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ANTHROPOS 109.2014: 1 – 20 Der Krieg hat viele Stimmen Materiale Dimensionen von Kommunikation in Krieg und Razzia der Nama/Oorlam im südwestlichen Namibia des 19. Jahrhunderts Trutz von Trotha † und Christine Hardung Abstract. – The article discusses the material dimensions of Blessing: On Post-slavery Modes of Perception and Agency in communications in the context of warfare and raiding at the in- Benin. In: B. Rossi (ed.), Reconfiguring Slavery. West African terface of oral and written communication in southwestern Africa Trajectories (Liverpool 2009); s. a. Zitierte Literatur. during the 19th century. The auditory reality of warfare included not only warcries and battlefield calls but also the “voices” of a new materiality – that of the letter. The letter-writing culture of the Nama/Oorlam had already arisen in pre-colonial times. Der Krieg hat viele Stimmen. Er ist eine Wirklich- Letters not only played a key role in the diplomacy of war and keit äußerster auditiver Gegensätze, von der Laut peace, but were also a much sought-after type of booty. F inally, the article addresses the vulnerability of messengers, and the losigkeit vor dem Überfall, die alle Sinne der Krie- medium of the messages they carried. [pre-colonial Namibia, ger beansprucht, bis zum Kampfschrei, der den Nama/Oorlam, letter-writing culture, oral communication, vio- heranstürmenden Kriegern vorausjagt und die Stille lence, warfare] des Morgens durchbricht. Zwischen den auditiven Gegensätzen des Krieges liegt ein ganzes auditi- Trutz von Trotha, Prof. Dr. phil. habil., † 18. Mai 2013. – Von ves Universum. Unseres Wissens ist dieses Univer- 1989 bis 2009 Professor für Soziologie an der Universität Sie- sum bisher sozialwissenschaftliche terra incognita. gen. – Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie und Eth- nologie; Soziologie der Gewalt und des Krieges; Rechtsethnolo- Solch sozialwissenschaftliches Nichtwissen kon gie und -soziologie; Kriminalsoziologie; Soziologie der Familie trastiert umso mehr mit dem literarischen Umgang und Jugend; deutsche Kolonialgeschichte. – Publikationen: u. a. mit dem Krieg, bei dem die auditive Wirklichkeit Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staats- der kriegerischen Gewalt stets ein wichtiges Sujet entstehung am Beispiel des “Schutzgebietes Togo” (Tübingen 1994); Soziologie der Gewalt. Hrsg. (Opladen 1997); Ordnungs- war, von Tolstoi über Erich Maria Remarque und formen der Gewalt. Reflexionen über die Grenzen von Recht und Ernst Jünger bis zu Gert Ledig oder Norman Mailer. Staat an einem einsamen Ort in Papua-Neuguinea (zusammen Im Allgemeinen verstehen wir unter “Stimmen” mit Peter Hanser – Köln 2002); On Cruelty. Sur la cruauté. Über nicht nur die Dimension der Laute und Geräu- Grausamkeit. Hrsg. zusammen mit Jakob Rösel (Köln 2011). sche, die mit der Wirklichkeit des Krieges verbun- Siehe auch Nachruf in diesem Heft auf S. 177. den sind. Zu den “Stimmen des Krieges” zählen die Akteure des Krieges, vielleicht ein Ensemble, das Christine Hardung, Dr. phil. Bayreuth. – Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen / in Folge Universität die auditive Wirklichkeit des Krieges noch um ein Kassel; Mitglied der DFG-Forschergruppe “Gewaltgemeinschaf- Vielfaches an Vielfalt und Komplexität übersteigt. ten”. – Forschungsschwerpunkte: Innerafrikanische Sklaverei Im umfassenden Sinne lassen sich zu diesem Ak und Folgen; Anthropologie der Gewalt; historische Anthropo- teursensemble mehr oder minder alle rechnen, die logie. Feldforschungen im Sahel-Sahara-Raum, insbesondere in Benin und Mauretanien, Archivforschung in Namibia.- Publika- in irgendeiner mittel- und unmittelbaren Weise vom tionen u. a.: Arbeit, Sklaverei und Erinnerung. Gruppen unfreier Krieg und seinem Geschehen betroffen sind. Dazu Herkunft unter den Fulbe Nordbenins (Köln 2006); Curse and gehört das kaum überschaubare Feld all derer, die https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
2 Trutz von Trotha † und Christine Hardung zu den Diskursakteuren des Krieges zählen. Noch fenkonstrukteure und ihre militärischen Kunden be- weniger überschaubar ist die Menge jener, deren sonders interessieren dürfte. Gleichermaßen ließe Stimme sich dadurch auszeichnet, dass sie stumm sich das unübersehbare Gesamt des Akteursensem bleibt – oder wenigstens so schwach ist, dass sie bles der Kriegs- und Friedensdiskurse thematisie- im “Kriegsgeschrei” kein Gehör fi ndet.1 Im enge- ren. Aber auch hier gibt unser historisches Beispiel ren Sinne sind die Akteure in den Blick zu nehmen, vor, den Zusammenhang zwischen Stimme, Akteur die direkt an Krieg und Frieden beteiligt sind. Aber und materialen Folgen eng zu bestimmen und auf auch dieses Feld hat immer noch ein beträchtliches diejenigen zu beschränken, die unmittelbar am krie- Maß an Unüberschaubarkeit, wenn man sich ver gerischen Geschehen, sei es als Krieger, Boten oder gegenwärtigt, dass hierzu das gesamte Spektrum Missionare, beteiligt sind. des operativen Militärapparates über den befeh- Entsprechend der Unterscheidungen zwischen lenden Armeegeneral und den Zugführer bis zum auditivem Universum des Krieges, Akteuren und Truppführer und einfachen Soldaten gehört. In dem Materialität haben die nachfolgenden Ausführungen von uns behandelten historischen Fall ist die Kom- zwei Hauptteile, die jeweils den materialen Dimen- plexität allerdings erheblich verringert, weil wir es sionen von Kommunikation in Krieg und Razzia der mit relativ überschaubaren Gruppen wie den Ge- Nama/Oorlam des 19. Jahrhunderts nachgehen. Vor- waltgemeinschaften2 der Nama/Oorlam und der ausgeschickt ist den beiden Teilen eine sehr k urze Viehhaltergesellschaft der Herero zu tun haben. Da- historische und ethnografische Kontextualisierung rüber hinaus werden wir uns auf das Botenwesen der Nama/Oorlam in der ersten Hälfte des 19. Jahr- der kriegerischen Seite der Herero-Nama/Oorlam- hunderts, und abgeschlossen werden die beiden Beziehungen beschränken und auf diesem Wege ein Hauptteile mit einer kurzen Schlussbetrachtung. besonderes Akteursensemble vorkolonialer kriege- Insbesondere an den Beispielen von Kampf- rischer “Stimmen” in den Blick nehmen. schrei und Zuruf untersucht der erste Hauptteil die Kriegerische “Stimmen” unterscheiden sich nach auditive Wirklichkeit des Krieges. Sein Ziel ist, die ihrer Materialität. Diese Materialität der Stimmen