PRESS REVIEW Tuesday, June 22, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

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PRESS REVIEW Tuesday, June 22, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW

         Daniel Barenboim Stiftung
Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

          Tuesday, June 22, 2021
PRESS REVIEW Tuesday, June 22, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW                                                         Tuesday, June 22, 2021

Der Tagesspiegel
Jurowski und das RSB in der Philharmonie

Rbb Inforadio
Event-Zapping auf der Fête de la Musique Berlin

Der Tagesspiegel
Das Konzert des Jazztrompeters Till Brönner am Flughafen Schönefeld

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Doppelpremiere: Bernhards „Theatermacher“ und „Ode“ von Thomas Melle

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Nach zwölfjähriger Vorbereitungszeit öffnet die Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung,
Versöhnung in Berlin ihre Türen

Der Tagesspiegel
Die Karajan-Akademie der Philharmoniker vergibt das Siemens Conductors Scholarship

Berliner Zeitung
Kultur für postpandemische Zeiten

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Koloniale Erfahrung. Friedenspreis für Tsitsi Dangarembga

Berliner Morgenpost
Museen starten eintrittsfreien Sonntag

The New York Times
An Orchestra Veteran on Music’s Post-Pandemic Future
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22.6.2021                                      https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25

       Dienstag, 22.06.2021, Tagesspiegel / Kultur

       Wir–Gefühl
       Jurowski und das RSB in der Philharmonie
       Von Frederik Hanssen

       Wie raffiniert dieses Programm aufgebaut ist, erschließt sich erst vom Schluss-
       akkord her. Vladimir Jurowski spannt bei diesem pausenlosen Live-vor-Publi-
       kum- Konzert in der Philharmonie einen großen Spannungsbogen über alle vier
       Werke, inszeniert den Abend mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin als
       kontinuierliches Crescendo.

       Was natürlich nur gelingen kann, wenn der Mann mit dem Taktstock über Weit-
       blick verfügt – und über die Fähigkeit, mehrere Werke zusammen zu denken,
       ohne jedem einzelnen dabei seine Individualität zu nehmen. Jurowski, einer der
       klügsten Köpfe der internationalen Dirigentenszene kann das, ja, aus der Rück-
       schau wirkt seine Taktik sogar absolut organisch.

       Mit Sofia Gubaidulinas „Märchenpoem“ von 1971 stellt er ein zartgliedriges
       Stück an den Anfang, das förmlich in sich hinein zu horchen scheint, immer auf
       der Suche nach erlesenen Instrumentalmischungen. Dann betritt die Sopranis-
       tin Sabine Devieilhe die Bühne, zunächst im musikalischen Dialog mit vier
       Holzbläsern bei Strawinskys textloser „Pastorale“-Miniatur, dann begleitet von
       der ganzen Streichergruppe des RSB bei der Rimbaud-Vertonung der „Illumina-
       tions“ durch Benjamin Britten. Sabine Devieilhe vermag die französischen Verse
       sehr elegant zu deklamieren, am Attraktivsten aber ist ihre Stimme bei gedros-
       seltem Tempo und verhaltener Lautstärke: dann mischen sich strahlender
       Glanz und menschliche Wärme auf unwiderstehliche Weise.

       Jetzt folgt in Jurowskis zwingender Logik Strawinskys „Feuervogel“-Suite, eine
       Partitur, die zu höchstmöglicher sinfonischer Prachtentfaltung strebt. Und
       seine Musikerinnen und Musiker nutzen die Gelegenheit, um zu beweisen, dass
       die Pandemie-Zwangspausen den kollegialen Geist des RSB keinesfalls klein-
       kriegen konnte. Hochkonzentriert entfalten sie den märchenhaften Klangfar-
       benzauber, in stetig aufwärts strebender Erregungskurve, bis zum hell gleißen-
       den Fortissimo des Finales (Deutschlandfunk sendet einen Konzertmitschnitt
       am 27. Juni um 21.05 Uhr). Frederik Hanssen

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Di 22.06.2021 | 06:55 | Kultur
Event-Zapping auf der Fête de la Musique Berlin
Normalerweise steht die Fête de la Musique für dutzende Bühnen in der gesamten Stadt,
ausgelassenes Publikum und jede Menge Bands. 2021 mussten die allermeisten Konzerte
per Livestream stattfinden. Hendrik Schröder hat sich durch die Streams gezappt.

