VERIRRTEN SICH IM WALD - nach "Hänsel und Gretel" der Gebrüder Grimm - Deutsches Theater Berlin
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VERIRRTEN SICH IM WALD nach „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm Eine Stückentwicklung von Robert Lehniger mit Virtual und Augmented Reality der CyberRäuber MATERIALIEN FÜR DEN SCHULUNTERRICHT Premiere: 30. März 2019, Box Kontakt: Junges DT Deutsches Theater • Schumannstr. 13A • 10117 Berlin Tel. 030.284 41 220 • E-Mail: info@jungesdt.de
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD INHALTSVERZEICHNIS Stückinfo und Besetzung / 2 Vorbemerkung / 3 I Das künstlerische Team / 4 II Stückentwicklung und Proben / 6 III Zum Thema: Märchen, Virtual Reality, Parallelwelten / 8 IV Virtuelle Realität im Theater: Wieso? / 11 V Vor- und Nachbereitung mit der Klasse / 17 Impressum / 19 1
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Verirrten sich im Wald Nach „Hänsel und Gretel“ der Gebrüder Grimm Eine Stückentwicklung von Robert Lehniger mit Virtual und Augmented Reality der CyberRäuber „Hänsel und Gretel“ ist eines der bekanntesten deutschen Märchen. Zwei Geschwister wer- den von ihren Eltern verstoßen. Ausgesetzt in einem finsteren, bitterkalten Wald entdecken sie ein Haus. Doch was von außen verlockend erscheint, birgt eine dunkle Innenwelt. Die Kinder geraten in die Fänge einer menschenfressenden Hexe und können nur entkommen, indem Gretel die alte Frau tötet. Beladen mit Edelsteinen kehren sie zurück zum Vater und märchenhaft kann gesagt werden: Ende gut, alles gut. Du glaubst, das Märchen zu kennen, oder? Doch was, wenn es ganz anders passiert wäre? „Verirrten sich im Wald“ lädt das Publikum ein, einen neuen Blick auf die Geschichte zu wer- fen. Dabei verbindet sich die bildmächtige Inszenierung von Robert Lehniger mit der Aug- mented und Virtual Reality (VR) der CyberRäuber. Es irren verschiedene Versionen von Hän- sel und Gretel durch den Wald – auf der Bühne und in der virtuellen Realität. Immer wieder tauchen die Geschwister auf und führen die Zuschauer_innen an die Grenzen zwischen Wirk- lichkeit und den dunklen Parallelwelten aus Märchen, Fantasy-Romanen und Netflix-Serien. Und die Hexe ist nicht die einzige Gefahr, die im Wald lauert. Ab der 8. Klasse Es spielen Mina Christ, Christine Flegel, Enzo Herrmann, Luna Jordan, Daria Kleyn, Kalina Krone, Alexander Nagel, Justin Otto, Hanno Prigge, Veronika Schulze, Jasmin Sebastiani, Leni von der Waydbrink, Cedric Ziouech Regie Robert Lehniger Virtual Reality CyberRäuber (Björn Lengers, Marcel Karnapke) Bühne Janja Valjarević Kostüme Linda Spörl Musik RLisa Morgenstern, Miguel Murrieta Vásquez Dramaturgie + Theaterpädagogik Lasse Scheiba Aufführungsdauer 1 Std. Premiere 30. März 2019, Box 2
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD VORBEMERKUNG Die Inszenierung „Verirrten sich im Wald“ in der Regie von Robert Lehniger empfehlen wir für Schüler_innen ab der 8. Klasse. Vor allem empfiehlt sich eine Verbindung mit den Fä- chern Deutsch und Darstellendes Spiel. In dieser Materialmappe finden Sie Hintergrundinformationen zur Inszenierung. Aufgrund des besonderen künstlerischen Zugriffs auf das Märchen wird neben einführenden Informa- tionen vor allem die Arbeitsweise vorgestellt. Der Inszenierungsbesuch eignet sich dazu, moderne Theaterformen und die Verschränkung von neuen technischen Medien und dem Theater kennenzulernen sowie zu diskutieren. Außerdem kann ein Inszenierungsbesuch eigene kreative