Materialität der Gewalt anthropologisch zu begrün- hat drei Seiten. den: Das Studium auditiver kriegerischer Wirk- Die eine ist die klangkörperliche Seite, die so lichkeiten geht, erstens, vom menschlichen Klang- vielgestaltig ist wie die Arten der Klangkörper, die körper als dem Ort aus, an dem zu den auditiven das auditive Universum des Krieges hervorbrin- kriegerischen Wirklichkeiten in bedeutender Weise gen. Unter diesen Klangkörpern ist allerdings der beigetragen wird, umso mehr als die technisch er- menschliche Körper als anthropologische Vorausset- zeugte auditive Wirklichkeit des Krieges in unserem zung des auditiven Kriegsuniversums ausgezeich- historischen Beispiel sich noch nicht in den Vorder- net. Die zweite Seite geht über das Auditive hinaus, grund gedrängt hat; zweitens werden die materialen indem “Stimmen” sich nicht nur als Schallwellen Folgen in den Blick genommen, welche die men- von Klangkörpern zur Geltung bringen, sondern schenkörperlich erzeugte auditive Wirklichkeit für in schriftlichen Dokumenten unterschiedlichsten das kriegerische Geschehen nach sich zieht. Charakters sich “Gehör” verschaffen können. Wir Der zweite Hauptteil geht zuerst “Stimmen” in werden uns im Zusammenhang des Botenwesens einer besonderen Materialität nach, der des Brie- auf das Briefwesen in Krieg und Razzia zwischen fes, erkundet Möglichkeiten und Risiken, die mit Nama/Oorlam und Herero konzentrieren. Die drit- dieser Materialität der Stimmen gerade in Zeiten te Seite der Materialität sind die materialen Folgen, kriegerischer Konflikte verbunden sind, und hebt in die “Stimmen” nach sich ziehen. diesem Abschnitt auch eine symbolische Seite des Unter den materialen Folgen der Stimmen des Nama/Oorlam-Briefwesens hervor, ohne die die Krieges ließe sich grundsätzlich wiederum das gan- Art und Weise des Umgangs der Nama/Oorlam mit ze Feld des auditiven Universums und des unüber- dem Brief nicht verstanden werden kann: die große schaubaren Akteursfeldes in den Blick nehmen. Wertschätzung, welche die Nama/Oorlam für Brief Zum Beispiel ließe sich jede Art von Waffe nach und schriftliche Zeugnisse im Allgemeinen hatten. den materialen Folgen ihrer je spezifischen “Stim- Danach untersucht der zweite Teil das Botenwesen, me” untersuchen – eine Frage, die vermutlich Waf- das zu einer der ältesten Einrichtungen des Krie- ges gehört. Er thematisiert einen besonderen Typ 1 In der deutschen Geschichtsschreibung der 1970/80er Jahre von Akteuren unter den “Stimmen” und untersucht hat man in der Forschung über “Alltag und Widerstand” die- die Materialität der kriegerischen Gewalt ebenso in sen unhörbaren Stimmen nachträglich eine “Stimme” gege- ben, s. Broszat und Fröhlich (1987). der Körperlichkeit und der mit ihr gegebenen Ver- 2 Zum Konzept der “Gewaltgemeinschaft” siehe Speitkamp letzungsoffenheit der Boten wie in dem Medium der (2013). Botschaft, die der Bote überbringt. Das Medium der Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Der Krieg hat viele Stimmen 3 Botschaft können die Worte des Boten oder schrift- dort seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts dauerhaf- liche Dokumente sein, die der Bote, vielleicht so- te Gemeinschaften. Dabei unterwarfen sie entweder gar zusammen mit einer mündlichen Botschaft, dem die Nama oder integrierten sich über Heirats- und Adressaten zustellt. In diesem Sinne treten im zwei- Allianzbeziehungen in deren Siedlungs- und Le- ten Hauptteil Fragen der Materialität auch als sol- bensräume.3 Auch die Wirtschaft dieser dauerhaften che nach den Unterschieden von Mündlichkeit und Gemeinschaften baute im Wesentlichen auf Raub Schriftlichkeit auf. und Handel mit Herero-Vieh, Elfenbein und Strau- Insgesamt geht es also darum, materiale Di- ßenfedern und unter Jonker Afrikaner auf einem mensionen von Kommunikation im Kontext krie- weitverzweigten Tributsystem auf, in das viehlose gerischer Gewalt am Schnittpunkt von Mündlich- und vieharme Bevölkerungsgruppen sowie einzelne keit und Schriftlichkeit zu betrachten und sich mit Herero-Fraktionen, Damara und San eingebunden einer Briefkultur zu befassen, die in den periphe- waren. Die in Süd- und Zentralnamibia siedelnden ren Räumen schriftloser Gesellschaften des südli- Nama/Oorlam-Gemeinschaften beschränkten sich chen Afrika schon in der ersten Hälfte des 19. Jahr- nicht darauf, Kriegs- und Raubzüge gegen die in hunderts im Zuge der Christianisierung und mit der Zentralnamibia ansässigen Gemeinschaften, ins- Einwanderung der Oorlam in das heutige Namibia besondere gegen die Herero, zu führen (Henrich- entstanden war, lange bevor die deutsche Kolonial- sen 2011: 167 ff.). Immer wieder kam es unter den herrschaft über Namibia errichtet worden ist. Die Nama/Oorlam-Gruppen selbst zu Raub und krie- Briefkultur der Nama/Oorlam und Herero konnte gerischen Auseinandersetzungen mit wechselnden nicht nur über Krieg und Frieden entscheiden, son- Allianzen. dern war Teil des kriegerischen Geschehens selbst, Aus der Kapkolonie stammend, brachten die mehr noch, Briefe konnten zum Ziel kriegerischer Oorlam ihr Wissen über den Einsatz von Ochsen Gewalt werden. wagen, Pferden und Schusswaffen mit. Sie waren mehr oder weniger christianisiert und wanderten mit ihrer Sprach- und teilweise Schriftkenntnis des Kurze Vorbemerkung zum historischen Kapholländischen in das südliche Namibia ein. Das Kontext der Nama/Oorlam-Gemeinschaften Kapholländische wurde in Süd- und Zentralnami- im südwestlichen Namibia des 19. Jahrhunderts bia im 19. Jahrhundert Verkehrssprache – neben den Sprachen Otjiherero sowie Englisch und Deutsch, Das südliche Afrika war seit dem ausgehenden 18. die ebenfalls als Schriftsprachen dienten. Jahrhundert bis zur einigermaßen sicheren Eta Schriftkenntnis erleichterte wesentlich den Auf- blierung der europäischen Kolonialstaaten im ers- bau überregionaler Handelsnetze und den Aus- ten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Raum der tausch mit den Europäern – Regierungsvertreter, frontier und Gewaltgemeinschaften (vgl. Hardung Militärs, Händler, Missionare vor Ort. Schriftliche und von Trotha 2013 sowie zur Frontiergesellschaft Kommunikation wurde zu einem wichtigen Teil des Penn 2005). Zu den Gewaltgemeinschaften gehör- Boten- und Kriegswesens der Nama/Oorlam so- ten Gruppen, die unter dem Namen Oorlam bekannt wie ihrer Friedensdiplomatie und brachte eine be- wurden. Sie bildeten sich, als die expandierenden merkenswerte Briefkultur