Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus - Markus Widenmeyer

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Markus Widenmeyer

                             Welt ohne Gott?
                               Eine kritische Analyse
                                 des Naturalismus

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Inhalt

         1. Einleitung ...............................................................................................                          7

         2. Drei Formen des Naturalismus ........................................................... 15
               2.1    Der Welt- und Götterentstehungsmythos Babylons ........................................                                  17
               2.2    Die Schattenwelt in Platons Höhlengleichnis ...................................................                          22
               2.3    Der Naturalismus in seiner heutigen Form ......................................................                          24

         3. Naturalismus und Menschenbild ...................................................... 29
               3.1    Naturalismus und Moral .....................................................................................             32
               3.2    Naturalismus und Freiheit ..................................................................................             41
               3.3    Naturalismus und Erkenntnisfähigkeit .............................................................                       54

         4. Naturalismus, Politik und Gesellschaft ............................................ 61
               4.1    Der Verlust der Moral ...........................................................................................        64
               4.2    Der Verlust des Menschen ...................................................................................             78
               4.3    Die „machtvolle Propagandakampagne“ des Naturalismus .........................                                           84

         5. Grenzen der Naturwissenschaft ......................................................... 95
               5.1    Prinzipielle Grenzen der Naturwissenschaft .................................................... 98
               5.2    Die Naturwissenschaft als Kulturprodukt ........................................................ 112

         6. Naturalismus und das Problem der Ordnung ................................. 119
         7. Naturalismus und das Problem des Geistigen ................................ 145
               7.1    Das Geistige (Teil 1), Subjekt und Bewusstseinsinhalte ..................................                                150
               7.2    Das Geistige (Teil 2), Intentionalität ...................................................................               157
               7.3    Können wir auf Geist verzichten? ......................................................................                  164
               7.4    Die Identitätstheorie .............................................................................................      166
               7.5    Ist Geist emergent? ................................................................................................     174
               7.6    Alternativen zum Naturalismus .........................................................................                  178

         8. Gott oder Mythos? ................................................................................. 193
               8.1    Das Scheitern des Naturalismus .........................................................................                 195
               8.2    Der Theismus .........................................................................................................   197
               8.3    Die Flucht vor Gott ...............................................................................................      209
               8.4    Der Glaube an Gott ...............................................................................................       222

         Dank ............................................................................................................... 228
         Verzeichnis einiger philosophischer Begriffe ........................................ 229
         Literaturverzeichnis ..................................................................................... 231

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1 Einleitung
               Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als
               eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.
                                                          Gustave Le Bon, Psychologie der Massen