Prozesse anstoßen und dazu ani- mieren mit klassischen Stoffen, wie einem Märchen, frei umzugehen. So kann der Besuch besonders Darstellenden-Spiel-Kursen, die eine Inszenierung entwickeln wollen, die zahlrei- chen Möglichkeiten zeigen, eigene Ideen auf eine Bühne zu bringen. Oder im Unterrichtsfach Deutsch Anstöße für eine kreative Textproduktion bieten. Im Folgenden schließen sich verschiedene Fragestellungen, Übungen und Diskussionsanre- gungen an, die es ermöglichen, sich Text und Themen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern und im Anschluss an die Vorstellung ins Gespräch zu kommen und die Auseinander- setzung zu vertiefen. Zur Vorbereitung bietet das Junge DT auf Anfrage einen ca. 90-minütigen bis dreistündigen Workshop oder eine Einführung vor der Vorstellung an. Auch ein Nachgespräch nach der Vorstellung mit einer Begutachtung der VR-Brillen ist möglich. Alle Angebote sind bei einem Besuch der Vorstellung kostenfrei. Wir wünschen Ihnen und Ihren Schüler_innen viel Spaß beim Ausprobieren! 3
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD I Das künstlerische Team Robert Lehniger – Regie Robert Lehniger studierte Visuelle Kommunikation und Mediengestaltung (Experimentelle Television) in Wei- mar. In seinen filmischen Arbeiten, Bühneninszenie- rungen, Videoinstallationen und Transmedia-Projekten untersucht er die Schnittstelle von Theater und Neuen Medien und spielt mit den Formen des medialen Er- zählens im Realraum und im Netz. In der Spielzeit 2015/16 inszenierte er zum ersten Mal am Deutschen Theater Berlin (Herr der Fliegen: survival mode). In dieser Inszenierung verband er die Romanvorlage mit dem erfolgreichen Computerspiel minecraft und lud die jugendlichen Spieler_innen und das Publikum zu einer Beschäftigung mit virtuellen Spielwelten ein. CyberRäuber (Marcel Karnapke, Björn Lengers) – VR / AR Marcel Karnapke und Björn Lengers bilden seit 2016 das Künstlerkollektiv „CyberRäuber – Theater der vir- tuellen Realität“ (vtheater.net). Sie verbinden Theater mit dem virtuellen Raum, bringen – oft gemeinsam mit anderen Künstler_innen – digitale und virtuelle Welten ins Theater und das Theater auf virtuelle Bühnen. Sie erforschen neuartige Erzählmöglichkeiten und experi- mentieren mit Laserscans kompletter Bühnenbilder, dreidimensionalen Aufzeichnungen von Schauspie- ler_innen, Echtzeit-Bühnenbildern und mobilen Applikationen auf der Bühne. 4
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Lisa Morgenstern und Miguel Murrieta Vásquez – Musik Lisa Morgenstern ist eine deutsch- bulgarische Pianistin, Sängerin und Komponistin. Miguel Murrieta Vásquez, geboren in Ecuador, lebt seit zehn Jahren in Deutschland und ist vorwiegend als Tonmeister für Werbe- und Doku- mentarfilme tätig. Lasse Scheiba – Dramaturgie / Theaterpädagogik Lasse Scheiba ist Dramaturg, Theaterpädago- ge und Kulturwissenschaftler. In seinen Arbei- ten bilden von den Spieler_innen geschriebe- ne Texte das Ausgangsmaterial für die Insze- nierung. Er mischt Texte, die in den Proben entstehen, mit zum Thema passender Fachli- teratur und erschafft so Collagen, in denen biographisches, fiktionales und wissenschaftli- ches in einen Austausch tritt. 5