hervor. Schrift wurde zu burischen Siedler die autochthonen Khoikhoi-Ge- einem zentralen Mittel der Kommunikation unter meinschaften im sogenannten Kleinen Namaqua- der Nama/Oorlam- und der Herero-Elite.4 Im Ver- Land zerschlagen hatten. Sie setzten sich zusammen lauf des 19. Jahrhunderts gewann die Schriftkom- aus den ehemaligen Mitgliedern dieser Gemein- munikation zunehmend an Bedeutung, löste aber schaften sowie aus Angehörigen verschiedenster orale und nonverbale Formen der Nachrichtenüber- ethnischer Herkunft. Wie andere Akteure in diesem mittlung und Kommunikation nicht ab. Vielmehr frontier-Raum waren sie aus den traditionalen Ge- bestanden die drei verschiedenen Medien von Kör- meinschaften und ihren Formen der Existenzsiche per, Rede und Schrift als Kommunikationsträger ne- rung herausgelöst. Unter den Angehörigen dieser beneinander und beeinflussten sich wechselseitig. enttraditionalisierten Gemeinschaften taten sich zu- nehmend selbständige Kriegsunternehmer hervor, die sogenannte komandos aufstellten und anführten, welche, mit Schusswaffen, Pferden und entspre- chenden Taktiken versehen, bestens für den Busch- 3 Zur Migrationsgeschichte und Herausbildung der Oorlam- gruppen siehe Lau (1987: 19 ff.); Dedering (1997: 52–64); kampf gerüstet waren. Einige dieser Kriegsunter- Wallace (2011). nehmer betrieben nördlich des Oranje im heutigen 4 Zur Bedeutung der Schriftkultur in der Herero-Gesellschaft Namibia Jagd, Handel und Raub und etablierten siehe Henrichsen (2001). Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
4 Trutz von Trotha † und Christine Hardung Kampfgeschrei erstickt wurde. Der Schrei ist eine der elementaren Formen von Mündlichkeit in der Gewalt im Allge- Verglichen mit der auditiven Wirklichkeit kriegeri- meinen und in Razzia und Krieg im Besonderen. Er scher Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert drängte hat vielerlei Gestalt. sich im südwestlichen Afrika des 19. Jahrhunderts Als Kampfschrei ist er Teil des Angriffs und eilt die technisch erzeugte auditive Wirklichkeit des den angreifenden Kriegern im Zweikampf der un- Krieges noch nicht in den Vordergrund. Der Kampf- mittelbaren Aktion voraus. Wie für alle Stimmlich- schrei des Überfalls, das Zischen der Wurfspeere, keit ist für ihn grundlegend, dass er reflexiv und die die Luft zerschnitten, das Pfeifen der Gewehr- mehrsinnig ist. Er gilt dem Gegner nicht weniger kugeln, das Prasseln lodernden Feuers von Wohn- als dem Angreifer und dem Dritten, seien es mehr stätten, die in Brand gesteckt worden waren, das oder weniger engagierte Zuschauer oder unmittel- Ächzen hölzerner Räder der Ochsenwagen, die mit bare Parteigänger, die den Angreifer oder seinen Munition beladen waren, der Hufschlag abgetriebe- Gegner anfeuern. Der Kampfschrei ist kollektiv und ner Viehherden oder das Gebrüll von Kampfochsen, gemeinschaftsbildend oder kollektivierend ebenso die im südlichen und südwestlichen Afrika von der wie individuell und desintegrierend. indigenen Bevölkerung noch bis ins 19. Jahrhun- Der Kampfschrei wird individuell ausgestoßen. dert hinein in vorderster Linie eingesetzt wurden, Mischt er sich mit den Kampfrufen der Mitkämpfer, bestimmten das auditive Spektrum der Razzien und wird er kollektiv aufgenommen und zu einem ge- Kriege, die die raubkriegerischen Nama/Oorlam- meinschaftlichen oder, im Falle von Massenheeren, Gruppen untereinander und gegen die Viehhalter- kollektiven Schrei. In seiner Reflexivität wirkt er in gesellschaft der Herero führten. die Gruppe der Kampfgefährten zurück. Im Folgenden werden wir dieser vielfältigen Der Kampfschrei gehört einer vordiskursiven auditiven Wirklichkeit des Krieges im südlichen Ordnung an. Er hat gemeinschaftsbildende oder Afrika des 18. und 19. Jahrhunderts nicht gerecht. kollektivierende Funktion. Er lässt sich als kleinste Wir beschränken uns stattdessen auf den Einsatz Einheit einer liminalen Phase im Sinne von Victor der menschlichen Stimme in Kriegshandlungen und Turner begreifen (2000: bes. Kap. 4). Wenn die Zeit konzentrieren uns zunächst auf ein zentrales Ele- des Wartens im Hinterhalt oder des Aufmarsches ihr ment des akustischen Spektrums des Krieges: den Ende hat, die Krieger zur Attacke übergehen oder Kampfschrei. Auf seinen lautgebenden Effekt redu- die vorderen Linien der Infanterie eines modernen ziert, findet er sich in den ethnografischen Berich- Massenheeres zum Sturmangriff ansetzen, liegt im ten und Missionsquellen zu Namibia des 19. Jahr Kampfschrei die Zäsur. Stößt der Beutekrieger den hunderts als “wildes Gebrüll,” als “fürchterliches, ja Kampfruf aus, hat er die Alltagswelt des Nichtkom- höllisches Geschrei” (RMG 1864: 33) beschrieben. battanten hinter sich gelassen, ist aber noch nicht – Bevor wir auf das historische Beispiel der Nama/ wenngleich unmittelbar davor – in die Welt des Oorlam zurückkommen, werden wir jedoch einige Kombattanten, in den Handlungsvollzug der Ge- allgemeinere Überlegungen zum Kampfschrei an- waltausübung und des Beutemachens, eingetreten. stellen, der gewiss nicht nur für Kriegshandlungen Der Kampfschrei hebt die “alltagsweltliche Orien im südlichen Afrika der vorkolonialen und kolonia- tierung” auf und bildet für einen kurzen Augen- len Zeit von Bedeutung war. Der Kampfschrei tritt blick den sozialen Ort eines Zwischen, an dem sich vermutlich zu allen Zeiten in kriegerischen Aus der Krieger als Teil einer Gruppe und getrennt von einandersetzungen auf, auch wenn seine Wichtig- der alltäglichen Umgebung begreift. Zugleich um- keit und Bedeutung extrem variiert – in den Pan- schließt der Resonanzraum, den die Stimmgewalt zervorstößen oder Luftangriffen seit dem Zweiten der Summe aller Kampfrufe errichtet, die Kämp- Weltkrieg hat er zweifellos keinen relevanten sozia fer und schließt sie so zusammen. Der Kampf- len und kulturellen Ort mehr. schrei schafft und ist Eintritt in die communitas der Kämpfenden. In ihr soll die Gemeinschaft als Gan- ze wie auch jeder Einzelne der Kämpfer undurch- Kampfschrei und Zuruf dringbar und unbezwingbar sein. Der Kampfschrei ist eine stimmgewaltige Beschwörung von Unzer- Der “Schrei” gehört kriegerischer Aktionsmacht un- störbarkeit und Siegesgewissheit. Angesichts von abdingbar zu – noch dann, wenn der Triumphschrei Verletzungsoffenheit und Sterblichkeit setzt er auf des Siegers bis zur Heimkehr warten muss, weil das die Verletzungsmacht und den Sieg über die Sterb- Töten selbst in Lautlosigkeit erfolgen musste und lichkeit. der Schrei des Opfers durch einen “Strahl dickströ- menden Bluts”, wie es in Homers Odyssee heißt,5 5 Homer in der Ausgabe von 2010 (22. Gesang, Zeilen 18–19). Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Der Krieg hat viele Stimmen 5 Unter den Bedingungen der “offenen Feld- se Zerbrechlichkeit beispielhaft aus. Der Überfall schlacht” gilt das für beide Seiten der kriegerischen bedarf der Überraschung, die Stille und Schwei- Auseinandersetzung. Als “Schlachtruf ” schließt der gen gewährleisten. Der Kampfschrei, der zu früh Schrei nicht nur die Angreifer, sondern auch die An- erfolgt, verrät – und hin und wieder ist er Verrat. gegriffenen zusammen – kann sie zusammenschlie- Der Kampfschrei schreit den Sieg herbei und ist in ßen. Der gleichzeitige Schlachtruf beider Seiten hebt dem Augenblick, in dem er dem Feind entgegen ge- die Unterscheidung zwischen Angreifer und Ange- schleudert wird, doch nur eine Hoffnung. Er wech- griffenem auf. Wer hier Angreifer und Verteidiger selt die Partei, wenn sich das Schlachtenglück wen- ist, ist jetzt nicht mehr auszumachen. Im gleichzei- det und der scheinbare Verlierer von der Defensive tigen Aufbranden des Schlachtrufes ist ebenfalls der zum Angriff übergeht, was sich selbst in der Asym- Rechtfertigungsdiskurs und vor allem aller Zwei- metrie des Überfalls oder des Hinterhalts ereignen fel verstummt; Rechtfertigung und Zweifel werden kann. Der Kampfschrei hält sich von Schwäche und dorthin verwiesen, wo sie üblicherweise ihren Ort Verlierern fern. Aber im Krieg, von dem Clausewitz haben: am Beginn und am Ende eines Krieges. (1991: 31) zu Recht behauptet, dass der Zufall einer In der Asymmetrie des Überfalls, in dem die seiner Regenten ist, steht in den seltensten Fällen Rolle von Angreifer und “Verteidiger” unzweideu- von vornherein fest, auf welcher Seite der kämpfen- tig ist, ist die gemeinschaftsbildende Funktion des den Parteien sich die Verlierer finden, vor allem am Kampfschreis ebenso asymmetrisch. Sie ist aufsei- Ende des Krieges finden werden. ten des Angreifers. Die Schreckensrufe und Schmer- Der Kampfschrei wird nicht nur sozial erlebt. Er zensschreie der Überfallenen zeigen, dass mit dem hat materiale Qualität: Er dringt in die Körper ein radikalen Zusammenbruch von Alltag die Zerstö- und wird umgekehrt von diesen erzeugt. Die Stim- rung von communitas einhergehen kann. Sie ma- me ist immer auch als “körperlicher Zustand” auf- chen hörbar, dass der Kampfschrei immer auch auf zufassen (Krämer 2006: 275). Diese Körperlichkeit Desintegration zielt, auf den Zerfall der Gemein- der Stimme bringt der Kampfschrei in zugespitzter schaft in Familien und Einzelne, die den Angrei- Weise zum Ausdruck. fern zu entkommen versuchen. Der Kampfschrei Die Stimme, gleich welchen Klangs, welcher ist Teil der Überwältigung des Gegners, er soll ihn Lautstärke oder Tonlage, wird nicht nur gehört. erstarren lassen und bewegungslos machen, ihn in Sie besitzt eine taktile Qualität, sie “berührt”, wird die “kopflose Flucht” treiben und auf diesem Weg physisch gespürt (Mersch 2006: 212; Thurm 2003). umso gefahrloser zu einer “leichten Beute” machen. Dies betrifft vor allem die Stimme in ihrer Über- Der Kampfschrei ist “Struktur und Anti-Struktur” dehnung, dem Schrei. Der Schrei ist in der strengen (Turner 2000). Bedeutung des Wortes eine “Elementarerfahrung” In der Verschränkung gegensätzlicher Funktio für den, der ihn ausstößt, wie für den, der ihn hört. nen ist der Kampfschrei sowohl eine gefährliche Hören gehört zu des Menschen frühesten und letz- Erscheinung, die dem Gegner Zerstörung und Tod, ten sinnlichen Erfahrungen, wenn es nicht gar die Verstümmelung und Versklavung ansagt, als auch letzte ist (Konrad und Fink 2008: 163 f.). Es ist un- eine zerbrechliche und trügerische Erscheinung. ser wichtigster Warnsinn und der soziale Sinn über- Der Kampfschrei steht im Horizont der Ohnmacht haupt. Es führt den Menschen schon vorgeburtlich des Gegners, zuerst in der Form des imaginierten in seine kulturelle Umwelt ein, um sich nach der Sieges, dann, angesichts des überrannten, ohn- Geburt und in der frühen Kindheit zu einer hoch- mächtigen Gegners, als frühe Beglaubigung des differenzierten Ordnung der Selbstwahrnehmung Sieges. Solange diese Ohnmacht allerdings nicht und -vergewisserung und der sozialen und kulturel- Tatsache ist, ist der Kampfschrei ein uneingelös- len Konstitution der Person und ihrer Teilhabe an tes Versprechen. Der Kampfschrei mag zu flüch- Gesellschaft und Kultur auszubilden (Wulf 1997: tig sein oder so schwach, dass er sich am tosenden 459 f.). Über das Hören halten wir uns bekanntlich Kampfesruf “aus tausend Kehlen” bricht, mit dem im Gleichgewicht. Der Schrei wiederum ist Eintritt der Gegner vorwärts stürmt. Der Überfall, zusam- in das Leben, für das Neugeborene wie für die Mut- men mit dem Hinterhalt und dem Verratsfest das ter und die anderen Anwesenden bei einer Geburt. vorherrschende taktische Mittel des “tribalen Krie- Das Schreien ist insbesondere in den ersten Lebens- ges” (Helbling 2006: 124 ff.) – und nicht weniger monaten primäres Ausdrucksmittel für elementare das des heutigen “Kleinen Krieges” 6 –, drückt die- Bedürfnisse und Befindlichkeiten des Säuglings, ist 6 Aus pragmatischen Gründen begnügen wir uns damit, auf rische Debatte um die Angemessenheit der Begriffe “Kleiner den Begriff des britischen Kolonialoffiziers Charles Callwell Krieg”, “Neue Kriege”, “asymmetrische Kriege” u. ä. einzu- (1966) zurückzugreifen, ohne auf die konzeptuelle und histo- gehen. Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
