Antisemitismus - was geht mich das an? - Hartmut Lenhard - Haus kirchlicher ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Hartmut Lenhard Antisemitismus – was geht mich das an? 1. ERKENNEN SIE ANTISEMITISMUS IM ALLTAG? 1 Wechselwirkung mit dem modernen Rassismus entwi- und wissen Sie, wie Sie reagieren könnten? ckelt.“2 Man kann daher den modernen Antisemitismus nicht Ein kleiner Selbsttest vorweg: Sie lesen gleich drei ano- verstehen, wenn man nicht die christliche Geschichte nymisierte, authentische Äußerungen. Nehmen Sie sich des Antijudaismus in den Blick nimmt. Daher sollen im einen Augenblick Zeit für die aufmerksame Lektüre und Folgenden einige Blitzlichter auf diese Geschichte ge- überlegen Sie, ob Sie die Äußerung für antisemitisch worfen werden. halten oder nicht. Am besten wäre es, wenn Sie eine kurze Begründung für Ihre Entscheidung aufschreiben. 2.1 Ausgangspunkte Judenfeindschaft hat eine lange Tradition, deren Wur- Situation 1: zeln bis weit in die Antike zurückreichen und nicht erst Bemerkung eines Filmproduzenten in Hamburg: mit dem Christentum begonnen haben. Schon bei Taci- „Besonders schlimm finde ich, dass offenbar die tus (*um 58 n.Chr., gest. um 120) heißt es, dass Juden Juden, die ja Opfer der Nazis waren und selbst das „den Göttern verhasst“ seien und ihre Riten „im Gegen- Schlimmste erfahren mussten, jetzt genauso gegen satz zu denen aller anderen Religionen“ stehen. „Weil die Palästinenser vorgehen, wie man damals gegen sie in Treue fest zueinander stehen, üben sie bei sich die Juden vorging.“ selbst Mitleid, aber feindseligen Hass gegenüber allen anderen.“ (Tacitus, Hist V,4-5). Situation 2: Vielfach wird in der bibelwissenschaftlichen Theo- Eine Lehrkraft in Frankfurt am Main: „Ich habe na- logie die Auffassung vertreten, dass sich eine ähnliche türlich nichts gegen Juden , die sind für mich ganz antijüdische Grundeinstellung bereits im Neuen Testa- normale Menschen wie alle anderen. Aber das, was ment nachweisen lasse. Eine Reihe von Schriften sehen in Israel passiert, kann ich als Menschenrechtlerin sich dem Vorwurf ausgesetzt, hier werde bereits die einfach nicht hinnehmen.“ Grundlage für den späteren kirchlichen Antijudaismus gelegt. Zweifellos wurden neutestamentliche Bibelver- Situation 3: se in der Rezeptionsgeschichte als Belege für eine ju- Aus einem Gespräch über den Holocaust mit meh- denfeindliche Einstellung gewertet und entsprechend reren Gästen einer Abendgesellschaft in einem an- interpretiert, so beispielsweise in den »Wutchören« in gesehenen Club in Hamburg: „Wir können doch den Passionsmusiken Johann Sebastian Bachs. Ich gehe nicht nach vorne schauen, wenn wir immer wieder hier mit Klaus Wengst jedoch davon aus, dass die in- nur über die Vergangenheit reden müssen – das kriminierten neutestamentlichen Schriften einen inner- muss doch irgendwie mal zur Ruhe kommen .“ jüdischen Streit spiegeln, der zwar scharfe Auseinan- dersetzungen enthält, aber nicht als „Antijudaismus“ Wie haben Sie entschieden? Wenn Sie Ihre Antworten interpretiert werden kann.3 Daher gehören sie in die mit begründeten Stellungnahmen von Experten ver- Vorgeschichte des Antisemitismus. gleichen wollen, rufen Sie doch einfach die Seite https://www.stopantisemitismus.de auf. 2.2 Die Vorgeschichte Die ersten Messiasgläubigen waren Jüdinnen und Ju- 2. ANTISEMITISMUS – EIN RÜCKBLICK den. Sie gehörten zur jüdischen Synagogengemeinde, oder: Einige Stationen auf dem Weg zur Shoah aber sie waren davon überzeugt, dass Gott den hinge- richteten Jesus von Nazareth auferweckt hatte. Für sie Voranstellen möchte ich eine wohl begründete These war deshalb Jesus der Messias, der Christos, der Gesalb- der Leiterin des jüdischen Museums in Frankfurt Mirjam te. Mit diesem Bekenntnis gerieten sie in Konflikt mit Wenzel: ihren jüdischen Glaubensgeschwistern. Auch der tor- „Judenfeindschaft ist eine historische Konstante und ahkundige Pharisäer Saulus vertrat den biblischen sie äußert sich verschieden. Der moderne [westliche] Grundsatz „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.“ (Dtn Antisemitismus ist eine Transformation des christlich 21,23, zit. in Gal 3,13) und er betrachtete die Predigt geprägten Judenhasses und hat sich in einer gewissen 2 https://bit.ly/3f8DWim . 3 Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. Neuausgabe in einem Band, 3. Auflage Stuttgart 2019; Mirjams Sohn – Gottes Gesalbter. Mit 1 Erstveröffentlichung: Braunschweiger Beiträge zur Religionspäda- den vier Evangelien Jesus entdecken, Gütersloh 2016; „Freut euch, ihr gogik, Heft 157-2/2019, S. 17-30. Der Text wurde aktualisiert. Alle Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – Internetlinks wurden überprüft am 30.4.2020. ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart 2008.
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? von dem gekreuzigten Christos als Ärgernis (1 Kor 1,23). die rasante Ausbreitung der an Jesus als den Messias Das eigentliche Motiv seines Angriffs auf die Messias- Glaubenden in der heidnischen Welt eine große Rolle. gläubigen dürfte indes deren Lebensweise gewesen Spuren von dieser allmählichen Trennung, die bis in das sein. Der „Eiferer für die Torah“ (Gal 1,14) Saulus be- zweite Jahrhundert andauerte, finden sich in den Evan- stand strikt auf der Einhaltung der besonderen Le- gelien. Die Schreiber der Evangelien formulierten ihr bensweise, die Juden von den Völkern unterschied. Er Bekenntnis zu Jesus, dem von Gott auferweckten Mes- verfolgte daher die Messiasgläubigen in den umliegen- sias, jeweils für konkrete Gemeinden im römischen den Regionen und belegte sie mit Synagogenstrafen Imperium, die unterschiedliche Herausforderungen zu (39 Hiebe). bestehen hatten. Sie setzten sich auf Schritt und Tritt Nach seiner Berufung zum Apostel wurde Paulus mit der Frage auseinander, wie dieses Bekenntnis aus selbst von anderen Juden, aber auch von jüdischen der Schrift (dem ersten – „Alten“ – Testament) zu be- Messiasgläubigen wie dem Herrenbruder Jakobus in gründen und angesichts der theologischen Gegenar- Jerusalem heftig angegriffen, weil er den heidnischen gumente von jüdischer Seite aus zu rechtfertigen sei. Völkern Jesus als den Christos, den Gesalbten, verkün- Dabei nahm die Schärfe der – immer noch – innerjüdi- digte und sie nicht zur Beschneidung verpflichtete. Er schen Auseinandersetzung zu (vgl. Mt 27,25; Lk berichtet in 2 Kor 11,24: „Von den jüdischen Behörden 20,13ff.). Am schärfsten, aber zugleich auch bewusst habe ich fünfmal die Strafe der 39 Hiebe erhalten, widersprüchlich formuliert der Evangelist Johannes: dreimal wurde ich mit Stöcken geschlagen, einmal Während Jesus in 4,22 betont: „Das Heil kommt von gesteinigt [...].“ den Juden.“, wirft er seinen jüdischen Gesprächspart- Manche der messiasgläubigen Gruppen in Judäa, nern in 8,43f. vor: „Warum versteht ihr meine Rede Kleinasien und Griechenland distanzierten sich – viel- nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr habt leicht wegen der ablehnenden Haltung – von der syna- den Teufel zum Vater, und ihr wollt tun, was er be- gogalen Gemeinschaft, versammelten sich nebenher in gehrt.