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         Modernes Denken                                ist, dass wir bei dem, was wir für wahr oder
                                                        falsch halten, uns oft von unseren Wün-
         Das Wort „modern“ klingt für die meisten       schen und Gefühlen leiten lassen. Wir hal-
         Menschen positiv. Sie sind mehr oder weni-     ten etwas für wahr, weil es uns angenehm
         ger stark bestrebt, „modern“ zu leben und      erscheint, oder für falsch, weil es uns unan-
         zu denken. Eine wesentliche Bedeutung          genehm erscheint. In der Regel versuchen
         des Wortes „modern“ ist „der herrschenden      wir nachträglich eine Begründung für eine
         Denk- und Lebensweise entsprechend“.           gern gehegte Überzeugung zu finden. Man
         Wahrscheinlich waren die Menschen in           nennt dies „Rationalisierung“. Ähnlich wie
         diesem Sinne schon immer mehrheitlich          bei Suchtkranken tun wir uns manchmal
         modern. Es gibt hier aber eine recht proble-   recht schwer, liebgewordene Denk- und Le-
         matische Seite: Moderne Menschen glauben       benskonzepte aufzugeben, selbst wenn ge-
         mit einer gewissen Selbstverständlichkeit      gen sie, objektiv betrachtet, sehr gewichtige
         und Unbeirrbarkeit an die jeweils vorherr-     Gründe im Raum stehen sollten. Die Phi-
         schenden Sichtweisen über die Welt und         losophin Barbara Zehnpfennig formulierte
         über das, was gerade als richtig und falsch    dies in Bezug auf den Fall Sokrates so:1
         gelten soll – ohne es meist wirklich geprüft
         zu haben. Nicht selten sind sie dabei über         „Der Widerstand, der Sokrates entge-
         abweichende Sichtweisen empört, weil               genschlug, ist der Widerstand gegen
         sie es als lächerlich, übelwollend oder ge-        die Aufgabe der eigenen Prämissen.
         fährlich ansehen, andere als die allgemein         Da es sich in der Regel um Prämissen
         vertretenen Meinungen zu haben oder zu             handelt, auf denen Lebensgebäude er-
         äußern. Es kann so weit gehen, dass dieje-         richtet sind, wird die Vehemenz des Wi-
         nigen, die die herrschenden Ansichten in           derstands deutlich.“
         Frage stellen, von ihren Zeitgenossen diffa-
         miert, unterdrückt oder gar getötet werden.       Nun ist die Ansicht, dass die Menschen
         Der griechische Philosoph Sokrates wurde       zu früheren Zeiten in vielen Dingen unauf-
         in der vermutlich frühesten Demokratie der     geklärt, unvernünftig und einseitig be-
         Menschheitsgeschichte von einem Volks­         einflusst gewesen seien, gerade heute fast
         gericht zum Tod durch Vergiften verurteilt.    Gemeingut. Entsprechend häufig zu hören
         Er hinterfragte Überzeugungen, mit denen       ist die Rede vom angeblich „finsteren Mit-
         sich seine Zeitgenossen offensichtlich stark   telalter“. Und von Zeitgenossen, die sich
         identifizierten, während sie aber nicht wil-   in ihrer Denk- und Lebensweise nicht dem
         lens oder in der Lage waren, sie argumenta-    herrschenden Zeitgeist anpassen, sagt man
         tiv zu reflektieren.                           heute gerne, sie seien „noch nicht in der Mo-
            Solche typisch menschlichen Haltungen       derne angekommen“ – oder gar Schlimme-
         haben Ursachen, die weitgehend unabhän-        res. Das sind typische Kontraindikatoren.
         gig von unserer Intelligenz sind und oft un-   Die Berufung auf Prädikate wie „modern“
         bewusst wirken. Eine Ursache ist, dass wir     oder „zeitgemäß“ ist eher ein Indiz dafür,
         Menschen uns gewöhnlich sehr stark nach        dass bei der Bildung einer Überzeugung
         der Sichtweise einflussreicher und angese-     die Kraft der Argumente wohl nicht die
         hener Vorbilder, einem herrschenden Trend      entscheidende Rolle gespielt hat. Wir Men-
         oder der (vermuteten) Mehrheitsmeinung         schen neigen schnell dazu, das als Standard
         ausrichten. Ein solches Verhalten wird oft     anzuerkennen, was wir als die aktuell vor-
         als „Herdentrieb“ oder „Schwarmverhal-         herrschende Meinung wahrnehmen. Und
         ten“ bezeichnet und ist zum Beispiel an den    diese Meinung wird, wenn überhaupt,
         Finanzmärkten gut erforscht. Neben einer       meistens nur intuitiv und nicht gründlich
         gewissen Schwarmintelligenz gibt es dabei
         bekanntermaßen unzählige (und teure) Fäl-
         le kollektiven Irrtums. Eine andere Ursache    1
                                                            Zehnpfennig 2005, 40.