Stand vom 22.06.2021

    Beitrag hören

https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/kultur/202106/22/579162.html                                  1/1
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       Dienstag, 22.06.2021, Tagesspiegel / Kultur

       Lässiges Listening
       Kämpfer für die Kultur, jetzt wieder Musiker: das Konzert des
       Jazztrompeters Till Brönner am Flughafen Schönefeld
       Von Gunda Bartels

                                                                © Gregor Hohenberg

               Es juckt in den Fingern. Till Brönner, 50, kann den Stuhl jetzt wieder gegen die Bühne tauschen.

       Eine entspannte, bodenständige Location hat der Veranstalter Maximilian
       Schulze Brockhausen da auf einem ehemaligen Parkplatz am Flughafen Schöne-
       feld aufgezogen. In fünf Minuten Fußweg vom S-Bahnhof zu erreichen. Aus Ge-
       tränkekisten sind kleine Boxen für zwei oder vier Leute abgeteilt, wo es sich mit
       Abstand auf Klappstühlen gut lagern lässt. Zwei Bars, Fritten, Nachos, fertig.
       Freundlichkeit überall: Ob es die Einlasscrew ist. Oder die Hygienehinweis-Be-
       grüßung des DJs, den die Corona-Joblosigkeit im vergangenen Sommer auf die
       Idee brachte, die Konzertreihe „Unter freiem Himmel“ zu starten. Diesmal läuft
       sie bis 15. August mit Acts von Revolverheld bis Nena.

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       „Bleiben Sie dieser Konzertreihe treu“, bittet Till Brönner denn auch am Ende
       seines Konzerts am Sonntagabend die stehend applaudierenden Leute. Da drü-
       ben, sagt der Musiker und weist ins Vage, klagten Leute gegen die Konzerte. Selt-
       samerweise ist im Flughafen-Ödland außer einem Funktionsbau nur Wüstenei
       zu sehen. Sowas sei ihm schleierhaft, schüttelt Brönner den Kopf: „Manchmal
       weiß ich nicht mehr, was Berlin eigentlich will.“ Dabei lebe er schon 30 Jahre
       hier. Ein berechtigter Stoßseufzer des Popstars unter den Jazztrompetern.
       Kaum geschmälert vom Erbsenzählerdetail, dass Schönefeld von Brandenbur-
       gern bevölkert wird.

       Schlag acht betritt zuvor die bis hinunter zu den Füßen weiß bekleidete Lichtge-
       stalt Brönner die Bühne. Die Leinwand im Hintergrund verzichtet auf jedes Art-
       work-Gedöns. Da steht nur „Till Brönner On Vacation“, also der Titel des jüngs-
       ten Albums. Er lächelt freudig und wirkt lässig wie selten. Brönner mit Knitter-
       hemd über der Hose. War das vor Corona je zu sehen? Im November 2019, beim
       Weihnachtskonzert in der Verti Music Hall, stand er wie immer im schicken
       schwarzen Einreiher da und blies ein technisch virtuoses, aber viel zu routinier-
       tes, uninspiriertes Blech. Nichts davon diesmal.