6 Trutz von Trotha † und Christine Hardung das Signal, um Aufmerksamkeit zu beanspruchen wenn der Kampfruf von Kriegern zunächst nur aus und Zuwendung einzufordern (Largo 2008: 148 f.). der Ferne zu hören ist, folgen seinem akustischen Die Funktion, Aufmerksamkeit herzustellen und Signal in rascher Distanzüberwindung diejenigen, Zuwendung herbeizuführen, behält der Schrei in die ihn von sich geben. Der Schrei “erlaubt keinen allen seinen Varianten und allen Situationen bei – Rückzug mehr in die Distanz” (König 2011: 13). vom Freudenschrei über den gebrüllten Befehl des Wenn auch nicht ganz Gegenwart wie die Gewalt Feldwebels bis zum Schmerzensschrei. Der Kampf- und der Schmerzensschrei, hat er an ihrer gegen- schrei hat an dieser Funktion teil, zeichnet sich aber wartsverankerten Unmittelbarkeit teil. Er verweist in Übereinstimmung mit ihm verwandten Formen, auf die unmittelbare Zukunft, ist vorweggenom- z. B. dem gebrüllten Befehl, durch seine besondere mener Sieg und beansprucht diese siegreiche Zu- Dynamik und Energie aus. In verschiedenen asia- kunft für das Jetzt der Krieger oder Soldaten, die tischen Kampfkünsten findet sich die energetische auf den Feind zustürmen. Dem Kampfschrei steht Wirkung des Kampfschreis beschrieben, “dessen der Warnschrei gegenüber, der ebenso die Zukunft kraftvolle Schwingung den Gegner für einen Au- imaginiert. Ist der Kampfschrei der vorweggenom- genblick lähmt”, der die eigene Furcht überwindet mene Sieg, ist der Warnruf das vorweggenommene und in höchstem Maß kraftverstärkend auf Geist Missgeschick. und Körper einwirkt. Der Kampfschrei bündelt Der Kampfschrei wird typischerweise als sinn- mentale Vorbereitung und Aktion. Dabei hat er teil stiftendes Kampfritual inszeniert.8 Wie alle Kampf- an der Wirkungsweise des Anschreiens. Der Kampf- rituale liegt er deshalb an der Schnittstelle von schrei bündelt und entfesselt in seiner Reflexivität Kultur und Person, kultureller und individueller die Energien des Schreienden und zielt gleichfalls Sinnstiftung, Sozialem und Existenziellem. Ent- auf das, was das Anschreien bewirken kann: der An- sprechend gehen solche sinnstiftenden Kampfrufe geschrieene ist wie gelähmt oder weicht gar zurück. und Herausforderungen des Gegners stets in die Vor besonders lauten Tönen, zumal, wenn sie uns großen Mythen von den heroischen Kämpfen und wie im Kampf “überfallen”, weichen wir zurück, Schlachten der Völker ein oder werden so kolpor- suchen wir die Quelle des Schalls zu vermeiden. Die tiert, dass sie sich für die großen Mythen eignen. Schallstärke eines Schreis kann dabei die Schwelle Mit dem Kampfschrei geht die Sichtbarkeit der von 100 Dezibel überschreiten. Damit gelangt der Kombattanten einher. Daher gehörten Kampfrufe Schrei schon in den Bereich, in dem Hörschädi- bei den Nama/Oorlam zu den Techniken des Über- gungen erfolgen können.7 Der Schrei, mit dem der falls auf Stationen oder werften und zur Attacke auf Angriff auf den Gegner erfolgt, ist also deshalb offenem Gelände. Der Hinterhalt, den die Nama/ “Kampfschrei”, weil er “intoniert”, was zur Aktion Oorlam wie alle tribalen Gesellschaften zusammen werden soll: die Energie wird in das unaufhaltsame mit dem Überfall bevorzugten, braucht stattdessen Vorwärtsstürmen des Angreifers kanalisiert und der die Stille, zumindest bis man sich der Überwälti- Gegner gleichsam “entwaffnet”, weil unbeweglich gung des Gegners sicher weiß. gemacht oder gar zum Zurückweichen, wenn nicht Zwischen dem Kampfschrei des Angriffs und der zur Flucht getrieben. Es gibt ein direktes Entspre- Stille des Hinterhalts findet sich der Zuruf. Wie der chungsverhältnis zwischen Kampfschrei, kriegeri- Schrei hat auch der Zuruf manche Variante. Er kann schem Handeln und der Aktion des Gegners, wie leise, fast ein Flüstern sein, um noch im Hinterhalt sie der Angreifer intendiert. den Feind nicht auf den Gegner aufmerksam zu ma- In allen Gesellschaften, die Kriege führen, gibt chen und vorzuwarnen. Er kann laut wie der Befehl es Kriegsrituale und Schutzmaßnahmen in Vorberei- zur Tagesparole sein, den der Wachmann von sei- tung auf den Kampf, die dazu dienen, den Gegner nem Wachturm aus demjenigen entgegenruft, der spirituell zu schwächen und zur “Selbststeigerung” sich der gesicherten militärischen Einrichtung nach als einer Form der “kollektive[n] Selbstsuggestion” dem Zapfenstreich nähert. Laute Zurufe im kriege- beizutragen (Helbling 2006: 326). Der Kampfschrei rischen Geschehen gehören wie der Kampfschrei dagegen ist die Fanfare zur Aktion, er gibt den Im- an den Ort des frontalen Kampfgeschehens, dort- puls zur Tat. In ihm wird nicht mehr zwischen Inten- hin wo sich die Kriegsparteien, umeinander wissend tion und Aktion unterschieden. Der Kampfschrei in- und gegeneinander ins Gefecht ziehend, in freiem itiiert die Bewegung auf den Gegner zu. Auch dann, Gelände begegnen. 7 Bei kurzfristigem Ausgesetztsein wie im Falle des Schreis 8 Plutarch z. B. berichtet von den Ambronen in einem Gefecht treten Hörschädigungen normalerweise erst bei 120 Dezibel, gegen den Konsul Gaius Marius im Jahr 102 v. Chr., dass sie bei langfristigem Ausgesetztsein jedoch schon bei 90 Dezi- sich mit dem Ruf “Ambronen! Ambronen!” angefeuert hätten bel ein. (Goldsworthy 1996: 196). Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Der Krieg hat viele Stimmen 7 Anders als der Kampfschrei muss sich mit dem Monate hinzogen, vollzog sich der Abbruch der Zuruf keine physisch sichtbare Präsenz des Rufen- kriegerischen Auseinandersetzung, der in direkter den verbinden. Daraus ergibt sich die Möglich- Interaktion eingefordert und in diesem Fall offenbar keit, den Zuruf zur Verwirrung und Verunsicherung durch eine prekäre Versorgungslage motivierte war, des Gegners einzusetzen. In gebirgigem oder ne- ohne größere zeiträumliche Entzerrung und unmit- belverhangenem Kampfgelände oder aus mobilen telbar auf dem Kampfgelände. Schanzen hervor kann der Zuruf gerade dann seine Wirkung erzielen, wenn er vom Feind nicht genau lokalisiert werden kann. Der Zuruf, wie ihn die Sprachgewalt Nama/Oorlam in Krieg und Razzia praktizierten, ist das akustische Mittel von Kleinkriegern, die sich Mündlichkeit ist in raubkriegerischem Gewalthan- aus verdeckten Stellungen heraus bekämpfen. deln nicht nebensächlich. Noch im eigentlichen Nama/Oorlam sind allerdings auch ein Beispiel Kampfgeschehen ist sie von Belang. Europäische dafür, dass der Zuruf gleichfalls eine kommunika- Quellen zu den kriegerischen Auseinandersetzun- tive Praxis der Deeskalation sein kann. In Berich- gen der Nama/Oorlam im 19. Jahrhundert zeigen, ten von Missionaren finden sich Hinweise darauf, dass Sprache nicht auf den Kriegsgesang und an dass einzelne Kämpfer inmitten einer Kampfsitua dere Formen der ritualisierten Einstimmung auf den tion sich rufend an die Gegner wandten, um sie zum Krieg beschränkt ist, wie für viele Kriegergruppen gemeinsamen Abbruch der Kampfhandlungen zu überliefert und bekannt ist. Stattdessen können Krie- bewegen. Solche Aufforderungen konnten längere ger aus individueller Entscheidung und situativ be- Unterredungen zwischen den verfeindeten Parteien stimmtem Impuls heraus verbal Kontakt zum Geg- auslösen, die in lauten Hin- und Herrufen aus der ner aufnehmen. Dass sich diese Erscheinung gerade