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         argumentativ geprüft. Der Psychologe und                irgendeiner anderen Zeit war. Es kann aber
         Nobelpreisträger Daniel Kahneman nannte                 sehr irreführend sein, etwas deshalb für
         es so, dass wir häufig zu sogenannten „ko-              wahr zu halten, weil es allgemein als selbst-
         gnitiven Verzerrungen“ neigen. Es handelt               verständlich angesehen wird.
         sich um ein durch unsere Intuition geleite-
         tes, systematisch falsches Denken. Ein wei-
         teres Beispiel neben den bereits genannten              Der Naturalismus
         ist die sogenannte „Verfügbarkeitsheuris-
         tik“. Kahneman schrieb:2                                Das Wort „Naturalismus“ ist in der Öffent-
                                                                 lichkeit nicht sehr geläufig. Dabei ist der
              „So haben beispielsweise Politikwis-               Naturalismus der weltanschauliche Denk­
              senschaftler herausgefunden, dass die              rahmen, der den modernen Menschen
              Verfügbarkeitsheuristik erklären hilft,            sehr stark prägt. Dieser Denkrahmen wird
              weshalb einige Probleme in der Öffent-             in diesem Buch dargestellt, analysiert und
              lichkeit große Aufmerksamkeit finden,              schließlich widerlegt. Warum ist es wich-
              während andere vernachlässigt wer-                 tig, sich damit zu beschäftigen? Die Frage
              den. Menschen neigen dazu, die relative            nach der Wahrheit oder Falschheit unserer
              Häufigkeit von Problemen danach zu                 Weltsicht betrifft die grundlegendsten und
              beurteilen, wie leicht sie sich aus dem            wichtigsten Dinge, die es gibt. Eine vorherr-
              Gedächtnis abrufen lassen – und diese              schende Weltsicht kann nicht nur gesell-
              Abrufleichtigkeit wird weitgehend von              schaftliche und politische Auswirkungen
              dem Ausmaß der Medienberichterstat-                haben. Wenn es ein objektives Ziel, einen
              tung bestimmt. Häufig erwähnte The-                objektiven Sinn unseres Lebens geben soll-
              men ziehen unsere Aufmerksamkeit                   te, wenn es, in anderen Worten, Gott gibt,
              auf sich, während andere aus dem Be-               wäre es vermutlich das Schlimmste, was
              wusstsein verschwinden.“                           uns passieren könnte, dass wir an diesem
                                                                 Ziel vorbeileben.
            Die genannten Faktoren machen es                        Die Wirklichkeitsauffassung des Natura-
         verständlich, dass wir Menschen kollek-                 lismus kann grob so dargestellt werden:
         tiv ziemlich falsche Vorstellungen über
         die Welt besitzen können. Und sie ma-                       1. Der Ursprung der Welt ist nichtgeis-
         chen verständlich, dass gerade heute durch              tig, materiell und nicht oder wenig geord-
         Massenmedien oder staatlich koordinier-                 net.
         te Bildungseinrichtungen sehr effektive                     2. Das Höhere und Komplexere stammt
         Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Mei-                vom Niederen und Einfachen ab.
         nungen zu machen, zu steuern und relativ                    3. Die Welt und alle ihre Ausstattungs-
         einheitlich auszurichten.3 Eine Tatsache, die           merkmale entwickelten sich auf Grundlage
         von denen, die „ihre“ Meinung einfach nur               blinder Naturvorgänge mit einem praktisch
         an den Zeitgeist anpassen, erfolgreich ver-             unbegrenzten schöpferischen Potenzial.
         drängt wird.                                                4. Die hochgradige Ordnung der Welt
            Natürlich ist eine Sichtweise nicht deshalb          ist eine Variante der Unordnung. Sie ist
         falsch, weil sie heute modern ist oder es zu            letztlich eine radikal unerklärbare Tatsache.

         2
              Kahneman 2011, 20.                                    „offiziell“ oder „vorbildlich“ empfinden. Leit-
         3
              Theoretisch könnte das Internet dieser Einheit-       meinungen werden ohnehin mit signifikant
              lichkeit entgegenwirken. Es scheint aber nichts       mehr finanziellen und oft auch politischen
              Wesentliches daran zu ändern, dass viele Men-         Mitteln ausgestattet sein, um entsprechend wir-
              schen einen Mainstream wahrnehmen und sich            kungsvoll präsentiert zu werden (siehe auch
              intuitiv danach ausrichten: Sie glauben tenden-       Abschnitt 4.3).
              ziell das, was sie als „seriös“, „mehrheitlich“,