       Zum Auftakt erklingt ein puristisches Cover der Leonard-Cohen-Ballade „A
       Thousand Kisses Deep“, von Till Brönner und Christian von Kaphengst als poeti-
       scher Dialog zwischen Flügelhorn und Kontrabass improvisiert. Kein Partyein-
       stieg nach der Pandemiepause, sondern ein konzentrierter Akzent: Hier stehen
       zwei und kommunizieren durch Musik! Angesichts des glasklaren, druckvollen,
       präzisen Sounds verfliegen sofort die Bedenken, ob jazzige Arrangements und
       der in Freiluftbühnen gern gen Himmel wabernde Soundbrei wirklich zusam-
       men passen. Auf dieser Brache stimmt die Mischung bis zum letzten Ton.

       Kaum hat sich die Abendsonne durch die passiv aggressiven Wolken gekämpft,
       kommt der Rest der fünfköpfigen Band auf die Bühne. Der Keyboarder stimmt
       ein pluckerndes Intro an, das stark nach Siebziger-Fusion klingt, Gitarre, E-Bass
       und Tenorsaxofon stimmen ein. Mit groovendem, relaxten Beat rollt die Funk-
       maschine an. Das Thema habe Dave Grusin für den Film „Drei Tages des Con-
       dor“ geschrieben, moderiert Till Brönner die coole Retronummer ab. Der kam
       1975 raus. Treffer! Fusion, also Jazzpop, deutlicher elektronischer als der akus-
       tische Einstieg – das ist die andere Musikfarbe, die sich durchzieht.

       Und dann wird’s Zeit, dass Till Brönner eine Begrüßung spricht. Zuletzt hat er,
       wohltemperiert wie immer, aber trotzdem deutlich, verstärkt durch Wortbei-
       träge von sich reden gemacht. Einmal, als der Jazzprofessor die Politik wegen
       der Missachtung der freien Kulturszene in der Pandemie die Leviten las und
       dies auch in Talkshows und als Sachverständiger im Kulturausschuss des Bun-

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       destags vertrat. Ein anderes Mal, als er die Schauspielerinitiative
       #allesdichtmachen in Schutz nahm. In Schönefeld jedoch gilt’s der Musik. Für
       ihn sei das ein sehr besonderer Abend, sagt Brönner und bittet die Leute, die
       seit einem Jahr kein Konzert mehr gehört haben, die Hand zu heben. Alle gehen
       hoch. Ihm und der Band ginge es genauso, lächelt Brönner, der dieses Jahr 50
       geworden ist und den Auftakt seiner Sommertour zu Hause begeht. „Deswegen
       sind auch wir viel aufgeregter als sonst.“ Das hält die Truppe, aus der solistisch
       Olaf Polziehn am Klavier, Bruno Müller an der Gitarre und Mark Wyand am Te-
       norsax herausstechen, nicht davon ab, einen guten Drive zu entwickeln.

       Den Spannungsbogen hält das durchgehend aus Midtempo-Nummern gebaute
       Konzert, in dem nur ein federleicht davon stiebender Samba die entspannte
       Grundhaltung durchbricht. Gelungen ist der Mix aus Musikfarben, in der Till
       Brönner nicht nur seine Version des Nancy-Wilson-Standards „Save Your Love
       For Me“ von „On Vacation“ vorstellt, sondern auch einen Swingklassiker wie
       „The Good Life“ aus seinem 2016er-Album unterbringt. Für den Titel des Ferien-
       Albums, das 2020 herauskam, habe er sich trotz der Pandemie entschieden,
       sagt der oft unter Gefälligkeitsverdacht stehende Meister trotzig.

       Und tatsächlich klingt diese perfekt produzierte, eskapistische Melange aus
       Smooth Jazz, Easy Listening und Swing wie eine erinnerungsselige Klangtapete
       aus der Zeit, als sie in Kalifornien noch Pools füllen konnten, ohne ein schlech-
       tes Gewissen wegen der Wasserknappheit zu haben. Das Unbehagen darüber,
       die Lizenz zur Unschuld eingebüßt zu haben, ist Brönners markanter Ballade
       „Lavender Fields“, die auch in Schönefeld erklingt, trotzdem eingewoben.

