Andrea Bowers Light an Gravity - Deutsch 28.09.2019 - 23.02.2020 - Weserburg
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Beteiligte Sammlungen Die Ausstellung vereint Leihgaben aus den Sammlungen Ingvild Goetz, Gaby und Wilhelm Schürmann sowie aus Kölner, Mailänder und Brüsseler Privatsammlungen mit Werken aus dem Besitz der Künstlerin. Kuratorin Janneke de Vries, Direktorin Weserburg Katalog Die Ausstellung entsteht in Kooperation mit dem Museum Abteiberg in Mönchengladbach. Eine weitere Ausstellung mit Andrea Bowers ist dort zu sehen vom 15.03. bis zum 30.08.2020. Im Anschluss wird ein gemeinsamer Katalog veröf- fentlicht.
Vorwort „I think that art can encourage others to speak schiedlichen Aspekten der weiblichen Reali- out. I think it can inspire people (...) that art can tät im herrschenden Patriarchat – verbunden have an effect on peoples’ political philoso- mit dem Blick auf den zivilen Ungehorsam phies.“ Andrea Bowers und die gewaltlosen Widerstandsbewegun- gen, die gegen diese Systeme aufbegehren. Politisches Engagement und künstlerische Das zugrundeliegende Material (Zeitungsar- Arbeit sind für die US-Amerikanerin Andrea tikel, Flyer, dokumentarische Filmsequenzen, Bowers (geb. 1965 in Ohio, lebt in Los Angeles) gefundene Fotografien und Objekte, Inter- nicht zu trennen. Seit über zwei Jahrzehnten views mit Protagonist*innen oder historische steht sie für eine international renommierte Illustrationen) wird zunächst archivarisch künstlerische Position, die eine durchdachte ausgewertet, um anschließend mittels foto- ästhetische Praxis mit einer politischen Hal- realistischer Grafit- , Bunt- und Filzstiftzeich- tung aus einer feministischen Perspektive nungen, farb- und materialintensiver raum- heraus verbindet. Ziviler Widerstand und des- greifender Installationen und Wandarbeiten, sen Übertragung in eine künstlerische Spra- Filmen, Buch- oder Wortobjekten in konzep- che finden sich in Bowers’ Schaffen in einer tuell durchdachte und aufwendige künstleri- gekonnten Balance, indem sie gesellschafts- sche Setzungen überführt zu werden. relevante Inhalte mit konzeptuellen und for- malen Ansätzen vereint. Ihre Beschäftigung Die Ausstellung in der Weserburg verfolgt mit unterschiedlichen Formen gewaltlosen in den großzügigen Räumen der Ebenen 3 Protests ist dabei von einem historischen und 5 unterschiedliche Themenstränge, die Bewusstsein und einer archivarischen Neu- sich trotz ihrer Varianz in der künstlerischen gierde gegenüber der Geschichte des politi- Umsetzung inhaltlich vielfältig ergänzen, auf- schen Aktivismus und des Feminismus sowie einander Bezug nehmen und aneinander an- ihrer visuellen Sprache motiviert. knüpfen. Die Ausstellung Light and Gravity in der We- Janneke de Vries serburg Museum für moderne Kunst präsen- tiert die weltweit erste Überblicksausstellung zum Schaffen von Andrea Bowers und bein- haltet exemplarische Hauptwerke der letzten 15 Jahre. Zwei neue Arbeiten entstanden ex- plizit für den Ort. Der Ausstellungstitel ist ein Zitat der französischen Philosophin Simone Weil, deren gelebte Verbindung von Theorie und Praxis, Gedanken und Tat einen wichti- gen Grundstein für die künstlerische Arbeit von Andrea Bowers bildet. Ausgangspunkt der gezeigten Werke sind intensive Recherchen der Künstlerin zu ge- sellschaftspolitischen Verfasstheiten und tagespolitischen Geschehen wie z.B. den US-amerikanischen Waffengesetzen, dem rassistischen Alltag in den Vereinigten Staa- ten, den Arbeiter- und Friedensbewegungen, der globalen Klimaerwärmung oder unter-
