstands deutlich.“ Frage stellen, von ihren Zeitgenossen diffa- miert, unterdrückt oder gar getötet werden. Nun ist die Ansicht, dass die Menschen Der griechische Philosoph Sokrates wurde zu früheren Zeiten in vielen Dingen unauf- in der vermutlich frühesten Demokratie der geklärt, unvernünftig und einseitig be- Menschheitsgeschichte von einem Volks einflusst gewesen seien, gerade heute fast gericht zum Tod durch Vergiften verurteilt. Gemeingut. Entsprechend häufig zu hören Er hinterfragte Überzeugungen, mit denen ist die Rede vom angeblich „finsteren Mit- sich seine Zeitgenossen offensichtlich stark telalter“. Und von Zeitgenossen, die sich identifizierten, während sie aber nicht wil- in ihrer Denk- und Lebensweise nicht dem lens oder in der Lage waren, sie argumenta- herrschenden Zeitgeist anpassen, sagt man tiv zu reflektieren. heute gerne, sie seien „noch nicht in der Mo- Solche typisch menschlichen Haltungen derne angekommen“ – oder gar Schlimme- haben Ursachen, die weitgehend unabhän- res. Das sind typische Kontraindikatoren. gig von unserer Intelligenz sind und oft un- Die Berufung auf Prädikate wie „modern“ bewusst wirken. Eine Ursache ist, dass wir oder „zeitgemäß“ ist eher ein Indiz dafür, Menschen uns gewöhnlich sehr stark nach dass bei der Bildung einer Überzeugung der Sichtweise einflussreicher und angese- die Kraft der Argumente wohl nicht die hener Vorbilder, einem herrschenden Trend entscheidende Rolle gespielt hat. Wir Men- oder der (vermuteten) Mehrheitsmeinung schen neigen schnell dazu, das als Standard ausrichten. Ein solches Verhalten wird oft anzuerkennen, was wir als die aktuell vor- als „Herdentrieb“ oder „Schwarmverhal- herrschende Meinung wahrnehmen. Und ten“ bezeichnet und ist zum Beispiel an den diese Meinung wird, wenn überhaupt, Finanzmärkten gut erforscht. Neben einer meistens nur intuitiv und nicht gründlich gewissen Schwarmintelligenz gibt es dabei bekanntermaßen unzählige (und teure) Fäl- le kollektiven Irrtums. Eine andere Ursache 1 Zehnpfennig 2005, 40. Buch WoG 2.A 150115.indd 9 15.01.15 13:11
10 argumentativ geprüft. Der Psychologe und irgendeiner anderen Zeit war. Es kann aber Nobelpreisträger Daniel Kahneman nannte sehr irreführend sein, etwas deshalb für es so, dass wir häufig zu sogenannten „ko- wahr zu halten, weil es allgemein als selbst- gnitiven Verzerrungen“ neigen. Es handelt verständlich angesehen wird. sich um ein durch unsere Intuition geleite- tes, systematisch falsches Denken. Ein wei- teres Beispiel neben den bereits genannten Der Naturalismus ist die sogenannte „Verfügbarkeitsheuris- tik“. Kahneman schrieb:2 Das Wort „Naturalismus“ ist in der Öffent- lichkeit nicht sehr geläufig. Dabei ist der „So haben beispielsweise Politikwis- Naturalismus der weltanschauliche Denk senschaftler herausgefunden, dass die rahmen, der den modernen Menschen Verfügbarkeitsheuristik erklären hilft, sehr stark prägt. Dieser Denkrahmen wird weshalb einige Probleme in der Öffent- in diesem Buch dargestellt, analysiert und lichkeit große Aufmerksamkeit finden, schließlich widerlegt. Warum ist es wich- während andere vernachlässigt wer- tig, sich damit zu beschäftigen? Die Frage den. Menschen neigen dazu, die relative nach der Wahrheit oder Falschheit unserer Häufigkeit von Problemen danach zu Weltsicht betrifft die grundlegendsten und beurteilen, wie leicht sie sich aus dem wichtigsten Dinge, die es gibt. Eine vorherr- Gedächtnis abrufen lassen – und diese schende Weltsicht kann nicht nur gesell- Abrufleichtigkeit wird weitgehend von schaftliche und politische Auswirkungen dem Ausmaß der Medienberichterstat- haben. Wenn es ein objektives Ziel, einen tung bestimmt. Häufig erwähnte The- objektiven Sinn unseres Lebens geben soll- men ziehen unsere Aufmerksamkeit te, wenn es, in anderen Worten, Gott gibt, auf sich, während andere aus dem Be- wäre es vermutlich das Schlimmste, was wusstsein verschwinden.