“ – ein Urteil mit weitreichenden Folgen! Privathäusern und nahmen dort auch das gemeinsame Bereits im 2. Jahrhundert vertraten christliche Theo- „Herrenmahl“ ein (1 Kor 11,20). Schon in seinem ersten logen die These, dass die christliche Kirche an die Stelle Brief (1 Thess 2,15f., geschrieben etwa um 50) erklärt der Juden getreten sei (Enterbungstheorie, bereits im sich Paulus die ablehnende Haltung der Juden aus der Barnabasbrief, ca. 130 n.Chr.). Mit Christus seien die Synagoge folgendermaßen: „Die Juden haben den Verheißungen in Erfüllung gegangen, damit sei die Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns Erwählung Israels und der Bund Gottes mit Israel wider- verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen rufen, das Volk Israel verworfen. Die Zerstörung des feind, weil sie uns daran hindern, den Völkern das Wort Tempels und die Zerstreuung der Juden in der Diaspora zu verkündigen, das ihnen Rettung brächte.“ Paulus war für sie die Strafe Gottes für die Ablehnung des Messi- greift damit nicht nur auf die biblische Denkfigur der as Jesus. Der Apologet Justin (+ 165 in Rom) behauptete Verfolgung und Tötung von Propheten zurück, sondern in seiner Schrift „Dialog mit dem Juden Tryphon“, dass nimmt auch die in der antiken Umwelt verbreiteten Israel den Alten Bund durch sündiges Verhalten ver- Urteile über Juden auf. Dieses scharfe Urteil war indes spielt habe und die an Christus Glaubenden von Gott nicht das letzte Wort des Paulus. Vielmehr ringt er in auserwählt und zu einem Neuen Bund berufen seien seinem letzten Brief (Röm 9-11) um eine Neubestim- (Dialogus 119; 122). Der Kirchenvater Cyprian (+258) mung des Verhältnisses zwischen dem Volk Israel und formulierte schließlich die theologische Maxime, die in den Christusgläubigen. An seine Glaubensgeschwister den folgenden Jahrhunderte das Verhältnis der Kirche richtet er die Mahnung: „Nicht du trägst die Wurzel, zu den Juden bestimmte: „Extra ecclesiam nulla salus!“4 sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11,18) und bekräf- (Außerhalb der Kirche kein Heil! ep. 73,2). tigt, dass die Juden nach wie vor „das Recht der Kind- schaft und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und 2.4 Von der konstantinischen Wende zum Mittelalter die Gabe der Torah und die Gottesdienstordnung [für Seit der „konstantinischen Wende“ im 4. Jahrhundert den Tempel] und die Verheißungen und die Väter ha- trat an die Stelle der alten religiösen Kulte das Christen- ben“ (Röm 9, 3-5). tum. Zunächst wurde das Christentum durch Konstan- tin privilegiert, dann Staatsreligion (380 n. Chr.) und die 2.3 Die beiden Wege jüdischen Gemeinden wurden als Minderheit mehr und 15 Jahre später ist alles anders: Die Zerstörung des mehr an den Rand gedrängt, verachtet und ausge- Jerusalemer Tempels durch den römischen Feldherr grenzt. Titus war die Katastrophe in der Geschichte des Juden- Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte tums, deren Folgen letztlich bis heute andauern. Zu- des Mittelalters war der Aufruf zum Kreuzzug gegen die nächst in Jabne, später in Galiläa entwickelte sich das Muslime durch Papst Urban II (1095). Zwar war Jerusa- rabbinische Judentum, das sich um die Torah sammelte lem schon 634/635 von Kalif Omar I erobert worden, und um die Auslegung der heiligen Schriften bemühte. aber erst Kalif Al-Hakim begann 1008 eine Christen(und Aber es war auch der Zeitpunkt, von dem an die Wege Juden-)verfolgung, während der auch das Heilige Grab der messiasgläubigen Gemeinden und der jüdischen Synagoge allmählich auseinander gingen. Dabei spielte 4 Im Original: „Extra ecclesiam salus non est.“ 2
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? in der Grabeskirche, das bedeutendste Heiligtum der Daher sprach er sich in seiner 1523 erschienenen Schrift Christenheit, zerstört wurde – ein Ereignis, das ein bis „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ entschie- ins Abendland reichendes Entsetzen und eine unge- den dafür aus, „christlicher Liebe Gesetz an ihnen zu ahnte Welle der Empörung auslöste. Im Jahr 1099 wur- üben und sie freundlich anzunehmen, mit Gewähren- de Jerusalem von den Kreuzrittern erobert, aber auf lassen, (Er-)werben und Arbeiten“7. dem Weg zum Kampf gegen die „Ungläubigen“ in das Schon drei Jahre später muss Luther feststellen, dass Heilige Land entdeckten die Kreuzfahrer auch die „Un- die Juden „schlechterdings nicht zu bekehren sind. Da gläubigen“ im eigenen Land: die Juden. Es kam zu den ist alle Predigt verloren, alles Vermahnen, Drohen, Sin- ersten antijüdischen Pogromen in verschiedenen Län- gen und Sagen“ 8 . Luthers Judenfeindschaft steigert dern, so in Frankreich, aber auch u.a. in Worms, Speyer, sich, bis er 1543 die Schriften „Von den Juden und ihren Mainz und Bamberg. Tausende Juden wurden von den Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras“ veröffentlicht9. wütenden Horden wahllos ermordet. Die Saat der Darin wirft er den Juden vor, sie seien „gewisslich mit christlichen Judenfeindschaft und -verachtung ging allen Teufeln besessen“ und von Gott verworfen und erschreckend auf. Es waren im Mittelalter vor allem drei verdammt. Er fordert in sieben „Ratschlägen“ von den religiöse Ressentiments, die dabei eine Rolle spielten: Landesfürsten, eine „scharfe Barmherzigkeit zu üben, Seit dem 4. Laterankonzil 1215 galt die Transsub- ob wir doch etliche aus der Flamme und Glut erretten stantiationslehre – die reale Wesensverwandlung könnten“. Im einzelnen soll man von Brot und Wein in Leib und Blut Christi – als (1) ihre Synagogen und Schulen niederbrennen, rechtgläubig. Man unterstellte den Juden, sie wür- „dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon den geweihte Hostien stehlen und diese – weil sie sehe ewiglich.“10 Leib Christi seien – mit Messern durchbohren, um (2) ihre Häuser zerstören und sie wie Zigeuner in Christus noch einmal zu töten („Hostienfrevel“). Ställen und Scheunen wohnen lassen, Juden wurde der Ritualmord an christlichen Jun- (3) ihnen ihre Gebetbücher und Talmudim weg- gen vorgeworfen: Sie fingen und schlachteten nehmen, die ohnehin nur Abgötterei lehrten, Christenkinder, fingen das Blut auf, um Mazzen (4) ihren Rabbinern das Lehren bei Androhung der beim Pessach zuzubereiten und um verschiedene Todesstrafe verbieten, magische Praktiken auszuführen. (5) ihnen das freie Geleit und Wegerecht entziehen, Die Angriffe gegen Juden gipfelten in dem Vor- (6) ihnen das „Wuchern“ (Geldgeschäft) verbieten, wurf des Gottesmordes, der durchgehend ein Ste- all ihr Bargeld und ihren Schmuck einziehen und reotyp christlicher Theologie war. verwahren, denn sie haben alles durch ihren Wu- Daneben, aber gleich wirksam waren sozial und cher gestohlen, ökonomisch bedingte Ressentiments, die darauf (7) den jungen kräftigen Juden und Jüdinnen Werk- beruhten, dass Juden in bestimmte Berufe – etwa zeuge für körperliche Arbeit geben und sie ihr Brot den des Geldverleihers und des Viehhändlers – verdienen lassen. abgedrängt waren und sich aus der Sicht der Be- Wohlgemerkt: Luther befürwortet an keiner Stelle den troffenen deren Notlagen zunutze machen. Mord oder die Ausrottung von Juden, sondern emp- Schließlich wurden Juden für die grassierenden fiehlt den Landesherren im Sinne eines intakten corpus Pestepidemien haftbar gemacht, indem