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ANTHROPOS
                                                                                                                      109.2014: 1 – 20

                                      Der Krieg hat viele Stimmen
            Materiale Dimensionen von Kommunikation in Krieg und Razzia
            der Nama/Oorlam im südwestlichen Namibia des 19. Jahrhunderts
                                     Trutz von Trotha † und Christine Hardung

Abstract. – The article discusses the material dimensions of                Blessing: On Post-slavery Modes of Perception and Agency in
communications in the context of warfare and raiding at the in-             Benin. In: B. Rossi (ed.), Reconfiguring Slavery. West African
terface of oral and written communication in southwestern Africa            Trajectories (Liverpool 2009); s. a. Zitierte Literatur.
during the 19th century. The auditory reality of warfare included
not only warcries and battlefield calls but also the “voices” of
a new materiality – that of the letter. The letter-writing culture
of the Nama/Oorlam had already arisen in pre-colonial times.                Der Krieg hat viele Stimmen. Er ist eine Wirklich-
Letters not only played a key role in the diplomacy of war and              keit äußerster auditiver Gegensätze, von der Laut­
peace, but were also a much sought-after type of booty. F ­ inally,
the article addresses the vulnerability of messengers, and the              losig­keit vor dem Überfall, die alle Sinne der Krie-
medium of the messages they carried. [pre-colonial Namibia,                 ger beansprucht, bis zum Kampfschrei, der den
Nama/​Oorlam, letter-writing culture, oral communication, vio-              heranstürmenden Kriegern vorausjagt und die Stille
lence, warfare]                                                             des Morgens durchbricht. Zwischen den auditiven
                                                                            Gegensätzen des Krieges liegt ein ganzes auditi-
Trutz von Trotha, Prof. Dr. phil. habil., † 18. Mai 2013. – Von             ves Universum. Unseres Wissens ist dieses Univer-
1989 bis 2009 Professor für Soziologie an der Universität Sie-              sum bisher sozialwissenschaftliche terra incognita.
gen. – Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie und Eth-
nologie; Soziologie der Gewalt und des Krieges; Rechtsethnolo-              Solch sozialwissenschaftliches Nichtwissen kon­
gie und -soziologie; Kriminalsoziologie; Soziologie der Familie             tras­tiert umso mehr mit dem literarischen Umgang
und Jugend; deutsche Kolonialgeschichte. – Publikationen: u. a.             mit dem Krieg, bei dem die auditive Wirklichkeit
Kolo­niale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staats-               der kriegerischen Gewalt stets ein wichtiges Sujet
entstehung am Beispiel des “Schutzgebietes Togo” (Tübingen
1994); Soziologie der Gewalt. Hrsg. (Opladen 1997); Ordnungs-
                                                                            war, von Tolstoi über Erich Maria Remarque und
formen der Gewalt. Reflexionen über die Grenzen von Recht und               Ernst Jünger bis zu Gert Ledig oder Norman Mailer.
Staat an einem einsamen Ort in Papua-Neuguinea (zusammen                        Im Allgemeinen verstehen wir unter “Stimmen”
mit Peter Hanser – Köln 2002); On Cruelty. Sur la cruauté. Über             nicht nur die Dimension der Laute und Geräu-
Grausamkeit. Hrsg. zusammen mit Jakob Rösel (Köln 2011).                    sche, die mit der Wirklichkeit des Krieges verbun-
Siehe auch Nachruf in diesem Heft auf S. 177.
                                                                            den sind. Zu den “Stimmen des Krieges” zählen die
                                                                            Akteure des Krieges, vielleicht ein Ensemble, das
Christine Hardung, Dr. phil. Bayreuth. – Wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Universität Siegen / in Folge Universität              die auditive Wirklichkeit des Krieges noch um ein
Kassel; Mitglied der DFG-Forschergruppe “Gewaltgemeinschaf-                 Vielfaches an Vielfalt und Komplexität übersteigt.
ten”. – Forschungsschwerpunkte: Innerafrikanische Sklaverei                 Im umfassenden Sinne lassen sich zu diesem Ak­
und Folgen; Anthropologie der Gewalt; historische Anthropo-                 teurs­ensemble mehr oder minder alle rechnen, die
logie. Feldforschungen im Sahel-Sahara-Raum, insbesondere in
Benin und Mauretanien, Archivforschung in Namibia.- Publika-                in irgendeiner mittel- und unmittelbaren Weise vom
tionen u. a.: Arbeit, Sklaverei und Erinnerung. Gruppen unfreier            Krieg und seinem Geschehen betroffen sind. Dazu
Herkunft unter den Fulbe Nordbenins (Köln 2006); Curse and                  gehört das kaum überschaubare Feld all derer, die

                                                   https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
                                           Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50.
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2                                                                                                  Trutz von Trotha † und Christine Hardung

zu den Diskursakteuren des Krieges zählen. Noch                         fenkonstrukteure und ihre militärischen Kunden be-
weniger überschaubar ist die Menge ­jener, deren                        sonders interessieren dürfte. Gleichermaßen ließe
Stimme sich dadurch auszeichnet, dass sie stumm                         sich das unübersehbare Gesamt des Ak­teurs­ensem­
bleibt – oder wenigstens so schwach ist, dass sie                       bles der Kriegs- und Friedensdiskurse thematisie-
im “Kriegsgeschrei” kein Gehör fi   ­ ndet.1 Im enge-                   ren. Aber auch hier gibt unser historisches Beispiel
ren Sinne sind die Akteure in den Blick zu nehmen,                      vor, den Zusammenhang zwischen Stimme, Akteur
die direkt an Krieg und Frieden beteiligt sind. Aber                    und materialen Folgen eng zu bestimmen und auf
auch dieses Feld hat immer noch ein beträchtliches                      diejenigen zu beschränken, die unmittelbar am krie-
Maß an Unüberschaubarkeit, wenn man sich ver­                           gerischen Geschehen, sei es als Krieger, Boten oder
gegen­wärtigt, dass hierzu das gesamte Spektrum                         Missionare, beteiligt sind.
des operativen Militärapparates über den befeh-                            Entsprechend der Unterscheidungen zwischen
lenden Armeegeneral und den Zugführer bis zum                           auditivem Universum des Krieges, Akteuren und
Truppführer und einfachen Soldaten gehört. In dem                       Materialität haben die nachfolgenden Ausführungen
von uns behandelten historischen Fall ist die Kom-                      zwei Hauptteile, die jeweils den materialen Dimen-
plexität allerdings erheblich verringert, weil wir es                   sionen von Kommunikation in Krieg und Razzia der
mit relativ überschaubaren Gruppen wie den Ge-                          Nama/​Oorlam des 19. Jahrhunderts nachgehen. Vor-
waltgemeinschaften2 der Nama/Oorlam und der                             ausgeschickt ist den beiden Teilen eine sehr k­ urze
Viehhaltergesellschaft der Herero zu tun haben. Da-                     historische und ethnografische Kontextualisierung
rüber hinaus werden wir uns auf das Botenwesen                          der Nama/​Oorlam in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
der kriegerischen Seite der Herero-Nama/Oorlam-                         hunderts, und abgeschlossen werden die beiden
Beziehungen beschränken und auf diesem Wege ein                         Hauptteile mit einer kurzen Schlussbetrachtung.
besonderes Akteursensemble vorkolonialer kriege-                           Insbesondere an den Beispielen von Kampf-
rischer “Stimmen” in den Blick nehmen.                                  schrei und Zuruf untersucht der erste Hauptteil die
   Kriegerische “Stimmen” unterscheiden sich nach                       auditive Wirklichkeit des Krieges. Sein Ziel ist, die
ihrer Materialität. Diese Materialität der Stimmen                      Materialität der Gewalt anthropologisch zu begrün-
hat drei Seiten.                                                        den: Das Studium auditiver kriegerischer Wirk-
   Die eine ist die klangkörperliche Seite, die so                      lichkeiten geht, erstens, vom menschlichen Klang-
vielgestaltig ist wie die Arten der Klangkörper, die                    körper als dem Ort aus, an dem zu den auditiven
das auditive Universum des Krieges hervorbrin-                          kriegerischen Wirklichkeiten in bedeutender Weise
gen. Unter diesen Klangkörpern ist allerdings der                       beigetragen wird, umso mehr als die technisch er-
menschliche Körper als anthropologische Vorausset-                      zeugte auditive Wirklichkeit des Krieges in unserem
zung des auditiven Kriegsuniversums ausgezeich-                         historischen Beispiel sich noch nicht in den Vorder-
net. Die zweite Seite geht über das Auditive hinaus,                    grund gedrängt hat; zweitens werden die materialen
indem “Stimmen” sich nicht nur als Schallwellen                         Folgen in den Blick genommen, welche die men-
von Klangkörpern zur Geltung bringen, sondern                           schenkörperlich erzeugte auditive Wirklichkeit für
in schriftlichen Dokumenten unterschiedlichsten                         das kriegerische Geschehen nach sich zieht.
Charakters sich “Gehör” verschaffen können. Wir                            Der zweite Hauptteil geht zuerst “Stimmen” in
werden uns im Zusammenhang des Botenwesens                              einer besonderen Materialität nach, der des Brie-
auf das Briefwesen in Krieg und Razzia zwischen                         fes, erkundet Möglichkeiten und Risiken, die mit
Nama/​Oorlam und Herero konzentrieren. Die drit-                        dieser Materialität der Stimmen gerade in Zeiten
te Seite der Materialität sind die materialen Folgen,                   kriegerischer Konflikte verbunden sind, und hebt in
die “Stimmen” nach sich ziehen.                                         diesem Abschnitt auch eine symbolische Seite des
   Unter den materialen Folgen der Stimmen des                          Nama/​Oorlam-Briefwesens hervor, ohne die die
Krieges ließe sich grundsätzlich wiederum das gan-                      Art und Weise des Umgangs der Nama/Oorlam mit
ze Feld des auditiven Universums und des unüber-                        dem Brief nicht verstanden werden kann: die große
schaubaren Akteursfeldes in den Blick nehmen.                           Wertschätzung, welche die Nama/Oorlam für Brief
Zum Beispiel ließe sich jede Art von Waffe nach                         und schriftliche Zeugnisse im Allgemeinen hatten.
den materialen Folgen ihrer je spezifischen “Stim-                      Danach untersucht der zweite Teil das Botenwesen,
me” untersuchen – eine Frage, die vermutlich Waf-                       das zu einer der ältesten Einrichtungen des Krie-
                                                                        ges gehört. Er thematisiert einen besonderen Typ
 1 In der deutschen Geschichtsschreibung der 1970/80er Jahre            von Akteuren unter den “Stimmen” und untersucht
   hat man in der Forschung über “Alltag und Widerstand” die-           die Materialität der kriegerischen Gewalt ebenso in
   sen unhörbaren Stimmen nachträglich eine “Stimme” gege-
   ben, s. Broszat und Fröhlich (1987).                                 der Körperlichkeit und der mit ihr gegebenen Ver-
 2 Zum Konzept der “Gewaltgemeinschaft” siehe Speitkamp                 letzungsoffenheit der Boten wie in dem Medium der
   (2013).                                                              Botschaft, die der Bote überbringt. Das Medium der