“ uns passieren könnte, dass wir an diesem Ziel vorbeileben. Die genannten Faktoren machen es Die Wirklichkeitsauffassung des Natura- verständlich, dass wir Menschen kollek- lismus kann grob so dargestellt werden: tiv ziemlich falsche Vorstellungen über die Welt besitzen können. Und sie ma- 1. Der Ursprung der Welt ist nichtgeis- chen verständlich, dass gerade heute durch tig, materiell und nicht oder wenig geord- Massenmedien oder staatlich koordinier- net. te Bildungseinrichtungen sehr effektive 2. Das Höhere und Komplexere stammt Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Mei- vom Niederen und Einfachen ab. nungen zu machen, zu steuern und relativ 3. Die Welt und alle ihre Ausstattungs- einheitlich auszurichten.3 Eine Tatsache, die merkmale entwickelten sich auf Grundlage von denen, die „ihre“ Meinung einfach nur blinder Naturvorgänge mit einem praktisch an den Zeitgeist anpassen, erfolgreich ver- unbegrenzten schöpferischen Potenzial. drängt wird. 4. Die hochgradige Ordnung der Welt Natürlich ist eine Sichtweise nicht deshalb ist eine Variante der Unordnung. Sie ist falsch, weil sie heute modern ist oder es zu letztlich eine radikal unerklärbare Tatsache. 2 Kahneman 2011, 20. „offiziell“ oder „vorbildlich“ empfinden. Leit- 3 Theoretisch könnte das Internet dieser Einheit- meinungen werden ohnehin mit signifikant lichkeit entgegenwirken. Es scheint aber nichts mehr finanziellen und oft auch politischen Wesentliches daran zu ändern, dass viele Men- Mitteln ausgestattet sein, um entsprechend wir- schen einen Mainstream wahrnehmen und sich kungsvoll präsentiert zu werden (siehe auch intuitiv danach ausrichten: Sie glauben tenden- Abschnitt 4.3). ziell das, was sie als „seriös“, „mehrheitlich“, Buch WoG 2.A 150115.indd 10 15.01.15 13:11
11 5. Geist ist eine Variante des Nichtgeisti- der menschliche Geist, der die Natur wahr- gen und ebenfalls eine radikal unerklärbare nimmt, die Daten ordnet und Naturwis- Tatsache, die „einfach so“ zustande gekom- senschaft betreibt. Wir werden diese und men ist. ähnliche Punkte an geeigneter Stelle recht 6. Der Mensch ist nichts als Materie. Er gründlich betrachten. ist letztlich vollständig durch blinde, nicht- Ein weiterer, bemerkenswerter Umstand geistige Faktoren festgelegt und hat keinen ist, dass der Naturalismus wesentliche welt- freien Willen. anschauliche Prinzipien mit pantheistischen 7. Objektive Moral oder Ethik gibt es oder polytheistischen4 Mythen des Alter- nicht. Moralvorstellungen sind relativ und tums teilt. Zentral ist hier ein fundamenta- beliebig und sie entwickeln sich. Letztlich les Entwicklungs- und Fortschrittsprinzip, stammen sie von nichtmoralischen Sachver- das letztlich im Wesen der Materie gründen halten her und sind darauf zurückführbar. soll. Nach dieser Vorstellung wird aus ei- 8. Es gibt keinen Gott, keine objektive nem realen „Weniger“ (oder gar aus dem Gerechtigkeit, keinen Sinn. Mit dem körper- Nichts) spontan ein ebenso reales „Mehr“. lichen Tod hören alle Menschen endgültig Dies war offenbar im Altertum genauso wie auf zu existieren. Sie müssen keine Verant- heute für viele Menschen intuitiv