ihnen die christianum deren Vertreibung. Er nimmt allerdings Vergiftung von Brunnen unterstellt wurde. billigend die Tötung von Juden in Kauf, wenn er fordert, Symbolischen Ausdruck der Überlegenheit der christli- dass das freie Geleit aufzuheben sei. Dies bedeutet, chen Kirche gegenüber der jüdischen Religion bildeten dass Juden getötet werden konnten – ohne dass der die vielerorts an Kirchen angebrachten Statuen der Täter Strafverfolgung befürchten musste. Ecclesia und der Synagoga (etwa am Straßburger Gleichwohl konnten sich die Nationalsozialisten mit Münster um 1230). Recht auf die Vorschläge Luthers berufen, als sie ihre antisemitische Rassenpolitik ins Werk zu setzen began- 2.5 Martin Luther und der „Geburtsfehler des Protes- nen. Auch wenn sich gegen Luthers obszöne Polemik tantismus“ 5 vor allem in der Schrift „Vom Schem Hamphoras“ evan- Ein weiterer Meilenstein der Judenfeindschaft waren gelische Zeitgenossen wie der Zürcher Reformator die Schriften Martin Luthers. „Das Judentum als solches Heinrich Bullinger und der deutsche Reformator Andre- war für ihn in keiner Lebensphase eine tolerable Religi- as Osiander wandten und es eine ansehnliche Verbrei- on; er bewertete es als heilsgeschichtlich definitiv tung seiner menschenverachtenden Hetzpublizistik der überholt, gleichsam als einen wandelnden Leichnam.“6 1540er Jahre vor der Zeit des Dritten Reiches nicht ge- Zunächst hegte Luther die Hoffnung, dass die neue geben hat, wurde die Grundeinstellung Luthers zu den Entdeckung der befreienden Kraft des Evangeliums so Juden in weiten Kreisen des Protestantismus geteilt. überzeugend wirken werde, dass „etliche“ Juden sich Christus zuwenden und sich zu ihm bekehren würden. 7 WA 11, 336,30-37. 8 Auslegung von Psalm 109, WA 19,606,20–22. 9 WA 53, 412-552; 573-648. Digital unter 5 Vgl. Klaus Wengst, http://www.imdialog.org/bp2014/03/wengst.pdf. https://archive.org/details/werkekritischege53luthuoft. 6 10 Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014, 172. WA 653, 522-526. 3
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? Das gilt auch für die Zeit des Pietismus, der bewusst an zialisten und nationalsozialistische Theologen die erste Schrift Luthers von 1523 anknüpfte, aber da- Stoeckers Antisemitismus auf und feierten ihn als ihren mit – wie Luther – die Hoffnung auf die Bekehrung der Vorläufer und Wegbereiter, ebenso wie Luther nun zum Juden zu Jesus Christus verband und deren Missionie- Gewährsmann der Rassenpolitik des NS-Regimes avan- rung anstrebte. cierte. Allen voran veröffentlichte der thüringische Landesbischof Martin Sasse unmittelbar nach der 2.6 Säkularer Antisemitismus im 19. Jahrhundert Reichspogromnacht 1938 eine Auswahl aus Luthers Trotz der rechtlichen Emanzipation der Juden in Mittel- Judenschrift von 1543 unter dem Titel „Martin Luther. europa in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Über die Juden: Weg mit ihnen!“ Im Vorwort schreibt er: Judenfeindschaft immer stärker. Der Grund war der „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, wachsende Nationalismus, der sich der aufkommenden brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deut- biologistischen Rassentheorien bediente und die tradi- schen Volke wird zur Sühne für die Ermordung des Ge- tionelle christliche Judenverachtung und -feindschaft sandtschaftsrates vom Rath durch Judenhand die als Wurzelgrund voraussetzte. 1879 gilt als Geburtsjahr Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiete im neu- des „modernen“ säkularen Antisemitismus, in dem sich en Deutschland endgültig gebrochen und damit der deutschnationale, antiliberale, antikapitalistische und gottgesegnete Kampf des Führers zur völligen Befrei- rassistische Motive verknüpften und im Bürgertum ung unseres Volkes gekrönt. [...] In dieser Stunde muss reichsweit gesellschaftsfähig wurden. In diesem Jahr die Stimme des Mannes gehört werden, der als der veröffentlichte der Journalist Wilhelm Marr (1819-1904) Deutsche Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis seine Kampfschrift „Der Sieg des Judentums über das einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von Germanenthum von einem nicht confessionellen seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und Standpunkt aus betrachtet“ (bis Jahresende 12 Aufla- der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit gen!)11. Marr wandte sich gegen den bisherigen theolo- geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Ju- gischen Antijudaismus und plädierte für eine histori- den.“13 sche und rationale Begründung des Antisemitismus. Noch vor Beginn des Krieges wurde am 6. Mai 1939 mit Zudem gründete Marr in diesem Jahr die erste antise- einem Festakt auf der Wartburg bei Eisenach unter mitische politische Vereinigung des deutschen Kaiser- Anwesenheit zahlreicher kirchlicher und theologischer reichs, die Antisemitenliga. Honoratioren das „Institut zur Erforschung und Beseiti- Dabei stand er durchaus im Einklang mit dem ein- gung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchli- flussreichen Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909), che Leben“ gegründet. Die wissenschaftliche Leitung der 1879 mit einer Rede „Unsere Forderungen an das hatte Walter Grundmann, Professor für Völkische Theo- Judentum“ verlangte, den vermeintlichen Einfluss des logie und Neues Testament an der Universität Jena, Judentums auf Wirtschaft, Politik und Kultur radikal zu inne. Anfang 1940 erschien ein „entjudetes“ Neues begrenzen. Stoeckers politische Forderungen basierten Testament: „Die Botschaft Gottes“; im Juni 1941 veröf- auf einer theologischen Bewertung des Judentums: fentlichte das Institut ein „entjudetes“ Gesangbuch: „Das orthodoxe Judentum, diese Verknöcherung des „Großer Gott wir loben dich“14. Gesetzes, das Alte Testament ohne Tempel, ohne Pries- Zwar gab es in der evangelischen Kirchen Einzelne ter, ohne Opfer, ohne Messias, hat für die Kinder des wie etwa den Theologen Dietrich Bonhoeffer oder die neunzehnten Jahrhunderts weder Anziehungskraft Lehrerin Elisabeth Schmidt, die gegen die Entrechtung noch Gefahren. Es ist eine im innersten Kern abgestor- und Ermordung von Juden Widerstand leisteten, aber bene Religionsform, eine untere Stufe der Offenbarung, insgesamt haben die Kirchen in der EKD-Synode in ein überlebter Geist, noch immer ehrwürdig, aber durch Berlin Weißensee 1950 bekennen müssen: „Wir spre- Christum aufgehoben und für die Gegenwart keine chen es aus, dass wir durch Unterlassen und Schweigen Wahrheit mehr.[...] Eben das ist ihr Verhängniß, daß sie, vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig gewor- an Christo gescheitert, ihren göttlichen Curs verloren, den sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres ihre hohe Mission preisgegeben haben und [...] den Volkes an den Juden begangen worden ist. Wir bitten Götzen des Goldes nachlaufen, weil sie die Wege Gottes alle Christen, sich von jedem Antisemitismus loszusa- versäumt haben.“12 gen und ihm, wo er sich neu regt, mit Ernst zu wider- stehen und den Juden und Judenchristen in brüderli- 2.7 Der Weg in die Shoah chem Geist zu begegnen.“ Stoeckers Einfluss auf den deutschnational geprägten Protestantismus kann nicht überschätzt werden, zumal seit dem Ende des 19.Jahrhunderts auch die juden- feindlichen Schriften Luthers wiederentdeckt und pu- bliziert wurden. Nicht von ungefähr griffen Nationalso- 13 Faksimile unter https://www.flickr.com/photos/pelegrino/28274984029/in/photostre 11 Online unter https://www.gehove.de/antisem/texte/marr_sieg.pdf . am/. 12 14 Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin, Berlin Unterrichtsmaterialien zum Antisemitismus in der NS-Zeit in: Oliver 1880, Arnhold/Hartmut Lenhard: Kirche ohne Juden., Christlicher Antisemi- https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stoecker_Zwei_Reden.djvu. tismus 1933-1945, Göttingen 2015. 4