                                                                                                                       Anthropos  109.2014
                                                    https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
                                            Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50.
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Der Krieg hat viele Stimmen                                                                                                        3

Botschaft können die Worte des Boten oder schrift-                    dort seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts dauerhaf-
liche Dokumente sein, die der Bote, vielleicht so-                    te Gemeinschaften. Dabei unterwarfen sie entweder
gar zusammen mit einer mündlichen Botschaft, dem                      die Nama oder integrierten sich über Heirats- und
Adressaten zustellt. In diesem Sinne treten im zwei-                  Allianzbeziehungen in deren Siedlungs- und Le-
ten Hauptteil Fragen der Materialität auch als sol-                   bensräume.3 Auch die Wirtschaft dieser dauerhaften
che nach den Unterschieden von Mündlichkeit und                       Gemeinschaften baute im Wesentlichen auf Raub
Schriftlichkeit auf.                                                  und Handel mit Herero-Vieh, Elfenbein und Strau-
   Insgesamt geht es also darum, materiale Di-                        ßenfedern und unter Jonker Afrikaner auf einem
mensionen von Kommunikation im Kontext krie-                          weitverzweigten Tributsystem auf, in das viehlose
gerischer Gewalt am Schnittpunkt von Mündlich-                        und vieharme Bevölkerungsgruppen sowie einzelne
keit und Schriftlichkeit zu betrachten und sich mit                   Herero-Fraktionen, Damara und San eingebunden
einer Briefkultur zu befassen, die in den periphe-                    waren. Die in Süd- und Zentralnamibia siedelnden
ren Räumen schriftloser Gesellschaften des südli-                     Nama/​Oorlam-Gemeinschaften beschränkten sich
chen Afrika schon in der ersten Hälfte des 19. Jahr-                  nicht darauf, Kriegs- und Raubzüge gegen die in
hunderts im Zuge der Christianisierung und mit der                    Zentralnamibia ansässigen Gemeinschaften, ins-
Einwanderung der Oorlam in das heutige Namibia                        besondere gegen die Herero, zu führen (Henrich-
entstanden war, lange bevor die deutsche Kolonial-                    sen 2011: ​167 ff.). Immer wieder kam es unter den
herrschaft über Namibia errichtet worden ist. Die                     Nama/​Oorlam-Gruppen selbst zu Raub und krie-
Briefkultur der Nama/Oorlam und Herero konnte                         gerischen Auseinandersetzungen mit wechselnden
nicht nur über Krieg und Frieden entscheiden, son-                    Allian­zen.
dern war Teil des kriegerischen Geschehens selbst,                        Aus der Kapkolonie stammend, brachten die
mehr noch, Briefe konnten zum Ziel kriegerischer                      Oorlam ihr Wissen über den Einsatz von Ochsen­
Gewalt werden.                                                        wagen, Pferden und Schusswaffen mit. Sie waren
                                                                      mehr oder weniger christianisiert und wanderten
                                                                      mit ihrer Sprach- und teilweise Schriftkenntnis des
Kurze Vorbemerkung zum historischen                                   Kap­hollän­di­schen in das südliche Namibia ein. Das
Kontext der Nama/Oorlam-Gemeinschaften                                Kap­hollän­dische wurde in Süd- und Zentralnami-
im südwestlichen Namibia des 19. Jahrhunderts                         bia im 19. Jahrhundert Verkehrssprache – neben den
                                                                      Sprachen Otjiherero sowie Englisch und Deutsch,
Das südliche Afrika war seit dem ausgehenden 18.                      die ebenfalls als Schriftsprachen dienten.
Jahrhundert bis zur einigermaßen sicheren Eta­                            Schriftkenntnis erleichterte wesentlich den Auf-
blie­rung der europäischen Kolonialstaaten im ers-                    bau überregionaler Handelsnetze und den Aus-
ten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Raum der                       tausch mit den Europäern – Regierungsvertreter,
frontier und Gewaltgemeinschaften (vgl. Hardung                       Militärs, Händler, Missionare vor Ort. Schriftliche
und von Trotha 2013 sowie zur Frontiergesellschaft                    Kommunikation wurde zu einem wichtigen Teil des
Penn 2005). Zu den Gewaltgemeinschaften gehör-                        Boten- und Kriegswesens der Nama/Oorlam so-
ten Gruppen, die unter dem Namen Oorlam bekannt                       wie ihrer Friedensdiplomatie und brachte eine be-
wurden. Sie bildeten sich, als die expandierenden                     merkenswerte Briefkultur hervor. Schrift wurde zu
burischen Siedler die autochthonen Khoikhoi-Ge-                       ­einem zentralen Mittel der Kommunikation unter
meinschaften im sogenannten Kleinen Namaqua-                           der Nama/​Oorlam- und der Herero-Elite.4 Im Ver-
Land zerschlagen hatten. Sie setzten sich zusammen                     lauf des 19. Jahrhunderts gewann die Schriftkom-
aus den ehemaligen Mitgliedern dieser Gemein-                          munikation zunehmend an Bedeutung, löste aber
schaften sowie aus Angehörigen verschiedenster                         orale und nonverbale Formen der Nachrichtenüber-
ethnischer Herkunft. Wie andere Akteure in diesem                      mittlung und Kommunikation nicht ab. Vielmehr
frontier-Raum waren sie aus den traditionalen Ge-                      bestanden die drei verschiedenen Medien von Kör-
meinschaften und ihren Formen der Exis­tenz­siche­                     per, Rede und Schrift als Kommunikationsträger ne-
rung herausgelöst. Unter den Angehörigen dieser                        beneinander und beeinflussten sich wechselseitig.
enttraditionalisierten Gemeinschaften taten sich zu-
nehmend selbständige Kriegsunternehmer hervor,
die sogenannte komandos aufstellten und an­führten,
welche, mit Schusswaffen, Pferden und entspre-
chenden Taktiken versehen, bestens für den Busch-                       3 Zur Migrationsgeschichte und Herausbildung der Oorlam-
                                                                          gruppen siehe Lau (1987: ​19 ff.); Dedering (1997: ​52–64);
kampf gerüstet waren. Einige dieser Kriegsunter-                          Wallace (2011).
nehmer betrieben nördlich des Oranje im heutigen                        4 Zur Bedeutung der Schriftkultur in der Herero-Gesellschaft
Namibia Jagd, Handel und Raub und etablierten                             siehe Henrichsen (2001).

