Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...

Die Seite wird erstellt Noel Engel
 
WEITER LESEN
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard
Antisemitismus – was geht mich das an?

1. ERKENNEN SIE ANTISEMITISMUS IM ALLTAG? 1                                  Wechselwirkung mit dem modernen Rassismus entwi-
und wissen Sie, wie Sie reagieren könnten?                                   ckelt.“2
                                                                          Man kann daher den modernen Antisemitismus nicht
Ein kleiner Selbsttest vorweg: Sie lesen gleich drei ano-                 verstehen, wenn man nicht die christliche Geschichte
nymisierte, authentische Äußerungen. Nehmen Sie sich                      des Antijudaismus in den Blick nimmt. Daher sollen im
einen Augenblick Zeit für die aufmerksame Lektüre und                     Folgenden einige Blitzlichter auf diese Geschichte ge-
überlegen Sie, ob Sie die Äußerung für antisemitisch                      worfen werden.
halten oder nicht. Am besten wäre es, wenn Sie eine
kurze Begründung für Ihre Entscheidung aufschreiben.                   2.1 Ausgangspunkte
                                                                      Judenfeindschaft hat eine lange Tradition, deren Wur-
Situation 1:                                                          zeln bis weit in die Antike zurückreichen und nicht erst
 Bemerkung eines Filmproduzenten in Hamburg:                         mit dem Christentum begonnen haben. Schon bei Taci-
    „Besonders schlimm finde ich, dass offenbar die                   tus (*um 58 n.Chr., gest. um 120) heißt es, dass Juden
    Juden, die ja Opfer der Nazis waren und selbst das                „den Göttern verhasst“ seien und ihre Riten „im Gegen-
    Schlimmste erfahren mussten, jetzt genauso gegen                  satz zu denen aller anderen Religionen“ stehen. „Weil
    die Palästinenser vorgehen, wie man damals gegen                  sie in Treue fest zueinander stehen, üben sie bei sich
    die Juden vorging.“                                               selbst Mitleid, aber feindseligen Hass gegenüber allen
                                                                      anderen.“ (Tacitus, Hist V,4-5).
Situation 2:                                                              Vielfach wird in der bibelwissenschaftlichen Theo-
 Eine Lehrkraft in Frankfurt am Main: „Ich habe na-                  logie die Auffassung vertreten, dass sich eine ähnliche
    türlich nichts gegen Juden , die sind für mich ganz               antijüdische Grundeinstellung bereits im Neuen Testa-
    normale Menschen wie alle anderen. Aber das, was                  ment nachweisen lasse. Eine Reihe von Schriften sehen
    in Israel passiert, kann ich als Menschenrechtlerin               sich dem Vorwurf ausgesetzt, hier werde bereits die
    einfach nicht hinnehmen.“                                         Grundlage für den späteren kirchlichen Antijudaismus
                                                                      gelegt. Zweifellos wurden neutestamentliche Bibelver-
Situation 3:                                                          se in der Rezeptionsgeschichte als Belege für eine ju-
 Aus einem Gespräch über den Holocaust mit meh-                      denfeindliche Einstellung gewertet und entsprechend
    reren Gästen einer Abendgesellschaft in einem an-                 interpretiert, so beispielsweise in den »Wutchören« in
    gesehenen Club in Hamburg: „Wir können doch                       den Passionsmusiken Johann Sebastian Bachs. Ich gehe
    nicht nach vorne schauen, wenn wir immer wieder                   hier mit Klaus Wengst jedoch davon aus, dass die in-
    nur über die Vergangenheit reden müssen – das                     kriminierten neutestamentlichen Schriften einen inner-
    muss doch irgendwie mal zur Ruhe kommen .“                        jüdischen Streit spiegeln, der zwar scharfe Auseinan-
                                                                      dersetzungen enthält, aber nicht als „Antijudaismus“
Wie haben Sie entschieden? Wenn Sie Ihre Antworten                    interpretiert werden kann.3 Daher gehören sie in die
mit begründeten Stellungnahmen von Experten ver-                      Vorgeschichte des Antisemitismus.
gleichen wollen, rufen Sie doch einfach die Seite
https://www.stopantisemitismus.de auf.                                2.2 Die Vorgeschichte
                                                                      Die ersten Messiasgläubigen waren Jüdinnen und Ju-
2. ANTISEMITISMUS – EIN RÜCKBLICK                                     den. Sie gehörten zur jüdischen Synagogengemeinde,
oder: Einige Stationen auf dem Weg zur Shoah                          aber sie waren davon überzeugt, dass Gott den hinge-
                                                                      richteten Jesus von Nazareth auferweckt hatte. Für sie
Voranstellen möchte ich eine wohl begründete These                    war deshalb Jesus der Messias, der Christos, der Gesalb-
der Leiterin des jüdischen Museums in Frankfurt Mirjam                te. Mit diesem Bekenntnis gerieten sie in Konflikt mit
Wenzel:                                                               ihren jüdischen Glaubensgeschwistern. Auch der tor-
   „Judenfeindschaft ist eine historische Konstante und               ahkundige Pharisäer Saulus vertrat den biblischen
   sie äußert sich verschieden. Der moderne [westliche]               Grundsatz „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.“ (Dtn
   Antisemitismus ist eine Transformation des christlich              21,23, zit. in Gal 3,13) und er betrachtete die Predigt
   geprägten Judenhasses und hat sich in einer gewissen
                                                                      2
                                                                       https://bit.ly/3f8DWim .
                                                                      3
                                                                       Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. Neuausgabe in einem
                                                                      Band, 3. Auflage Stuttgart 2019; Mirjams Sohn – Gottes Gesalbter. Mit
1
  Erstveröffentlichung: Braunschweiger Beiträge zur Religionspäda-    den vier Evangelien Jesus entdecken, Gütersloh 2016; „Freut euch, ihr
gogik, Heft 157-2/2019, S. 17-30. Der Text wurde aktualisiert. Alle   Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus –
Internetlinks wurden überprüft am 30.4.2020.                          ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008.
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