       Sein kongenialer Album-Sparringspartner, der 80-jährige Smooth-Jazz-Held
       Bob James, fehlt in Schönefeld an Piano und Keyboard, klar. Doch die hinge-
       tupfte Akkuratesse und der samtweiche Ansatz, mit der der Trompeter sich ein-
       mal mehr als Chet-Baker-Epigone erweist, machen das wett. Als der Mond auf-
       geht, zieht eine frische Brise übers Feld. Till Brönner steht vorne auf dem Steg
       und setzt dem Abend mit seiner Improvisation über „Just The Way You Are“
       eine gleißende Spitze auf.

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        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                        Dienstag, 22.06.2021

                                      Nabelschau am Blutwursttag
        Frankfurter Doppelpremiere: Das Schauspiel befragt mit Bernhards
        „Theatermacher“ und „Ode“ von Thomas Melle die eigene Zunft nach ihren
        Grenzen und Gesetzen.

        Kann es Zufall sein, dass am Frank­fur­ter Premie­ren­wo­chen­en­de gleich zwei Stücke zur
        Auffüh­rung kommen, die sich im Thea­ter mit dem Thea­ter, der Kunst an sich beschäf­ti­gen?
        Wohl kaum. Durch die Pande­mie waren die Häuser für Monate verrie­gelt und also gezwun­-
        gen, sich vor allem sich selbst zuzu­wen­den. Neben Hygie­ne­kon­zep­ten, die es auszu­tüf­teln
        galt, hatte die unfrei­wil­li­ge Nabel­schau, die drama­ti­sche Selbst­be­fra­gung durch­aus etwas
        Exis­ten­ti­el­les: Wo sich veror­ten in der Gesell­schaft, wie weiter­ma­chen, wenn es keine
        Auffüh­run­gen, kein Publi­kum gibt, und was über­haupt ist und will Thea­ter heute sein?
        Zumal die robus­te Selbst­ver­ständ­lich­keit der Bühnen­land­schaft ja nicht erst im vori­gem
        Jahr einen Knacks bekom­men hat. „Wenn wir ehrlich sind, ist das Thea­ter an sich eine
        Absur­di­tät“, heißt es bei Thomas Bern­hard.

        Mit Thomas Melles Diskurs­stück „Ode“, einer 2019 urauf­ge­führ­ten Auftrags­ar­beit für das
        Deut­sche Thea­ter, kam am Sams­tag mit Studen­ten der Frank­fur­ter Hoch­schu­le für Musik
        und Darstel­len­de Kunst in den Kammer­spie­len die erste künst­le­ri­sche Intro­spek­ti­on zur
        Auffüh­rung. Tags drauf wurde im großen Haus Thomas Bern­hards moder­ner Klas­si­ker „Der
        Thea­ter­ma­cher“ von Herbert Frit­sch insze­niert. Melle, der sich spätes­tens mit dem Roman
        „Die Welt im Rücken“ in die erste Reihe der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur geschrie­ben hat,
        geht in seinem Lehr­stück die Frage nach der Frei­heit der Kunst am Beispiel einer provo­kan­-
        ten Skulp­tur namens „Ode an die alten Täter“ an und stellt sich mitten hinein in die derzeit
        heiß­um­kämpf­te Debat­ten­zo­ne. Galt Yasmi­na Rezas Augen­merk in den neun­zi­ger Jahren in
        ihrem ähnlich ausge­rich­te­ten Stück „Kunst“ ästhe­ti­schen Fragen, ist es Melle um die poli­ti­-
        sche Ausdeu­tung, ja die Poli­ti­sie­rung von Thea­ter zu tun. Zwei Grup­pen treten bei ihm in
        den Ring, die sich über mehre­re Jahre an der künst­le­ri­schen und biogra­phi­schen Hinter­las­-
        sen­schaft der Konzept­künst­le­rin Anne Frat­zer (Anna Barda­ve­lid­ze) abar­bei­ten.