Andrea Bowers. Light and Gravity 4 Zur Ausstellung. Ebene 3 ke und vom Friedensmarsch der Frauen vor Direkt beim Eintritt in die Ausstellung werden dem Pentagon, die beide 1981 stattgefunden die Besucher*innen mit einer blickdichten haben. Wie schon in den bestickten Stoffbah- Stoffwand konfrontiert, die den dahinterlie- nen von Defense of Necessity legen auch genden Raum großflächig abtrennt und de- sie eine Lust am Material und Herstellungs- ren mit feinen, spinnwebartigen Formationen prozess offen, der allen Werken von Andrea bestickte Oberfläche an einen amerikani- Bowers innewohnt, und präsentieren sie als schen Quilt denken lässt. Der Titel Defense begnadete Zeichnerin. Denn was zunächst of Necessity (2003) dreht den juristischen als Fotografie erscheint, offenbart sich bei ge- Terminus um, der benutzt wird, um den Ein- nauerem Hinsehen als feine Grafitzeichnung, satz von Gewalt unter gewissen Umständen die bis ins kleinste Detail durchgearbeitet ist. zu rechtfertigen: Aus „Necessity Defense“ Die Künstlerin vergleicht ihr Vorgehen mit dem (dtsch. Notwendigkeit zur Verteidigung) wird Lernprozess in der Schule: Was abgeschrie- die „Verteidigung der Notwendigkeit“. Die ben und so Schritt für Schritt nachvollzogen Haltung, die sich in dieser gezielten Wortver- wird, kann besser angeeignet werden. Durch schiebung manifestiert, zieht sich durch alle den detailgenauen Zeichenprozess arbeitet Werke der Ausstellung: Nämlich der unbe- sie sich in das jeweilige Thema hinein, macht dingte Glaube daran, für das einzustehen, es sich zu eigen und formuliert gleichzeitig was uns wichtig erscheint, und uns auch an- eine emphatische Würdigung. Das ebenfalls gesichts frustrierender Realitäten nicht abhal- im Bereich hinter der Stoffbarriere ausgeleg- ten zu lassen. Bowers selbst bezeichnet diese te Künstlerbuch Feminist Spirituality And Ma- Grundhaltung als „Radical Patience“ (dtsch. gical Politics Scrapbook (2011) vereint Kopien radikale Geduld). Defense of Necessity steht ähnlicher Protestdemonstrationen und die darüber hinaus für Bowers’ Auseinanderset- Stofflichkeit der Balustrade. zung mit den Widersprüchlickeiten, die dem zivilen Widerstand gelegentlich innewohnen, Ihre künstlerische Befragung von Akten des mit den verschwimmenden Grenzen zwi- zivilen Ungehorsams und deren Verfasstheit schen friedlichem Protest und Übergriff. Wo zwischen „Light and Gravity“ führt Bowers 2004 endet z.B. das friedliche Vorgehen und wo zum Film Nonviolent Civil Disobedience Trai- beginnt die aggressive Handlung, wenn ein ning, der im benachbarten Kabinettraum zu Loch in einen Zaun geschnitten wird, um sich sehen ist. Es handelt sich dabei um filmische unerlaubten Zutritt zu verschaffen? Dement- Aufnahmen eines mehrstündigen Trainings sprechend schafft Bowers mit Defense of von und für Aktivist*innen, das konkrete kör- Necessity eine gleichermaßen „weiche“ wie perliche Formen des gewaltfreien Protestes deutlich wahrnehmbare Absperrung. Die Ar- und Reaktionen auf mögliche Gegenmaß- beit grenzt nicht nur aus, sondern zieht durch nahmen der Polizei durchspielt. Bowers lässt ihre sinnlichen Qualitäten, Farbigkeit und ma- zehn professionelle Tänzer*innen teilnehmen, terielle Oberfläche auch an. filmt das Geschehen und ediert es in zwei nebeneinander laufende Parts. Der Film auf Im Bereich hinter der Stoffbarriere sind zwei der linken Seite erweckt den Anschein eines fotorealistische Zeichnungen aus dem Kon- Lernvideos, während die rechte Seite wie text politischer Proteste zu sehen. Diablocka- eine Tanzperformance wirkt. Das Ergebnis de, Diablo Nuclear Power Plant, Abalone Al- schwankt zwischen kollektiver, politischer Ebene 3 liance, 1981 und Women’s Pentagon Action, Aktion und theatraler Inszenierung, zwischen 1981, Detail of Woven Web around Pentagon Involviertsein und Distanz, Theorie und Praxis, (beide 2003) sind Zeichnungen nach Fotos Politik und Ästhetik – Dinge, die Bowers in späteren einer Demonstration gegen Atomkraftwer- Arbeiten zur Deckung zu bringen sucht.