von dem gekreuzigten Christos als Ärgernis (1 Kor 1,23).   die rasante Ausbreitung der an Jesus als den Messias
Das eigentliche Motiv seines Angriffs auf die Messias-     Glaubenden in der heidnischen Welt eine große Rolle.
gläubigen dürfte indes deren Lebensweise gewesen           Spuren von dieser allmählichen Trennung, die bis in das
sein. Der „Eiferer für die Torah“ (Gal 1,14) Saulus be-    zweite Jahrhundert andauerte, finden sich in den Evan-
stand strikt auf der Einhaltung der besonderen Le-         gelien. Die Schreiber der Evangelien formulierten ihr
bensweise, die Juden von den Völkern unterschied. Er       Bekenntnis zu Jesus, dem von Gott auferweckten Mes-
verfolgte daher die Messiasgläubigen in den umliegen-      sias, jeweils für konkrete Gemeinden im römischen
den Regionen und belegte sie mit Synagogenstrafen          Imperium, die unterschiedliche Herausforderungen zu
(39 Hiebe).                                                bestehen hatten. Sie setzten sich auf Schritt und Tritt
    Nach seiner Berufung zum Apostel wurde Paulus          mit der Frage auseinander, wie dieses Bekenntnis aus
selbst von anderen Juden, aber auch von jüdischen          der Schrift (dem ersten – „Alten“ – Testament) zu be-
Messiasgläubigen wie dem Herrenbruder Jakobus in           gründen und angesichts der theologischen Gegenar-
Jerusalem heftig angegriffen, weil er den heidnischen      gumente von jüdischer Seite aus zu rechtfertigen sei.
Völkern Jesus als den Christos, den Gesalbten, verkün-     Dabei nahm die Schärfe der – immer noch – innerjüdi-
digte und sie nicht zur Beschneidung verpflichtete. Er     schen Auseinandersetzung zu (vgl. Mt 27,25; Lk
berichtet in 2 Kor 11,24: „Von den jüdischen Behörden      20,13ff.). Am schärfsten, aber zugleich auch bewusst
habe ich fünfmal die Strafe der 39 Hiebe erhalten,         widersprüchlich formuliert der Evangelist Johannes:
dreimal wurde ich mit Stöcken geschlagen, einmal           Während Jesus in 4,22 betont: „Das Heil kommt von
gesteinigt [...].“                                         den Juden.“, wirft er seinen jüdischen Gesprächspart-
    Manche der messiasgläubigen Gruppen in Judäa,          nern in 8,43f. vor: „Warum versteht ihr meine Rede
Kleinasien und Griechenland distanzierten sich – viel-     nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr habt
leicht wegen der ablehnenden Haltung – von der syna-       den Teufel zum Vater, und ihr wollt tun, was er be-
gogalen Gemeinschaft, versammelten sich nebenher in        gehrt.“ – ein Urteil mit weitreichenden Folgen!
Privathäusern und nahmen dort auch das gemeinsame              Bereits im 2. Jahrhundert vertraten christliche Theo-
„Herrenmahl“ ein (1 Kor 11,20). Schon in seinem ersten     logen die These, dass die christliche Kirche an die Stelle
Brief (1 Thess 2,15f., geschrieben etwa um 50) erklärt     der Juden getreten sei (Enterbungstheorie, bereits im
sich Paulus die ablehnende Haltung der Juden aus der       Barnabasbrief, ca. 130 n.Chr.). Mit Christus seien die
Synagoge folgendermaßen: „Die Juden haben den              Verheißungen in Erfüllung gegangen, damit sei die
Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns       Erwählung Israels und der Bund Gottes mit Israel wider-
verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen      rufen, das Volk Israel verworfen. Die Zerstörung des
feind, weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort    Tempels und die Zerstreuung der Juden in der Diaspora
zu verkündigen, das ihnen Rettung brächte.“ Paulus         war für sie die Strafe Gottes für die Ablehnung des Messi-
greift damit nicht nur auf die biblische Denkfigur der     as Jesus. Der Apologet Justin (+ 165 in Rom) behauptete
Verfolgung und Tötung von Propheten zurück, sondern        in seiner Schrift „Dialog mit dem Juden Tryphon“, dass
nimmt auch die in der antiken Umwelt verbreiteten          Israel den Alten Bund durch sündiges Verhalten ver-
Urteile über Juden auf. Dieses scharfe Urteil war indes    spielt habe und die an Christus Glaubenden von Gott
nicht das letzte Wort des Paulus. Vielmehr ringt er in     auserwählt und zu einem Neuen Bund berufen seien
seinem letzten Brief (Röm 9-11) um eine Neubestim-         (Dialogus 119; 122). Der Kirchenvater Cyprian (+258)
mung des Verhältnisses zwischen dem Volk Israel und        formulierte schließlich die theologische Maxime, die in
den Christusgläubigen. An seine Glaubensgeschwister        den folgenden Jahrhunderte das Verhältnis der Kirche
richtet er die Mahnung: „Nicht du trägst die Wurzel,       zu den Juden bestimmte: „Extra ecclesiam nulla salus!“4
sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11,18) und bekräf-    (Außerhalb der Kirche kein Heil! ep. 73,2).
tigt, dass die Juden nach wie vor „das Recht der Kind-
schaft und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und     2.4 Von der konstantinischen Wende zum Mittelalter
die Gabe der Torah und die Gottesdienstordnung [für        Seit der „konstantinischen Wende“ im 4. Jahrhundert
den Tempel] und die Verheißungen und die Väter ha-         trat an die Stelle der alten religiösen Kulte das Christen-
ben“ (Röm 9, 3-5).                                         tum. Zunächst wurde das Christentum durch Konstan-
                                                           tin privilegiert, dann Staatsreligion (380 n. Chr.) und die
 2.3 Die beiden Wege                                       jüdischen Gemeinden wurden als Minderheit mehr und
15 Jahre später ist alles anders: Die Zerstörung des       mehr an den Rand gedrängt, verachtet und ausge-
Jerusalemer Tempels durch den römischen Feldherr           grenzt.
Titus war die Katastrophe in der Geschichte des Juden-         Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte
tums, deren Folgen letztlich bis heute andauern. Zu-       des Mittelalters war der Aufruf zum Kreuzzug gegen die
nächst in Jabne, später in Galiläa entwickelte sich das    Muslime durch Papst Urban II (1095). Zwar war Jerusa-
rabbinische Judentum, das sich um die Torah sammelte       lem schon 634/635 von Kalif Omar I erobert worden,
und um die Auslegung der heiligen Schriften bemühte.       aber erst Kalif Al-Hakim begann 1008 eine Christen(und
Aber es war auch der Zeitpunkt, von dem an die Wege        Juden-)verfolgung, während der auch das Heilige Grab
der messiasgläubigen Gemeinden und der jüdischen
Synagoge allmählich auseinander gingen. Dabei spielte      4
                                                               Im Original: „Extra ecclesiam salus non est.“

                                                                                                                    2
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

in der Grabeskirche, das bedeutendste Heiligtum der                    Daher sprach er sich in seiner 1523 erschienenen Schrift
Christenheit, zerstört wurde – ein Ereignis, das ein bis               „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ entschie-
ins Abendland reichendes Entsetzen und eine unge-                      den dafür aus, „christlicher Liebe Gesetz an ihnen zu
ahnte Welle der Empörung auslöste. Im Jahr 1099 wur-                   üben und sie freundlich anzunehmen, mit Gewähren-
de Jerusalem von den Kreuzrittern erobert, aber auf                    lassen, (Er-)werben und Arbeiten“7.
dem Weg zum Kampf gegen die „Ungläubigen“ in das                            Schon drei Jahre später muss Luther feststellen, dass
Heilige Land entdeckten die Kreuzfahrer auch die „Un-                  die Juden „schlechterdings nicht zu bekehren sind. Da
gläubigen“ im eigenen Land: die Juden. Es kam zu den                   ist alle Predigt verloren, alles Vermahnen, Drohen, Sin-
ersten antijüdischen Pogromen in verschiedenen Län-                    gen und Sagen“ 8 . Luthers Judenfeindschaft steigert
dern, so in Frankreich, aber auch u.a. in Worms, Speyer,               sich, bis er 1543 die Schriften „Von den Juden und ihren
Mainz und Bamberg. Tausende Juden wurden von den                       Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras“ veröffentlicht9.
wütenden Horden wahllos ermordet. Die Saat der                         Darin wirft er den Juden vor, sie seien „gewisslich mit
christlichen Judenfeindschaft und -verachtung ging                     allen Teufeln besessen“ und von Gott verworfen und
erschreckend auf. Es waren im Mittelalter vor allem drei               verdammt. Er fordert in sieben „Ratschlägen“ von den
religiöse Ressentiments, die dabei eine Rolle spielten:                Landesfürsten, eine „scharfe Barmherzigkeit zu üben,
  Seit dem 4. Laterankonzil 1215 galt die Transsub-                   ob wir doch etliche aus der Flamme und Glut erretten
      stantiationslehre – die reale Wesensverwandlung                  könnten“. Im einzelnen soll man
      von Brot und Wein in Leib und Blut Christi – als                      (1) ihre Synagogen und Schulen niederbrennen,
      rechtgläubig. Man unterstellte den Juden, sie wür-                    „dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon
      den geweihte Hostien stehlen und diese – weil sie                     sehe ewiglich.“10
      Leib Christi seien – mit Messern durchbohren, um                      (2) ihre Häuser zerstören und sie wie Zigeuner in
      Christus noch einmal zu töten („Hostienfrevel“).                      Ställen und Scheunen wohnen lassen,
  Juden wurde der Ritualmord an christlichen Jun-                          (3) ihnen ihre Gebetbücher und Talmudim weg-
      gen vorgeworfen: Sie fingen und schlachteten                          nehmen, die ohnehin nur Abgötterei lehrten,
      Christenkinder, fingen das Blut auf, um Mazzen                        (4) ihren Rabbinern das Lehren bei Androhung der
      beim Pessach zuzubereiten und um verschiedene                         Todesstrafe verbieten,
      magische Praktiken auszuführen.                                       (5) ihnen das freie Geleit und Wegerecht entziehen,
  Die Angriffe gegen Juden gipfelten in dem Vor-                           (6) ihnen das „Wuchern“ (Geldgeschäft) verbieten,
      wurf des Gottesmordes, der durchgehend ein Ste-                       all ihr Bargeld und ihren Schmuck einziehen und
      reotyp christlicher Theologie war.                                    verwahren, denn sie haben alles durch ihren Wu-
  Daneben, aber gleich wirksam waren sozial und                            cher gestohlen,
      ökonomisch bedingte Ressentiments, die darauf                         (7) den jungen kräftigen Juden und Jüdinnen Werk-
      beruhten, dass Juden in bestimmte Berufe – etwa                       zeuge für körperliche Arbeit geben und sie ihr Brot
      den des Geldverleihers und des Viehhändlers –                         verdienen lassen.
      abgedrängt waren und sich aus der Sicht der Be-                  Wohlgemerkt: Luther befürwortet an keiner Stelle den
      troffenen deren Notlagen zunutze machen.                         Mord oder die Ausrottung von Juden, sondern emp-
      Schließlich wurden Juden für die grassierenden                   fiehlt den Landesherren im Sinne eines intakten corpus
      Pestepidemien haftbar gemacht, indem ihnen die                   christianum deren Vertreibung. Er nimmt allerdings
      Vergiftung von Brunnen unterstellt wurde.                        billigend die Tötung von Juden in Kauf, wenn er fordert,
Symbolischen Ausdruck der Überlegenheit der christli-                  dass das freie Geleit aufzuheben sei. Dies bedeutet,
chen Kirche gegenüber der jüdischen Religion bildeten                  dass Juden getötet werden konnten – ohne dass der
die vielerorts an Kirchen angebrachten Statuen der                     Täter Strafverfolgung befürchten musste.
Ecclesia und der Synagoga (etwa am Straßburger                              Gleichwohl konnten sich die Nationalsozialisten mit
Münster um 1230).                                                      Recht auf die Vorschläge Luthers berufen, als sie ihre
                                                                       antisemitische Rassenpolitik ins Werk zu setzen began-
2.5 Martin Luther und der „Geburtsfehler des Protes-                   nen. Auch wenn sich gegen Luthers obszöne Polemik
tantismus“ 5                                                           vor allem in der Schrift „Vom Schem Hamphoras“ evan-
Ein weiterer Meilenstein der Judenfeindschaft waren                    gelische Zeitgenossen wie der Zürcher Reformator
die Schriften Martin Luthers. „Das Judentum als solches                Heinrich Bullinger und der deutsche Reformator Andre-
war für ihn in keiner Lebensphase eine tolerable Religi-               as Osiander wandten und es eine ansehnliche Verbrei-
on; er bewertete es als heilsgeschichtlich definitiv                   tung seiner menschenverachtenden Hetzpublizistik der
überholt, gleichsam als einen wandelnden Leichnam.“6                   1540er Jahre vor der Zeit des Dritten Reiches nicht ge-
Zunächst hegte Luther die Hoffnung, dass die neue                      geben hat, wurde die Grundeinstellung Luthers zu den
Entdeckung der befreienden Kraft des Evangeliums so                    Juden in weiten Kreisen des Protestantismus geteilt.
überzeugend wirken werde, dass „etliche“ Juden sich
Christus zuwenden und sich zu ihm bekehren würden.                     7
                                                                         WA 11, 336,30-37.
                                                                       8
                                                                         Auslegung von Psalm 109, WA 19,606,20–22.
                                                                       9
                                                                         WA 53, 412-552; 573-648. Digital unter
5
    Vgl. Klaus Wengst, http://www.imdialog.org/bp2014/03/wengst.pdf.   https://archive.org/details/werkekritischege53luthuoft.
6                                                                      10
    Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014, 172.                  WA 653, 522-526.