Entfernung geführt wurden und unter Umständen bei den Nama/Oorlam findet, unterstreicht den Zu- einen Waffenstillstand zur Folge hatten. Diese Form sammenhang einerseits zwischen Gesellschaft, krie- der Mündlichkeit war ad hoc. Der Krieger, der ver- gerischen Sprechweisen und Art der Kriegführung, bal das Einstellen der Kämpfe auslöste, schuf die andererseits zwischen Kommunikationsstruktur, Option zur Gewaltbegrenzung im Moment seines Raum und Kriegstechnologie. Zurufs. In der Gegenwärtigkeit einer kurzen Sprech- Die Nama/Oorlam waren Kleinkrieger, die ei- handlung musste sich seine Überzeugungskraft bün- nem institutionalisierten, militärischen wie auch deln. Ein anschauliches Beispiel erzählt von dieser politischen und gesellschaftlichen Verbund, dem Praxis: komando, angehörten (Lau 1986; 1987: 41 ff.). Das komando hatte sich aus einer Variante des Militär- Am 21. Juni [1884] kam es zum Gefecht bei Onguheva, apparates der Niederländischen Ostindien-Kompa- das jedoch unentschieden blieb. Am folgenden Tage such- nie, welche die Oorlam von der Kapkolonie mit- ten die Namaqua eine festere Stellung i[m] Gebirge … Hier kam es am 24. abermals zu einem Gefecht … – aber brachten, und den Kriegspraktiken der Nama, die nicht zu einer Entscheidung, doch gelang es den Herero, akephal organisiert waren, gebildet. Aufgrund die- die Namaqua auf dem einen Flügel zu umgehen, und die- ser doppelten Wurzel vereinte es zwei antagonis- se nahmen daher am anderen Tag den Kampf wieder auf. tische Ordnungsformen: Hierarchie und Egalität Das Gefecht dauerte aber nicht lange, da ein Namaqua (Hardung und von Trotha 2013). Entsprechend ver- seinem Gegner zurief: “Warum müssen wir doch jeden pflichtete das komando den einzelnen Krieger nicht Tag fechten [kämpfen]? Wir sind ja gekommen, um Frie- allein auf die Order des komando-Führers, sondern den zu machen und nun fechten wir schon drei Tage lang beließ dem einzelnen komando-Mitglied Eigenwil- und wir sind auch so hungrig!” Hierauf wurde dann – na- len und Entscheidungsbefugnis in Kampfhandlun- türlich aus gehöriger Entfernung – eine längere Unterre- gen. Diese hybride militärische Struktur setzte sich dung zwischen den beiden geführt, durch die es zu einem in heterarchischen Kommunikationsverhältnissen Waffenstillstand kam. Die Herero kehrten in ihre Werften zurück, und die Namaqua bezogen einen Hügel den He- im Gefecht fort. rero gegenüber, sodass sie sich gegenseitig beobachten Mündliche Kommunikation zwischen den Geg- konnten, und nun begannen die Friedensverhandlungen.9 nern fand, wenn auch aus sicherer räumlicher Dis- tanz, direkt am Kampfort statt. Verletzungsmäch- Anders als die schriftlich geführten Friedens- tig war, wer in der kriegskommunikativen Technik verhandlungen zwischen den Oberhäuptern krieg- der “gegenseitige[n] Beschimpfung und Verhöh- führender Parteien, die sich unter Umständen über nung” Zurufe platzieren konnte, die über den rou- tinierten Gebrauch eingeschliffener Parolen hin- 9 RMG (1884b: 400 f.). Eine vergleichbare Situation be- aus den Gegner trafen. Dies setzte Schlagfertigkeit, schreibt Meyer (RMG 1884: 342). Wortgewandtheit und vor allem Kenntnis über die Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
8 Trutz von Trotha † und Christine Hardung Schwachstellen des Gegners voraus. Forderten sich Überfalls unbewaffnet auf die bewaffneten und ge- die Kämpfer verbal heraus, konnten Worte zu einer walttätigen Männer zu und sprach die Beutekrieger gefährlichen, gar tödlichen Falle werden. Sie sollten an, durchbrach er die gewohnten Regeln des räum- den Feind ablenken, ihn provozieren und zu unüber- lichen Abstands zum Feind, die einen Wortwech- legten Handlungen hinreißen lassen, die ihn leicht sel überhaupt erst möglich machten. Der Missio- zur Zielscheibe des Gegners machten. nar setzte sich über die Regeln des Kampfes hinweg Die Praxis des mündlichen Schlagabtauschs griff und griff auf diesem Weg unmittelbar in das Ge- in die Raumordnung des Kampfgeschehens ein. Die waltgeschehen ein. Unter den Kriegern rief solcher- Anordnung der Krieger im Gelände war dann davon art Regelwidrigkeit Verunsicherung oder zumindest bestimmt, wie weit ihre Stimme trug. Aufkommen- Überraschung hervor; besonders galt es für diejeni- der Wind konnte die menschliche Stimme verschlu- gen unter den Angreifern, die keine “Bitt-Leute” 10 cken. Mehr noch hing die Schlagkraft der Stimme waren, denen also der Umgang mit einem Missionar vom Stimmvolumen des Kriegers und der Art der weitgehend fremd war. Das konnte dazu führen, von Waffen ab. Solange mit wenig lauten Wurfwaffen dem Menschen abzulassen, den die Raubkrieger just wie dem Assagai, einem Wurfspeer, gekämpft wur- zu töten oder zu berauben beabsichtigt hatten. Die de, konnte sich ein Wortwechsel zwischen den Geg- ebenso mutige wie dreiste missionarische Abwei- nern parallel zu anderem Kriegsgerät Gehör ver- chung schuf gleichsam eine “Leerstelle operativen schaffen. Im Lärm von Feuerwaffen aber ließ sich Handelns”, was den Beutekrieger unter Umständen dieser nicht mehr durchsetzen und blieb in seiner davon abbrachte, den Überfall in gewohnter Wei- Wirkung auf Anfang und Ende der Kampfhandlun- se zu Ende zu führen. Wortgewaltige Regelwidrig- gen und auf die Feuerpausen begrenzt. keit verträgt selbst die unordentliche Ordnung des Mit Missionaren trat noch ein ganz anderer Ak- Krieges nicht. Im Krieg kann sie jenen Spalt öffnen, teur in den mündlichen Schlagabtausch ein und be- dessen es bedarf, um aus der geregelten Unordnung gegnete sprachgewaltig verfeindeten Nama/Oor- des Krieges in die regelreiche Ordnung des Frie- lam-Gruppen mit stimmlichen Waffen. Der Ort dens einzutreten. hierfür waren typischerweise die Missionsstationen, die mit den politischen Zentren der Nama/Oorlam- Gruppen räumlich häufig identisch waren und dann Die Waffe spricht Ziel eines Überfalls sein konnten. In der Regel agierten die Missionare bei einem Die Qualität einer modernen Schusswaffe liegt Überfall defensiv. Zusammen mit einzelnen Sta nicht allein in ihrem Gebrauch als Werkzeug zum tionsbewohnern, die sich bei ihnen Schutz erbaten, Töten, Verletzen und um sich zu schützen. Sie ist verbarrikadierten sie sich im Missionshaus und harr- auch nicht im Wert als Beute- und Prestigeobjekt ten dort bis zum Ende der Kämpfe aus. In Ausnahme- erschöpft. Die Waffe ist zu alledem ein wichtiges fällen gingen sie jedoch in die Offensive. Machtlos, Kommunikationsmittel. Sie