Anthropos  109.2014
                                             https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
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4                                                                                              Trutz von Trotha † und Christine Hardung

Kampfgeschrei                                                       erstickt wurde. Der Schrei ist eine der elementaren
                                                                    Formen von Mündlichkeit in der Gewalt im Allge-
Verglichen mit der auditiven Wirklichkeit kriegeri-                 meinen und in Razzia und Krieg im Besonderen. Er
scher Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert drängte                     hat vielerlei Gestalt.
sich im südwestlichen Afrika des 19. Jahrhunderts                        Als Kampfschrei ist er Teil des Angriffs und eilt
die technisch erzeugte auditive Wirklichkeit des                    den angreifenden Kriegern im Zweikampf der un-
Krieges noch nicht in den Vordergrund. Der Kampf-                   mittelbaren Aktion voraus. Wie für alle Stimmlich-
schrei des Überfalls, das Zischen der Wurfspeere,                   keit ist für ihn grundlegend, dass er reflexiv und
die die Luft zerschnitten, das Pfeifen der Gewehr-                  mehrsinnig ist. Er gilt dem Gegner nicht weniger
kugeln, das Prasseln lodernden Feuers von Wohn-                     als dem Angreifer und dem Dritten, seien es mehr
stätten, die in Brand gesteckt worden waren, das                    oder weniger engagierte Zuschauer oder unmittel-
Ächzen hölzerner Räder der Ochsenwagen, die mit                     bare Parteigänger, die den Angreifer oder seinen
Munition beladen waren, der Hufschlag abgetriebe-                   Gegner anfeuern. Der Kampfschrei ist kollektiv und
ner Viehherden oder das Gebrüll von Kampfochsen,                    gemeinschaftsbildend oder kollektivierend ebenso
die im südlichen und südwestlichen Afrika von der                   wie individuell und desintegrierend.
indigenen Bevölkerung noch bis ins 19. Jahrhun-                          Der Kampfschrei wird individuell ausgestoßen.
dert hinein in vorderster Linie eingesetzt wurden,                  Mischt er sich mit den Kampfrufen der Mitkämpfer,
bestimmten das auditive Spektrum der Razzien und                    wird er kollektiv aufgenommen und zu einem ge-
Kriege, die die raubkriegerischen Nama/Oorlam-                      meinschaftlichen oder, im Falle von Massenheeren,
Gruppen untereinander und gegen die Viehhalter-                     kollektiven Schrei. In seiner Reflexivität wirkt er in
gesellschaft der Herero führten.                                    die Gruppe der Kampfgefährten zurück.
   Im Folgenden werden wir dieser vielfältigen                           Der Kampfschrei gehört einer vordiskursiven
audi­ti­ven Wirklichkeit des Krieges im südlichen                   Ordnung an. Er hat gemeinschaftsbildende oder
Afrika des 18. und 19. Jahrhunderts nicht gerecht.                  kollektivierende Funktion. Er lässt sich als kleinste
Wir beschränken uns stattdessen auf den Einsatz                     Einheit einer liminalen Phase im Sinne von Victor
der menschlichen Stimme in Kriegshandlungen und                     Turner begreifen (2000: bes. Kap. 4). Wenn die Zeit
konzentrieren uns zunächst auf ein zentrales Ele-                   des Wartens im Hinterhalt oder des Aufmarsches ihr
ment des akustischen Spektrums des Krieges: den                     Ende hat, die Krieger zur Attacke über­gehen oder
Kampfschrei. Auf seinen lautgebenden Effekt redu-                   die vorderen Linien der Infanterie eines modernen
ziert, findet er sich in den ethnografischen Berich-                Massenheeres zum Sturmangriff ansetzen, liegt im
ten und Missionsquellen zu Namibia des 19. Jahr­                    Kampfschrei die Zäsur. Stößt der Beutekrieger den
hun­derts als “wildes Gebrüll,” als “fürchterliches, ja             Kampfruf aus, hat er die Alltagswelt des Nichtkom-
höllisches Geschrei” (RMG 1864: ​33) beschrieben.                   battanten hinter sich gelassen, ist aber noch nicht –
Bevor wir auf das historische Beispiel der Nama/                    wenngleich unmittelbar davor – in die Welt des
Oorlam zurückkommen, werden wir jedoch einige                       Kombattanten, in den Handlungsvollzug der Ge-
allgemeinere Überlegungen zum Kampfschrei an-                       waltausübung und des Beutemachens, eingetreten.
stellen, der gewiss nicht nur für Kriegshandlungen                  Der Kampfschrei hebt die “alltagsweltliche Orien­
im südlichen Afrika der vorkolonialen und kolonia-                  tie­rung” auf und bildet für einen kurzen Augen-
len Zeit von Bedeutung war. Der Kampfschrei tritt                   blick den sozialen Ort eines Zwischen, an dem sich
vermutlich zu allen Zeiten in kriegerischen Aus­                    der Krieger als Teil einer Gruppe und getrennt von
einan­der­set­zun­gen auf, auch wenn seine Wichtig-                 der alltäglichen Umgebung begreift. Zugleich um-
keit und Bedeutung extrem variiert – in den Pan-                    schließt der Resonanzraum, den die Stimmgewalt
zervorstößen oder Luftangriffen seit dem Zweiten                    der Summe aller Kampfrufe errichtet, die Kämp-
Weltkrieg hat er zweifellos keinen relevanten sozia­                fer und schließt sie so zusammen. Der Kampf-
len und kulturellen Ort mehr.                                       schrei schafft und ist Eintritt in die communitas der
                                                                    Kämpfenden. In ihr soll die Gemeinschaft als Gan-
                                                                    ze wie auch jeder Einzelne der Kämpfer undurch-
Kampfschrei und Zuruf                                               dringbar und unbezwingbar sein. Der Kampfschrei
                                                                    ist eine stimmgewaltige Beschwörung von Unzer-
Der “Schrei” gehört kriegerischer Aktionsmacht un-                  störbarkeit und Siegesgewissheit. Angesichts von
abdingbar zu – noch dann, wenn der Triumphschrei                    Verletzungsoffenheit und Sterblichkeit setzt er auf
des Siegers bis zur Heimkehr warten muss, weil das                  die Verletzungsmacht und den Sieg über die Sterb-
Töten selbst in Lautlosigkeit erfolgen musste und                   lichkeit.
der Schrei des Opfers durch einen “Strahl dickströ-
menden Bluts”, wie es in Homers Odyssee heißt,5                       5 Homer in der Ausgabe von 2010 (22. Gesang, Zeilen 18–19).