5 Andrea Bowers. Light and Gravity So z.B. in den farbenprächtigen Workers’ laboration mit einem seit Jahren engagierten Rights Posters aus den Jahren 2009 bis Baumbesetzer, den Andrea Bowers nach 2019. Parolen der Arbeiterbewegung wurden seiner Vorstellung einer perfekten Baumplatt- auf plakatgroße Geschenkpapiere gesprayt. form gefragt hat. Zunächst von der klischee- Die intensive Farbgebung wird hier für die haften Antwort „Wie ein Piratenschiff“ ent- Betrachter*innen zu einer Art Lockmittel, das täuscht, bat sie den Mann, mit ihr gemeinsam anzieht und ihnen die Möglichkeit gibt, über an einer Version zu bauen, die ihre Vorstellun- die Ebene der Erscheinung einzusteigen in gen eines gelebten Feminismus mit seinem die potentiell eher unbequemen Inhalte. An Traum vom Piratenschiff und den für eine der Wand werden die Geschenkpapiere zu Baumbesetzung notwendigen Utensilien in Tapeten, die auf eine häusliche, private Sphä- Einklang bringt. re verweisen. Gleichzeitig beziehen sich die aufgehängten Papiere auf den öffentlichen Die großformatige Filzstiftzeichnung auf col- Raum, dem die Strategie des Plakatierens lagiertem Karton I am Nature stammt aus entnommen ist. Das Ergebnis ist eine Visuali- demselben Jahr wie das feministische Pira- sierung der 68er-Parole „The personal is po- tenschiff. Zu sehen ist mit einem vollständig litical“. abgeholzten Stück Wald das genaue Ge- gensatz seines Titels. Bowers bläst hier eine Im anschließenden Raum versammeln sich gefundene Flyerabbildung monumental auf, Arbeiten der vergangenen zehn Jahre zum überträgt sie auf einen unruhigen, aus zahl- Themenkomplex „Klimawandel“. Den chro- reichen Kartonagen zusammengestellten nologischen Anfang macht der Film Nonvio- Untergrund und verortet die Darstellung zwi- lent Civil Disobedience Training – Tree Sitting schen Gegenständlichkeit und Abstraktion, Forest Defense von 2009, dessen Monitor zwischen Konkret- und Verschwommenheit. sich über den Köpfen der Besucher*innen Die Farbigkeit ist hier, dem toten Wald ent- auf einer schaukelähnlichen Konstruktion sprechend, zurückgenommen. befindet. Mit Kopfhörern versehen, können die Betrachter*innen eine kämpferische Pa- Auf der gegenüberliegenden Wand findet role der Fridays For Future-Bewegung unter sich die monumentale Wandzeichnung Peo- dem Schaukelboden lesen, durch den Raum ples’ Initiative Poetic Protest, die für Bremen schlendern und dabei auf dem Bildschirm entstanden ist und auf einer konkreten poli- verfolgen, wie Andrea Bowers von einem tischen Debatte der Hansestadt fußt: Gleich Baumbesetzer in die Kletterausrüstung und gegenüber der Weserburg, am Ufer der klei- deren Handhabung eingewiesen wird, um nen Weser, sollen 136 Platanen dem Hoch- bei einer aktivistischen Aktion leichter in ei- wasserschutz weichen. Bei einem Aufenthalt nen Baum steigen zu können. Die Idee dieser in Bremen im November 2018 wurde Bowers Form des zivilen Widerstands: Bäume, in de- auf den Protest gegen die Abholzung der nen sich Menschen befinden, werden nicht Bäume aufmerksam und war fasziniert von abgeholzt. seiner poetischen Aufladung durch die örtli- che Bürgerinitiative: Jedem der 136 Bäume Das raumgreifende Schiff Radical Feminist wurde mit Hilfe der Öffentlichkeit ein Gedicht Pirate Ship Tree Sitting Platform (2013) steht zugeordnet. Peoples’ Initiative Poetic Protest ebenfalls für die Protestform der Baumbe- zeigt das Blätterwerk der Platanen und fügt Ebene 3 setzung, indem es die Konstruktion und das eine Auswahl der im Protest genutzten Ge- Equipment nachstellt, die den Aktivist*innen dichte in deutscher und englischer Sprache einen längeren Aufenthalt in den Baumkro- ein. Dieses Vorgehen, das der Bürgerinitiati- nen möglich macht. Entstanden ist es als Kol- ve vor der Wandzeichnung außerdem einen