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? 2.8 Was folgt daraus? Der Staat Israel taucht im Text als zentraler Fokus Mit Recht fasst die Evangelische Kirche die Erkenntnis des aktuellen Antisemitismus nicht auf (nur in den aus der 2000 Jahre alten Geschichte der christlichen Beispielen). Judenfeindschaft theologisch so zusammen: „Antisemi- Es fehlt eine differenzierte Typologie der Erschei- tismus ist Gotteslästerung.“15 Diese Geschichte muss ein nungsformen, etwa religiöser, sozialer, politischer, für alle Mal beendet werden und darf sich nie wieder- kultureller, nationalistischer oder rassistischer Anti- holen. Hinter diese durch die Shoah provozierte Ein- semitismus. sicht können die christliche Theologie und die Kirchen Vor allem fehlt die Einsicht, dass Judenfeindschaft nicht zurück. Die Neubesinnung auf das besondere ein im Kern irrationales, sozial wirksames Ressenti- Verhältnis zwischen Christen und Juden geht davon ment ist, das durch äußere Bedingungen, psycho- aus, dass gemäß Röm 9,3-5 gilt, dass die Juden nach logische Faktoren und Sozialisationseinflüsse rati- wie vor „das Recht der Kindschaft und die Herrlichkeit onal nicht hinreichend erklärbar ist, sich aber im- und die Bundesschlüsse und die Gabe des Gesetzes mer wieder nachträglich Gründe für die eigene Le- und die Gottesdienstordnung und die Verheißungen gitimierung konstruiert. Antisemitismus hängt und die Väter haben.“ Die Christen mahnt Paulus: nicht vom Tun und Verhalten von Juden ab, son- „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dern von deren puren Existenz. Antisemitismus ist dich.“ (Röm 11,18). Und dem Volk Israel wird unver- Feindschaft gegen Juden als Juden. brüchlich zugesagt: „Wer euch antastet, der tastet mei- nen Augapfel an.“ (Sach 2,12). Zentraler Inhalt der Bun- 3.2 Erscheinungsform 1: Der Traditionelle Antisemi- desgeschichte Gottes mit seinem Volk ist die Landver- tismus18 heißung, also ein sicherer Ort zum Leben. Auch wenn Alle Einzelformen des traditionellen Antisemitismus es keine theologische Verklärung des Staates Israel haben eine lange Geschichte, halten sich aber bis heute geben kann, ist es theologisch doch bedeutsam, dass durch: Jüdinnen und Juden einen Zufluchtsort in Israel haben. Der religiöse Antisemitismus durchzieht die zwei Jahrtausende christlicher Kirchengeschichte und 3. ...UND HEUTE? basiert auf einer antijüdischen Auslegung christli- 3.1 Was ist Antisemitismus? cher Dogmen (s.o.). Eine allgemein verbindliche Definition des Begriffs Der soziale Antisemitismus unterstellt, dass Juden Antisemitismus gibt es (noch) nicht. Eine von der „In- einen besonderen sozialen Status haben und z.B. ternational Holocaust Remembrance Alliance“ 16 2016 an der Ausbeutung breiter Bevölkerungsschichten formulierte „Arbeitsdefinition“ wurde inzwischen von profitieren. Dabei werden Einzelfälle – etwa reiche mehreren Staaten und auch von der Bundesregierung jüdische Bankierdynastien – zu einem Zerrbild ver- anerkannt und für den Gebrauch in Schulen empfohlen. allgemeinert. Sie ist aber rechtlich nicht bindend. Ihr Wortlaut: Der politische Antisemitismus geht von einem ver- "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung schworenen jüdischen Kollektiv aus, das politi- von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrü- schen Einfluss ausübt, um die Herrschaft in einem cken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort o- Land oder auf der ganzen Welt zu erlangen. Die der Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelper- Behauptung der „jüdischen Weltverschwörung“, sonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische die „hinter den Kulissen“ wirke, ist dabei konstituti- Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen."17 ver Bestandteil. Ergänzt wurde die Definition durch Beispiele, die u.a. Der nationalistische Antisemitismus wirft Juden vor, falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder sie seien ethnische, kulturelle und religiöse Fremd- stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die körper in den Gesellschaften, in denen sie leben, Macht der Juden als Kollektiv enthalten, den Holocaust gehörten nicht zu einer „Volksgemeinschaft“ und bestreiten, Verschwörungstheorien huldigen, zum verhielten sich ihr gegenüber illoyal. Mord an Juden aufrufen, das Recht des jüdischen Vol- Der rassistische Antisemitismus betrifft alle Men- kes auf Selbstbestimmung leugnen und doppelte Stan- schen jüdischer Abstammung ohne Unterschied. Er dards in Bezug auf den Staat Israel anwenden. basiert auf der Behauptung einer weißen germani- Die „Arbeitsdefinition“ erweist sich allerdings in schen Rasse, die sich gegen die subversive Unter- mehreren Punkten als unzulänglich: wanderung durch eine angeblich minderwertige Unklar ist, was mit dem Begriff „Wahrnehmung“ jüdische Rasse wehren muss. gemeint ist. Wie verbreitet ist der traditionelle Antisemitismus? Über die Jahre von 2002 bis in die Gegenwart wurden Einstellungen zu Juden anhand von typischen Behaup- 15 Broschüre Antisemitismus. Vorurteile, Ausgrenzungen, Projektio- tungen repräsentativ untersucht:19 Ein Beispiel: nen und was wir dagegen tun können, Hannover 2017; https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2017_Antisemitismus_WEB.pdf . 16 https://www.holocaustremembrance.com/de. 17 18 https://www.holocaustremembrance.com/de/node/196. Vgl. https://www.gra.ch/antisemitismus/was-ist-antisemitismus/. 5
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? Wie beim traditionellen Antisemitismus nimmt auch hier die Zustimmungsrate tendenziell ab, bewegt sich aber immer noch auf einem sehr hohen Niveau. Über die Hälfte der Befragten stimmt diesem Item zu; im- merhin noch 26 % bejahen die Behauptung „Viele Ju- den versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Rei- ches heute ihren Vorteil zu ziehen.