                                                                                                                   Anthropos  109.2014
                                                https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
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Der Krieg hat viele Stimmen                                                                                                            5

     Unter den Bedingungen der “offenen Feld-                             se Zerbrechlichkeit beispielhaft aus. Der Überfall
schlacht” gilt das für beide Seiten der kriegerischen                     bedarf der Überraschung, die Stille und Schwei-
Auseinandersetzung. Als “Schlachtruf  ” schließt der                      gen gewährleisten. Der Kampfschrei, der zu früh
Schrei nicht nur die Angreifer, sondern auch die An-                      erfolgt, verrät – und hin und wieder ist er Verrat.
gegriffenen zusammen – kann sie zusammenschlie-                           Der Kampfschrei schreit den Sieg herbei und ist in
ßen. Der gleichzeitige Schlachtruf beider Seiten hebt                     dem Augenblick, in dem er dem Feind entgegen ge-
die Unterscheidung zwischen Angreifer und Ange-                           schleudert wird, doch nur eine Hoffnung. Er wech-
griffenem auf. Wer hier Angreifer und Verteidiger                         selt die Partei, wenn sich das Schlachtenglück wen-
ist, ist jetzt nicht mehr auszumachen. Im gleichzei-                      det und der scheinbare Verlierer von der Defensive
tigen Aufbranden des Schlachtrufes ist ebenfalls der                      zum Angriff übergeht, was sich selbst in der Asym-
Rechtfertigungsdiskurs und vor allem aller Zwei-                          metrie des Überfalls oder des Hinterhalts ereignen
fel verstummt; Rechtfertigung und Zweifel werden                          kann. Der Kampfschrei hält sich von Schwäche und
dorthin verwiesen, wo sie üblicherweise ihren Ort                         Verlierern fern. Aber im Krieg, von dem Clausewitz
haben: am Beginn und am Ende eines Krieges.                               (1991: ​31) zu Recht behauptet, dass der Zufall einer
     In der Asymmetrie des Überfalls, in dem die                          seiner Regenten ist, steht in den seltensten Fällen
­Rolle von Angreifer und “Verteidiger” unzweideu-                         von vornherein fest, auf welcher Seite der kämpfen-
 tig ist, ist die gemeinschaftsbildende Funktion des                      den Parteien sich die Verlierer finden, vor allem am
 Kampfschreis ebenso asymmetrisch. Sie ist aufsei-                        Ende des Krieges finden werden.
 ten des Angreifers. Die Schreckensrufe und Schmer-                          Der Kampfschrei wird nicht nur sozial erlebt. Er
 zensschreie der Überfallenen zeigen, dass mit dem                        hat materiale Qualität: Er dringt in die Körper ein
 radikalen Zusammenbruch von Alltag die Zerstö-                           und wird umgekehrt von diesen erzeugt. Die Stim-
 rung von communitas einhergehen kann. Sie ma-                            me ist immer auch als “körperlicher Zustand” auf-
 chen hörbar, dass der Kampfschrei immer auch auf                         zufassen (Krämer 2006: ​275). Diese Körperlichkeit
 Desintegration zielt, auf den Zerfall der Gemein-                        der Stimme bringt der Kampfschrei in zugespitzter
 schaft in Familien und Einzelne, die den Angrei-                         Weise zum Ausdruck.
 fern zu entkommen versuchen. Der Kampfschrei                                Die Stimme, gleich welchen Klangs, welcher
 ist Teil der Überwältigung des Gegners, er soll ihn                      Lautstärke oder Tonlage, wird nicht nur gehört.
 erstarren lassen und bewegungslos machen, ihn in                         Sie besitzt eine taktile Qualität, sie “berührt”, wird
 die “kopflose Flucht” treiben und auf diesem Weg                         physisch gespürt (Mersch 2006: ​212; Thurm 2003).
 umso gefahrloser zu einer “leichten Beute” machen.                       Dies betrifft vor allem die Stimme in ihrer Über-
 Der Kampfschrei ist “Struktur und Anti-Struktur”                         dehnung, dem Schrei. Der Schrei ist in der strengen
 (Turner 2000).                                                           Bedeutung des Wortes eine “Elementarerfahrung”
     In der Verschränkung gegensätzlicher Funk­tio­                       für den, der ihn ausstößt, wie für den, der ihn hört.
 nen ist der Kampfschrei sowohl eine gefährliche                          Hören gehört zu des Menschen frühesten und letz-
 Erscheinung, die dem Gegner Zerstörung und Tod,                          ten sinnlichen Erfahrungen, wenn es nicht gar die
 Verstümmelung und Versklavung ansagt, als auch                           letzte ist (Konrad und Fink 2008: ​163 f.). Es ist un-
 eine zerbrechliche und trügerische Erscheinung.                          ser wichtigster Warnsinn und der soziale Sinn über-
 Der Kampfschrei steht im Horizont der Ohnmacht                           haupt. Es führt den Menschen schon vorgeburtlich
 des Gegners, zuerst in der Form des imaginierten                         in seine kulturelle Umwelt ein, um sich nach der
 Sieges, dann, angesichts des überrannten, ohn-                           Geburt und in der frühen Kindheit zu einer hoch-
 mächtigen Gegners, als frühe Beglaubigung des                            differenzierten Ordnung der Selbstwahrnehmung
 Sieges. Solange diese Ohnmacht allerdings nicht                          und -vergewisserung und der sozialen und kulturel-
 Tatsache ist, ist der Kampfschrei ein uneingelös-                        len Konstitution der Person und ihrer Teilhabe an
 tes Versprechen. Der Kampfschrei mag zu flüch-                           Gesellschaft und Kultur auszubilden (Wulf 1997: ​
 tig sein oder so schwach, dass er sich am tosenden                       459 f.). Über das Hören halten wir uns bekanntlich
 Kampfesruf “aus tausend Kehlen” bricht, mit dem                          im Gleichgewicht. Der Schrei wiederum ist Eintritt
 der Gegner vorwärts stürmt. Der Überfall, zusam-                         in das Leben, für das Neugeborene wie für die Mut-
 men mit dem Hinterhalt und dem Verratsfest das                           ter und die anderen Anwesenden bei einer Geburt.
 vorherrschende taktische Mittel des “tribalen Krie-                      Das Schreien ist insbesondere in den ersten Lebens-
 ges” (Helbling 2006: ​124 ff.) – und nicht weniger                       monaten primäres Ausdrucksmittel für elementare
 das des heutigen “Kleinen Krieges”  6 –, drückt die-                     Bedürfnisse und Befindlichkeiten des Säuglings, ist

 6 Aus pragmatischen Gründen begnügen wir uns damit, auf                       rische Debatte um die Angemessenheit der Begriffe “Kleiner
   den Begriff des britischen Kolonialoffiziers Charles Callwell               Krieg”, “Neue Kriege”, “asymmetrische Kriege” u. ä. einzu-
   (1966) zurückzugreifen, ohne auf die konzeptuelle und histo-                gehen.