eingängig. wortung für ihr Leben übernehmen. Wir werden aber sehen, dass eine solche Vorstellung rational unhaltbar ist, weil die Der moderne Naturalismus wird auch nötigen realen Voraussetzungen für das Zu- weitgehend bedeutungsgleich als „Materi- standekommen dessen, was durch dieses alismus“, „Physikalismus“ oder „Reduktio- Prinzip erklärt werden soll, systematisch nismus“ bezeichnet, insofern für ihn Grund- ausgeblendet werden. lage und Ursprung der Welt materieller und Nichtsdestotrotz wird der Naturalismus physikalischer Natur sind. „Reduktionis- heute manchmal aggressiv vertreten – auch mus“ bedeutet, dass alles, was es gibt, auf mit Unterstützung der Medien und der Po- Materie beziehungsweise auf Physikalisches litik. Die häufige pauschale Gleichsetzung zurückgeführt (reduziert) werden kann. von „naturalistisch“ mit „wissenschaftlich“ Der Naturalismus gilt heute weitgehend ist aber nicht nur sachlich unhaltbar, sie als die moderne, wissenschaftliche Welt- kann schnell auch totalitäre Züge anneh- sicht. Gleichzeitig werden seine weltan- men: Denn ihr Umkehrschluss ist, dass schaulichen Prinzipien einer Interpretation nicht-naturalistische Sichtweisen generell wissenschaftlicher Daten zugrundegelegt. rückständig, unvernünftig und wissen- Insbesondere wird vorausgesetzt, dass schaftsfeindlich seien und man sie gegebe- prinzipiell alle Aspekte der Wirklichkeit nenfalls bekämpfen müsse. Es ist, wie wir mittels der fortschreitenden Naturwissen- sehen werden, kein Zufall, dass die großen schaft irgendwann erklärt werden könnten. totalitären Systeme der Zeitgeschichte, der Hier werden aber die methodischen und be- Nationalsozialismus und der Marxismus grifflichen Grenzen der Naturwissenschaft mit seinen Spielarten, beide eine naturalis- in entscheidender Weise überschritten: Tat- tische Grundlage haben. Bezeichnend ist sächlich beschreiben die Naturwissenschaf- ihr jeweiliges Selbstverständnis als „wis- ten lediglich die Regelmäßigkeiten unserer senschaftliche Weltsicht“. Beliebte Attribute Naturbeobachtungen. Die Regelmäßigkei- für die ungeliebten Kritiker des Naturalis- ten als solche können naturwissenschaftlich mus und ihre Positionen sind heute „obs- nicht erklärt werden, genauso wenig wie kur“, „mystisch“, „wissenschaftsfeindlich“, 4 Der Pantheismus ist die Anschauung, dass standene und meist menschenähnliche Gott- die immanente Natur göttlich oder Gott ist. heiten gibt. Hingegen sagt der Theismus, dass Der ähnliche Polytheismus sagt, dass es in der es einen transzendenten und absoluten Gott immanenten Natur relative, in der Regel ent- gibt. Buch WoG 2.A 150115.indd 11 15.01.15 13:11
12 „rückständig“, „mittelalterlich“, „funda- „Triumpf einer Ideologie über den gesunden mentalistisch“, „extremistisch“ und ähn- Menschenverstand“.8 liche. Das bekannteste Beispiel eines ag- Es ist wichtig zu sehen, dass der Natu- gressiv auftretenden und einflussreichen ralismus in praktisch allen weltanschauli- Naturalisten ist wohl Richard Dawkins. Sei- chen Fragen in einem radikalen Gegensatz ne Bücher wurden in Dutzende Sprachen zur christlich-abendländischen Weltsicht übersetzt und mehrere Millionen Mal ge- steht, die bislang unser westliches Denken druckt. Dawkins bezeichnete insbesondere geprägt hat: Ihr zufolge stammen die Welt Vertreter nicht-naturalistischer Konzepte und ihre Ausstattungsmerkmale wie ihre in der Biologie sinngemäß als hoffnungslos enorme strukturelle Ordnung, Leben, Be- rückständig, dumm, verrückt oder gar bös- wusstsein, Geist, Moralität und so