überbietet die Reich- weil ohne militärische Mittel, machten die Missio weite der Stimme um ein Vielfaches und erweitert nare umso kraftvoller von ihrem ureigenen, jahr- den Kommunikationsraum. Warnschüsse, Freuden- hundertealten Handwerkszeug Gebrauch: der Kraft schüsse, Siegesschüsse vermittelten mehr oder min- der Rede, die sie in der Predigt erworben hatten. der klare Botschaften. Versprengten sich die kom- Die öffentliche Rede, die ihre Zuhörer zu fes- andos im Gelände, kommunizierten die Reiter über seln und zu bewegen vermag, hat stets und über- Luftschüsse, mit denen sie sich auch über größere all ein besonderes Ansehen und dies vor allem in Distanzen hinweg untereinander verständigen konn- den Kulturen der Rede, wie sie orale Gesellschaften ten. Vom Zielort aus abgefeuert, dienten Schüsse ei- kennzeichnen. Ein Missionar, der, ausgestattet mit nem Fremden, der sich per Bote angekündigt hatte, verbalem Rüstzeug, im Mut des Glaubens und der als “Wegbeschreibung”. Ihr Widerhall half ihm, sich Rechtschaffenheit oder, weil er einfach ein Drauf- im Gelände zu orientieren. Mit Schüssen kündigte gänger war, zur Verteidigung der Mission und der ein zurückkehrendes komando den Daheimgeblie- Menschen schritt, die bei ihm Schutz suchten, ver- benen seinen erfolgreichen Beutezug an, noch lan- hielt sich in einer Weise, die den Beutekriegern un- ge bevor diese den Trupp sich nähern sahen. Ein gewohnt war. Der energische Appell, mit dem der Schuss, von Zeit zu Zeit im Schutz der Nacht oder Missionar den Raubkriegern Einhalt zu gebieten im Sichtschutz naturräumlicher Gegebenheiten ab- versuchte, fiel aus der Ordnung des Zurufs heraus, denn er erfolgte nicht etwa aus sicherem Versteck 10 “Bitt [Bet]-Leute (Leute die beten)”: Lokal gebrauchter Aus- heraus, wie es der kriegerische Ablauf vorlangte. druck für den christianisierten Bevölkerungsanteil (RMG Schritt ein Missionar inmitten der Turbulenzen eines 1864: 34). Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. 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Der Krieg hat viele Stimmen 9 gegeben, gut platziert in die vermutete Stellung des Briefe und Boten Gegners und abgefeuert von einem Schützen, der wohl zu hören, aber nicht zu sehen ist, teilt dem Im 19. Jahrhundert fußte ein wichtiger Teil des fern- Feind die unsichtbare und daher umso bedrohliche- mündlichen und schriftlichen Austauschs der Nama/ re Allgegenwärtigkeit des Gegners mit. Solcher- Oorlam auf einem Boten- und Briefwesen. Die Oor- weise eingesetzt ist die Waffe das Sprachrohr von lam hatten es über den Kontakt mit den Schreib Guerillakriegern, die ihre Taktik des Überall und praxen der Europäer entwickelt und den Kommuni- Nirgendwo hörbar unterstreicht. kationsformen der Nama und Herero hinzugefügt. Hendrik Witbooi hat in seinen Aufzeichnungen Es war fester Bestandteil des Kommunikationswe- von Kampf- und Schussszenen auf die kommuni- sens der politischen, wirtschaftlichen und sozialen kative Funktion, die der Umgang mit Gewehrfeuer Elite, allen voran der kapteine, und nahm bei ihr beinhaltet, eindrucksvoll hingewiesen: einen wichtigen Platz im kommunikativen Aus- tausch ein. Der mobile Charakter des Brief- und Bo- On 12 July our warriors rode to Jan Nowaseb at Naeb, tenwesens war zusätzlich dadurch hervorgehoben, which they attacked on 13 July. Nowaseb’s men fled, but dass einzelne kapteine mobile Archive von Text- Jan Nowaseb himself came out to fight us. We were shoot- sammlungen anlegten, die sie auf ihren Kriegs- und ing at him as he ran, so that he was swathed in dust, tossed Migrationszügen in Ochsenwagen oder auf dem hither and thither by the whistling bullets, and yet not Rücken von Reittieren mitführten.11 Eine wichti- a bullet touched him. Then our Captain commanded his warriors to hold their fire. We stopped, and Nowaseb sur- ge Rolle hatte das Brief- und Botenwesen in den rendered unconditionally. Our Captain forgave him every- Kommunikationsformen von Krieg und Razzia, ins- thing and accepted him in peace. From that day onwards besondere weil es Teil der Kriegs- und Friedens he and all his people who also surrendered were accepted diplomatie war. Darüber hinaus war der Brief nicht as his own followers (Witbooi 1995: 25; Tagebucheintrag: nur Kommunikationsmittel, sondern ein begehrtes 15. 10. 1888 – 10. 8. 1889). Gut von symbolischer und kriegsstrategischer Be- deutung. Briefe rangierten unter den Zielen räuberi- Offen bleiben muss, ob die überlegenere Krie- scher und kriegerischer Gewalt. Briefe waren Beute. gergruppe hier gezielt den Gegner beschoss, ohne ihn tatsächlich treffen zu wollen. In diesem Fall läge der kommunikative Inhalt des Gewehrfeuers Die Kriegserklärung: in der Botschaft der Überlegenheit und der Todes- Kriegerische Vergemeinschaftung im Medium drohung, die ihr zugehört. Aber die “Sprache” des der Schriftlichkeit Gewehrfeuers geht über diese Botschaft hinaus. Sie nimmt die Rede vorweg, die von der kampfüberle- Wie in Hochmittel- und Mittelalter (Wenzel 1997: genen Seite an den kaptein /Nowaseb und an dessen 11) stand die Briefkultur der Nama/Oorlam am Anhänger gerichtet wird. Sie ist nonverbale und be- Schnittpunkt von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. drohliche Vorrede zu einer Rede von Großmut und Emotions- und Bildgehalt hatten Vorrang, wohinge- zukünftiger Gemeinschaft. Es ist eine Vorrede, die gen gesteigerte Abstraktion und Distanz zum Kör- ein Angebot zum Ende der Gewalt macht; vielleicht per, die dem Text eigen sind, ja durch ihn überhaupt hat /Nowaseb diese Vorrede sogar schon als jenes erst möglich gemacht werden, dahinter zurücktra- Friedensangebot verstanden, das die verbale Rede ten. Lesen und Schreiben traten nicht an die Stelle des kaptein enthält. Die Paradoxie der Sprache des von Sprechen und Hören. Vielmehr steigerte sich Gewehrfeuers ist in diesem Fall, dass die Sprache das eine Medium im anderen und verband auf die- gewaltbegrenzend ist. Das gilt auch nach innen, in sem Weg Mündlichkeit, Schriftlichkeit und kriege- die Gewaltgemeinschaft des Witbooischen koman- rische Vergemeinschaftung. Dokumentiert wird die- dos hinein. An der drohenden Vorrede haben alle ser Zusammenhang in einem ebenso seltenen wie Krieger des Witbooischen komandos teil und be- beeindruckenden Dokument aus dem Jahr 1881. kräftigen so die Gemeinschaft in der Gewalt. Die Es ist ein Brief, den kaptein Moses Witbooi, Vater Rede nach Einstellung des Gewehrfeuers und der von Hendrik Witbooi, an Maharero, das Oberhaupt Unterwerfungserklärung von /Nowaseb ist stattdes- der Herero, schrieb. Der Brief ist eine Kriegsansage sen dem siegreichen kaptein vorbehalten und be- von rhetorischer Wucht und zugleich eine schriftli- glaubigt das Zusammenspiel von Egalität und Hie- che Kriegserklärung. Vorangegangen war dieser rarchie, das die Gewaltgemeinschaft der Nama/ Kriegserklärung ein zunächst begrenzter Konflikt Oorlam auszeichnet. 11 Auf diese Weise gelangte ihr Schriftmaterial bis nach Zen tralnamibia, siehe Henrichsen (2001: 333). Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