                                                                                                                                 3
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

Das gilt auch für die Zeit des Pietismus, der bewusst an             zialisten     und     nationalsozialistische      Theologen
die erste Schrift Luthers von 1523 anknüpfte, aber da-               Stoeckers Antisemitismus auf und feierten ihn als ihren
mit – wie Luther – die Hoffnung auf die Bekehrung der                Vorläufer und Wegbereiter, ebenso wie Luther nun zum
Juden zu Jesus Christus verband und deren Missionie-                 Gewährsmann der Rassenpolitik des NS-Regimes avan-
rung anstrebte.                                                      cierte. Allen voran veröffentlichte der thüringische
                                                                     Landesbischof Martin Sasse unmittelbar nach der
2.6 Säkularer Antisemitismus im 19. Jahrhundert                      Reichspogromnacht 1938 eine Auswahl aus Luthers
Trotz der rechtlichen Emanzipation der Juden in Mittel-              Judenschrift von 1543 unter dem Titel „Martin Luther.
europa in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die               Über die Juden: Weg mit ihnen!“ Im Vorwort schreibt er:
Judenfeindschaft immer stärker. Der Grund war der                         „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag,
wachsende Nationalismus, der sich der aufkommenden                       brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deut-
biologistischen Rassentheorien bediente und die tradi-                   schen Volke wird zur Sühne für die Ermordung des Ge-
tionelle christliche Judenverachtung und -feindschaft                    sandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die
als Wurzelgrund voraussetzte. 1879 gilt als Geburtsjahr                  Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neu-
des „modernen“ säkularen Antisemitismus, in dem sich                     en Deutschland endgültig gebrochen und damit der
deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und                  gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befrei-
rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum                         ung unseres Volkes gekrönt. [...] In dieser Stunde muss
reichsweit gesellschaftsfähig wurden. In diesem Jahr                     die Stimme des Mannes gehört werden, der als der
veröffentlichte der Journalist Wilhelm Marr (1819-1904)                  Deutsche Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis
seine Kampfschrift „Der Sieg des Judentums über das                      einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von
Germanenthum von einem nicht confessionellen                             seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und
Standpunkt aus betrachtet“ (bis Jahresende 12 Aufla-                     der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit
gen!)11. Marr wandte sich gegen den bisherigen theolo-                   geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Ju-
gischen Antijudaismus und plädierte für eine histori-                    den.“13
sche und rationale Begründung des Antisemitismus.                    Noch vor Beginn des Krieges wurde am 6. Mai 1939 mit
Zudem gründete Marr in diesem Jahr die erste antise-                 einem Festakt auf der Wartburg bei Eisenach unter
mitische politische Vereinigung des deutschen Kaiser-                Anwesenheit zahlreicher kirchlicher und theologischer
reichs, die Antisemitenliga.                                         Honoratioren das „Institut zur Erforschung und Beseiti-
    Dabei stand er durchaus im Einklang mit dem ein-                 gung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchli-
flussreichen Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909),                 che Leben“ gegründet. Die wissenschaftliche Leitung
der 1879 mit einer Rede „Unsere Forderungen an das                   hatte Walter Grundmann, Professor für Völkische Theo-
Judentum“ verlangte, den vermeintlichen Einfluss des                 logie und Neues Testament an der Universität Jena,
Judentums auf Wirtschaft, Politik und Kultur radikal zu              inne. Anfang 1940 erschien ein „entjudetes“ Neues
begrenzen. Stoeckers politische Forderungen basierten                Testament: „Die Botschaft Gottes“; im Juni 1941 veröf-
auf einer theologischen Bewertung des Judentums:                     fentlichte das Institut ein „entjudetes“ Gesangbuch:
„Das orthodoxe Judentum, diese Verknöcherung des                     „Großer Gott wir loben dich“14.
Gesetzes, das Alte Testament ohne Tempel, ohne Pries-                    Zwar gab es in der evangelischen Kirchen Einzelne
ter, ohne Opfer, ohne Messias, hat für die Kinder des                wie etwa den Theologen Dietrich Bonhoeffer oder die
neunzehnten Jahrhunderts weder Anziehungskraft                       Lehrerin Elisabeth Schmidt, die gegen die Entrechtung
noch Gefahren. Es ist eine im innersten Kern abgestor-               und Ermordung von Juden Widerstand leisteten, aber
bene Religionsform, eine untere Stufe der Offenbarung,               insgesamt haben die Kirchen in der EKD-Synode in
ein überlebter Geist, noch immer ehrwürdig, aber durch               Berlin Weißensee 1950 bekennen müssen: „Wir spre-
Christum aufgehoben und für die Gegenwart keine                      chen es aus, dass wir durch Unterlassen und Schweigen
Wahrheit mehr.[...] Eben das ist ihr Verhängniß, daß sie,            vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig gewor-
an Christo gescheitert, ihren göttlichen Curs verloren,              den sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres
ihre hohe Mission preisgegeben haben und [...] den                   Volkes an den Juden begangen worden ist. Wir bitten
Götzen des Goldes nachlaufen, weil sie die Wege Gottes               alle Christen, sich von jedem Antisemitismus loszusa-
versäumt haben.“12                                                   gen und ihm, wo er sich neu regt, mit Ernst zu wider-
                                                                     stehen und den Juden und Judenchristen in brüderli-
2.7 Der Weg in die Shoah                                             chem Geist zu begegnen.“
Stoeckers Einfluss auf den deutschnational geprägten
Protestantismus kann nicht überschätzt werden, zumal
seit dem Ende des 19.Jahrhunderts auch die juden-
feindlichen Schriften Luthers wiederentdeckt und pu-
bliziert wurden. Nicht von ungefähr griffen Nationalso-              13
                                                                        Faksimile unter
                                                                     https://www.flickr.com/photos/pelegrino/28274984029/in/photostre
11
  Online unter https://www.gehove.de/antisem/texte/marr_sieg.pdf .   am/.
12                                                                   14
 Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin, Berlin      Unterrichtsmaterialien zum Antisemitismus in der NS-Zeit in: Oliver
1880,                                                                Arnhold/Hartmut Lenhard: Kirche ohne Juden., Christlicher Antisemi-
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stoecker_Zwei_Reden.djvu.    tismus 1933-1945, Göttingen 2015.