weiter willig.5 Letztlich ist eine solche pauschale nicht einfach nur aus Dingen, die in Qua- Diskreditierung des Gegners ein Schach- lität und Grad prinzipiell weniger als sie zug, um eine sachbezogene, begrifflich kla- sind. Denn sonst wäre die Welt radikal un- re argumentative Auseinandersetzung zu erklärbar und intellektuell absurd. Stattdes- vermeiden. sen haben alle diese Dinge einen rationalen, Solche Kampagnen sind in ihrem Sinne verstehbaren Grund. Sie haben ihren Grund erfolgreich, da durch sie der Naturalismus in einer fundamentalen Rationalität und heute in vielen Bereichen als Standard gilt. damit in einer in jeder Hinsicht höheren In- Tatsächlich ist er aber eine weltanschauli- stanz, nämlich in Gott. Dadurch haben sie – che Position mit weitreichenden, oftmals und insbesondere auch der Mensch – einen bizarren und rational unannehmbaren Kon- Sinn. Der Philosoph Aristoteles kritisierte sequenzen. Einen Zwischenstand zog der bereits wesentliche Aspekte des Naturalis- Philosoph John Searle, der eigentlich selbst mus:9 dem Naturalismus (oder Materialismus) zugeneigt ist:6 „Denn dass sich im Sein und Werden das Gute und Schöne findet, davon „In einem gewissen Sinne ist der Ma- kann doch billigerweise nicht das Feuer terialismus die Religion unserer Zeit. oder die Erde oder sonst etwas dieser [Es] wird der Materialismus akzeptiert, Art die Ursache sein, […] aber ebenso ohne ihn zu hinterfragen.“ wenig ging es wohl an, eine so große Sache dem Zufall und dem Ungefähr Auch der Philosoph Thomas Nagel, zuzuschreiben. Als nun jemand er- ebenfalls selbst (gemäßigter) Naturalist, klärte, dass Vernunft wie in den le- kritisierte die heute übliche naturalistische benden Wesen so auch in der Natur Deutungshoheit in den institutionalisierten die Ursache aller Schönheit und aller Wissenschaften:7 Ordnung sei, da erschien er gegen die Früheren wie ein Nüchterner gegen Irre- „[F]ast jeder in unserer säkularen Kul- redende.“ tur wurde unter Druck gesetzt, damit er das reduktionistische Forschungs- Es gibt damit zwei ganz grundlegende programm als unantastbar anerkennt.“ Weltsichten, die Menschen einnehmen kön- nen und die klar voneinander abgrenzbar Dass es zu dieser Deutungshoheit eines sind: Im einen Fall beruht die Welt letztlich orthodoxen Naturalismus überhaupt kom- auf Vernunft oder, in anderen Worten, auf men konnte, bezeichnete Nagel als einen Geist. Im anderen Fall beruht sie auf Ver- 5 Dawkins 1989, 34f. 6 Searle 2006, 56. 8 Nagel 2012, 128. 7 Nagel 2012, 7. 9 Aristoteles Metaphysik, Buch 1, Kapitel 3. Buch WoG 2.A 150115.indd 12 15.01.15 13:11
13 nunftlosem und Geistlosem. Der Naturalis- sind verdächtig. Jede Argumentationskette mus stellt diesen zweiten Fall dar. ist höchstens so stark wie ihr schwächstes Glied. Immanuel Kant hat in seiner Schrift Was Vernünftiges Denken ist Aufklärung richtig dargelegt, dass der Mensch in Bezug auf das, was er für wahr Wie gesagt ist die Frage nach der Wahr- und richtig hält, eine persönliche Verant- heit oder Falschheit des Naturalismus von wortung trägt:10 größter Wichtigkeit, da an ihr die zentralen Fragen unserer Existenz hängen. Um eine „Aufklärung ist der Ausgang des Men- derart wichtige Frage zu beantworten, ist es schen aus seiner selbst verschuldeten keinesfalls ratsam, einfach dem zu folgen, Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das was die Medien, angesehene Vorbilder oder Unvermögen, sich seines Verstandes die Menschen um einen herum behaupten ohne Leitung eines anderen zu bedienen. und