Andrea Bowers. Light and Gravity 6 Tisch mit Informationsmaterial zu ihrem An- schäftsstelle der Weserburg trugen zunächst liegen zur Verfügung stellt, ist insofern typisch die Protestparolen zusammen, die ihnen stell- für Andrea Bowers’ Ansatz, als sie oft mit vertretend für die aktuellen politischen Debat- Gruppen vor Ort kollaboriert und örtliche Pro- ten in Europa und Nordamerika erschienen. testformen spiegelt. Auch Peoples’ Initiative Nach einem gemeinsamen Auswahlprozess Poetic Protest nimmt sich farbig zurück und wurden die deutsch- und englischsprachigen ist in pudrigem Grafit ausgeführt – Andeu- Ergebnisse von Andrea Bowers auf farbige tungen auf die bedrohte Zukunft der Bremer Satinbänder gesiebdruckt und in der Ausstel- Bäume. lung zu einer großen, bunten Wand des Pro- testes zusammengestellt. Wer möchte, kann Farbig wird es dagegen wieder mit der Gun sich ein Band seiner/ihrer Wahl mitnehmen. Bench (CODEPINK Protest Props in Support of March For Our Lives, Remembering Marjo- Eine visuell ähnliche Strategie verfolgen auch ry Stoneman Douglas High Scholl) von 2018. die Feminists Fans (2018/2019), die sich über Sie entstand aus Anlass des Schulmassakers zwei Wände ausbreiten. Hier sind es aufge- an der Majory Douglas High School in Par- klappte Fächer, die farbig besprayt und mit kland, Florida, bei dem 2018 ein ehemaliger Parolen aus der Frauenbewegung versehen Schüler innerhalb weniger Minuten 17 Schü- wurden. Befestigt mit bunten Pinnnadeln, ler*innen und Lehrer*innen erschoss und hängen sie an den Wänden wie präparierte benennt gleichzeitig die amerikanischen Frie- Schmetterlinge. Gleichzeitig verbinden sich densbewegungen CODEPINK und March auch hier Farbigkeit und dekorativer Cha- For Our Lives. Im Inneren der Konstruktion rakter der Gesamtinstallation mit genau der aus Plexiglas und Holz sind deutliche Paro- häuslichen Sphäre, gegen die sich die ge- len gegen unkontrollierten Waffenbesitz auf sprayten Parolen verwahren. Der Fächer mag pinkfarbene Pappgewehre geschrieben und darüber hinaus ironisches Hilfsmittel sein, um von grellem Neonlicht von unten beleuchtet. die „Hitze“ der feministischen Äußerungen zu Gleichzeitig weisen Titel und die geblümte lindern. Auflage die Kiste, die nicht umsonst die Län- ge eines Sarges hat, als sarkastische Sitzge- Der in direkter Nachbarschaft gezeigte Film legenheit für die Besucher*innen aus. I Plan to Stay A Believer (2013) löst sich von dem kollektiven Blick der umgebenden Wer- Um Gewalt geht es auch in den Grafitzeich- ke und fokussiert ausdrücklich die Person nungen Made in U.S.A., By All Means Neces- der Künstlerin. Er dokumentiert eine Aktion, sary, Fascist Police und Beware Gringo (alle bei der Andrea Bowers und drei weitere Ak- von 2015). Gemeinsam mit der Barriere von tivist*innen 2011 in Arcadia, Kalifornien, ver- Defense of Necessity lesen sie sich aus heu- sucht haben, mit einer Tree Sitting-Aktion die tiger Perspektive wie ein Kommentar auf die Abholzung von 250 Bäumen zu verhindern. Situation der Mexikaner*innen im Amerika Der Film vollzieht nach, wie in der unmittelba- von Donald Trump, thematisieren Rassismus, ren Umgebung sämtliche Bäume abgeholzt Polizeigewalt oder Waffenbesitz. werden, die Polizei die Aktivist*innen schließ- lich aus den Baumkronen holt und sie ver- Thematisch offener sind dagegen die Political haftet. Er bezieht außerdem Mitschnitte aus Ribbons gehalten – eine Arbeit, die ebenfalls Nachrichtensendungen, Aufnahmen aus der Ebene 3 für die Ausstellung in der Weserburg und in Sheriff-Dienststelle und ein anschließendes enger Zusammenarbeit mit dem Team des Gespräch zwischen Andrea Bowers und ei- Museums entstanden ist. Die Mitarbeiter*in- ner weiteren beteiligten Aktivist*in ein, in der nen des Studio Bowers wie auch der Ge- beide das Geschehen aus der Rückschau zu-