10 Trutz von Trotha † und Christine Hardung zwischen Viehhaltern. Der Konflikt eskalierte je- der solche Dinge tut, ohne Bedenken und Scheu in seinem doch und endete in einem Massaker, das Maharero Herzen zu empfinden vor Gott und Menschen, den nenne an Nama/Oorlam verüben ließ, die sich wegen eines ich einen Mörder, Dieb und wildes Tier. Darum werde ich Pferdehandels auf seinem Gebiet aufgehalten hat- mit Dir kämpfen, wie ein Mensch mit einem wilden Tier ten. Der Vorfall war der Beginn gewaltsamer Aus- kämpft. Ich werde Dich töten, wie man ein wildes Tier tötet, denn Du hast meine Männer … wie ein Räuber er- einandersetzungen zwischen Nama/Oorlam und He- mordet. Ich aber werde Dich vor sehenden Auges töten, rero, die sich über ein Jahrzehnt hingezogen haben. nicht in der Verborgenheit und nicht [wie ein Räuber] bei Der Brief ist mehrere Seiten lang und gleicht in Nacht, sondern am Tage, nicht während Du nichts ahnst, seinem Aufbau den Techniken oraler Literatur. Er ist sondern bei vollem Bewusstsein. … Darum: Mach Dich eine “poetisch geformte Nachricht” (Assmann und fertig! Aber der Sieg wird auf meiner Seite sein. Hurra! Assmann 1993: 270), die sich in dieser Form mne- Mach Dich fertig mit einer Macht von Pferden und Wa- motechnisch leichter ins Gedächtnis einschreibt. gen, mit Pulver und Blei und Kriegsmannschaften, aber Dazu gehört die Figur der Wiederholung, Kontras- der Sieg wird auf meiner Seite sein. Hurra! Mache Dich tierung und Rhythmisierung, mit der Aussagen au- fertig und sitz an Deinem Wohnort und erwarte mich an ditiv müheloser aufgenommen werden können. Deinem Wohnort! Ganz sicher werde ich kommen und Witbooi rekapituliert zunächst die Worte Maha- des Wassers von Okahandja trinken. Hurra! 12 reros zu den einst vereinbarten Friedensbedingun- gen und zieht dann das Stilmittel der Kontrastie- Dieser Aufruf zum Krieg enthält alle Elemen- rung heran, um die eigene Friedfertigkeit und die te einer “oralen Stilistik” (Assmann und Assmann vertragsbrüchige Feindseligkeit Mahareros auf- 1993: 269). Die Ausschmückungen und Redun- zuzeigen. Solcherweise führt er die Unaufrichtig- danzen des Briefes und seine Poesie weisen auf die keit, Gewaltsamkeit und Grausamkeit des Feindes Grundprinzipien mündlicher Textkomposition. Auf vor Augen und stellt sie der Haltung seiner eigenen Seiten des Briefverfassers wie auf Seiten des Brief- Leute gegenüber, die sich um die Einhaltung des empfängers schwört die repetitive Stilistik alle am vereinbarten Friedens bemüht hätten. Die eigenen Kommunikationstransfer Beteiligten auf den kom- friedfertigen Absichten pointiert Witbooi, indem menden Kampf ein. Faktische Gewaltausübung er mehrfach den Satz “es war ja Frieden im Lan- wird, sprachlich vermittelt, vorweggenommen und de” wiederholt und mit den Worten “und weiter” schafft ein Gewalterleben in der Imagination. Es ist den jeweils nächsten Absatz beginnen lässt. Letz- eine entgrenzte Gewaltphantasie des Sieges und Tri- teres treibt den Text immer atemloser voran, baut umphes über den als roh und schändlich wahrge- Spannung auf und zielt in der Dramaturgie des Er- nommenen Gegner. Mit dem wiederholten Sieges- zählens auf den Höhepunkt: die Beschreibung des ruf “Hurra” kehrt im Medium der Schrift zugleich Umschlags vom legitimen Töten im Krieg zum il- das akustisches Signal aus der menschenkörperlich legitimen Abschlachten im Massaker. Die Über- erzeugten Klangwelt auf: Wie der Kampfschrei dem schreitung der Grenzen des legitimen Krieges wird gewalttätigen Zusammenprall der Kämpfer voraus- als menschliche Verrohung wiedergegeben und von eilt, eilt das “Hurra” dem Sieg voraus. Äquivalent der Ethik des Krieges der Nama/Oorlam abgegrenzt, zur Performanz der mündlichen Rede intensiviert die Witbooi im Christentum und dem Grundsatz der und steigert die Rhythmik die emotionale Beteili- Vertragstreue begründet sieht. Der Brief steigert gung und führt Briefschreiber, Leser, Vorleser und sich bis zur religiösen Euphorie und versichert dem Zuhörerschaft in einem Erfahrungsraum zusammen, Gegner – wie Witboois eigenen Leuten –, dass gött- der sie an der Sinnhaftigkeit der gemeinsamen Er- licher Beistand den Kampf legitimieren und zum fahrungswelt des Krieges teilhaben lässt. Auch mit- Sieg führen wird: tels der Institution des Briefes konstituierte sich die Gewaltgemeinschaft der Nama/Oorlam. Nun ist das Maß voll, nun ist es übergelaufen, darum Die Läufer und Boten, die die Kriegserklä- braucht es Dich nicht zu wundern, und niemand unter den rung dem Gegner zustellten, sind ein Sinnbild für Menschen braucht sich wundern, dass wir, alle Häuptlin- die Beschleunigung, die die Wirklichkeit der Be- ge des Namalandes, gegen Dich aufstehen. So fordert es ziehungen zwischen den Gegner erfährt. Kriegs die Friedensbestimmung von einst. Um weiter noch etwas erklärungen dynamisieren die Konfliktsituation. Im zu sagen! … Ein Löwe und Wolf und Tieger [sic] bist Du, … ein wildes Tier …, das die Menschen, die Geschöpfe Gottes sind, … mit Messern schlachtet wie das Vieh, denn 12 ELCRN (1881: 87 ff.). Das in Kapholländisch verfasste Ori- Du hast sie Glied für Glied auseinander geschnitten. An- ginal findet sich in den Vedder Quellen, Bd. 15B (NAN n. d.). dere hast Du mit einem stumpfen Beil zerhackt wie ein – Der Brief ist in Kapholländisch überliefert; das “Hurra”, Mensch Äste eines Baumes abhaut, und das waren fried- das ganz nach späterer deutscher Kolonialzeit zu klingen liche Menschen, unschuldige Menschen! Ein Häuptling, scheint, ist die deutsche Übersetzung von hoere. Anthropos 109.2014 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2014-1-1 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 09.12.2021, 04:26:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
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