für wahr halten. Die Gefahr ist viel zu Selbstverschuldet ist diese Unmündig- groß, dass persönliche weltanschauliche keit, wenn die Ursache derselben nicht Haltungen, liebgewordene Lebenskon- am Mangel des Verstandes, sondern zepte, ideologische Beeinflussungen, ein der Entschließung und des Mutes liegt, gegenseitiges Nachplappern und andere sich seiner ohne Leitung eines andern Quellen kollektiven Irrtums den Ausschlag zu bedienen. […] Faulheit und Feig- geben. Genauso wenig ist es vernünftig, wie heit sind die Ursachen, warum ein so es heute viele tun, sich zur Rechtfertigung großer Teil der Menschen […] dennoch seiner Meinung auf „die Wissenschaft“, gerne zeitlebens unmündig bleiben und „die Vernunft“, „die Aufklärung“ oder „die warum es anderen so leicht wird, sich Mehrheit“ zu berufen, aber tatsächlich kei- zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ne guten und klaren Argumente zu haben. ist so bequem, unmündig zu sein.“ Vernünftig ist es hingegen, den Indizien und den daraus reflektiert und korrekt ge- Ziel dieses Buches ist eine klare und zogenen Schlüssen zu folgen – egal wo sie nachvollziehbare argumentative Beantwor- dann schließlich hinführen. Wollen wir den tung der Frage, ob der Naturalismus wahr Behauptungen anderer nicht letztlich blind oder falsch ist: Erscheint die Welt so, dass vertrauen, müssen wir die Argumente und sie auf blinde, nichtrationale und geist- Schlussfolgerungen selbst nachvollziehen lose Faktoren zurückzuführen ist? Oder und durchdenken. Dazu ist es nötig, das erscheint sie so, dass sie ihr Dasein einer klare und verständliche Argument einer un- äußerst rationalen, geistigen Instanz zu klaren und unverständlichen Darstellung verdanken hat? Diese beiden Auffassungen vorzuziehen, auch wenn letztere noch so ge- sind so radikal verschieden, dass eine klare lehrt, rhetorisch geschliffen und beeindru- und sichere Antwort durchaus zu erwarten ckend klingen mag oder von anerkannten ist. Die heute häufig gehegte Meinung, dass Persönlichkeiten vorgetragen wird. Gedan- es eine Frage des persönlichen Geschmacks kengänge, die an wesentlichen Stellen ge- sei, was wir glauben wollen, erscheint dage- dankliche Sprünge, ungedeckte Vorausset- gen recht unvernünftig. zungen, unklare Begrifflichkeiten oder gar Die Argumentation wird zeitweilig etwas Widersprüche enthalten, sind inakzeptabel. Konzentration erfordern. Für das Verständ- Auch Argumente, die wesentlich an unsere nis der wesentlichen Punkte sind aber keine Intuition und Vorstellungskraft appellieren, tieferen naturwissenschaftlichen oder phi- losophischen Kenntnisse nötig. (Einige phi- losophische Begriffe werden am Ende des 10 Genauer Titel der Preisschrift von 1784: „Beant- Buches erläutert.) Ich hoffe, dass die Abwä- wortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ gung zwischen argumentativer Gründlich- Buch WoG 2.A 150115.indd 13 15.01.15 13:11
14 keit, allgemeiner Verständlichkeit und einer heblichkeit kleidet, einer argumentativen jeweils gebotenen Kürze wenigstens in den Prüfung nicht standhält. Seine zentralen meisten Fällen gelungen ist. Das Resultat Grundsätze stellen sich als unhaltbar her- wird sein, dass der Naturalismus, der sich aus, sobald sie sauber analysiert und konse- heute meist mit Seriosität, nüchterner Wis- quent weiterentwickelt werden. Die Welt ist senschaftlichkeit und intellektueller Über- völlig anders, als der Naturalismus es sagt. Buch WoG 2.A 150115.indd 14 15.01.15 13:11
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