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD II Stückentwicklung und Proben Was für eine Geschichte muss in einem Theaterabend erzählt werden, der das Bühnenge- schehen mit Virtual Reality mischt? Eine Inszenierung, in der zwei Welten aufeinandertref- fen? Diese Fragen beschäftigten das künstlerische Team um den Regisseuren Robert Lehniger vor dem Probenbeginn. Das Märchen der Gebrüder Grimm schien ein passender Ausgangspunkt: Zwei Kinder verlieren sich im Wald und entdecken ein Haus aus Lebkuchen. Es ist wie ein verzerrtes Spiegelbild des Elternhauses. Ein verwunschener Ort, der schreckliche Gefahren beherbergt. Die Proben zu „Verirrten sich im Wald“ begannen mit mehreren Was wäre, wenn-Fragen, die die Spieler_innen an das Märchen stellen sollten: Was, wenn die Hexe nur eine missverstandene Frau wäre? Was, wenn Hänsel und Gretel vor lauter Hunger zu Kannibalen geworden wären? Was wäre, wenn Gretel und Hänsel einander im Wald verloren hätten? etc. Ausgehend von diesen Fragen, dachten sich die Spieler_innen neue Märchenfassungen aus. Dabei arbeiteten immer zwei Spieler_innen zusammen und überlegten, welche Geschichte sie erzählen könnten. Was, wenn Hänsel und Gretel zwei kleine Kinder oder ganz alt wären? Was, wenn zwei Mädchen Hänsel und Gretel spielten? In der Inszenierung stehen neun Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren sowie drei Seni- or_innen auf der Bühne. Sie stellen mehrere Hänsel-und-Gretel-Variationen dar. Jedes Ge- schwisterpaar erzählt eine andere Geschichte, einen anderen Blick auf das Märchen. Es ist ein Kaleidoskop aus Möglichkeiten. Dies spiegelt auch die virtuelle Realität in der Inszenie- rung wieder: Sie fungiert als ein Opernglas, das nicht einfach das Geschehen auf der Bühne vergrößert, sondern umdeutet und neue Eindrücke liefert. Das Publikum wird dabei zu Fährtenleser_innen. Es gilt, die auftauchenden Pärchen, die Bil- der in der virtuellen Realität und die zahlreichen Erzählstränge zusammenzubringen. Ein Richtig oder Falsch gibt es dabei nicht. Jede_r deutet seine_ihre Spuren anders. 6
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Aus den Proben Worum geht es in dem Märchen? HUNGER / ESSEN UNLOGISCH IDENTITÄT ABNORM VERLOREN AUSGESTOSSEN SELBSTFINDUNG ORIENTIERUNGSLOSIGKEIT BOSHEIT HALLUZINATION REAKTION GERECHTIGKEIT ABHÄNGIGKEIT GESCHWISTERLIEBE HOFFNUNG VERLASSEN FREIHEITSKAMPF URVERTRAUEN ZUSAMMENHALT TRÄUME&ENTSCHEIDUNGEN DAS BÖSE ANGST FATA MORGANA IGNORANZ VERANTWORTUNG FÜRSORGLICHKEIT NATURVERBUNDENHEIT 7
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD III Zum Thema: Hintergrundwissen zur Inszenierung Das Märchen ist die tiefste Offenbarung des Volksgemüts. Nirgends erfährt man wohl die Schicksalswege der Volksseele – ihre geheimen Leiden – so unmittelbar, als wenn man ihren Märchen lauscht.“ RUDOLF MEYER – DIE WEISHEIT DER DEUTSCHEN MÄRCHEN Das Denken des Mystikers ist ein „Denken mit den Augen“. Es geht im Prinzip darum, den Sinn der Märchen, wie den Mythos überhaupt, vom Bildli- chen her zu entschlüsseln, denn im bildlichen Ele- ment der Märchen liegt das Zentrum ihres Geheim- nisses. Nur mit einer visuellen Methode kann man offen dieses Geheimnis entschleiern. REGINA BÖHM-KORFF - DEUTUNG UND BEDEUTUNG VON HÄNSEL UND GRETEL Die Märchen vermitteln wichtige Botschaften auf bewußter, vorbe- wußter und unbewußter Ebene ent- sprechend ihrer jeweiligen Ent- wicklungsstufe. Da es ihnen um universelle menschliche Probleme geht und ganz besonders um solche, die das kindliche Gemüt beschäfti- gen, fördern sie die Entfaltung des aufkeimenden Ichs; zugleich lösen sie vorbewußte und unbewußte Spannungen. BRUNO BETTELHEIM – KINDER BRAUCHEN MÄRCHEN Was wäre, wenn die Hexe eine ganz normale Frau ist, die von der Gesellschaft verstoßen wurde? 8