Anthropos  109.2014
                                                 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50.
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6                                                                                                  Trutz von Trotha † und Christine Hardung

das Signal, um Aufmerksamkeit zu beanspruchen                           wenn der Kampfruf von Kriegern zunächst nur aus
und Zuwendung einzufordern (Largo 2008: ​148 f.).                       der Ferne zu hören ist, folgen seinem akustischen
Die Funktion, Aufmerksamkeit herzustellen und                           Signal in rascher Distanzüberwindung diejenigen,
Zuwendung herbeizuführen, behält der Schrei in                          die ihn von sich geben. Der Schrei “erlaubt keinen
allen seinen Varianten und allen Situationen bei –                      Rückzug mehr in die Distanz” (König 2011: ​13).
vom Freudenschrei über den gebrüllten Befehl des                        Wenn auch nicht ganz Gegenwart wie die Gewalt
Feldwebels bis zum Schmerzensschrei. Der Kampf-                         und der Schmerzensschrei, hat er an ihrer gegen-
schrei hat an dieser Funktion teil, zeichnet sich aber                  wartsverankerten Unmittelbarkeit teil. Er verweist
in Übereinstimmung mit ihm verwandten Formen,                           auf die unmittelbare Zukunft, ist vorweggenom-
z. B. dem gebrüllten Befehl, durch seine besondere                      mener Sieg und beansprucht diese siegreiche Zu-
Dynamik und Energie aus. In verschiedenen asia-                         kunft für das Jetzt der Krieger oder Soldaten, die
tischen Kampfkünsten findet sich die energetische                       auf den Feind zustürmen. Dem Kampfschrei steht
Wirkung des Kampfschreis beschrieben, “dessen                           der Warnschrei gegenüber, der ebenso die Zukunft
kraftvolle Schwingung den Gegner für einen Au-                          imaginiert. Ist der Kampfschrei der vorweggenom-
genblick lähmt”, der die eigene Furcht überwindet                       mene Sieg, ist der Warnruf das vorweggenommene
und in höchstem Maß kraftverstärkend auf Geist                          Missgeschick.
und Körper einwirkt. Der Kampfschrei bündelt                                Der Kampfschrei wird typischerweise als sinn-
mentale Vorbereitung und Aktion. Dabei hat er teil                      stiftendes Kampfritual inszeniert.8 Wie alle Kampf-
an der Wirkungsweise des Anschreiens. Der Kampf-                        rituale liegt er deshalb an der Schnittstelle von
schrei bündelt und entfesselt in seiner Reflexivität                    Kultur und Person, kultureller und individueller
die Energien des Schreienden und zielt gleichfalls                      Sinnstiftung, Sozialem und Existenziellem. Ent-
auf das, was das Anschreien bewirken kann: der An-                      sprechend gehen solche sinnstiftenden Kampf­rufe
geschrieene ist wie gelähmt oder weicht gar zurück.                     und Herausforderungen des Gegners stets in die
Vor besonders lauten Tönen, zumal, wenn sie uns                         großen Mythen von den heroischen Kämpfen und
wie im Kampf “überfallen”, weichen wir zurück,                          Schlachten der Völker ein oder werden so kolpor-
suchen wir die Quelle des Schalls zu vermeiden. Die                     tiert, dass sie sich für die großen Mythen eignen.
Schallstärke eines Schreis kann dabei die Schwelle                          Mit dem Kampfschrei geht die Sichtbarkeit der
von 100 Dezibel überschreiten. Damit gelangt der                        Kombattanten einher. Daher gehörten Kampfrufe
Schrei schon in den Bereich, in dem Hörschädi-                          bei den Nama/Oorlam zu den Techniken des Über-
gungen erfolgen können.7 Der Schrei, mit dem der                        falls auf Stationen oder werften und zur Attacke auf
Angriff auf den Gegner erfolgt, ist also deshalb                        offenem Gelände. Der Hinterhalt, den die Nama/
“Kampfschrei”, weil er “intoniert”, was zur Aktion                      Oorlam wie alle tribalen Gesellschaften zusammen
werden soll: die Energie wird in das unaufhaltsame                      mit dem Überfall bevorzugten, braucht stattdessen
Vorwärtsstürmen des Angreifers kanalisiert und der                      die Stille, zumindest bis man sich der Überwälti-
Gegner gleichsam “entwaffnet”, weil unbeweglich                         gung des Gegners sicher weiß.
gemacht oder gar zum Zurückweichen, wenn nicht                              Zwischen dem Kampfschrei des Angriffs und der
zur Flucht getrieben. Es gibt ein direktes Entspre-                     Stille des Hinterhalts findet sich der Zuruf. Wie der
chungsverhältnis zwischen Kampfschrei, kriegeri-                        Schrei hat auch der Zuruf manche Variante. Er kann
schem Handeln und der Aktion des Gegners, wie                           leise, fast ein Flüstern sein, um noch im Hinterhalt
sie der Angreifer intendiert.                                           den Feind nicht auf den Gegner aufmerksam zu ma-
    In allen Gesellschaften, die Kriege führen, gibt                    chen und vorzuwarnen. Er kann laut wie der Befehl
es Kriegsrituale und Schutzmaßnahmen in Vorberei-                       zur Tagesparole sein, den der Wachmann von sei-
tung auf den Kampf, die dazu dienen, den Gegner                         nem Wachturm aus demjenigen entgegenruft, der
spirituell zu schwächen und zur “Selbststeigerung”                      sich der gesicherten militärischen Einrichtung nach
als einer Form der “kollektive[n] Selbstsuggestion”                     dem Zapfenstreich nähert. Laute Zurufe im kriege-
beizutragen (Helbling 2006: ​326). Der Kampfschrei                      rischen Geschehen gehören wie der Kampfschrei
dagegen ist die Fanfare zur Aktion, er gibt den Im-                     an den Ort des frontalen Kampfgeschehens, dort-
puls zur Tat. In ihm wird nicht mehr zwischen Inten-                    hin wo sich die Kriegsparteien, umeinander wissend
tion und Aktion unterschieden. Der Kampfschrei in-                      und gegeneinander ins Gefecht ziehend, in freiem
itiiert die Bewegung auf den Gegner zu. Auch dann,                      Gelände begegnen.

 7 Bei kurzfristigem Ausgesetztsein wie im Falle des Schreis              8 Plutarch z. B. berichtet von den Ambronen in einem Gefecht
   treten Hörschädigungen normalerweise erst bei 120 Dezibel,               gegen den Konsul Gaius Marius im Jahr 102 v. Chr., dass sie
   bei langfristigem Ausgesetztsein jedoch schon bei 90 Dezi-               sich mit dem Ruf “Ambronen! Ambronen!” angefeuert hätten
   bel ein.                                                                 (Goldsworthy 1996: ​196).

                                                                                                                       Anthropos  109.2014
                                                    https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
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Der Krieg hat viele Stimmen                                                                                               7