7 Andrea Bowers. Light and Gravity sammenfassen. Bowers wurde schließlich dreier Arrangement aus handgefertigten Papier- Vergehen angeklagt und war zwei Tage in Haft. blumen in tiefem Schwarz. Die Pflanzen ran- ken sich um eine Textzeichnung in ihrer Mitte. Das Polizeifoto, das bei der Verhaftung von Auch diese bezieht sich auf Emma Goldman der Künstlerin gemacht wurde, führt zu der und gibt einen Zeitungsartikel der New York intimen Arbeit, die allein im benachbarten Ka- Times von 1916 wieder, der von Goldmans binettraum präsentiert wird. Mug Shot (2013) Verhaftung anlässlich eines Vortrags über zeigt die sorgfältige, fotorealistische Nach- Geburtenkontrolle berichtet. Auch in Political zeichnung der Polizeiaufnahme. Über den Slogans and Flower Magick: Emma Goldman aufwendigen und zeitraubenden Herstel- to Island (2005) arbeitet Bowers mit dem Ge- lungsprozess hat sich die Künstlerin ihr Abbild gensatz von Wort und Bild, sprachlicher und gleichsam zurückerobert und wieder in Be- visueller Ebene: Hier zwischen der Fragilität sitz genommen, was ihr durch die Verhaftung des Blumenbouquets, der Zartheit der Zeich- verloren schien. Mug Shot steht für einen Akt nung in seiner Mitte und der Kraft der Hal- der Selbstvergewisserung und nimmt inner- tungen, die Emma Goldman schon so früh halb der Ausstellung eine Sonderstellung ein. vertreten hat. Die von der Künstlerin in der Die Arbeit führt wie in einer Keimzelle vieles Ausstellung wiederholt verfolgte Strategie, zusammen, was die künstlerische Arbeit von gleichermaßen dekorative, „leichte“ Elemen- Andrea Bowers wesentlich ausmacht: So z.B. te wie klar gesetzte politische Parolen in ihre das direkte Nebeneinander von politischer Werke zu integrieren, lässt an das berühmte und künstlerischer Aktion, das empathische Zitat von Emma Goldman denken: „If I can’t Einswerden mit ihren Themen und die Lust dance, I don’t want to be part of your revolu- am künstlerischen Herstellungsprozess und tion!“. an der Umsetzung ihrer Inhalte. Eine weitere Version der schwarzen Papier- In Vows, einer Filminstallation von 2006, se- blumen findet sich am anderen Ende des hen sich die Besucher*innen im großen Aus- Raumes. In Political Slogans and Flower Ma- stellungssaal mit zwei sich gegenüberliegen- gick: Keep your laws of my body (2005) fallen den Projektionsflächen konfrontiert. Beide die schwarzen Blumen kaskadenartig nach zeigen jeweils eine Braut im klassischen wei- unten. Erst auf den zweiten Blick bemerkt ßen Hochzeitskleid, mit aufwendiger Frisur, man den blauen Button, der den im Titel be- Schleier und Brautbouquet. Abwechselnd nannten kämpferischen Slogan weiblicher beginnen sie, aus einem Text der Anarchis- Selbstbestimmung verkündet. Die fragilen tin, Friedensaktivistin und Feministin Emma Arrangements beider Versionen von Poli- Goldman von 1914 zu zitieren, in dem Gold- tical Slogans and Flower Magick mit ihrer man die Ehe als patriarchalisches Mittel zur trauerhaften Anmutung lassen vielleicht zum körperlichen und ökonomischen Abhängig- ersten Mal in der Ausstellung so etwas wie keit der Frau brandmarkt und die freie Lie- Resignation aufscheinen: Werden hier die be propagiert. Die Bräute auf der Leinwand Träume einer Emma Goldman oder nach der beginnen sanft, fast monoton zu sprechen, Deutungshoheit über den eigenen Körper um sich im Verlauf ihrer Rede immer mehr zu angesichts realer Widrigkeiten zu Grabe ge- echauffieren, so dass ihre traditionelle äußere tragen? Wenn, dann nur für kurze Zeit: Gleich Erscheinung und ihre Gestik und Mimik im- nebenan vollzieht die zarte Buntstiftzeich- Ebene 3 mer weiter auseinanderdriften. nung Design of Choice (My Body My Choice and Diagonal Stripes), ebenfalls von 2005, ein In direkter Nähe zu den widerständigen Bräu- fröhlich buntes Geschenkpapier nebst dem ten befindet sich ein an der Wand befestigtes Button „My Body My Choice“ fotorealistisch