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              5. Geist ist eine Variante des Nichtgeisti-     der menschliche Geist, der die Natur wahr-
         gen und ebenfalls eine radikal unerklärbare          nimmt, die Daten ordnet und Naturwis-
         Tatsache, die „einfach so“ zustande gekom-           senschaft betreibt. Wir werden diese und
         men ist.                                             ähnliche Punkte an geeigneter Stelle recht
              6. Der Mensch ist nichts als Materie. Er        gründlich betrachten.
         ist letztlich vollständig durch blinde, nicht-           Ein weiterer, bemerkenswerter Umstand
         geistige Faktoren festgelegt und hat keinen          ist, dass der Naturalismus wesentliche welt-
         freien Willen.                                       anschauliche Prinzipien mit pantheistischen
              7. Objektive Moral oder Ethik gibt es           oder polytheistischen4 Mythen des Alter-
         nicht. Moralvorstellungen sind relativ und           tums teilt. Zentral ist hier ein fundamenta-
         beliebig und sie entwickeln sich. Letztlich          les Entwicklungs- und Fortschrittsprinzip,
         stammen sie von nichtmoralischen Sachver-            das letztlich im Wesen der Materie gründen
         halten her und sind darauf zurückführbar.            soll. Nach dieser Vorstellung wird aus ei-
              8. Es gibt keinen Gott, keine objektive         nem realen „Weniger“ (oder gar aus dem
         Gerechtigkeit, keinen Sinn. Mit dem körper-          Nichts) spontan ein ebenso reales „Mehr“.
         lichen Tod hören alle Menschen endgültig             Dies war offenbar im Altertum genauso wie
         auf zu existieren. Sie müssen keine Verant-          heute für viele Menschen intuitiv eingängig.
         wortung für ihr Leben übernehmen.                    Wir werden aber sehen, dass eine solche
                                                              Vorstellung rational unhaltbar ist, weil die
            Der moderne Naturalismus wird auch                nötigen realen Voraussetzungen für das Zu-
         weitgehend bedeutungsgleich als „Materi-             standekommen dessen, was durch dieses
         alismus“, „Physikalismus“ oder „Reduktio-            Prinzip erklärt werden soll, systematisch
         nismus“ bezeichnet, insofern für ihn Grund-          ausgeblendet werden.
         lage und Ursprung der Welt materieller und               Nichtsdestotrotz wird der Naturalismus
         physikalischer Natur sind. „Reduktionis-             heute manchmal aggressiv vertreten – auch
         mus“ bedeutet, dass alles, was es gibt, auf          mit Unterstützung der Medien und der Po-
         Materie beziehungsweise auf Physikalisches           litik. Die häufige pauschale Gleichsetzung
         zurückgeführt (reduziert) werden kann.               von „naturalistisch“ mit „wissenschaftlich“
            Der Naturalismus gilt heute weitgehend            ist aber nicht nur sachlich unhaltbar, sie
         als die moderne, wissenschaftliche Welt-             kann schnell auch totalitäre Züge anneh-
         sicht. Gleichzeitig werden seine weltan-             men: Denn ihr Umkehrschluss ist, dass
         schaulichen Prinzipien einer Interpretation          nicht-naturalistische Sichtweisen generell
         wissenschaftlicher Daten zugrundegelegt.             rückständig, unvernünftig und wissen-
         Insbesondere wird vorausgesetzt, dass                schaftsfeindlich seien und man sie gegebe-
         prinzipiell alle Aspekte der Wirklichkeit            nenfalls bekämpfen müsse. Es ist, wie wir
         mittels der fortschreitenden Naturwissen-            sehen werden, kein Zufall, dass die großen
         schaft irgendwann erklärt werden könnten.            totalitären Systeme der Zeitgeschichte, der
         Hier werden aber die methodischen und be-            Nationalsozialismus und der Marxismus
         grifflichen Grenzen der Naturwissenschaft            mit seinen Spielarten, beide eine naturalis-
         in entscheidender Weise überschritten: Tat-          tische Grundlage haben. Bezeichnend ist
         sächlich beschreiben die Naturwissenschaf-           ihr jeweiliges Selbstverständnis als „wis-
         ten lediglich die Regelmäßigkeiten unserer           senschaftliche Weltsicht“. Beliebte Attribute
         Naturbeobachtungen. Die Regelmäßigkei-               für die ungeliebten Kritiker des Naturalis-
         ten als solche können naturwissenschaftlich          mus und ihre Positionen sind heute „obs-
         nicht erklärt werden, genauso wenig wie              kur“, „mystisch“, „wissenschaftsfeindlich“,

         4
             Der Pantheismus ist die Anschauung, dass            standene und meist menschenähnliche Gott-
             die immanente Natur göttlich oder Gott ist.         heiten gibt. Hingegen sagt der Theismus, dass
             Der ähnliche Polytheismus sagt, dass es in der      es einen transzendenten und absoluten Gott
             immanenten Natur relative, in der Regel ent-        gibt.