   Anders als der Kampfschrei muss sich mit dem                        Monate hinzogen, vollzog sich der Abbruch der
Zuruf keine physisch sichtbare Präsenz des Rufen-                      kriegerischen Auseinandersetzung, der in direkter
den verbinden. Daraus ergibt sich die Möglich-                         Interaktion eingefordert und in diesem Fall offenbar
keit, den Zuruf zur Verwirrung und Verunsicherung                      durch eine prekäre Versorgungslage motivierte war,
des Gegners einzusetzen. In gebirgigem oder ne-                        ohne größere zeiträumliche Entzerrung und unmit-
belverhangenem Kampfgelände oder aus mobilen                           telbar auf dem Kampfgelände.
Schanzen hervor kann der Zuruf gerade dann seine
Wirkung erzielen, wenn er vom Feind nicht genau
lokalisiert werden kann. Der Zuruf, wie ihn die                        Sprachgewalt
Nama/Oorlam in Krieg und Razzia praktizierten, ist
das akustische Mittel von Kleinkriegern, die sich                      Mündlichkeit ist in raubkriegerischem Gewalthan-
aus verdeckten Stellungen heraus bekämpfen.                            deln nicht nebensächlich. Noch im eigentlichen
   Nama/Oorlam sind allerdings auch ein Beispiel                       Kampfgeschehen ist sie von Belang. Europäische
dafür, dass der Zuruf gleichfalls eine kommunika-                      Quellen zu den kriegerischen Auseinandersetzun-
tive Praxis der Deeskalation sein kann. In Berich-                     gen der Nama/Oorlam im 19. Jahrhundert zeigen,
ten von Missionaren finden sich Hinweise darauf,                       dass Sprache nicht auf den Kriegsgesang und an­
dass einzelne Kämpfer inmitten einer Kampf­situa­                      dere Formen der ritualisierten Einstimmung auf den
tion sich rufend an die Gegner wandten, um sie zum                     Krieg beschränkt ist, wie für viele Kriegergruppen
gemeinsamen Abbruch der Kampfhandlungen zu                             überliefert und bekannt ist. Stattdessen können Krie-
bewegen. Solche Aufforderungen konnten längere                         ger aus individueller Entscheidung und situativ be-
Unterredungen zwischen den verfeindeten Par­teien                      stimmtem Impuls heraus verbal Kontakt zum Geg-
auslösen, die in lauten Hin- und Herrufen aus der                      ner aufnehmen. Dass sich diese Erscheinung gerade
Entfernung geführt wurden und unter Umständen                          bei den Nama/Oorlam findet, unterstreicht den Zu-
einen Waffenstillstand zur Folge hatten. Diese Form                    sammenhang einerseits zwischen Gesellschaft, krie-
der Mündlichkeit war ad hoc. Der Krieger, der ver-                     gerischen Sprechweisen und Art der Kriegführung,
bal das Einstellen der Kämpfe auslöste, schuf die                      andererseits zwischen Kommunikationsstruktur,
Option zur Gewaltbegrenzung im Moment seines                           Raum und Kriegstechnologie.
Zurufs. In der Gegenwärtigkeit einer kurzen Sprech-                        Die Nama/Oorlam waren Kleinkrieger, die ei-
handlung musste sich seine Überzeugungskraft bün-                      nem institutionalisierten, militärischen wie auch
deln. Ein anschauliches Beispiel erzählt von dieser                    politischen und gesellschaftlichen Verbund, dem
Praxis:                                                                komando, angehörten (Lau 1986; 1987: ​41 ff.). Das
                                                                       komando hatte sich aus einer Variante des Militär-
Am 21. Juni [1884] kam es zum Gefecht bei Onguheva,                    apparates der Niederländischen Ostindien-Kompa-
das jedoch unentschieden blieb. Am folgenden Tage such-
                                                                       nie, welche die Oorlam von der Kapkolonie mit-
ten die Namaqua eine festere Stellung i[m] Gebirge …
Hier kam es am 24. abermals zu einem Gefecht … – aber
                                                                       brachten, und den Kriegspraktiken der Nama, die
nicht zu einer Entscheidung, doch gelang es den Herero,                akephal organisiert waren, gebildet. Aufgrund die-
die Namaqua auf dem einen Flügel zu umgehen, und die-                  ser doppelten Wurzel vereinte es zwei antagonis-
se nahmen daher am anderen Tag den Kampf wieder auf.                   tische Ordnungsformen: Hierarchie und Egalität
Das Gefecht dauerte aber nicht lange, da ein Namaqua                   (Har­dung und von Trotha 2013). Entsprechend ver-
seinem Gegner zurief: “Warum müssen wir doch jeden                     pflichtete das komando den einzelnen Krieger nicht
Tag fechten [kämpfen]? Wir sind ja gekommen, um Frie-                  allein auf die Order des komando-Führers, sondern
den zu machen und nun fechten wir schon drei Tage lang                 beließ dem einzelnen komando-Mitglied Eigenwil-
und wir sind auch so hungrig!” Hierauf wurde dann – na-                len und Entscheidungsbefugnis in Kampfhandlun-
türlich aus gehöriger Entfernung – eine längere Unterre-               gen. Diese hybride militärische Struktur setzte sich
dung zwischen den beiden geführt, durch die es zu einem
                                                                       in heterarchischen Kommunikationsverhältnissen
Waffenstillstand kam. Die Herero kehrten in ihre Werften
zurück, und die Namaqua bezogen einen Hügel den He-
                                                                       im Gefecht fort.
rero gegenüber, sodass sie sich gegenseitig beobachten                     Mündliche Kommunikation zwischen den Geg-
konnten, und nun begannen die Friedensverhandlungen.9                  nern fand, wenn auch aus sicherer räumlicher Dis-
                                                                       tanz, direkt am Kampfort statt. Verletzungsmäch-
   Anders als die schriftlich geführten Friedens-                      tig war, wer in der kriegskommunikativen Technik
verhandlungen zwischen den Oberhäuptern krieg-                         der “gegenseitige[n] Beschimpfung und Verhöh-
führender Parteien, die sich unter Umständen über                      nung” Zurufe platzieren konnte, die über den rou-
                                                                       tinierten Gebrauch eingeschliffener Parolen hin-
 9 RMG (1884b: ​  400 f.). Eine vergleichbare Situation be-            aus den Gegner trafen. Dies setzte Schlagfertigkeit,
   schreibt Meyer (RMG 1884: ​342).                                    Wortgewandtheit und vor allem Kenntnis über die

Anthropos  109.2014
                                              https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
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Schwachstellen des Gegners voraus. Forderten sich                  Überfalls unbewaffnet auf die bewaffneten und ge-
die Kämpfer verbal heraus, konnten Worte zu einer                  walttätigen Männer zu und sprach die Beutekrieger
gefährlichen, gar tödlichen Falle werden. Sie sollten              an, durchbrach er die gewohnten Regeln des räum-
den Feind ablenken, ihn provozieren und zu unüber-                 lichen Abstands zum Feind, die einen Wortwech-
legten Handlungen hinreißen lassen, die ihn leicht                 sel überhaupt erst möglich machten. Der Missio-
zur Zielscheibe des Gegners machten.                               nar setzte sich über die Regeln des Kampfes hinweg
    Die Praxis des mündlichen Schlagabtauschs griff                und griff auf diesem Weg unmittelbar in das Ge-
in die Raumordnung des Kampfgeschehens ein. Die                    waltgeschehen ein. Unter den Kriegern rief solcher-
Anordnung der Krieger im Gelände war dann davon                    art Regelwidrigkeit Verunsicherung oder zumindest
bestimmt, wie weit ihre Stimme trug. Aufkommen-                    Überraschung hervor; besonders galt es für diejeni-
der Wind konnte die menschliche Stimme verschlu-                   gen unter den Angreifern, die keine “Bitt-Leute” 10
cken. Mehr noch hing die Schlagkraft der Stimme                    waren, denen also der Umgang mit einem Missionar
vom Stimmvolumen des Kriegers und der Art der                      weitgehend fremd war. Das konnte dazu führen, von
Waffen ab. Solange mit wenig lauten Wurfwaffen                     dem Menschen abzulassen, den die Raubkrieger just
wie dem Assagai, einem Wurfspeer, gekämpft wur-                    zu töten oder zu berauben beabsichtigt hatten. Die
de, konnte sich ein Wortwechsel zwischen den Geg-                  ebenso mutige wie dreiste missionarische Abwei-
nern parallel zu anderem Kriegsgerät Gehör ver-                    chung schuf gleichsam eine “Leerstelle operativen
schaffen. Im Lärm von Feuerwaffen aber ließ sich                   Handelns”, was den Beutekrieger unter Umständen
dieser nicht mehr durchsetzen und blieb in seiner                  davon abbrachte, den Überfall in gewohnter Wei-
Wirkung auf Anfang und Ende der Kampfhandlun-                      se zu Ende zu führen. Wortgewaltige Regelwidrig-
gen und auf die Feuerpausen begrenzt.                              keit verträgt selbst die unordentliche Ordnung des
    Mit Missionaren trat noch ein ganz anderer Ak-                 Krieges nicht. Im Krieg kann sie jenen Spalt öffnen,
teur in den mündlichen Schlagabtausch ein und be-                  dessen es bedarf, um aus der geregelten Unordnung
gegnete sprachgewaltig verfeindeten Nama/Oor-                      des Krieges in die regelreiche Ordnung des Frie-
lam-Gruppen mit stimmlichen Waffen. Der Ort                        dens einzutreten.
hierfür waren typischerweise die Missionsstationen,
die mit den politischen Zentren der Nama/Oorlam-
Gruppen räumlich häufig identisch waren und dann                   Die Waffe spricht
Ziel eines Überfalls sein konnten.
    In der Regel agierten die Missionare bei einem                 Die Qualität einer modernen Schusswaffe liegt
Überfall defensiv. Zusammen mit einzelnen Sta­                     nicht allein in ihrem Gebrauch als Werkzeug zum
tions­bewoh­nern, die sich bei ihnen Schutz erbaten,               Töten, Verletzen und um sich zu schützen. Sie ist
verbarrikadierten sie sich im Missionshaus und harr-               auch nicht im Wert als Beute- und Prestigeobjekt
ten dort bis zum Ende der Kämpfe aus. In Ausnahme-                 erschöpft. Die Waffe ist zu alledem ein wichtiges
fällen gingen sie jedoch in die Offensive. Machtlos,               Kommunikationsmittel. Sie überbietet die Reich-
weil ohne militärische Mittel, machten die Mis­sio­                weite der Stimme um ein Vielfaches und erweitert
nare umso kraftvoller von ihrem ureigenen, jahr-                   den Kommunikationsraum. Warnschüsse, Freuden-
hundertealten Handwerkszeug Gebrauch: der Kraft                    schüsse, Siegesschüsse vermittelten mehr oder min-
der Rede, die sie in der Predigt erworben hatten.                  der klare Botschaften. Versprengten sich die kom-
    Die öffentliche Rede, die ihre Zuhörer zu fes-                 andos im Gelände, kommunizierten die Reiter über
seln und zu bewegen vermag, hat stets und über-                    Luftschüsse, mit denen sie sich auch über größere
all ein besonderes Ansehen und dies vor allem in                   Distanzen hinweg untereinander verständigen konn-
den Kulturen der Rede, wie sie orale Gesellschaften                ten. Vom Zielort aus abgefeuert, dienten Schüsse ei-
kennzeichnen. Ein Missionar, der, ausgestattet mit                 nem Fremden, der sich per Bote angekündigt hatte,
verbalem Rüstzeug, im Mut des Glaubens und der                     als “Wegbeschreibung”. Ihr Widerhall half ihm, sich
Rechtschaffenheit oder, weil er einfach ein Drauf-                 im Gelände zu orientieren. Mit Schüssen kündigte
gänger war, zur Verteidigung der Mission und der                   ein zurückkehrendes komando den Daheimgeblie-
Menschen schritt, die bei ihm Schutz suchten, ver-                 benen seinen erfolgreichen Beutezug an, noch lan-
hielt sich in einer Weise, die den Beutekriegern un-               ge bevor diese den Trupp sich nähern sahen. Ein
gewohnt war. Der energische Appell, mit dem der                    Schuss, von Zeit zu Zeit im Schutz der Nacht oder
Missionar den Raubkriegern Einhalt zu gebieten                     im Sichtschutz naturräumlicher Gegebenheiten ab-
versuchte, fiel aus der Ordnung des Zurufs heraus,
denn er erfolgte nicht etwa aus sicherem Versteck                  10 “Bitt [Bet]-Leute (Leute die beten)”: Lokal gebrauchter Aus-
heraus, wie es der kriegerische Ablauf vorlangte.                     druck für den christianisierten Bevölkerungsanteil (RMG
Schritt ein Missionar inmitten der Turbulenzen eines                  1864: ​34).