                                                                                                                                          4
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

2.8 Was folgt daraus?                                                       Der Staat Israel taucht im Text als zentraler Fokus
Mit Recht fasst die Evangelische Kirche die Erkenntnis                       des aktuellen Antisemitismus nicht auf (nur in den
aus der 2000 Jahre alten Geschichte der christlichen                         Beispielen).
Judenfeindschaft theologisch so zusammen: „Antisemi-                        Es fehlt eine differenzierte Typologie der Erschei-
tismus ist Gotteslästerung.“15 Diese Geschichte muss ein                     nungsformen, etwa religiöser, sozialer, politischer,
für alle Mal beendet werden und darf sich nie wieder-                        kultureller, nationalistischer oder rassistischer Anti-
holen. Hinter diese durch die Shoah provozierte Ein-                         semitismus.
sicht können die christliche Theologie und die Kirchen                      Vor allem fehlt die Einsicht, dass Judenfeindschaft
nicht zurück. Die Neubesinnung auf das besondere                             ein im Kern irrationales, sozial wirksames Ressenti-
Verhältnis zwischen Christen und Juden geht davon                            ment ist, das durch äußere Bedingungen, psycho-
aus, dass gemäß Röm 9,3-5 gilt, dass die Juden nach                          logische Faktoren und Sozialisationseinflüsse rati-
wie vor „das Recht der Kindschaft und die Herrlichkeit                       onal nicht hinreichend erklärbar ist, sich aber im-
und die Bundesschlüsse und die Gabe des Gesetzes                             mer wieder nachträglich Gründe für die eigene Le-
und die Gottesdienstordnung und die Verheißungen                             gitimierung konstruiert. Antisemitismus hängt
und die Väter haben.“ Die Christen mahnt Paulus:                             nicht vom Tun und Verhalten von Juden ab, son-
„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt                        dern von deren puren Existenz. Antisemitismus ist
dich.“ (Röm 11,18). Und dem Volk Israel wird unver-                          Feindschaft gegen Juden als Juden.
brüchlich zugesagt: „Wer euch antastet, der tastet mei-
nen Augapfel an.“ (Sach 2,12). Zentraler Inhalt der Bun-             3.2 Erscheinungsform 1: Der Traditionelle Antisemi-
desgeschichte Gottes mit seinem Volk ist die Landver-                tismus18
heißung, also ein sicherer Ort zum Leben. Auch wenn                  Alle Einzelformen des traditionellen Antisemitismus
es keine theologische Verklärung des Staates Israel                  haben eine lange Geschichte, halten sich aber bis heute
geben kann, ist es theologisch doch bedeutsam, dass                  durch:
Jüdinnen und Juden einen Zufluchtsort in Israel haben.                Der religiöse Antisemitismus durchzieht die zwei
                                                                         Jahrtausende christlicher Kirchengeschichte und
3. ...UND HEUTE?                                                         basiert auf einer antijüdischen Auslegung christli-
3.1 Was ist Antisemitismus?                                              cher Dogmen (s.o.).
Eine allgemein verbindliche Definition des Begriffs                   Der soziale Antisemitismus unterstellt, dass Juden
Antisemitismus gibt es (noch) nicht. Eine von der „In-                   einen besonderen sozialen Status haben und z.B.
ternational Holocaust Remembrance Alliance“ 16 2016                      an der Ausbeutung breiter Bevölkerungsschichten
formulierte „Arbeitsdefinition“ wurde inzwischen von                     profitieren. Dabei werden Einzelfälle – etwa reiche
mehreren Staaten und auch von der Bundesregierung                        jüdische Bankierdynastien – zu einem Zerrbild ver-
anerkannt und für den Gebrauch in Schulen empfohlen.                     allgemeinert.
Sie ist aber rechtlich nicht bindend. Ihr Wortlaut:                   Der politische Antisemitismus geht von einem ver-
     "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung                      schworenen jüdischen Kollektiv aus, das politi-
     von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrü-                schen Einfluss ausübt, um die Herrschaft in einem
     cken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort o-               Land oder auf der ganzen Welt zu erlangen. Die
     der Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelper-               Behauptung der „jüdischen Weltverschwörung“,
     sonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische                 die „hinter den Kulissen“ wirke, ist dabei konstituti-
     Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen."17              ver Bestandteil.
Ergänzt wurde die Definition durch Beispiele, die u.a.                Der nationalistische Antisemitismus wirft Juden vor,
falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder                          sie seien ethnische, kulturelle und religiöse Fremd-
stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die                          körper in den Gesellschaften, in denen sie leben,
Macht der Juden als Kollektiv enthalten, den Holocaust                   gehörten nicht zu einer „Volksgemeinschaft“ und
bestreiten, Verschwörungstheorien huldigen, zum                          verhielten sich ihr gegenüber illoyal.
Mord an Juden aufrufen, das Recht des jüdischen Vol-                  Der rassistische Antisemitismus betrifft alle Men-
kes auf Selbstbestimmung leugnen und doppelte Stan-                      schen jüdischer Abstammung ohne Unterschied. Er
dards in Bezug auf den Staat Israel anwenden.                            basiert auf der Behauptung einer weißen germani-
     Die „Arbeitsdefinition“ erweist sich allerdings in                  schen Rasse, die sich gegen die subversive Unter-
mehreren Punkten als unzulänglich:                                       wanderung durch eine angeblich minderwertige
 Unklar ist, was mit dem Begriff „Wahrnehmung“                          jüdische Rasse wehren muss.
      gemeint ist.
                                                                     Wie verbreitet ist der traditionelle Antisemitismus?
                                                                     Über die Jahre von 2002 bis in die Gegenwart wurden
                                                                     Einstellungen zu Juden anhand von typischen Behaup-
15
   Broschüre Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektio-   tungen repräsentativ untersucht:19 Ein Beispiel:
nen und was wir dagegen tun können, Hannover 2017;
https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2017_Antisemitismus_WEB.pdf .
16
   https://www.holocaustremembrance.com/de.
17                                                                   18
   https://www.holocaustremembrance.com/de/node/196.                      Vgl. https://www.gra.ch/antisemitismus/was-ist-antisemitismus/.

                                                                                                                                            5
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

                                                                           Wie beim traditionellen Antisemitismus nimmt auch
                                                                        hier die Zustimmungsrate tendenziell ab, bewegt sich
                                                                        aber immer noch auf einem sehr hohen Niveau. Über
                                                                        die Hälfte der Befragten stimmt diesem Item zu; im-
                                                                        merhin noch 26 % bejahen die Behauptung „Viele Ju-
                                                                        den versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Rei-
                                                                        ches heute ihren Vorteil zu ziehen.“