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Das Seltsame und das Gespenstische in Stranger Things Stranger Things: „Sie nehmen die Zuschauer an die Hand und bringen sie dorthin, wo sie noch nie waren“ Eine düstere Herbstnacht in einer US-amerikanischen Kleinstadt. Ein Junge fährt mit dem BMX über eine Landstraße. Trübe Straßenlaternen zeigen Umrisse eines Waldes. Plötzlich sieht der Junge etwas. Er erschrickt, fährt in eine Böschung, stürzt. steht wieder auf, rennt zu Fuß weiter. Etwas verfolgt ihn. „Mom!“, ruft er, als er zu Hause ankommt. Sie ist nicht da. Das Etwas, nur in den furchterfüllten Augen des Jungen zu erahnen, ist schon da. Eine Glüh- birne leuchtet auf, ein greller Klang ertönt, dann ist es still – und der Junge verschwunden. Von jetzt an ist alles anders. Die Welt hat einen Riss bekommen. Durch ihn ist etwas einge- drungen in die intakte Welt von Hawkins in der Netflix-Serie Stranger Things. Jetzt ist da et- was, das da nicht sein sollte. Die von Winona Ryder mit dauerverzerrter Mimik gespielte Joyce ist überzeugt, dass ihr Sohn Will noch lebt, von übernatürlichen Kräften gekidnappt wurde und immer wieder ver- sucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, ob über das Telefon oder die Lichterketten, die sie in einem verzweifelten Anfall im ganzen Haus aufhängt. 9
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Neben Joyce und dem Sheriff sind auch Wills Kumpels den bösen Mächten auf der Spur. Womöglich ist es kein Zufall, dass die Kids jener fremden Welt mutiger begegnen als die Er- wachsenen. In der Lebensphase glauben wir stets mehr, als vermeintlich wahr ist, stehen dem Fremden offen gegenüber und sind zugleich bereit, die Kategorien, mit denen die Reali- tät erfasst wird, ständig neu anzupassen. Durch die Linse der präpubertären Hauptfiguren, die weitgehen außerhalb der erwachsenen Wirklichkeit agieren, wird das Seltsame sichtbar. Sie nehmen die Zuschauer an die Hand und bringen sie dorthin, wo sie noch nie waren: in eine Welt voller Schrecken, aber auch voller Faszination, eine Welt, die größer ist als die sichtbare physikalische. PHILIPP RHENSIUS – STRANGER THINGS VS. MARK FISHER. IN: SPEX NO 377 (gekürzt) Weil wir Phantasien haben, fühlen wir uns in der wirkli- chen Welt nie vollständig zu Hause; wir sind nie ganz si- cher, ob wir wirklich das sind, wofür die anderen uns halten etc. ROBERT PFALLER – ZWEITE WELTEN 10
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD IV Virtuelle Realität im Theater: Wieso? Ein Interview mit den CyberRäubern Marcel Karnapke und Björn Lengers bilden seit 2016 das Künstlerkollektiv „CyberRäuber – Theater der virtuellen Realität“ (vtheater.net). Wie seid ihr die Cyberräuber geworden? BL: Wir haben uns bei einer Veranstaltung über VR (Virtuelle Realität) und Film getroffen, beide dort die Meinung vertreten, dass VR viel interaktiver und echtzeitlicher als Film ist und daher viel mehr Verwandtschaft mit dem Theater hat. Und dann: don’t talk, do. Man kann das Theater zum letzten Hort des „Analogen“ ausrufen, aber dann zieht man natürlich ins Reservat, weg von der Gesellschaft und weg von den Menschen. BJÖRN LENGERS Welche digitalen Bereicherungen wollt ihr nicht mehr missen? BL: Die weltweite Vernetzung des Wissens und damit die Möglichkeit zu sehen, woran und wie andere Leute arbeiten. Twitter, Github, Colab. MK: Um nur eine zu nennen, ich bin Podcastsüchtig. Gerade weg vom Bildschirm zu sein und nur durch die Ohren und Gedanken in Geschichten einzutauchen, ist extrem schön und vor- allem kann man es so toll in den Alltag einbauen; das nimmt dem Geschirrspülen doch gleich seinen Schrecken. 11