“ Es überrascht, dass die Zustimmung zum klassischen 3.4 Erscheinungsform 3: Der israelbezogene Antisemi- Antisemitismus in dieser Zeitspanne abgenommen hat, tismus sich aber auf einem relativ konstanten Niveau von ca. Die aktuell wirkungsvollste Form von Antisemitismus 10 % der Befragten bewegt. Dies kann damit zusam- verbirgt sich unter dem Deckmantel einer vorgeblich menhängen, dass diese Formen des Antisemitismus neutralen „Israelkritik“ – wobei der Begriff (inzwischen gesellschaftlich sanktioniert sind und als inakzeptabel als Adjektiv in den Duden übernommen) singulär ist gelten. und für keinen anderen Staat verwendet wird. Traditio- neller Antisemitismus wird in der Öffentlichkeit immer 3.3 Erscheinungsform 2: Der Sekundäre Antisemitis- weniger toleriert, er unterliegt einer sozialen Norm, die mus ihn tabuisiert, ihn aber nicht beseitigt oder weniger Auch hier sind unterschiedliche Äußerungsformen zu wirkmächtig macht. So bildet sich eine Umwegkom- unterscheiden: munikation, die den Antisemitismus tarnt und an die Der sekundäre Antisemitismus ist von einer Ab- Stelle des (tabuisierten) traditionellen Antisemitismus wehr der Erinnerungen an den Holocaust sowie die tritt. Dabei werden Stereotype, die normalerweise der Abwehr von Schuld und Verantwortung motiviert. Abwertung von Juden dienen, auf Israel projiziert und Um sich von dieser Schuld zu erlösen, versucht der zu dessen Abwertung und Isolierung verwendet. Israel sekundäre Antisemitismus, die Opferfunktion der wird zum ‚kollektiven Juden’ gemacht. Juden zu negieren und Jüdinnen und Juden als Tä- Antisemitische „Israelkritik“ (!) äußert sich darin, dass tergruppe zu stigmatisieren. Deshalb gehen ent- das Existenzrecht Israels als jüdischer Staat bestritten, sprechende Argumentationen zumeist mit einer die Politik Israels mit dem Nationalsozialismus vergli- Täter-Opfer-Umkehr einher, chen wird und an Israel andere moralische Maßstäbe als Relativierung, Verharmlosung und teilweise Leug- an andere Staaten angelegt werden. Diejenigen, die nung (Stichwort „Ausschwitzlüge“) der nationalso- sich ihrer bedienen, bestreiten vehement, Antisemiten zialistischen Verbrechen an den europäischen Ju- zu sein. Allenfalls bezeichnen sie sich als „Antizionis- den, ten“, was aber im Blick auf den Staat Israel auf dasselbe Forderung nach einem Schlussstrich unter dieses Ergebnis hinausläuft. Kapitel der deutschen Geschichte. Wie verbreitet ist der israelbezogene Antisemitismus?21 Wie verbreitet ist der sekundäre Antisemitismus? Auch hier nimmt die Zustimmung insgesamt tendenzi- ell ab; gleichwohl sind die Zustimmungswerte sehr hoch. Sie sind aber stärker abhängig von den aktuellen politischen Ereignissen, etwa von dem militärischen Vorgehen Israels gegen die Raketenangriffe durch die Hamas im Jahr 2014. Auch hier zeigt sich an einer typischen Behauptung das Ausmaß der Zustimmung:20 Umgekehrt rückt aktuell die pauschale Kritik an Israel 19 Tabelle aus: Verbreitung von Antisemitismus in der deutschen wieder in den Vordergrund, die auf Vergleiche des se- Bevölkerung. Ergebnisse ausgewählter repräsentativer Umfragen. kundären Antisemitismus zurückgreift und Israel zu- Expertise für den unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus Stand März 2017 (Andreas Zick u.a.), 25. https://bit.ly/2y60XC9; 21 GFM: Langzeitstudie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit; A.a.O., 27 und 29, aktualisiert nach der neuen „Mitte-Studie“ (2019) FES: Mitte-Studie 2014 der Friedrich-Ebert-Stiftung, beide vom Insti- der Friedrich-Ebert-Stiftung (Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm tut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Berghan: Verlorene Mitte - Feindselige Zustände. Rechtextreme Universität Bielefeld durchgeführt. Einstellungen in Deutschland 2018/19, Herausgegeben für die Fried- 20 A.a.O., 27. rich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter). 6
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? mindest indirekt einen Genozid an den Palästinensern vorwirft: Vergleicht man die parteipolitischen Präferenzen22 der Befragten im Blick auf antisemitische Einstellungen, so zeigt sich ein interessantes Bild: Während der klassische Antisemitismus bei Befragten mit Präferenz für die 4. ...UND NUN IM DETAIL: Kritik an der Politik der traditionellen Bundestagsparteien relativ niedrige Wer- Regierung Israels oder „Israelkritik“? te erreicht, liegt er bei der AfD erheblich höher. Diesem Weit verbreitet ist die Meinung, man dürfe Israel nicht Befund stehen die Beobachtungen beim israelbezoge- kritisieren, da man sonst gleich als Antisemit denunziert nen Antisemitismus gegenüber: Hier liegen die Werte werde. Oft wird dazu die „Antisemitismus-Keule“ in die bei den Befragten mit allen Präferenzen deutlich höher, Debatte geworfen, die dazu diene, Kritiker mundtot zu am höchsten jedoch auch hier bei der AfD. machen. Die Schlüsselfrage ist aber nicht, ob „Israelkri- tik“ „erlaubt“ ist – sondern ob Kritiker ein faires, kritisch- differenzierendes oder aber ein maßlos verzerrtes und einseitiges Israelbild zeichnen und was sie damit be- zwecken wollen. 4.1 Wie lässt sich „Israelkritik“ von Kritik an israeli- scher Politik unterscheiden? Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin24 ist der Auffassung, dass dies relativ einfach sei. Sie bietet zwei Beispiele, an denen sich der Unterschied exemplarisch veranschaulichen lässt: Äußerung 1: „Die national-religiöse Regierung in Israel trifft derzeit Die Ergebnisse von Meinungsbefragungen sind das Entscheidungen, die dem Friedensprozess entgegen eine, die tatsächlichen Straftaten das andere. Die stehen.“ offizielle polizeiliche Statistik verzeichnet in den letzten Äußerung 2: Jahren einen deutlichen Anstieg der angezeigten „Das brutale Besatzerregime im rassistischen Apart- Straftaten23. Allerdings sind die Zahlen mit Vorsicht zu heid-Israel betreibt einen Genozid an den Palästinen- betrachten. Erfasst wird von der Kriminalstatistik nur ein sern“. so genanntes „Hellfeld“ – sehr viele Taten werden z.B. Bei der ersten Äußerung geht es um eine klare Benen- erst gar nicht angezeigt. Zudem ist die Zuordnung nung politischer Verantwortlicher und aktueller Ent- einer Straftat zu einer Tätergruppe ausgesprochen scheidungen, die nach Meinung des Autors einem Frie- fragwürdig. 2017 wurden 94 % der Taten dem densprozess im Wege stehen. Man kann darüber strei- rechtsextremistischen Umfeld zugeordnet. Die ten, ob die Bewertung richtig ist – zweifellos ist sie aber Erfahrungen der Opfer lassen aber eher vermuten, dass legitim und kann argumentativ begründet werden. ein hoher Anteil an Tätern mit muslimischem Bei der zweiten Äußerung dagegen wird mit verall- Migrationshintergrund beteiligt war. Diese fragwürdige gemeinernden Bewertungen operiert, die in fast jedem Zuordnung liegt daran, dass es bis 2016 gar keine Wort der Äußerung anklingen: „brutal“, „Regime“, „ras- eigene Rubrik für dieser Tätergruppe gab. sistisch“, „Apartheid-Israel“, „Genozid“. Diese Stellung- nahme dient nicht dem politischen Diskurs, sondern 24 „Aktuelle Manifestationen von Antisemitismus: Judenhass zwischen 22 BMI (Hg.), Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Kontinuität und Wandel"; erstellt vom Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus, 2017,73 Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel (TU Berlin, Institut für Sprache und (https://bit.ly/2zO0Zz7). Kommunikation), Vortrag in München am 25.7.2018 23 Zahlen des BMI 2019, https://mediendienst- https://www.stmas.bayern.de/imperia/md/content/stmas/stmas_inet integration.de/desintegration/antisemitismus.html. /1905_manifestationenantisemitismus.pdf. 7