Es überrascht, dass die Zustimmung zum klassischen                      3.4 Erscheinungsform 3: Der israelbezogene Antisemi-
Antisemitismus in dieser Zeitspanne abgenommen hat,                     tismus
sich aber auf einem relativ konstanten Niveau von ca.                   Die aktuell wirkungsvollste Form von Antisemitismus
10 % der Befragten bewegt. Dies kann damit zusam-                       verbirgt sich unter dem Deckmantel einer vorgeblich
menhängen, dass diese Formen des Antisemitismus                         neutralen „Israelkritik“ – wobei der Begriff (inzwischen
gesellschaftlich sanktioniert sind und als inakzeptabel                 als Adjektiv in den Duden übernommen) singulär ist
gelten.                                                                 und für keinen anderen Staat verwendet wird. Traditio-
                                                                        neller Antisemitismus wird in der Öffentlichkeit immer
3.3 Erscheinungsform 2: Der Sekundäre Antisemitis-                      weniger toleriert, er unterliegt einer sozialen Norm, die
mus                                                                     ihn tabuisiert, ihn aber nicht beseitigt oder weniger
Auch hier sind unterschiedliche Äußerungsformen zu                      wirkmächtig macht. So bildet sich eine Umwegkom-
unterscheiden:                                                          munikation, die den Antisemitismus tarnt und an die
 Der sekundäre Antisemitismus ist von einer Ab-                        Stelle des (tabuisierten) traditionellen Antisemitismus
    wehr der Erinnerungen an den Holocaust sowie die                    tritt. Dabei werden Stereotype, die normalerweise der
    Abwehr von Schuld und Verantwortung motiviert.                      Abwertung von Juden dienen, auf Israel projiziert und
    Um sich von dieser Schuld zu erlösen, versucht der                  zu dessen Abwertung und Isolierung verwendet. Israel
    sekundäre Antisemitismus, die Opferfunktion der                     wird zum ‚kollektiven Juden’ gemacht.
    Juden zu negieren und Jüdinnen und Juden als Tä-                         Antisemitische „Israelkritik“ (!) äußert sich darin, dass
    tergruppe zu stigmatisieren. Deshalb gehen ent-                     das Existenzrecht Israels als jüdischer Staat bestritten,
    sprechende Argumentationen zumeist mit einer                        die Politik Israels mit dem Nationalsozialismus vergli-
    Täter-Opfer-Umkehr einher,                                          chen wird und an Israel andere moralische Maßstäbe als
 Relativierung, Verharmlosung und teilweise Leug-                      an andere Staaten angelegt werden. Diejenigen, die
    nung (Stichwort „Ausschwitzlüge“) der nationalso-                   sich ihrer bedienen, bestreiten vehement, Antisemiten
    zialistischen Verbrechen an den europäischen Ju-                    zu sein. Allenfalls bezeichnen sie sich als „Antizionis-
    den,                                                                ten“, was aber im Blick auf den Staat Israel auf dasselbe
 Forderung nach einem Schlussstrich unter dieses                       Ergebnis hinausläuft.
    Kapitel der deutschen Geschichte.
                                                                        Wie verbreitet ist der israelbezogene Antisemitismus?21
Wie verbreitet ist der sekundäre Antisemitismus?                        Auch hier nimmt die Zustimmung insgesamt tendenzi-
                                                                        ell ab; gleichwohl sind die Zustimmungswerte sehr
                                                                        hoch. Sie sind aber stärker abhängig von den aktuellen
                                                                        politischen Ereignissen, etwa von dem militärischen
                                                                        Vorgehen Israels gegen die Raketenangriffe durch die
                                                                        Hamas im Jahr 2014.

Auch hier zeigt sich an einer typischen Behauptung das
Ausmaß der Zustimmung:20

                                                                        Umgekehrt rückt aktuell die pauschale Kritik an Israel
19
   Tabelle aus: Verbreitung von Antisemitismus in der deutschen         wieder in den Vordergrund, die auf Vergleiche des se-
Bevölkerung. Ergebnisse ausgewählter repräsentativer Umfragen.          kundären Antisemitismus zurückgreift und Israel zu-
Expertise für den unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus Stand
März 2017 (Andreas Zick u.a.), 25. https://bit.ly/2y60XC9;
                                                                        21
GFM: Langzeitstudie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit;             A.a.O., 27 und 29, aktualisiert nach der neuen „Mitte-Studie“ (2019)
FES: Mitte-Studie 2014 der Friedrich-Ebert-Stiftung, beide vom Insti-   der Friedrich-Ebert-Stiftung (Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm
tut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der       Berghan: Verlorene Mitte - Feindselige Zustände. Rechtextreme
Universität Bielefeld durchgeführt.                                     Einstellungen in Deutschland 2018/19, Herausgegeben für die Fried-
20
   A.a.O., 27.                                                          rich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter).

                                                                                                                                              6
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

mindest indirekt einen Genozid an den Palästinensern
vorwirft:

Vergleicht man die parteipolitischen Präferenzen22 der
Befragten im Blick auf antisemitische Einstellungen, so
zeigt sich ein interessantes Bild: Während der klassische
Antisemitismus bei Befragten mit Präferenz für die                      4. ...UND NUN IM DETAIL: Kritik an der Politik der
traditionellen Bundestagsparteien relativ niedrige Wer-                 Regierung Israels oder „Israelkritik“?
te erreicht, liegt er bei der AfD erheblich höher. Diesem               Weit verbreitet ist die Meinung, man dürfe Israel nicht
Befund stehen die Beobachtungen beim israelbezoge-                      kritisieren, da man sonst gleich als Antisemit denunziert
nen Antisemitismus gegenüber: Hier liegen die Werte                     werde. Oft wird dazu die „Antisemitismus-Keule“ in die
bei den Befragten mit allen Präferenzen deutlich höher,                 Debatte geworfen, die dazu diene, Kritiker mundtot zu
am höchsten jedoch auch hier bei der AfD.                               machen. Die Schlüsselfrage ist aber nicht, ob „Israelkri-
                                                                        tik“ „erlaubt“ ist – sondern ob Kritiker ein faires, kritisch-
                                                                        differenzierendes oder aber ein maßlos verzerrtes und
                                                                        einseitiges Israelbild zeichnen und was sie damit be-
                                                                        zwecken wollen.

                                                                        4.1 Wie lässt sich „Israelkritik“ von Kritik an israeli-
                                                                        scher Politik unterscheiden?
                                                                        Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel
                                                                        von der TU Berlin24 ist der Auffassung, dass dies relativ
                                                                        einfach sei. Sie bietet zwei Beispiele, an denen sich der
                                                                        Unterschied exemplarisch veranschaulichen lässt:
                                                                        Äußerung 1:
                                                                            „Die national-religiöse Regierung in Israel trifft derzeit
Die Ergebnisse von Meinungsbefragungen sind das
                                                                            Entscheidungen, die dem Friedensprozess entgegen
eine, die tatsächlichen Straftaten das andere. Die
                                                                            stehen.“
offizielle polizeiliche Statistik verzeichnet in den letzten
                                                                        Äußerung 2:
Jahren einen deutlichen Anstieg der angezeigten
                                                                            „Das brutale Besatzerregime im rassistischen Apart-
Straftaten23. Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu
                                                                            heid-Israel betreibt einen Genozid an den Palästinen-
betrachten. Erfasst wird von der Kriminalstatistik nur ein
                                                                            sern“.
so genanntes „Hellfeld“ – sehr viele Taten werden z.B.
                                                                        Bei der ersten Äußerung geht es um eine klare Benen-
erst gar nicht angezeigt. Zudem ist die Zuordnung
                                                                        nung politischer Verantwortlicher und aktueller Ent-
einer Straftat zu einer Tätergruppe ausgesprochen
                                                                        scheidungen, die nach Meinung des Autors einem Frie-
fragwürdig. 2017 wurden 94 % der Taten dem
                                                                        densprozess im Wege stehen. Man kann darüber strei-
rechtsextremistischen        Umfeld      zugeordnet.     Die
                                                                        ten, ob die Bewertung richtig ist – zweifellos ist sie aber
Erfahrungen der Opfer lassen aber eher vermuten, dass
                                                                        legitim und kann argumentativ begründet werden.
ein hoher Anteil an Tätern mit muslimischem
                                                                            Bei der zweiten Äußerung dagegen wird mit verall-
Migrationshintergrund beteiligt war. Diese fragwürdige
                                                                        gemeinernden Bewertungen operiert, die in fast jedem
Zuordnung liegt daran, dass es bis 2016 gar keine
                                                                        Wort der Äußerung anklingen: „brutal“, „Regime“, „ras-
eigene Rubrik für dieser Tätergruppe gab.
                                                                        sistisch“, „Apartheid-Israel“, „Genozid“. Diese Stellung-
                                                                        nahme dient nicht dem politischen Diskurs, sondern

                                                                        24
                                                                          „Aktuelle Manifestationen von Antisemitismus: Judenhass zwischen
22
   BMI (Hg.), Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen,   Kontinuität und Wandel";
erstellt vom Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus, 2017,73         Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel (TU Berlin, Institut für Sprache und
(https://bit.ly/2zO0Zz7).                                               Kommunikation), Vortrag in München am 25.7.2018
23
   Zahlen des BMI 2019, https://mediendienst-                           https://www.stmas.bayern.de/imperia/md/content/stmas/stmas_inet
integration.de/desintegration/antisemitismus.html.                      /1905_manifestationenantisemitismus.pdf.