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         „rückständig“, „mittelalterlich“, „funda-       „Triumpf einer Ideologie über den gesunden
         mentalistisch“, „extremistisch“ und ähn-        Menschenverstand“.8
         liche. Das bekannteste Beispiel eines ag-           Es ist wichtig zu sehen, dass der Natu-
         gressiv auftretenden und einflussreichen        ralismus in praktisch allen weltanschauli-
         Naturalisten ist wohl Richard Dawkins. Sei-     chen Fragen in einem radikalen Gegensatz
         ne Bücher wurden in Dutzende Sprachen           zur christlich-abendländischen Weltsicht
         übersetzt und mehrere Millionen Mal ge-         steht, die bislang unser westliches Denken
         druckt. Dawkins bezeichnete insbesondere        geprägt hat: Ihr zufolge stammen die Welt
         Vertreter nicht-naturalistischer Konzepte       und ihre Ausstattungsmerkmale wie ihre
         in der Biologie sinngemäß als hoffnungslos      enorme strukturelle Ordnung, Leben, Be-
         rückständig, dumm, verrückt oder gar bös-       wusstsein, Geist, Moralität und so weiter
         willig.5 Letztlich ist eine solche pauschale    nicht einfach nur aus Dingen, die in Qua-
         Diskreditierung des Gegners ein Schach-         lität und Grad prinzipiell weniger als sie
         zug, um eine sachbezogene, begrifflich kla-     sind. Denn sonst wäre die Welt radikal un-
         re argumentative Auseinandersetzung zu          erklärbar und intellektuell absurd. Stattdes-
         vermeiden.                                      sen haben alle diese Dinge einen rationalen,
            Solche Kampagnen sind in ihrem Sinne         verstehbaren Grund. Sie haben ihren Grund
         erfolgreich, da durch sie der Naturalismus      in einer fundamentalen Rationalität und
         heute in vielen Bereichen als Standard gilt.    damit in einer in jeder Hinsicht höheren In-
         Tatsächlich ist er aber eine weltanschauli-     stanz, nämlich in Gott. Dadurch haben sie –
         che Position mit weitreichenden, oftmals        und insbesondere auch der Mensch – einen
         bizarren und rational unannehmbaren Kon-        Sinn. Der Philosoph Aristoteles kritisierte
         sequenzen. Einen Zwischenstand zog der          bereits wesentliche Aspekte des Naturalis-
         Philosoph John Searle, der eigentlich selbst    mus:9
         dem Naturalismus (oder Materialismus)
         zugeneigt ist:6                                     „Denn dass sich im Sein und Werden
                                                             das Gute und Schöne findet, davon
              „In einem gewissen Sinne ist der Ma-           kann doch billigerweise nicht das Feuer
              terialismus die Religion unserer Zeit.         oder die Erde oder sonst etwas dieser
              [Es] wird der Materialismus akzeptiert,        Art die Ursache sein, […] aber ebenso
              ohne ihn zu hinterfragen.“                     wenig ging es wohl an, eine so große
                                                             Sache dem Zufall und dem Ungefähr
            Auch der Philosoph Thomas Nagel,                 zuzuschreiben. Als nun jemand er-
         ebenfalls selbst (gemäßigter) Naturalist,           klärte, dass Vernunft wie in den le-
         kritisierte die heute übliche naturalistische       benden Wesen so auch in der Natur
         Deutungshoheit in den institutionalisierten         die Ursache aller Schönheit und aller
         Wissenschaften:7                                    Ordnung sei, da erschien er gegen die
                                                             Früheren wie ein Nüchterner gegen Irre-
              „[F]ast jeder in unserer säkularen Kul-        redende.“
              tur wurde unter Druck gesetzt, damit
              er das reduktionistische Forschungs-          Es gibt damit zwei ganz grundlegende
              programm als unantastbar anerkennt.“       Weltsichten, die Menschen einnehmen kön-
                                                         nen und die klar voneinander abgrenzbar
            Dass es zu dieser Deutungshoheit eines       sind: Im einen Fall beruht die Welt letztlich
         orthodoxen Naturalismus überhaupt kom-          auf Vernunft oder, in anderen Worten, auf
         men konnte, bezeichnete Nagel als einen         Geist. Im anderen Fall beruht sie auf Ver-

         5
              Dawkins 1989, 34f.
         6
              Searle 2006, 56.                           8
                                                             Nagel 2012, 128.
         7
              Nagel 2012, 7.                             9
                                                             Aristoteles Metaphysik, Buch 1, Kapitel 3.