Andrea Bowers. Light and Gravity 8 nach und verleiht dem Dargestellten durch mus. Diesmal verändert Bowers bis auf die den aufwendigen Herstellungsprozess Ge- Größe nichts an der Ursprungsillustration und wicht. lässt so deren historischen Pathos unverän- dert auf unsere Gegenwart prallen. Drei ebenfalls im letzten Raum präsentierte großformatige Filzstiftzeichnungen auf Kar- Auch Tell Somebody It Happened, the God toncollagen beziehen die Geschichte des of the Sea is a Sexual Harasser (Originally politischen Protestes anhand historischer from „The Faerie Quenne,“ Book III, Part VII, Illustrationen vom Ende des 19. und Anfang ilustrated by Walter Crane, 1895-1897) von des 20. Jahrhunderts ein und stellen sie in 2018 nutzt eine Illustration von Walter Crane, einen gegenwärtigen Kontext. So stammt vergrößert sie, setzt sie in flirrenden Farben die ursprüngliche Darstellung der fußketten- auf den unebenen Untergrund collagierter sprengenden Figur in Pleasure & Liberation Pappe und ergänzt sie am unteren Bildrand Create More Room For Joy, Text Sampled mit der Textzeile „Tell Somebody It Happe- from Adrienne Maree Brown (Original Illust- ned“. Wir sehen Neptun, der im Reich des ration by Silvia Pankhurst for Women’s Soci- Meeres seinen Arm übergriffig um die Brüste al and Political Union, ca. 1911), 2019, von der einer erschrockenen Nymphe schlingt. Die Suffragette Silvia Pankhurst vom Anfang des Filzstiftzeichnung entstand im Kontext von letzten Jahrhunderts. Bowers vollzieht sie in Andrea Bowers’ Beschäftigung mit der #me- vervielfachter Größe und in schillernden Far- too-Bewegung. Seit etwa zwei Jahren ent- ben nach und fügt aktuelle Textfragmente stehen vielfältige und umfangreiche Arbeiten der schwarzen Autorin und Feministin Adri- zu diesem Themenkomplex. Und auch hier enne Maree Brown hinzu, die den Moment bezieht sie die Widersprüchlichkeiten und der Befreiung der dargestellten, geschlecht- Schwierigkeiten ein, die solche Debatten oft lich schwer zu bestimmenden Figur verstär- nach sich ziehen. Der „holprige“ Untergrund ken. Der unebene Untergrund des vor- und der Darstellung steht sinnbildlich für die vielen zurückspringenden Kartons könnte als das Verwerfungen, unter denen die Diskussion Auf- und Ab im Kampf um die eingeforderten trotz der Richtigkeit ihres Anliegens oft leidet. Rechte gedeutet werden. Dieser Themenstrang führt schließlich zu Noch monumentaler kommt die Arbeit The Trust Women (2018), der großen Leucht- Capitalist Vampire (Illustration by Walter Cra- schrift, die über den Köpfen der Besucher*in- ne) von 2013 daher. Wie die im gleichen Jahr nen auf der Wand flimmert und die anderen entstandene Kartonzeichnung I am Nature Werke wie eine mächtige Überschrift über- im vorderen Bereich der Ausstellung arbeitet blickt. Während der Schriftzug „Women“ in auch sie nicht über das Mittel der Farbe, son- unschuldigem Weiß leuchtet – schon dies in dern setzt allein auf die Vergrößerung, in die sich eine ironische Geste der Künstlerin –, fla- sie eine Illustration des Arts and Crafts-Künst- ckert „Trust“ unbeständig und in wechselnden lers Walter Crane vom Ende des 19. Jahr- Farben, als könnte es keine Ruhe finden. hunderts überführt. Die Vorlage verwendet das Motiv des gefesselten Prometheus als Arbeiter, der statt von Zeus‘ Adler von einem Vampir gequält wird – ein Vampir, der durch Ebene 3 Schriftbänder eindeutig als Allegorie der re- ligiösen Heuchelei, des Kapitalismus und der Parteipolitik ausgewiesen wird. Die geflügelte Fortuna vertreibt ihn im Namen des Sozialis-