                                                                                                                                           7
Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

stellt Israel als Unrechtssystem mit dem Ziel dar, den            tisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch
Staat zu delegitimieren und zu dämonisieren.                      das Gegenteil.“25
    Bei der Unterscheidung hat es sich bewährt, genau
auf solche Intentionen zu achten. Der frühere Leiter der     4.3 Drei Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus
Jewish Agency Natan Sharansky hat dazu einen 3-D-            4.3.1 Die Hetze gegen Israel im Internet
Test vorgeschlagen: Zielt eine Handlung oder eine Äu-        Monika Schwarz-Friesel fasst das Ergebnis ihrer Unter-
ßerung darauf, den Staat Israel                              suchung „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des
 zu dämonisieren, also ihm z.B. Praktiken des natio-        Hasses“26 so zusammen: „Wir haben festgestellt, dass
     nalsozialistischen Staates zu unterstellen oder ihm     das Web insgesamt der Hauptmultiplikator heute für
     vorzuwerfen, er betreibe Völkermord („Kindermör-        Antisemitismus in unserer Gesellschaft ist.“
     der Israel“),
 zu delegitimieren, ihm also das Existenzrecht als
     jüdischer Staat zu bestreiten oder ihn durch einen
     palästinensisch-arabisch dominierten Staat zu er-
     setzen,
 mit doppelten Standards zu messen, d.h. ihn etwa
     im Blick auf Menschenrechtsverletzungen anders
     zu beurteilen als andere Staaten?
 Ein weiteres Kriterium: Wird an klassische antise-
     mitische Ressentiments und Stereotype ange-
     knüpft?

4.2 Woher kommt das Bedürfnis nach „Israelkritik“?
Man kann drei Hauptmotive unterscheiden, die immer
wieder von „Israelkritikern“ angeführt werden oder
mitzudenken sind:
    Motiv 1: „’Wir’ haben aus der Vergangenheit gelernt,
während die Opfer respektive deren Kinder, die es doch
aus eigener leidvoller Erfahrung besser wissen müssten,
jetzt ‚unsere’ Methoden anwenden. Die Opfer von da-
mals sind die Täter von heute.“                              Abbildung: Die Welt 27.10.201727
    Motiv 2: „’Gerade wir als Deutsche’ sind aufgrund
‚unserer Vergangenheit’ in besonderem Maße ver-              Sie hat Tausende von Webseiten untersucht und dabei
pflichtet, die Stimme zu erheben, wenn Menschenrech-         insbesondere auch den israelbezogenen Antisemitis-
te verletzt werden.“                                         mus beobachtet. Dabei fällt auf, dass ein „Transfer von
    Motiv 3: Juden sind im kollektiven Gedächtnis Deut-      tradierten antisemitischen Konzeptualisierungen und
scher als millionenfache wehrlose Opfer präsent. Dieses      Sprachgebrauchsmustern auf die aktuelle Projektions-
Bild verträgt sich nicht mit dem, was Israel aus der Ge-     fläche ‚Israel’“ stattfindet28. Israelbezogener Antisemi-
schichte der Shoah gelernt hat: Nie wieder soll es einen     tismus sei „in der Tendenz auf dem Weg, ein ‚politisch
Holocaust an Juden geben! Sicherheit steht an erster         korrekter Antisemitismus’ zu werden, da gerade diese
Stelle der Politik. Dieser Widerspruch führt unterschwel-    Form des Judenhasses massiv geleugnet, marginalisiert
lig zu der Einstellung: Einen wehrhaften jüdischen           und umgedeutet wird.“ Insofern zeige sich hier ein
Staat, der sich mit militärischen Mitteln gegen Angriffe     Grundphänomen: „Im Laufe der Jahrhunderte hat das
verteidigt, darf es nicht geben.                             ‚Chamäleon Judenhass’ sich stets den sozial-politischen
    Fazit: Der israelbezogene Antisemitismus ist auch        Gegebenheiten und gesellschaftlichen Normen ange-
ein Resultat einer psychosozialen Entlastungsstrategie
von der Verantwortung für die deutsche Geschichte.           25
                                                                https://www.welt.de/welt_print/article2125908/Antisemitismus-
Henryk M. Broder hat dies in einer zugespitzten Form         ohne-Antisemiten.html.
im Juni 2008 bei einer Anhörung vor dem Innenaus-            26
                                                                Zitat bei einer Pressekonferenz 2018
schuss des Deutschen Bundestages so zusammenge-              https://www.deutschlandfunk.de/studie-der-tu-berlin-
                                                             antisemitismus-im-internet-
fasst:                                                       waechst.691.de.html?dram:article_id=423244; Kurzfassung der Studie
    „Der moderne Antisemit findet den ordinären Antise-      https://www.linguistik.tu-berlin.de/fileadmin/fg72/Antisemitismus_2-
    mitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbe-       0_kurz.pdf. Vgl. auch Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet
    fangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglich-       Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin
                                                             2019.
    keit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten   27
                                                                Alan Posener, Judenhass auf Facebook? Die „Tagesschau“ versagt;
    Form auszuleben. Der moderne Antisemit verehrt Ju-       https://www.welt.de/politik/deutschland/article170103257/Judenhas
    den, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber leben-   s-auf-Facebook-Die-Tagesschau-versagt.html.
                                                             28
    den Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Der An-      Langfassung der Studie, 33f. Beispiel aus: Alan Posener in der Welt
                                                             vom 27.10.2017: „Judenhass auf Facebook? Die „Tagesschau“ ver-
                                                             sagt“.

                                                                                                                                 8
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

passt, um ohne Bruch und ohne Zweifel das zugrunde-                       3.2.3 Die BDS-Bewegung
liegende Glaubens- und Weltdeutungssystem aufrecht                        Gründung und Ziele
zu erhalten und der jeweils neuen Situation anpassen                      Die Kampagne Boycott, Divestment, Sanctions (BDS) ist
zu können.“                                                               eine transnationale politische Kampagne, die Israel
                                                                          wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um
4.3.2 Die „double standards“ der Vereinten Nationen                       ihre 2005 beschlossenen Ziele durchzusetzen. Boykott-
Kein Land der Welt wird so häufig von den Vereinten                       aufrufe gegen Juden, später gegen Israel gibt es seit
Nationen und ihren Unterorganisationen verurteilt wie                     1890, die Parole „Kauft nicht bei Juden“ im nationalso-
Israel. Im Mittelpunkt dieser Verurteilungen stehen die                   zialistischen Deutschland leitete die Entrechtung der
Siedlungen in der Westbank, aber auch angebliche                          Juden ein. Im Juli 2004 riefen palästinensische Intellek-
Menschen- und Völkerrechtsverletzungen in Israel und                      tuelle einen organisierten akademischen und kulturel-
der Westbank. Warum agiert die UN so? Beim Beschluss                      len Boykott Israels aus. Am 9. Juli 2005 gaben 171 paläs-
der UN 1947, das Land in einen jüdischen und einen                        tinensische Organisationen den Gründungsaufruf der
arabischen Teil aufzuteilen, gab es 56 Mitgliedsstaaten                   BDS-Kampagne heraus31. Unter den Gründungsmitglie-
der UNO. Zwei Drittel einschließlich der UdSSR votier-                    dern der „palästinensischen Zivilgesellschaft“ steht an
ten für die Aufteilung (Resolution 181). Damit erhielt                    erster Stelle der „Council of National and Islamic Forces
der Beschluss völkerrechtliche Gültigkeit. 1975 hatte                     in Palestine“ – Mitglieder des Councils sind u.a. die
die UN 144 Mitglieder, darunter viele neue blockfreie                     Islamic Resistance Movement (Hamas), die Popular
und islamische Staaten. In allen Gremien der UN kann                      Front for the Liberation of Palestine (PFLP) und der
Israel seither keine Mehrheiten mehr bei Abstimmun-                       Islamic Jihad Movement in Palestine (PIJ) sowie weitere
gen für sich gewinnen und wird daher permanent an-                        Bewegungen, die allesamt das Ziel der gewaltsamen
geklagt. Im Hauptausschuss der UN-Generalversamm-                         Vernichtung Israels verfolgen32.
lung wurden in der Zeit von 2012-2018 145 von 174                         Die Ziele der BDS-Bewegung sind: Israel soll solange
Verurteilungen gegen Israel ausgesprochen, im Men-                        boykottiert werden, bis es
schenrechtsausschuss erfolgten 2006-2016 68 Verurtei-                          „1) die Besetzung und Kolonisation allen arabischen
lungen gegen Israel, 67 für den Rest der Welt; Staaten                        Landes beendet und die Mauer abreißt;
mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen wur-                               2) das Grundrecht der arabisch-palästinensischen
den nicht einmal erwähnt. Bei der UNESCO kommt es                             BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt;
durchschnittlich zu 10 Verurteilungen Israels pro Jahr29.                     und
Was Israel angeht, können die UN spätestens seit 1975                          3) die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre
nicht mehr als neutrale Wahrer und Garanten des Völ-                          Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es
kerrechts und der Menschenrechte betrachtet wer-                              in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert,
den.30                                                                        schützt und fördert.“33
                                                                          Das erste Ziel bezeichnet Israel als Kolonialmacht nicht
                                                                          nur der nach dem 6-Tage-Krieg besetzten Westbank,
                                                                          sondern allen (!) arabischen Landes, also auch des völ-
                                                                          kerrechtlich gültig von den UN für einen jüdischen
                                                                          Staat beschlossenen Territoriums. Damit strebt der BDS
                                                                          die Beseitigung Israel als jüdischen Nationalstaat und
                                                                          seine Ersetzung durch ein arabisches Palästina an.
                                                                              Das zweite Ziel verkennt, dass israelischen Arabern
                                                                          in Israel durch 12 Grundgesetze die gleichen Rechte wie
                                                                          für alle anderen Staatsbürger garantiert werden. Arabi-
                                                                          sche Israelis unterliegen nur nicht der Wehrpflicht –
                                                                          können aber freiwillig im Militär dienen. Dass es partiel-
                                                                          le Benachteiligungen und Diskriminierungen in Israel
                                                                          gibt (wo nicht?), ändert nichts an der rechtlichen
                                                                          Gleichstellung, die eingeklagt werden kann.
                                                                          31
                                                                             http://bds-kampagne.de/wp-
                                                                          content/uploads/2005/07/050709_Internationaler-Aufruf-der-
                                                                          palästinensischen-Zivilgesellschaft-zu-BDS.pdf.
                                                                          32
                                                                             Interessant ist, dass die Fatah, die größte palästinensische Bewe-
                                                                          gung, aus dem Bündnis Palestinian National and Islamic Forces we-
                                                                          gen Kollaboration mit dem Feind ausgeschlossen wurde.
                                                                          33
                                                                             Englisches Original: 1. Ending its occupation and colonization of all
                                                                          Arab lands and dismantling the Wall
29
   Vgl. die ausführliche Darstellung bei Alex Feuerherdt/Florian Markl,   2. Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens
Vereinte Nationen gegen Israel. Wie die UNO den jüdischen Staat           of Israel to full equality; and
delegitimiert, Berlin 2018.                                               3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian
30
   Beispiel von Hillel Neuer, https://www.trtworld.com/middle-east/in-    refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN
2018-israel-became-the-most-condemned-nation-at-the-un-22899.             resolution 194. https://www.bdsmovement.net/call.