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? stellt Israel als Unrechtssystem mit dem Ziel dar, den tisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch Staat zu delegitimieren und zu dämonisieren. das Gegenteil.“25 Bei der Unterscheidung hat es sich bewährt, genau auf solche Intentionen zu achten. Der frühere Leiter der 4.3 Drei Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus Jewish Agency Natan Sharansky hat dazu einen 3-D- 4.3.1 Die Hetze gegen Israel im Internet Test vorgeschlagen: Zielt eine Handlung oder eine Äu- Monika Schwarz-Friesel fasst das Ergebnis ihrer Unter- ßerung darauf, den Staat Israel suchung „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des zu dämonisieren, also ihm z.B. Praktiken des natio- Hasses“26 so zusammen: „Wir haben festgestellt, dass nalsozialistischen Staates zu unterstellen oder ihm das Web insgesamt der Hauptmultiplikator heute für vorzuwerfen, er betreibe Völkermord („Kindermör- Antisemitismus in unserer Gesellschaft ist.“ der Israel“), zu delegitimieren, ihm also das Existenzrecht als jüdischer Staat zu bestreiten oder ihn durch einen palästinensisch-arabisch dominierten Staat zu er- setzen, mit doppelten Standards zu messen, d.h. ihn etwa im Blick auf Menschenrechtsverletzungen anders zu beurteilen als andere Staaten? Ein weiteres Kriterium: Wird an klassische antise- mitische Ressentiments und Stereotype ange- knüpft? 4.2 Woher kommt das Bedürfnis nach „Israelkritik“? Man kann drei Hauptmotive unterscheiden, die immer wieder von „Israelkritikern“ angeführt werden oder mitzudenken sind: Motiv 1: „’Wir’ haben aus der Vergangenheit gelernt, während die Opfer respektive deren Kinder, die es doch aus eigener leidvoller Erfahrung besser wissen müssten, jetzt ‚unsere’ Methoden anwenden. Die Opfer von da- mals sind die Täter von heute.“ Abbildung: Die Welt 27.10.201727 Motiv 2: „’Gerade wir als Deutsche’ sind aufgrund ‚unserer Vergangenheit’ in besonderem Maße ver- Sie hat Tausende von Webseiten untersucht und dabei pflichtet, die Stimme zu erheben, wenn Menschenrech- insbesondere auch den israelbezogenen Antisemitis- te verletzt werden.“ mus beobachtet. Dabei fällt auf, dass ein „Transfer von Motiv 3: Juden sind im kollektiven Gedächtnis Deut- tradierten antisemitischen Konzeptualisierungen und scher als millionenfache wehrlose Opfer präsent. Dieses Sprachgebrauchsmustern auf die aktuelle Projektions- Bild verträgt sich nicht mit dem, was Israel aus der Ge- fläche ‚Israel’“ stattfindet28. Israelbezogener Antisemi- schichte der Shoah gelernt hat: Nie wieder soll es einen tismus sei „in der Tendenz auf dem Weg, ein ‚politisch Holocaust an Juden geben! Sicherheit steht an erster korrekter Antisemitismus’ zu werden, da gerade diese Stelle der Politik. Dieser Widerspruch führt unterschwel- Form des Judenhasses massiv geleugnet, marginalisiert lig zu der Einstellung: Einen wehrhaften jüdischen und umgedeutet wird.“ Insofern zeige sich hier ein Staat, der sich mit militärischen Mitteln gegen Angriffe Grundphänomen: „Im Laufe der Jahrhunderte hat das verteidigt, darf es nicht geben. ‚Chamäleon Judenhass’ sich stets den sozial-politischen Fazit: Der israelbezogene Antisemitismus ist auch Gegebenheiten und gesellschaftlichen Normen ange- ein Resultat einer psychosozialen Entlastungsstrategie von der Verantwortung für die deutsche Geschichte. 25 https://www.welt.de/welt_print/article2125908/Antisemitismus- Henryk M. Broder hat dies in einer zugespitzten Form ohne-Antisemiten.html. im Juni 2008 bei einer Anhörung vor dem Innenaus- 26 Zitat bei einer Pressekonferenz 2018 schuss des Deutschen Bundestages so zusammenge- https://www.deutschlandfunk.de/studie-der-tu-berlin- antisemitismus-im-internet- fasst: waechst.691.de.html?dram:article_id=423244; Kurzfassung der Studie „Der moderne Antisemit findet den ordinären Antise- https://www.linguistik.tu-berlin.de/fileadmin/fg72/Antisemitismus_2- mitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbe- 0_kurz.pdf. Vgl. auch Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet fangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglich- Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin 2019. keit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten 27 Alan Posener, Judenhass auf Facebook? Die „Tagesschau“ versagt; Form auszuleben. Der moderne Antisemit verehrt Ju- https://www.welt.de/politik/deutschland/article170103257/Judenhas den, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber leben- s-auf-Facebook-Die-Tagesschau-versagt.html. 28 den Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Der An- Langfassung der Studie, 33f. Beispiel aus: Alan Posener in der Welt vom 27.10.2017: „Judenhass auf Facebook? Die „Tagesschau“ ver- sagt“. 8
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? passt, um ohne Bruch und ohne Zweifel das zugrunde- 3.2.3 Die BDS-Bewegung liegende Glaubens- und Weltdeutungssystem aufrecht Gründung und Ziele zu erhalten und der jeweils neuen Situation anpassen Die Kampagne Boycott, Divestment, Sanctions (BDS) ist zu können.“ eine transnationale politische Kampagne, die Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um 4.3.2 Die „double standards“ der Vereinten Nationen ihre 2005 beschlossenen Ziele durchzusetzen. Boykott- Kein Land der Welt wird so häufig von den Vereinten aufrufe gegen Juden, später gegen Israel gibt es seit Nationen und ihren Unterorganisationen verurteilt wie 1890, die Parole „Kauft nicht bei Juden“ im nationalso- Israel. Im Mittelpunkt dieser Verurteilungen stehen die zialistischen Deutschland leitete die Entrechtung der Siedlungen in der Westbank, aber auch angebliche Juden ein. Im Juli 2004 riefen palästinensische Intellek- Menschen- und Völkerrechtsverletzungen in Israel und tuelle einen organisierten akademischen und kulturel- der Westbank. Warum agiert die UN so? Beim Beschluss len Boykott Israels aus. Am 9. Juli 2005 gaben 171 paläs- der UN 1947, das Land in einen jüdischen und einen tinensische Organisationen den Gründungsaufruf der arabischen Teil aufzuteilen, gab es 56 Mitgliedsstaaten BDS-Kampagne heraus31. Unter den Gründungsmitglie- der UNO. Zwei Drittel einschließlich der UdSSR votier- dern der „palästinensischen Zivilgesellschaft“ steht an ten für die Aufteilung (Resolution 181). Damit erhielt erster Stelle der „Council of National and Islamic Forces der Beschluss völkerrechtliche Gültigkeit. 1975 hatte in Palestine“ – Mitglieder des Councils sind u.a. die die UN 144 Mitglieder, darunter viele neue blockfreie Islamic Resistance Movement (Hamas), die Popular und islamische Staaten. In allen Gremien der UN kann Front for the Liberation of Palestine (PFLP) und der Israel seither keine Mehrheiten mehr bei Abstimmun- Islamic Jihad Movement in Palestine (PIJ) sowie weitere gen für sich gewinnen und wird daher permanent an- Bewegungen, die allesamt das Ziel der gewaltsamen geklagt. Im Hauptausschuss der UN-Generalversamm- Vernichtung Israels verfolgen32. lung wurden in der Zeit von 2012-2018 145 von 174 Die Ziele der BDS-Bewegung sind: Israel soll solange Verurteilungen gegen Israel ausgesprochen, im Men- boykottiert werden, bis es schenrechtsausschuss erfolgten 2006-2016 68 Verurtei- „1) die Besetzung und Kolonisation allen arabischen lungen gegen Israel, 67 für den Rest der Welt; Staaten Landes beendet und die Mauer abreißt; mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen wur- 2) das Grundrecht der arabisch-palästinensischen den nicht einmal erwähnt. Bei der UNESCO kommt es BürgerInnen Israels auf völlige Gleichheit anerkennt; durchschnittlich zu 10 Verurteilungen Israels pro Jahr29. und Was Israel angeht, können die UN spätestens seit 1975 3) die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre nicht mehr als neutrale Wahrer und Garanten des Völ- Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es kerrechts und der Menschenrechte betrachtet wer- in der UN Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, den.30 schützt und fördert.