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Auf welche digitalen Entwicklungen könntet ihr verzichten? BL: Die Geburtswehen der neuen Zeit: Noch nicht gut entwickelte Diskussionskultur, Gesetz- losigkeit und Entmündigung. MK: Totalüberwachung, damit einhergehende Steuerung durch Massenmedien, Trolling und das Live-Streaming von Gewalt. Gibt es ein Prinzip, nach dem die digitale Umsetzung im Bühnenraum funktioniert? MK: Da könnte man fast fragen, ob es ein Prinzip der Digitalität gibt? Wir beschreiben unse- re Arbeit sehr oft als eine Suchbewegung, da wir mit Medien arbeiten, für die es noch keine, bis wenige Erfahrungen gibt, sind wir bemüht Experimente zu wagen deren Ausgang auch ein Scheitern sein darf. Eigentlich kommen wir oft an Grenzen, untersuchen diese und fra- gen uns, ob es Wege gibt, diese aufzuweichen, Dinge zu Verknüpfen und neue Perspektiven zu öffnen. Oft sind wir selbst total überrascht, wieviel man den Spielern und dem Publikum zutrauen kann und wieviel Gedachtes am Ende gut und solide funktioniert. Wie geht ihr mit der ethischen Debatte des „Entzauberns“ oder dem „Verrat am Theater“ um, die in Bezug auf digitale Bühnenformate aufkommt? BL: „Verrat am Theater“? Dafür müsste man doch erstmal definieren, was Theater ist. Meine Erfahrung ist: Wenn ich zehn Menschen frage, was Theater ist, bekomme ich zehn verschie- dene Antworten. Mir gefällt nicht, wenn Theater und Theatermenschen vor allem im Verteidigungsmodus sind, nur bewahren wollen oder Angst vor Veränderung haben. Wir wollen auch verzaubern, und ich empfinde, das was wir tun, eher als Dienst am Theater, als notwendige künstlerische Forschung. Wie sieht für Euch das Theater der Zukunft aus? BL: Gar nicht so sehr unterschiedlich, wie das der vergangenen 3000 Jahre: DarstellerInnen erzählen live Menschen Geschichten im Raum. Und was das jeweils genau ist, wandelt sich ständig. Ich persönlich bin mir zum Beispiel nicht sicher, ob Theater als notwendige Bedin- gung einen physischen Ort, eine physische Bühne braucht. Ko-Präsenz und Szenografie las- sen sich auch anders erzeugen. Und es ist interessant, daran zu arbeiten. Jedenfalls bin ich überzeugt: 12
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Das Theater hat seine besten Zeiten noch vor sich! MK: In meinen kühnsten Visionen träume ich vom Cybertheater. Einer Welt, in der das Pub- likum von überall auf der Welt einfach via virtueller Realität dazukommen und am Schauspiel aktiv oder passiv teilnehmen kann. Auch die Schauspieler befinden sich an verschiedenen Spielplätzen auf dem Globus, treffen sich auf Bühnen, die zu Welten geworden sind und nehmen uns mit auf eine Reise in Ihre Köpfe, Mäuselöcher oder schweben mit uns zusam- men über den Dächern einer Stadt der Zukunft. Klingt alles total abgehoben, aber haben wir schon ausprobiert, im Jahr 2018. Scheint so als wäre die Zukunft schon heute, Sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt. ALLABOUTHELENE – WIE DIGITAL IST DIE KUNST, IHR CYBERRÄUBER? (gekürzt) 13