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         nunftlosem und Geistlosem. Der Naturalis-               sind verdächtig. Jede Argumentationskette
         mus stellt diesen zweiten Fall dar.                     ist höchstens so stark wie ihr schwächstes
                                                                 Glied.
                                                                    Immanuel Kant hat in seiner Schrift Was
         Vernünftiges Denken                                     ist Aufklärung richtig dargelegt, dass der
                                                                 Mensch in Bezug auf das, was er für wahr
         Wie gesagt ist die Frage nach der Wahr-                 und richtig hält, eine persönliche Verant-
         heit oder Falschheit des Naturalismus von               wortung trägt:10
         größter Wichtigkeit, da an ihr die zentralen
         Fragen unserer Existenz hängen. Um eine                   „Aufklärung ist der Ausgang des Men-
         derart wichtige Frage zu beantworten, ist es              schen aus seiner selbst verschuldeten
         keinesfalls ratsam, einfach dem zu folgen,                Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das
         was die Medien, angesehene Vorbilder oder                 Unvermögen, sich seines Verstandes
         die Menschen um einen herum behaupten                     ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
         und für wahr halten. Die Gefahr ist viel zu               Selbstverschuldet ist diese Unmündig-
         groß, dass persönliche weltanschauliche                   keit, wenn die Ursache derselben nicht
         Haltungen, liebgewordene Lebenskon-                       am Mangel des Verstandes, sondern
         zepte, ideologische Beeinflussungen, ein                  der Entschließung und des Mutes liegt,
         gegenseitiges Nachplappern und andere                     sich seiner ohne Leitung eines andern
         Quellen kollektiven Irrtums den Ausschlag                 zu bedienen. […] Faulheit und Feig-
         geben. Genauso wenig ist es vernünftig, wie               heit sind die Ursachen, warum ein so
         es heute viele tun, sich zur Rechtfertigung               großer Teil der Menschen […] dennoch
         seiner Meinung auf „die Wissenschaft“,                    gerne zeitlebens unmündig bleiben und
         „die Vernunft“, „die Aufklärung“ oder „die                warum es anderen so leicht wird, sich
         Mehrheit“ zu berufen, aber tatsächlich kei-               zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es
         ne guten und klaren Argumente zu haben.                   ist so bequem, unmündig zu sein.“
         Vernünftig ist es hingegen, den Indizien
         und den daraus reflektiert und korrekt ge-                  Ziel dieses Buches ist eine klare und
         zogenen Schlüssen zu folgen – egal wo sie               nachvollziehbare argumentative Beantwor-
         dann schließlich hinführen. Wollen wir den              tung der Frage, ob der Naturalismus wahr
         Behauptungen anderer nicht letztlich blind              oder falsch ist: Erscheint die Welt so, dass
         vertrauen, müssen wir die Argumente und                 sie auf blinde, nichtrationale und geist-
         Schlussfolgerungen selbst nachvollziehen                lose Faktoren zurückzuführen ist? Oder
         und durchdenken. Dazu ist es nötig, das                 erscheint sie so, dass sie ihr Dasein einer
         klare und verständliche Argument einer un-              äußerst rationalen, geistigen Instanz zu
         klaren und unverständlichen Darstellung                 verdanken hat? Diese beiden Auffassungen
         vorzuziehen, auch wenn letztere noch so ge-             sind so radikal verschieden, dass eine klare
         lehrt, rhetorisch geschliffen und beeindru-             und sichere Antwort durchaus zu erwarten
         ckend klingen mag oder von anerkannten                  ist. Die heute häufig gehegte Meinung, dass
         Persönlichkeiten vorgetragen wird. Gedan-               es eine Frage des persönlichen Geschmacks
         kengänge, die an wesentlichen Stellen ge-               sei, was wir glauben wollen, erscheint dage-
         dankliche Sprünge, ungedeckte Vorausset-                gen recht unvernünftig.
         zungen, unklare Begrifflichkeiten oder gar                  Die Argumentation wird zeitweilig etwas
         Widersprüche enthalten, sind inakzeptabel.              Konzentration erfordern. Für das Verständ-
         Auch Argumente, die wesentlich an unsere                nis der wesentlichen Punkte sind aber keine
         Intuition und Vorstellungskraft appellieren,            tieferen naturwissenschaftlichen oder phi-
                                                                 losophischen Kenntnisse nötig. (Einige phi-
                                                                 losophische Begriffe werden am Ende des
         10
              Genauer Titel der Preisschrift von 1784: „Beant-   Buches erläutert.) Ich hoffe, dass die Abwä-
              wortung der Frage: Was ist Aufklärung?“            gung zwischen argumentativer Gründlich-

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         keit, allgemeiner Verständlichkeit und einer   heblichkeit kleidet, einer argumentativen
         jeweils gebotenen Kürze wenigstens in den      Prüfung nicht standhält. Seine zentralen
         meisten Fällen gelungen ist. Das Resultat      Grundsätze stellen sich als unhaltbar her-
         wird sein, dass der Naturalismus, der sich     aus, sobald sie sauber analysiert und konse-
         heute meist mit Seriosität, nüchterner Wis-    quent weiterentwickelt werden. Die Welt ist
         senschaftlichkeit und intellektueller Über-    völlig anders, als der Naturalismus es sagt.

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