“33 Das erste Ziel bezeichnet Israel als Kolonialmacht nicht nur der nach dem 6-Tage-Krieg besetzten Westbank, sondern allen (!) arabischen Landes, also auch des völ- kerrechtlich gültig von den UN für einen jüdischen Staat beschlossenen Territoriums. Damit strebt der BDS die Beseitigung Israel als jüdischen Nationalstaat und seine Ersetzung durch ein arabisches Palästina an. Das zweite Ziel verkennt, dass israelischen Arabern in Israel durch 12 Grundgesetze die gleichen Rechte wie für alle anderen Staatsbürger garantiert werden. Arabi- sche Israelis unterliegen nur nicht der Wehrpflicht – können aber freiwillig im Militär dienen. Dass es partiel- le Benachteiligungen und Diskriminierungen in Israel gibt (wo nicht?), ändert nichts an der rechtlichen Gleichstellung, die eingeklagt werden kann. 31 http://bds-kampagne.de/wp- content/uploads/2005/07/050709_Internationaler-Aufruf-der- palästinensischen-Zivilgesellschaft-zu-BDS.pdf. 32 Interessant ist, dass die Fatah, die größte palästinensische Bewe- gung, aus dem Bündnis Palestinian National and Islamic Forces we- gen Kollaboration mit dem Feind ausgeschlossen wurde. 33 Englisches Original: 1. Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall 29 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Alex Feuerherdt/Florian Markl, 2. Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens Vereinte Nationen gegen Israel. Wie die UNO den jüdischen Staat of Israel to full equality; and delegitimiert, Berlin 2018. 3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian 30 Beispiel von Hillel Neuer, https://www.trtworld.com/middle-east/in- refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN 2018-israel-became-the-most-condemned-nation-at-the-un-22899. resolution 194. https://www.bdsmovement.net/call. 9
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? Das dritte Ziel betrifft das angebliche Rückkehrrecht scher Theologen aus dem Jahr 1985 an, die vom Antira- von Flüchtlingen, die seit 1948 von einer eigens für sie ssismusprogramm des Weltkirchenrates unterstützt geschaffenen UN-Organisation – der UNWRA – betreut wurde und weltweit breit rezipiert wurde38. Israel wird werden; im Unterschied zu allen anderen Flüchtlingen in dem Kairos-Palästina-Dokument indirekt mit dem auf der Welt wird der Flüchtlingsstatus von Generation südafrikanischen Apartheidstaat gleichgesetzt und mit zu Generation weitervererbt, so dass die Zahl von Berufung auf den Gründungsaufruf der BDS-Bewegung „Flüchtlingen“ nach UNWRA-Angaben auf inzwischen gefordert, „endlich ein System wirtschaftlicher Sanktio- 5,4 Millionen angewachsen ist. Zusammen mit den ca. nen und Boykottmaßnahmen gegen Israel einzulei- 2,7 Millionen Palästinensern in der Westbank und den ten“39. Trotz massiver Kritik an dem Text des Kairos- arabischen Israelis (1,9 Millionen) ergibt sich eine Ge- Dokuments stellten sich in Deutschland eine Reihe von samtzahl von 9 Millionen Palästinensern. In Israel leben Institutionen und Solidaritätsgruppen teilweise oder dagegen 6,7 Millionen Jüdinnen und Juden. Was die ganz hinter die als Hilfeaufruf kaschierte Boykottauffor- Forderung nach Rückkehr von Flüchtlingen nach Israel derung gegen den jüdischen Staat, darunter der Jerusa- faktisch bedeutet, ist klar: das Ende des jüdischen Staa- lemsverein des Berliner Missionswerks, die Solidarische tes. Kirche im Rheinland, Brot für die Welt, Pax Christi Inter- national 40 und regionale deutsche Gruppen von Pax Der Begründer und Promotor Omar Barghouti Christi41. Ein „KAIROS Palästina-Solidaritätsnetz“42 wur- Mitbegründer und Hauptakteur des BDS National de unter tatkräftiger Unterstützung des bekannten Committee (BNC) ist Omar Barghouti. 1946 in Katar Theologieprofessors Ulrich Duchrow gegründet und geboren, hat er 11 Jahre in den USA verbracht und vertritt entschieden den Boykottaufruf des Kairos- einen Masterabschluss in Elektrotechnik erworben. Seit Dokuments43. 2009 studierte er an der Universität in Tel Aviv, er lebt in Akko. In seltener Eindeutigkeit formuliert Barghouti die Widerstand gegen BDS Ziele von BDS so: Inzwischen formiert sich gegen die BDS-Bewegung “A Jewish state in Palestine in any shape or form can- auch in Deutschland massiver Widerstand. Am not but contravene the basic rights of the indigenous 25.8.2017 fasste der Magistrat der Stadt Frankfurt den Palestinian population and perpetuate a system of ra- Beschluss, der BDS-Kampagne keine öffentlichen Räu- cial discrimination that ought to be opposed categori- me mehr zur Verfügung zu stellen: cally. [...] Definitely, most definitely we oppose a Jewish „Die BDS-Kampagne wählt mit ihrer tief in das Fun- state in any part of Palestine. No Palestinian, rational dament der Legitimation des jüdischen Staates rei- Palestinian, not a sell-out Palestinian, will ever accept chenden Kritik an Israel den Umweg über den Antizio- a Jewish state in Palestine.”34 nismus, um beim Antisemitismus anzukommen. Die Barghouti und viele andere Führungspersönlichkeiten BDS-Bewegung ist damit eine zutiefst antisemitische von BDS streben eine Ein-Staaten-Lösung Palästina an, Bewegung und soll in der Stadt Frankfurt am Main in der Palästinenser die Mehrheit haben35 Sie bezeich- keinen Raum haben.“44 nen Israel durchgehend als Apartheidstaat, sprechen Am 14.12.2017 beschloss auch der Münchener Stadtrat, ihm eine demokratische Legitimation ab und richten die BDS-Kampagne von öffentlichen Räumen auszu- sich gezielt gegen jeden Zionismus36. schließen und Veranstaltungen nicht zu bezuschussen: „Zentrale Forderungen, Inhalte und Äußerungen aus Die Rolle des Weltkirchenrates und christlicher Solidari- offiziellen Publikationen bzw. von Gründern und her- tätsgruppen Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich zwar von der 38 https://zeithistorische- BDS-Bewegung distanziert 37 , befürwortet aber den forschungen.de/sites/default/files/medien/Druckausgabe/2016- 2/ZF_2_2016_280_301_Justke_Tripp.pdf; und https://zeithistorische- „Boykott von Gütern und Dienstleistungen aus Sied- forschungen.de/2-2016/id%3D5358 . lungen [...] in den besetzten palästinensischen Gebie- 39 https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/other- ten“. Er solidarisiert sich uneingeschränkt mit dem so ecumenical-bodies/kairos-palestine-document. Art. 7.1. 40 genannten „Kairos-Dokument“ palästinensischer Theo- Appell für einen neuen israelisch-palästinensischen Friedenspro- zess: Zeit zur Neuverpflichtung: logen und Kirchenvertreter, das 2009 unter dem Titel http://bds-kampagne.de/2016/12/01/pax-christi-international- „Die Stunde der Wahrheit: ein Wort des Glaubens, der appell-fuer-einen-neuen-israelisch-palaestinensischen- Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der friedensprozess-zeit-zur-neuverpflichtung/. 