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Die technische Geschichte der virtuellen Realität Der Begriff der künstlichen oder virtuellen Realität (artificial bzw. virtual reality) existierte in den fünfziger Jahren noch nicht. Allerdings sind erste Implikationen bereits in Wieners Kommunikationsmodell und in der Echtzeit-Simulation des WhirlwindComputers enthalten. Einen weiteren Schritt machte die Philco Corporation, die 1958 ein Head-Sight-Television- System entwickelte. Das System besteht aus einer helmartigen Kopfvorrichtung mit einem kleinen Monitor, dessen Bild direkt vor den Augen des Benutzers erscheint. Das Bild stammt von einer entfernten Kamera, die der Träger mit seinen Kopfbewegungen lenkt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, daß er sich in diesem Bild bewegt. Die Steuerung der Kamera erfolgt über am Helm angebrachte Sensoren, die Veränderungen eines Magnetfeldes regist- rieren. Sowohl der Operateur als auch die ferngelenkte Kamera sind dabei von identi- schen Magnetfeldern umgeben. Das System sollte der Beobachtung entfernter Orte die- nen, die für den Menschen gefährlich sind. Mit diesem Sichtgerät wurden zunächst nicht die interaktiven Qualitäten der Technologie wei- terentwickelt. Entscheidender war, daß ein Bild entstand, das das Gesichtsfeld ausfüllte und so die Illusion des »im-Bild-Seins« entste- hen ließ. Aufgrund dieser illusionistischen Qualität der VR-Technologie zeichnet Erkki Huh- tamo mit seiner »Media Archeology« eine Traditionslinie von der Stereografie und den Dio- ramen sowie den Panoramen des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen VR-Technologie. In dieser Traditionslinie steht auch der Sensorama Simulator Morton Heiligs, der allerdings keinen Computer verwendet. Morton Heilig konstruiert 1956 den Prototyp eines Ein- Personen-Kinos, das außer der binokularen Ansicht eines Films von einer Motorradfahrt durch New York auch Stadtgeräusche, Gerüche und taktile Reize miteinander kombiniert. Das Gerät besitzt sogar einen Propeller, der Wind produziert. Morton Heiligs Sensorama dient keinem bestimmten Zweck; Heiligs Interesse galt vielmehr der Erweiterung der künst- 14
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD lerischen Ausdrucksmittel durch den direkten Umgang mit den menschlichen Sinnen. Er spricht von “[...] providing the artist With a much wider palette of sense material [...].” Das Kino der Zukunft, das er sich vorstellte, sollte alle menschlichen Sinne ansprechen. Während sich Heiligs Sensorama sowohl gegen die Kategorisierung als Kunstwerk als auch gegen die Einordnung in den technisch-funktionalen Bereich sträubt, entstanden in den späten sechzi- ger Jahren Arbeiten im Kunstkontext, die an die Idee des Sensoramas anknüpften. Auf die direkte Aktivierung sensueller Empfindungen zielten auch die Arbeiten Ay-Os', Tactile Room (1965) und Finger Box Suitcase (1964) sowie Marta Minujins Minuphone ( 1967). Die weitere Entwicklung der Computertechnologie schlug aber zunächst eine andere Rich- tung ein: die interaktive Beziehung zwischen System und Anwender. Diesen Aspekt entwi- ckelt Ivan E. Sutherland mit seinem SketchpadProgramm weiter. Es erlaubt dem Anwender, mit Hilfe des Lichtstifts auf dem fernsehähnlichen Display, der Kathodenstrahlröhre, zu zeichnen und so die Daten im Computerspeicher zu verändern. Ein großer Vorteil der Systeme Sutherlands ist, daß Anweisungen des Anwenders nicht erst in einem Programm formuliert werden mußten, sondern in Anlehnung an bereits erlernte kultu- relle Verhaltensweisen ausgedrückt wurden. Dieser Schritt ist für die weitere Entwicklung des Computers entscheidend. Neben der Adap- tion kultureller Interaktionsmuster, wie dem Zeichnen, galt das Bestreben Sutherlands der Entwicklung einer Apparatur, mit der man sich über den Sehsinn in computergrafischen Bild- räumen orientiert. Zwischen 1966 und 1970 knüpft Sutherland an das Head-Sight-System der Philco Corporation an und entwickelt sein Head-Mounted-Display (HMD). Es besteht aus zwei kleinen Monitoren, die aber im Unterschied zu seinem Vorgänger kein fotorealistisches Bild einer Kamera, sondern ein computergeneriertes Bild zeigen. Die Monitore des HMD be- finden sich seitlich an den Schläfen und projizieren ihr Bild ebenfalls durch Linsen und halb- 15