                                                                                                                                                9
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

    Das dritte Ziel betrifft das angebliche Rückkehrrecht             scher Theologen aus dem Jahr 1985 an, die vom Antira-
von Flüchtlingen, die seit 1948 von einer eigens für sie              ssismusprogramm des Weltkirchenrates unterstützt
geschaffenen UN-Organisation – der UNWRA – betreut                    wurde und weltweit breit rezipiert wurde38. Israel wird
werden; im Unterschied zu allen anderen Flüchtlingen                  in dem Kairos-Palästina-Dokument indirekt mit dem
auf der Welt wird der Flüchtlingsstatus von Generation                südafrikanischen Apartheidstaat gleichgesetzt und mit
zu Generation weitervererbt, so dass die Zahl von                     Berufung auf den Gründungsaufruf der BDS-Bewegung
„Flüchtlingen“ nach UNWRA-Angaben auf inzwischen                      gefordert, „endlich ein System wirtschaftlicher Sanktio-
5,4 Millionen angewachsen ist. Zusammen mit den ca.                   nen und Boykottmaßnahmen gegen Israel einzulei-
2,7 Millionen Palästinensern in der Westbank und den                  ten“39. Trotz massiver Kritik an dem Text des Kairos-
arabischen Israelis (1,9 Millionen) ergibt sich eine Ge-              Dokuments stellten sich in Deutschland eine Reihe von
samtzahl von 9 Millionen Palästinensern. In Israel leben              Institutionen und Solidaritätsgruppen teilweise oder
dagegen 6,7 Millionen Jüdinnen und Juden. Was die                     ganz hinter die als Hilfeaufruf kaschierte Boykottauffor-
Forderung nach Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel                  derung gegen den jüdischen Staat, darunter der Jerusa-
faktisch bedeutet, ist klar: das Ende des jüdischen Staa-             lemsverein des Berliner Missionswerks, die Solidarische
tes.                                                                  Kirche im Rheinland, Brot für die Welt, Pax Christi Inter-
                                                                      national 40 und regionale deutsche Gruppen von Pax
Der Begründer und Promotor Omar Barghouti                             Christi41. Ein „KAIROS Palästina-Solidaritätsnetz“42 wur-
Mitbegründer und Hauptakteur des BDS National                         de unter tatkräftiger Unterstützung des bekannten
Committee (BNC) ist Omar Barghouti. 1946 in Katar                     Theologieprofessors Ulrich Duchrow gegründet und
geboren, hat er 11 Jahre in den USA verbracht und                     vertritt entschieden den Boykottaufruf des Kairos-
einen Masterabschluss in Elektrotechnik erworben. Seit                Dokuments43.
2009 studierte er an der Universität in Tel Aviv, er lebt in
Akko. In seltener Eindeutigkeit formuliert Barghouti die              Widerstand gegen BDS
Ziele von BDS so:                                                     Inzwischen formiert sich gegen die BDS-Bewegung
    “A Jewish state in Palestine in any shape or form can-            auch in Deutschland massiver Widerstand. Am
    not but contravene the basic rights of the indigenous             25.8.2017 fasste der Magistrat der Stadt Frankfurt den
    Palestinian population and perpetuate a system of ra-             Beschluss, der BDS-Kampagne keine öffentlichen Räu-
    cial discrimination that ought to be opposed categori-            me mehr zur Verfügung zu stellen:
    cally. [...] Definitely, most definitely we oppose a Jewish          „Die BDS-Kampagne wählt mit ihrer tief in das Fun-
    state in any part of Palestine. No Palestinian, rational             dament der Legitimation des jüdischen Staates rei-
    Palestinian, not a sell-out Palestinian, will ever accept            chenden Kritik an Israel den Umweg über den Antizio-
    a Jewish state in Palestine.”34                                      nismus, um beim Antisemitismus anzukommen. Die
Barghouti und viele andere Führungspersönlichkeiten                      BDS-Bewegung ist damit eine zutiefst antisemitische
von BDS streben eine Ein-Staaten-Lösung Palästina an,                    Bewegung und soll in der Stadt Frankfurt am Main
in der Palästinenser die Mehrheit haben35 Sie bezeich-                   keinen Raum haben.“44
nen Israel durchgehend als Apartheidstaat, sprechen                   Am 14.12.2017 beschloss auch der Münchener Stadtrat,
ihm eine demokratische Legitimation ab und richten                    die BDS-Kampagne von öffentlichen Räumen auszu-
sich gezielt gegen jeden Zionismus36.                                 schließen und Veranstaltungen nicht zu bezuschussen:
                                                                         „Zentrale Forderungen, Inhalte und Äußerungen aus
Die Rolle des Weltkirchenrates und christlicher Solidari-                offiziellen Publikationen bzw. von Gründern und her-
tätsgruppen
Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich zwar von der                 38
                                                                         https://zeithistorische-
BDS-Bewegung distanziert 37 , befürwortet aber den                    forschungen.de/sites/default/files/medien/Druckausgabe/2016-
                                                                      2/ZF_2_2016_280_301_Justke_Tripp.pdf; und https://zeithistorische-
„Boykott von Gütern und Dienstleistungen aus Sied-                    forschungen.de/2-2016/id%3D5358 .
lungen [...] in den besetzten palästinensischen Gebie-                39
                                                                         https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/other-
ten“. Er solidarisiert sich uneingeschränkt mit dem so                ecumenical-bodies/kairos-palestine-document. Art. 7.1.
                                                                      40
genannten „Kairos-Dokument“ palästinensischer Theo-                      Appell für einen neuen israelisch-palästinensischen Friedenspro-
                                                                      zess: Zeit zur Neuverpflichtung:
logen und Kirchenvertreter, das 2009 unter dem Titel                   http://bds-kampagne.de/2016/12/01/pax-christi-international-
„Die Stunde der Wahrheit: ein Wort des Glaubens, der                  appell-fuer-einen-neuen-israelisch-palaestinensischen-
Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der                  friedensprozess-zeit-zur-neuverpflichtung/.
                                                                      41
Palästinenser“ veröffentlicht wurde. Darin knüpfen die                   Der Bundesverband von Pax Christi hat sich zwar von der BDS-
                                                                      Bewegung distanziert (https://bit.ly/2WeNaRM), befürwortet aber
Verfasser bewusst an die Kairos-Erklärung südafrikani-                einen Boykott von Waren aus Siedlungen in der Westbank. Vgl. Alex
                                                                      Feuerherdt: Pax Christi: Im Namen des Friedens gegen Israel, in:
34
   https://vimeo.com/75201955; 2013 in der Dag Hammerskjöld           mena-watch vom 25.4.2017, https://www.mena-watch.com/mena-
Society; vgl. auch http://archive.is/ZxAa5.                           analysen-beitraege/pax-christi-im-namen-des-friedens-gegen-israel/ .
35                                                                    42
   Vgl. die Nachweise bei http://www.stopbds.com/?page_id=48.            https://kairoseuropa.de/kairos-palaestina-solidaritaetsnetz/ueber-
36
   Zum Zionismus vgl. das Standardwerk von Michael Brenner: Israel.   das-kairos-palaestina-solidaritaetsnetz/.
                                                                      43
Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis      Ausführliche Darstellung bei Sebastian Mohr: Zur Aktualität der
heute, München 2016                                                   Israel-Boykottkampagnen in den deutschen Kirchen, in: Compass
37
   https://www.oikoumene.org/de/press-centre/news/to-media-wcc-       Online-Extra Nr. 265, https://bit.ly/2zP38uj .
                                                                      44
responds-to-false-media-reporting-on-israel-and-bds.                     https://bit.ly/2xpGOGF.