9 Andrea Bowers. Light and Gravity Zur Ausstellung. Ebene 5 wird hier ersetzt durch ein intimes Zuhören Die Ebene 5 der Weserburg ist mit ihrer Ga- der einzelnen Besucher*innen. Sobald die lerie dem Werkkomplex Letters to The Army Schauspieler*innen zu sprechen beginnen, of Three vorbehalten. 2005 stößt Andrea nimmt sich das Bild zurück und die Macht der Bowers auf die so genannte Army of Three, Worte dominiert. Die Not der Schreibenden drei US-amerikanische Frauen, die sich in den wird offensichtlich, die Dringlichkeit ihrer In- 1960er und frühen 1970er Jahren für die (Ge- halte – aber auch das Fehlen jeden Zweifels sundheits-)Rechte von Frauen, besonders in ihnen. Nach Beendigung des Briefes über- für das Recht auf Abtreibung und Geburten- nimmt wieder das Bild: Der Ton fährt zurück, kontrolle eingesetzt haben. Unter anderem während die Sprecher*innen und ihre beige- stellten sie eine Liste von Ärzt*innen in Mexi- stellten Blumenbouquets sich mittels Über- ko und Japan zur Verfügung, die Abtreibun- blendung ineinander auflösen. gen vornahmen. Ihre intensive Recherche und zahlreiche Interviews mit Beteiligten setzt die Künstlerin um in eine Wandinstallation, ein Künstlerbuch und einen Film. Alle drei Versi- onen rücken eine Auswahl der zahlreichen an die Army of Three adressierten Briefe von verzweifelten Frauen, Männern, Familienmit- gliedern, Freund*innen oder Ärzt*innen in den Fokus, die um die genannte Liste bitten. Die Wandinstallation besteht aus einer Ab- folge von Kopien einiger dieser Briefe sowie von Geschenkpapieren in Postergröße. An- ders als bei den Feminist Fans oder den Wor- kers’ Rights Posters werden die dekorativen Papiere hier jedoch nicht zum Hintergrund der Texte, sondern beides wird so neben- einander präsentiert, dass eine Hierarchie zwischen sprachlicher und bildlicher Ebene vermieden wird. Das Buch führt beides, Briefe wie Geschenkpapiere in gebundener Form zusammen. Das dekorative Moment der bunten Papie- re findet sich in mehrfacher Hinsicht auch im Film Letters to The Army of Three wieder. Hier ist es die durch und durch, geradezu malerisch komponierte Szenerie, in der un- terschiedliche Schauspieler*innen einige der an die Army of Three adressierten Briefe zitie- ren: Vor einem Vorhang, neben einem auf die Vorhangfarbe genauestens abgestimmten Ebene 5 Blumenstrauß sitzen die Sprecher*innen auf einem Stuhl. Jeder Sequenz ist eine eigene Farbigkeit und ein neuer Strauß zugeordnet. Das kollektive Lesen der Wandinstallation
Kurzbiografie 10 Geb. 1965 in Ohio, lebt in Los Angeles. Nach Abschluss ihres Studiums am Cali- fornia Institute of the Arts (CalArts), Valen- cia, im Jahr 1992 war das Werk von Andrea Bowers in Einzelausstellungen z.B. im Ham- mer Museum Los Angeles (2017), in der Foundation Louis Vuitton Paris (2014), im Na- tionalmuseum Athen (2011), im ZKM Karlsru- he (2008), in Power Plant Toronto oder der Secession Wien (beide 2007) zu sehen. Darüber hinaus war Andrea Bowers an Grup- penausstellungen u.a. in der Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main, im San Francisco Museum of Art (beide 2018), Whitney Museum of Modern Art NY (2017), Aspen Art Museum, Jewish Museum NY (beide 2016), Ludwig Forum Aachen, in der Albertina Wien, im S.M.A.K. Gent (alle 2015) oder PS1 NY (2011) sowie an der documenta 14, Mailand Triennale (beide 2017), Montreal Biennale, Gwangju Biennale (beide 2014) oder Liverpool Biennale (2012) beteiligt.