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD durchlässige Spiegel vor die Augen des Benutzers. Im Unterschied zu dem zweidimensiona- len Bild, das beim Head-Sight-Television-System entsteht, ist das Bild in Sutherlands Display stereoskopisch und wird so dreidimensional wahrgenommen. Sensoren, die am HMD angebracht sind, registrieren Veränderungen der Kopfposition. Die Daten werden an die angeschlossenen Computer übertragen, wo die Perspektive der beiden Bilder entsprechend berechnet und verändert wird. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, der Betrachter könne sich im räumlich erscheinenden stereoskopischen Bild bewegen. Das Bild wird von dem Spiegelsystem reflektiert und erscheint als im Raum schwebend. Im Un- terschied zu den heutigen Datenbrillen war es dem Träger eines Head-Mounted-Systems daher möglich, auch den ihn umgebenden realen Raum zu sehen. Eingabeinstrumente wie Datenhandschuh und Datenanzug wurden später entwickelt und erweiterten die Hand- lungsmöglichkeiten im computergenerierten Bild. Das Bild, das auf Sutherlands Display er- schien, stellte das Drahtgittermodell eines Kubus dar. Zu aufwendigeren Bildberechnungen in Echtzeit waren die Computer zu dieser Zeit nicht in der Lage. Wieners Thesen, die weitgehend prognostischen Charakter hatten, sind mit der Entwicklung Sutherlands — weniger als zwanzig Jahre später — mindestens teilweise realisiert: Die im- mer direktere Mensch-Computer-Kommunikation, in der die Programme dem Benutzer das Erlernen der Computersprache abnehmen, war Ende der vierziger Jahre in der Frühzeit des Digitalcomputers kaum vorstellbar. Wiener hatte aber zugleich mit seiner Analogisierung von zwischenmenschlicher und Mensch-Computer-Kommunikation Hoffnungen geweckt, die zunächst nicht einzulösen waren — und dies wurde oft beklagt. Dennoch machte die kurze Zeitspanne zwischen Prognose und ihrer annähernden Realisierung den Computerforschern die enorme Schnelligkeit der technologischen Entwicklung bewußt und bedingten immer utopischere Einschätzungen zukünftiger Möglichkeiten. Von einer »Man-Computer- Symbiosis« sprach J.C.R. Licklider schon 1960 und Alan Turing fragte mit Blick auf den Com- puter: „Can a machine think?“ Er evozierte damit die vielversprechende Metapher des Elekt- ronenhirns, die bereits bei Wiener in Form einer Lernmaschine auftauchte. SÖKE DINKLA – PIONIERE INTERAKTIVER KUNST 16
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD V Vor- und Nachbereitung des Inszenierungsbesuchs Selbst ausprobieren, erfahren und weiterentwickeln, was in der Inszenierung und auch auf den Proben Fragen und Herangehensweisen waren. Darum geht es in diesem Teil. Idealer- weise machen Sie diese Übungen nicht im Klassenzimmer, sondern suchen einen geeigneten Raum, der Bewegungsfreiheit ermöglicht. Vorbereitung Natürlich können Sie zur Vorbereitung das Märchen der Gebrüder Grimm lesen. Den meisten Schüler_innen ist es allerdings durchaus bekannt und die Erinnerungen an das Märchen aus der