41 Palästinenser“ veröffentlicht wurde. Darin knüpfen die Der Bundesverband von Pax Christi hat sich zwar von der BDS- Bewegung distanziert (https://bit.ly/2WeNaRM), befürwortet aber Verfasser bewusst an die Kairos-Erklärung südafrikani- einen Boykott von Waren aus Siedlungen in der Westbank. Vgl. Alex Feuerherdt: Pax Christi: Im Namen des Friedens gegen Israel, in: 34 https://vimeo.com/75201955; 2013 in der Dag Hammerskjöld mena-watch vom 25.4.2017, https://www.mena-watch.com/mena- Society; vgl. auch http://archive.is/ZxAa5. analysen-beitraege/pax-christi-im-namen-des-friedens-gegen-israel/ . 35 42 Vgl. die Nachweise bei http://www.stopbds.com/?page_id=48. https://kairoseuropa.de/kairos-palaestina-solidaritaetsnetz/ueber- 36 Zum Zionismus vgl. das Standardwerk von Michael Brenner: Israel. das-kairos-palaestina-solidaritaetsnetz/. 43 Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis Ausführliche Darstellung bei Sebastian Mohr: Zur Aktualität der heute, München 2016 Israel-Boykottkampagnen in den deutschen Kirchen, in: Compass 37 https://www.oikoumene.org/de/press-centre/news/to-media-wcc- Online-Extra Nr. 265, https://bit.ly/2zP38uj . 44 responds-to-false-media-reporting-on-israel-and-bds. https://bit.ly/2xpGOGF. 10
Hartmut Lenhard v Antisemitismus – was geht mich das an? ausgehobenen Vertretern der Kampagne sind als ein- Existenz des Staates Israel schwächen oder gar been- deutig antisemitisch zu bewerten.“45 den wollen“ ab. Sie verweist darauf, dass sich die BDS- Schließlich folgte auch der Deutsche Bundestag am Bewegung nicht „von den Intentionen und Zielen ihrer 17.5.2019 mit einer Entschließung mit dem Titel „Der Gründungsfiguren und -organisationen trennen“ lässt BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Anti- und „hält es für inakzeptabel, mit Personen und Organi- semitismus bekämpfen“: sationen zu kooperieren, die eine Auflösung Israels „Der Deutsche Bundestag verurteilt alle antisemiti- anstreben“. Der Diskurs, wie sich die evangelischen schen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintli- Kirchen zur BDS-Bewegung positionieren (werden), ist che Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert der Testfall, wie ernst sie es mit ihrer generellen Ableh- werden, tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdi- nung des Antisemitismus meinen. sche Menschen und ihre Religion sind, und wird ihnen entschlossen entgegentreten. [...] Der Deutsche Bun- 5. Was tun? destag fordert die Bundesregierung auf, keine Veran- Es kann hier nicht darum gehen, ein Spektrum von staltungen der BDS-Bewegung oder von Gruppierun- Handlungsmöglichkeiten zu entfalten, mit denen etwa gen, die deren Ziele aktiv verfolgen, zu unterstützen.“46 die pädagogisch präventive Arbeit mit Kindern und In der Folge wandte sich eine Reihe von israelischen Jugendlichen unterstützt oder in konkreten Fällen „Ers- Wissenschaftlern, NGOs und Parteistiftungen gegen die te Hilfe“ geleistet werden kann. Derlei Konzepte sind im Entschließung und behaupteten, nur einzelne Mitglie- Netz vielerorts einzusehen: der von BDS seien antisemitisch, nicht aber die Kam- Lena Ohm: Antisemitismus im Klassenzimmer, in: pagne; zudem verstoße der Beschluss gegen die Mei- evangelisch.de, 201951 nungsfreiheit und unterstütze die Politik der rechtsna- Amadeu Antonio Stiftung: „Man wird ja wohl Israel tionalen Regierung Netanjahus. Mit Recht resümiert noch kritisieren dürfen...“? Eine pädagogische dagegen der Israelexperte Alex Feuerherdt: Handreichung zum Umgang mit israelbezogenem „Die Zusammenarbeit mit NGOs, die die Existenz des Antisemitismus, 201852 jüdischen Staates bekämpfen, ihn delegitimieren und KigA Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus: dämonisieren und glauben, Israelis mit Boykotten, Widerspruchstoleranz. Ein Methodenhandbuch zu Drohungen und Sanktionen begegnen zu müssen, ist antisemitismuskritischer Bildungsarbeit, 201753 ein Friedenshindernis, das beseitigt werden muss.“ 47 Bildungsstätte Anne Frank: Weltbild Antisemitis- Am 29.2.2020 hat sich auch der Rat der EKD in einer mus, 201354 Stellungnahme von Boykottmaßnahmen gegen Israel Bundeszentrale für politische Bildung: Antisemi- distanziert, vermeidet es aber, die BDS-Bewegung ins- tismus in Europa. Vorurteile in Geschichte und Ge- gesamt als antisemitisch zu beurteilen48. Statt dessen genwart. Unterrichtsbausteine 1-3, 200855 konstatiert er nur antisemitische „Methoden und Ar- Micha Brumlik: „Dass Auschwitz sich nie wiederho- gumentationsmuster von BDS-Aktivisten und - le...“ Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus, Aktivistinnen in Deutschland“ und zieht sich auf die 200856 vermeintlich äquidistante Position einer „doppelten Samuel Salzborn/Alexandra Kurth: Antisemitismus Solidarität mit dem Staat Israel und dem palästinensi- in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsper- schen Volk“ zurück49. spektiven. Wissenschaftliches Gutachten, 201957 Klarer und entschiedener ist die Erklärung der Evan- Gleichwohl sei an die Forderung Theodor W. Adornos gelischen Kirche im Rheinland vom 26.3.2020 50 , die erinnert, die er 1966 in einem Rundfunkbeitrag „Erzie- zwischen der „Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und dem Staat Israel“ und der „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ unterscheidet. Grundsätzlich lehnt die EKiR „Boykottaufrufe oder -aktionen, die die 51 https://www.evangelisch.de/inhalte/157873/17-07- 2019/antisemitismus-der-schule-und-im-klassenzimmer-rent-jew ; 45 https://www.muenchen-transparent.de/dokumente/4760943 . dort auch weitere Links. 46 52 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/101/1910191.pdf . https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp- 47 Vgl. zur Einordnung der Reaktionen https://www.mena- content/uploads/2018/12/paedagogischer-umgang-mit- watch.com/mena-analysen-beitraege/hat-der-anti-bds-beschluss- israelbezogenem-antisemitismus.pdf. 53 des-bundestages-aussenpolitische-konsequenzen/. http://www.kiga- 48 https://www.ekd.de/stellungnahme-rat-der-ekd-debatte-bds- berlin.org/uploads/KIgA_Widerspruchstoleranz_2013.pdf . 54 bewegung-53837.htm. https://www.bs-anne- 49 Eine ausführliche Kritik der EKD-Stellungnahme trägt Alex Feuer- frank.de/fileadmin/user_upload/Slider/Publikationen/Broschuere_We herdt in mena-watch vom 25.3.2020 vor. https://www.mena- ltbild_Antisemitismus.pdf . 55 watch.com/die-evangelische-kirche-und-die-israelboykott- https://www.tu- bewegung-bds-kritik-ohne-konsequenzen/. ber- 50 Bisher (30.4.2020) ist die Erklärung im Internet nur auf folgender lin.de/fileadmin/i65/Unterichtsmaterialien_Thema_Antisemitismus/b Seite verfügbar: https://www.palaestina-portal.eu/Anlagen/BDS- austeine1-3.pdf . 56 Orientierungsthesen%20EKiR%202020-03.pdf. Die Stellungahme hat unmittelbar wütende Reaktionen palästinensischer Unterstützer aus http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41277/d der rheinischen Pfarrerschaft ausgelöst: http://palaestina- ass-auschwitz-sich-nie-wiederhole-?p=all . 57 portal.eu/Anlagen/Erwiderung%20%20zu%20EKiR- https://www.tu- %20BDS%20final.pdf. berlin.de/fileadmin/i65/Dokumente/Antisemitismus-Schule.pdf . 11
Sie können auch lesen