                                                                                                                  Anthropos  109.2014
                                               https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
                                       Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50.
                                Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Der Krieg hat viele Stimmen                                                                                                        9

gegeben, gut platziert in die vermutete Stellung des                    Briefe und Boten
Gegners und abgefeuert von einem Schützen, der
wohl zu hören, aber nicht zu sehen ist, teilt dem                       Im 19. Jahrhundert fußte ein wichtiger Teil des fern-
Feind die unsichtbare und daher umso bedrohliche-                       mündlichen und schriftlichen Austauschs der Nama/
re Allgegenwärtigkeit des Gegners mit. Solcher-                         Oorlam auf einem Boten- und Briefwesen. Die Oor-
weise eingesetzt ist die Waffe das Sprachrohr von                       lam hatten es über den Kontakt mit den Schreib­
Guerillakriegern, die ihre Taktik des Überall und                       praxen der Europäer entwickelt und den Kommuni-
Nirgendwo hörbar unterstreicht.                                         kationsformen der Nama und Herero hinzugefügt.
   Hendrik Witbooi hat in seinen Aufzeichnungen                         Es war fester Bestandteil des Kommunikationswe-
von Kampf- und Schussszenen auf die kommuni-                            sens der politischen, wirtschaftlichen und sozialen
kative Funktion, die der Umgang mit Gewehrfeuer                         Elite, allen voran der kapteine, und nahm bei ihr
beinhaltet, eindrucksvoll hingewiesen:                                  ­einen wichtigen Platz im kommunikativen Aus-
                                                                         tausch ein. Der mobile Charakter des Brief- und Bo-
On 12 July our warriors rode to Jan Nowaseb at Naeb,                     tenwesens war zusätzlich dadurch hervorgehoben,
which they attacked on 13 July. Nowaseb’s men fled, but                  dass einzelne kapteine mobile Archive von Text-
Jan Nowaseb himself came out to fight us. We were shoot-                 sammlungen anlegten, die sie auf ihren Kriegs- und
ing at him as he ran, so that he was swathed in dust, tossed             Mi­gra­tions­zügen in Ochsenwagen oder auf dem
hither and thither by the whistling bullets, and yet not
                                                                         Rücken von Reittieren mitführten.11 Eine wichti-
a bullet touched him. Then our Captain commanded his
warriors to hold their fire. We stopped, and Nowaseb sur-
                                                                         ge Rolle hatte das Brief- und Botenwesen in den
rendered unconditionally. Our Captain forgave him every-                 Kom­mu­ni­ka­tions­for­men von Krieg und Razzia, ins-
thing and accepted him in peace. From that day onwards                   besondere weil es Teil der Kriegs- und Friedens­
he and all his people who also surrendered were accepted                 diplo­ma­tie war. Darüber hinaus war der Brief nicht
as his own followers (Witbooi 1995: ​25; Tagebucheintrag:                nur Kommunikationsmittel, sondern ein begehrtes
15. 10. 1888 – 10. 8. 1889).                                             Gut von symbolischer und kriegsstrategischer Be-
                                                                         deutung. Briefe rangierten unter den Zielen räuberi-
   Offen bleiben muss, ob die überlegenere Krie-                         scher und kriegerischer Gewalt. Briefe waren Beute.
gergruppe hier gezielt den Gegner beschoss, ohne
ihn tatsächlich treffen zu wollen. In diesem Fall
läge der kommunikative Inhalt des Gewehrfeuers                          Die Kriegserklärung:
in der Botschaft der Überlegenheit und der Todes-                       Kriegerische Vergemeinschaftung im Medium
drohung, die ihr zugehört. Aber die “Sprache” des                       der Schriftlichkeit
Gewehrfeuers geht über diese Botschaft hinaus. Sie
nimmt die Rede vorweg, die von der kampfüberle-                         Wie in Hochmittel- und Mittelalter (Wenzel 1997: ​
genen Seite an den kaptein /Nowaseb und an dessen                       11) stand die Briefkultur der Nama/Oorlam am
Anhänger gerichtet wird. Sie ist nonverbale und be-                     Schnittpunkt von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
drohliche Vorrede zu einer Rede von Großmut und                         Emotions- und Bildgehalt hatten Vorrang, wohinge-
zukünftiger Gemeinschaft. Es ist eine Vorrede, die                      gen gesteigerte Abstraktion und Distanz zum Kör-
ein Angebot zum Ende der Gewalt macht; vielleicht                       per, die dem Text eigen sind, ja durch ihn überhaupt
hat /Nowaseb diese Vorrede sogar schon als jenes                        erst möglich gemacht werden, dahinter zurücktra-
Friedensangebot verstanden, das die verbale Rede                        ten. Lesen und Schreiben traten nicht an die Stelle
des kaptein enthält. Die Paradoxie der Sprache des                      von Sprechen und Hören. Vielmehr steigerte sich
Gewehrfeuers ist in diesem Fall, dass die Sprache                       das eine Medium im anderen und verband auf die-
gewaltbegrenzend ist. Das gilt auch nach innen, in                      sem Weg Mündlichkeit, Schriftlichkeit und kriege-
die Gewaltgemeinschaft des Witbooischen koman-                          rische Vergemeinschaftung. Dokumentiert wird die-
dos hinein. An der drohenden Vorrede haben alle                         ser Zusammenhang in einem ebenso seltenen wie
Krieger des Witbooischen komandos teil und be-                          beeindruckenden Dokument aus dem Jahr 1881.
kräftigen so die Gemeinschaft in der Gewalt. Die                        Es ist ein Brief, den kaptein Moses Witbooi, Vater
Rede nach Einstellung des Gewehrfeuers und der                          von Hendrik Witbooi, an Maharero, das Oberhaupt
Unterwerfungserklärung von /Nowaseb ist stattdes-                       der Herero, schrieb. Der Brief ist eine Kriegsansage
sen dem siegreichen kaptein vorbehalten und be-                         von rhetorischer Wucht und zugleich eine schriftli-
glaubigt das Zusammenspiel von Egalität und Hie-                        che Kriegserklärung. Vorangegangen war dieser
rarchie, das die Gewaltgemeinschaft der Nama/                           Kriegserklärung ein zunächst begrenzter Konflikt
Oorlam auszeichnet.
                                                                        11 Auf diese Weise gelangte ihr Schriftmaterial bis nach Zen­
                                                                           tral­nami­bia, siehe Henrichsen (2001: ​333).