Kindheit reichen aus, um der Inszenierung zu folgen – vor allem, weil die Inszenierung Geschichten erzählt, die nur angelehnt an das Märchen sind. Wenn das Märchen den Schüler_innen bekannt ist, können Sie direkt mit folgenden Übun- gen den Inszenierungsbesuch vorbereiten. Die beiden Vorbereitungen (im Klassenzimmer und szenische Vorbereitung) lassen sich auch verbinden. Vorbereitung im Klassenzimmer 1. „Hänsel und Gretel“ ging so… Lassen Sie die Schüler_innen die Geschichte nacherzählen. Nach einer Reihenfolge (Erste bis letzte Reihe, im Kreis sitzend im Uhrzeigersinn o.ä.) sollen die Schüler_innen das Märchen chronologisch nacherzählen. Dabei gilt es zwei Dinge zu beachten: Niemand darf so viel er- zählen, dass danach nicht mehr genug für die anderen bleibt und es sollen keine Teile der Geschichte übersprungen werden. Sollte ein_e Redner_in etwas vergessen, können die an- deren durch lautes Klatschen dazwischen gehen und erzählen was vergessen wurde. Danach geht es der Reihenfolge entsprechend weiter. 2. Was wäre, wenn… Lassen Sie die Schüler_innen eigene „Was wäre, wenn“-Fragen über das Märchen aufschrei- ben. Jede_r braucht mindestens eine Frage. Geben Sie gerne zum Anfang ein paar Beispiele („Was wäre, wenn die Hexe Vegetarierin ist?“, „Was wäre, wenn Hänsel und Gretel nie beim Hexenhaus angekommen wären?“, „Was wäre, wenn Hänsel und Gretel Superhelden gewe- sen wären?“) 17
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD 3. Kurzgeschichten schreiben Lassen Sie die Schüler_innen die Fragen untereinander austauschen. Sie sollen nun die Fra- ge, die sie erhalten haben, in Form einer Kurzgeschichte beantworten. Szenische Vorbereitung 1. Warm-Up Beginnen Sie szenische Übungen immer mit einem Warm-Up, damit die Schüler_innen in ihre Körper kommen. Leichte Dehnübungen vom Nacken bis runter zu den Füßen können bereits reichen. Oder vielleicht kennen Sie selbst andere Aufwärmübungen? 2. Raumlauf Lassen Sie die Schüler_innen durch den Raum gehen. Dabei sollten sie darauf achten, nicht nur im Kreis zu gehen, sondern in Schlangenlinien den Raum zu durchlaufen. Rufen Sie nach und nach unterschiedliche Figuren aus dem Märchen rein – die Schüler_innen sollen ihren Gang der jeweiligen Figur entsprechend verändern: Holzfäller / Hänsel / böse Stiefmutter / Gretel / Hexe / Spatz / Ente Anregung: Sie können zusätzlich auch die Intensität der Figurendarstellung bestimmen. Sol- len die Schüler_innen den Holzfäller einmal ganz überzogen und so „groß“ wie möglich spie- len, können sie eine andere Figur ganz fein und nah an sich dran spielen, so dass man die Veränderung in ihrem Gang erst nach längerem Hinsehen bemerkt. 3. Hänsel und Gretel Origin Nun sollen immer zwei Schüler_innen zusammenkommen. Sie haben 10 Minuten Zeit, sich zu überlegen, was für eine „Hänsel und Gretel“-Geschichte sie erzählen könnten. Zum Bei- spiel zwei beste Freundinnen, die eigentlich zum Shoppingcenter gehen wollten. Oder zer- strittene Geschwister. Oder Auftragskiller, die der Hexe das Lebkuchenrezept klauen wollen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Pärchen sollen nach den 10 Minuten nachei- nander auftreten und sich dem Rest der Klasse vorstellen. Dabei sollen sie auch Auftritt, Gangart und Sprache ihren Rollen anpassen. 18
Junges DT Spielzeit 18/19 Materialien VERIRRTEN SICH IM WALD Deutsches Theater Berlin Intendant Ulrich Khuon Redaktion Lasse Scheiba Foto Arno Declair www.jungesdt.de 19
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