                                                                                                                                        10
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an?

    ausgehobenen Vertretern der Kampagne sind als ein-                  Existenz des Staates Israel schwächen oder gar been-
    deutig antisemitisch zu bewerten.“45                                den wollen“ ab. Sie verweist darauf, dass sich die BDS-
Schließlich folgte auch der Deutsche Bundestag am                       Bewegung nicht „von den Intentionen und Zielen ihrer
17.5.2019 mit einer Entschließung mit dem Titel „Der                    Gründungsfiguren und -organisationen trennen“ lässt
BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Anti-                        und „hält es für inakzeptabel, mit Personen und Organi-
semitismus bekämpfen“:                                                  sationen zu kooperieren, die eine Auflösung Israels
    „Der Deutsche Bundestag verurteilt alle antisemiti-                 anstreben“. Der Diskurs, wie sich die evangelischen
    schen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintli-                Kirchen zur BDS-Bewegung positionieren (werden), ist
    che Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert             der Testfall, wie ernst sie es mit ihrer generellen Ableh-
    werden, tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdi-              nung des Antisemitismus meinen.
    sche Menschen und ihre Religion sind, und wird ihnen
    entschlossen entgegentreten. [...] Der Deutsche Bun-                5. Was tun?
    destag fordert die Bundesregierung auf, keine Veran-                Es kann hier nicht darum gehen, ein Spektrum von
    staltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierun-                    Handlungsmöglichkeiten zu entfalten, mit denen etwa
    gen, die deren Ziele aktiv verfolgen, zu unterstützen.“46           die pädagogisch präventive Arbeit mit Kindern und
In der Folge wandte sich eine Reihe von israelischen                    Jugendlichen unterstützt oder in konkreten Fällen „Ers-
Wissenschaftlern, NGOs und Parteistiftungen gegen die                   te Hilfe“ geleistet werden kann. Derlei Konzepte sind im
Entschließung und behaupteten, nur einzelne Mitglie-                    Netz vielerorts einzusehen:
der von BDS seien antisemitisch, nicht aber die Kam-                     Lena Ohm: Antisemitismus im Klassenzimmer, in:
pagne; zudem verstoße der Beschluss gegen die Mei-                          evangelisch.de, 201951
nungsfreiheit und unterstütze die Politik der rechtsna-                  Amadeu Antonio Stiftung: „Man wird ja wohl Israel
tionalen Regierung Netanjahus. Mit Recht resümiert                          noch kritisieren dürfen...“? Eine pädagogische
dagegen der Israelexperte Alex Feuerherdt:                                  Handreichung zum Umgang mit israelbezogenem
    „Die Zusammenarbeit mit NGOs, die die Existenz des                      Antisemitismus, 201852
    jüdischen Staates bekämpfen, ihn delegitimieren und                  KigA Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus:
    dämonisieren und glauben, Israelis mit Boykotten,                       Widerspruchstoleranz. Ein Methodenhandbuch zu
    Drohungen und Sanktionen begegnen zu müssen, ist                        antisemitismuskritischer Bildungsarbeit, 201753
    ein Friedenshindernis, das beseitigt werden muss.“ 47                Bildungsstätte Anne Frank: Weltbild Antisemitis-
Am 29.2.2020 hat sich auch der Rat der EKD in einer                         mus, 201354
Stellungnahme von Boykottmaßnahmen gegen Israel                          Bundeszentrale für politische Bildung: Antisemi-
distanziert, vermeidet es aber, die BDS-Bewegung ins-                       tismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Ge-
gesamt als antisemitisch zu beurteilen48. Statt dessen                      genwart. Unterrichtsbausteine 1-3, 200855
konstatiert er nur antisemitische „Methoden und Ar-                      Micha Brumlik: „Dass Auschwitz sich nie wiederho-
gumentationsmuster von BDS-Aktivisten und -                                 le...“ Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus,
Aktivistinnen in Deutschland“ und zieht sich auf die                        200856
vermeintlich äquidistante Position einer „doppelten                      Samuel Salzborn/Alexandra Kurth: Antisemitismus
Solidarität mit dem Staat Israel und dem palästinensi-                      in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsper-
schen Volk“ zurück49.                                                       spektiven. Wissenschaftliches Gutachten, 201957
    Klarer und entschiedener ist die Erklärung der Evan-                Gleichwohl sei an die Forderung Theodor W. Adornos
gelischen Kirche im Rheinland vom 26.3.2020 50 , die                    erinnert, die er 1966 in einem Rundfunkbeitrag „Erzie-
zwischen der „Verbundenheit mit dem jüdischen Volk
und dem Staat Israel“ und der „Solidarität mit dem
palästinensischen Volk“ unterscheidet. Grundsätzlich
lehnt die EKiR „Boykottaufrufe oder -aktionen, die die                  51
                                                                           https://www.evangelisch.de/inhalte/157873/17-07-
                                                                        2019/antisemitismus-der-schule-und-im-klassenzimmer-rent-jew ;
45
   https://www.muenchen-transparent.de/dokumente/4760943 .              dort auch weitere Links.
46                                                                      52
   http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/101/1910191.pdf .                https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-
47
   Vgl. zur Einordnung der Reaktionen https://www.mena-                 content/uploads/2018/12/paedagogischer-umgang-mit-
watch.com/mena-analysen-beitraege/hat-der-anti-bds-beschluss-           israelbezogenem-antisemitismus.pdf.
                                                                        53
des-bundestages-aussenpolitische-konsequenzen/.                            http://www.kiga-
48
   https://www.ekd.de/stellungnahme-rat-der-ekd-debatte-bds-            berlin.org/uploads/KIgA_Widerspruchstoleranz_2013.pdf .
                                                                        54
bewegung-53837.htm.                                                        https://www.bs-anne-
49
   Eine ausführliche Kritik der EKD-Stellungnahme trägt Alex Feuer-     frank.de/fileadmin/user_upload/Slider/Publikationen/Broschuere_We
herdt in mena-watch vom 25.3.2020 vor. https://www.mena-                ltbild_Antisemitismus.pdf .
                                                                        55
watch.com/die-evangelische-kirche-und-die-israelboykott-                   https://www.tu-
bewegung-bds-kritik-ohne-konsequenzen/.                                 ber-
50
   Bisher (30.4.2020) ist die Erklärung im Internet nur auf folgender   lin.de/fileadmin/i65/Unterichtsmaterialien_Thema_Antisemitismus/b
Seite verfügbar: https://www.palaestina-portal.eu/Anlagen/BDS-          austeine1-3.pdf .
                                                                        56
Orientierungsthesen%20EKiR%202020-03.pdf. Die Stellungahme hat
unmittelbar wütende Reaktionen palästinensischer Unterstützer aus       http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41277/d
der rheinischen Pfarrerschaft ausgelöst: http://palaestina-             ass-auschwitz-sich-nie-wiederhole-?p=all .
                                                                        57
portal.eu/Anlagen/Erwiderung%20%20zu%20EKiR-                               https://www.tu-
%20BDS%20final.pdf.                                                     berlin.de/fileadmin/i65/Dokumente/Antisemitismus-Schule.pdf .

                                                                                                                                      11
Sie können auch lesen