Anthropos  109.2014
                                               https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
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                                Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
10                                                                                              Trutz von Trotha † und Christine Hardung

zwischen Viehhaltern. Der Konflikt eskalierte je-                    der solche Dinge tut, ohne Bedenken und Scheu in seinem
doch und endete in einem Massaker, das Maharero                      Herzen zu empfinden vor Gott und Menschen, den nenne
an Nama/Oorlam verüben ließ, die sich wegen eines                    ich einen Mörder, Dieb und wildes Tier. Darum werde ich
Pferdehandels auf seinem Gebiet aufgehalten hat-                     mit Dir kämpfen, wie ein Mensch mit einem wilden Tier
ten. Der Vorfall war der Beginn gewaltsamer Aus-                     kämpft. Ich werde Dich töten, wie man ein wildes Tier
                                                                     tötet, denn Du hast meine Männer … wie ein Räuber er-
einandersetzungen zwischen Nama/Oorlam und He-
                                                                     mordet. Ich aber werde Dich vor sehenden Auges töten,
rero, die sich über ein Jahrzehnt hingezogen haben.                  nicht in der Verborgenheit und nicht [wie ein Räuber] bei
    Der Brief ist mehrere Seiten lang und gleicht in                 Nacht, sondern am Tage, nicht während Du nichts ahnst,
seinem Aufbau den Techniken oraler Literatur. Er ist                 sondern bei vollem Bewusstsein. … Darum: Mach Dich
eine “poetisch geformte Nachricht” (Assmann und                      fertig! Aber der Sieg wird auf meiner Seite sein. Hurra!
Assmann 1993: ​270), die sich in dieser Form mne-                    Mach Dich fertig mit einer Macht von Pferden und Wa-
motechnisch leichter ins Gedächtnis einschreibt.                     gen, mit Pulver und Blei und Kriegsmannschaften, aber
Dazu gehört die Figur der Wiederholung, Kontras-                     der Sieg wird auf meiner Seite sein. Hurra! Mache Dich
tierung und Rhythmisierung, mit der Aussagen au-                     fertig und sitz an Deinem Wohnort und erwarte mich an
ditiv müheloser aufgenommen werden können.                           Deinem Wohnort! Ganz sicher werde ich kommen und
    Witbooi rekapituliert zunächst die Worte Maha-                   des Wassers von Okahandja trinken. Hurra! 12
reros zu den einst vereinbarten Friedensbedingun-
gen und zieht dann das Stilmittel der Kontrastie-                        Dieser Aufruf zum Krieg enthält alle Elemen-
rung heran, um die eigene Friedfertigkeit und die                    te einer “oralen Stilistik” (Assmann und Assmann
vertragsbrüchige Feindseligkeit Mahareros auf-                       1993: ​269). Die Ausschmückungen und Redun-
zuzeigen. Solcherweise führt er die Unaufrichtig-                    danzen des Briefes und seine Poesie weisen auf die
keit, Gewaltsamkeit und Grausamkeit des Feindes                      Grundprinzipien mündlicher Textkomposition. Auf
vor Augen und stellt sie der Haltung seiner eigenen                  Seiten des Briefverfassers wie auf Seiten des Brief-
Leute gegenüber, die sich um die Einhaltung des                      empfängers schwört die repetitive Stilistik alle am
vereinbarten Friedens bemüht hätten. Die eigenen                     Kommunikationstransfer Beteiligten auf den kom-
friedfertigen Absichten pointiert Witbooi, indem                     menden Kampf ein. Faktische Gewaltausübung
er mehrfach den Satz “es war ja Frieden im Lan-                      wird, sprachlich vermittelt, vorweggenommen und
de” wiederholt und mit den Worten “und weiter”                       schafft ein Gewalterleben in der Imagination. Es ist
den jeweils nächsten Absatz beginnen lässt. Letz-                    eine entgrenzte Gewaltphantasie des Sieges und Tri-
teres treibt den Text immer atemloser voran, baut                    umphes über den als roh und schändlich wahrge-
Spannung auf und zielt in der Dramaturgie des Er-                    nommenen Gegner. Mit dem wiederholten Sieges-
zählens auf den Höhepunkt: die Beschreibung des                      ruf “Hurra” kehrt im Medium der Schrift zugleich
Umschlags vom legitimen Töten im Krieg zum il-                       das akustisches Signal aus der menschenkörperlich
legitimen Abschlachten im Massaker. Die Über-                        erzeugten Klangwelt auf: Wie der Kampfschrei dem
schreitung der Grenzen des legitimen Krieges wird                    gewalttätigen Zusammenprall der Kämpfer voraus-
als menschliche Verrohung wiedergegeben und von                      eilt, eilt das “Hurra” dem Sieg voraus. Äquivalent
der Ethik des Krieges der Nama/Oorlam abgegrenzt,                    zur Performanz der mündlichen Rede intensiviert
die Witbooi im Christentum und dem Grundsatz der                     und steigert die Rhythmik die emotionale Beteili-
Vertragstreue begründet sieht. Der Brief steigert                    gung und führt Briefschreiber, Leser, Vorleser und
sich bis zur religiösen Euphorie und versichert dem                  Zuhörerschaft in einem Erfahrungsraum zusammen,
Gegner – wie Witboois eigenen Leuten –, dass gött-                   der sie an der Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Er-
licher Beistand den Kampf legitimieren und zum                       fahrungswelt des Krieges teilhaben lässt. Auch mit-
Sieg führen wird:                                                    tels der Institution des Briefes konstituierte sich die
                                                                     Gewaltgemeinschaft der Nama/Oorlam.
Nun ist das Maß voll, nun ist es übergelaufen, darum                     Die Läufer und Boten, die die Kriegserklä-
braucht es Dich nicht zu wundern, und niemand unter den              rung dem Gegner zustellten, sind ein Sinnbild für
Menschen braucht sich wundern, dass wir, alle Häuptlin-              die Beschleunigung, die die Wirklichkeit der Be-
ge des Namalandes, gegen Dich aufstehen. So fordert es               ziehungen zwischen den Gegner erfährt. Kriegs­
die Friedensbestimmung von einst. Um weiter noch etwas
                                                                     erklä­run­gen dynamisieren die Konfliktsituation. Im
zu sagen! … Ein Löwe und Wolf und Tieger [sic] bist Du,
… ein wildes Tier …, das die Menschen, die Geschöpfe
Gottes sind, … mit Messern schlachtet wie das Vieh, denn             12 ELCRN (1881: ​87 ff.). Das in Kapholländisch verfasste Ori-
Du hast sie Glied für Glied auseinander geschnitten. An-                ginal findet sich in den Vedder Quellen, Bd. 15B (NAN n. d.).
dere hast Du mit einem stumpfen Beil zerhackt wie ein                   – Der Brief ist in Kapholländisch überliefert; das “Hurra”,
Mensch Äste eines Baumes abhaut, und das waren fried-                   das ganz nach späterer deutscher Kolonialzeit zu klingen
liche Menschen, unschuldige Menschen! Ein Häuptling,                    scheint, ist die deutsche Übersetzung von hoere.

                                                                                                                    Anthropos  109.2014
                                                 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1
                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50.
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