Andrea Bowers, The Capitalist Vampire (Illustration by Walter Crane), 2013, Sammlung Gisela Capitain, Foto: Tobias Hübel
Begleitprogramm 12 Oktober de Vries (Weserburg Museum für moderne Samstag, 12. Oktober, 11-17 Uhr: Tageswork- Kunst) shop Es besteht die Möglichkeit, vorab an einer Kreatives Schreiben in der Ausstellung öffentlichen Direktorinnenführung zu Andrea Anmeldung über: 0172 6617116 oder anke. Bowers teilzunehmen. Führung und Diskus- fischer@email.de sionsrunde 14,-/10,- Euro Kosten: 35,- € November Mittwoch, 23. Oktober, 18 Uhr, 3,- Euro zzgl. Sonntag, 3. November, 16 Uhr, 3,- zzgl. Eintritt, Eintritt, Dauer: 50 Min. Dauer: ca. 45 Min. Kuratorenführung mit Ingo Clauß Wandellesung zu Andrea Bowers Prosa, Lyrik, Reflexionen, überraschende und Mittwoch, 23. Oktober, 19 Uhr, Eintritt: 5,- Euro skurrile Geschichten – eine Lesung in der Sammlergespräch Ausstellung Andrea Bowers mit literarischen „Es muss roh sein, es muss lapidar sein, es Texten über die Kunstwerke mit Anke Fi- muss uneitel sein“ scher und Teilnehmer*innen des Workshops Im Gespräch mit Janneke de Vries nimmt Kreatives Schreiben. Wilhelm Schürmann die Arbeiten aus der Sammlung Gaby und Wilhelm Schürmann in Dezember der Ausstellung von Andrea Bowers in den Mittwoch, 11. Dezember, 20 Uhr, 9,- Euro/er- Blick, äußert sich über weitere künstlerische mäßigt 5,50 Euro Positionen, die ihn interessieren, und über film:art 86: The Personal is Political das Sammeln an sich. Kurzfilmprogramm kuratiert und eingeführt Es besteht die Möglichkeit, vorab an einer von Christine Rüffert öffentlichen Kuratorenführung zu Andrea Ort: CITY 46 Bowers teilzunehmen. Führung und Samm- lergespräch 14,-/10,- Euro Januar Montag, 13. Januar, 20.30 Uhr Dienstag, 29. Oktober, 18 Uhr, 3,- Euro zzgl. Dienstag, 14. Januar, 18 Uhr Eintritt Yours in Sisterhood (USA 2018 R: Irene Lusz- Direktorinnenführung mit Janneke de Vries tig, 101 Min.), Ort: CITY 46 Dienstag, 29. Oktober, 19 Uhr, 5,- Euro Mittwoch, 22. Januar, 18 Uhr, 3,- Euro zzgl. Zeitgenoss*innen. Gesprächsrunde zum Eintritt, Dauer: 50 Min. Verhältnis von Kunst und Politik Direktorinnenführung mit Janneke de Vries Zeitgenoss*innen ist eine unregelmäßig stattfindende Gesprächsreihe, bei der sich Mittwoch, 22. Januar, 19 Uhr, 5,- Euro Leiter*innen und Kurator*innen der Bremer Trust Women. Andrea Bowers im Kontext Kunstinstitutionen in wechselnden Kons- feministischer Kunst tellationen treffen, um in aktuellen Ausstel- Vortrag von Astrid Mania, freie Kunstkritikerin lungen Aspekte zeitgenössischer Kunst und Professorin für Kunstkritik und Kunstge- zu thematisieren und sich ihnen aus ihren schichte der Moderne an der HFBK Hoch- unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. schule für bildende Künste Hamburg Mit Julia Bulk (Wilhelm Wagenfeld Stiftung), Es besteht die Möglichkeit, vorab an einer Eva Fischer-Hausdorf (Kunsthalle), Arie öffentlichen Direktorinnenführung zu Andrea Hartog (Gerhard-Marcks-Haus), Nadja Bowers teilzunehmen. Führung und Vortrag Quante (Künstlerhaus Bremen) und Janneke 14,-/10,- Euro
13 Februar Donnerstag, 6. Februar, 18 Uhr, 3,- Euro zzgl. Eintritt Kuratorenführung mit Ingo Clauß Donnerstag, 6. Februar, 19 Uhr, 5,- Euro more than shelters. Soziales Design als Ant- wort auf humanitäre Krisen Vortrag von Daniel Kerber, Gründer von more than shelters, Hamburg Es besteht die Möglichkeit, vorab an einer öffentlichen Kuratorenführung zu Andrea Bowers teilzunehmen. Führung und Vortrag 14,-/10,- Euro Weitere Termine und öffentliche Führungen unter weserburg.de Führungen buchen 50,– Euro zzgl. Eintritt, Gruppen bis 10 Perso- nen 80,– Euro zzgl. Eintritt, Gruppen bis 25 Informationen und Anmeldung unter +49 (0)421-59839-0, info@weserburg.de Angebote für Schulen Führung Schulklassen und Kitas 40,– Euro, 60 Minuten 60,– Euro, 90 Minuten mit Praxisanteil Für Schulklassen wurden spezielle Füh- rungen entwickelt, aufAnfrage mit The- menschwerpunkten: 1. No! Die Kunst des Widerspruchs 2. Politisches Basteln. Setze dein Zeichen Der Eintritt für Schulklassen ist frei.Die Füh- rungen können kostenpflichtig hinzugebucht werden. Eine Anmeldung ist erforderlich. Informationen und Anmeldung unter +49 (0)421-59839-0, info@weserburg.de
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