        Der offen­kun­dig rech­ten Verei­ni­gung „Wehr“, die „Origi­nal­kon­flik­te“ und „Origi­nal­kos­tü­-
        me“ einfor­dert und in jedem Kunst­werk „marxis­ti­schen Gehalt“ wittert, steht eine Gruppe
        gegen­über, die zwar Teil der Künst­ler­bo­he­me oder jeden­falls mit diesem Anspruch ausge­-
        stat­tet ist, zugleich aber nicht minder dezi­dier­te Forde­run­gen an die Kunst stellt: Geht es
        den einen um Brauch­tum und Natio­na­les, befra­gen die ande­ren Reprä­sen­tanz, wer wen auf
        der Bühne verkör­pern, was wie gezeigt werden darf. „Wir sind wir und stel­len nichts mehr
        dar“, sagt eine Schau­spie­le­rin während einer Probe zum Regis­seur, der vergeb­lich auf Ambi­-
        va­lenz pocht.

        Die Kunst steht von natio­na­len Rech­ten hier ebenso unter Beschuss wie von linken Mora­lis­-
        ten. „Das ist also das Ende des Thea­ters, wie wir es kennen“, wird schon im Prolog das Thea­-
        ter abmo­de­riert. Und auch am Frank­fur­ter Folge­abend wird in Thomas Bern­hards Thea­ter­-
        schmäh um einen abge­half­ter­ten Staats­schau­spie­ler, der in der Provinz – „Utzbach wie
        Butz­bach“ – seinen Größen­wahn austobt, die Hybris seiner ganzen Zunft bloß­ge­stellt. Als
        Provo­ka­ti­on funk­tio­nier­te das zwei­fel­los zu einer Zeit, als die Stel­lung des Thea­ters unan­ge­-
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        foch­ten war. Das Stück, 1985 von Claus Peymann während der Salz­bur­ger Fest­spie­le urauf­-
        ge­führt, sorgte damals für Aufse­hen. Aber heute?

        Womög­lich verzich­tet Wolf­ram Koch in der Rolle des Bruscon auch deshalb darauf, die
        ganze Härte dieses Charak­ters auszu­spie­len, sondern zieht es vor, sich mit durch­aus sehens­-
        wer­tem Slap­stick dem Irrsinn und der Todes­sehn­sucht der Figur zu entzie­hen. Es ist ja auch
        uner­träg­lich, wie da einer hemmungs­los alles kaputt­schlägt und zerstört, was ihn umgibt.
        Zwei­ein­halb Stun­den lang tobt und flüs­tert und kreischt Koch sich die ganze Frau­en­feind­-
        lich­keit und Menschen­ver­ach­tung, Homo­pho­bie und Egoma­nie aus dem Leib. Ginge es nach
        Melles Thea­ter­wäch­tern aus „Ode“, so viel steht fest, dürfte „Der Thea­ter­ma­cher“ gar nicht
        erst gespielt werden.

        Das vom Regis­seur Herbert Frit­sch in viel Holz gefass­te Gast­haus-Hinter­zim­mer, in dem
        Bruscon mit seiner Fami­li­en­trup­pe sein eige­nes Stück namens „Das Rad der Geschich­te“
        auffüh­ren will, ist von Anbe­ginn dieser gar nicht so lusti­gen Komö­die ein Ort des Schei­terns,
        da dem Größen­wahn nichts gegen­über­steht als eben Größen­wahn, Selbst­mit­leid und Tyran­-
        nei, wenn Bruscon die kranke Gattin (Irina Wrona), den verkrüp­pel­ten Sohn (Frido­lin Sand­-
        mey­er) und die zurück­ge­blie­be­ne Toch­ter ein ums andere Mal demü­tigt, ernied­rigt und
        quält.

        Das Thea­ter als letz­ter Hort abso­lu­tis­ti­scher Herr­schafts­aus­übung – so könnte man das zeit­-
        ge­nös­sisch lesen, als bitter­bö­se Parodie aufs Thea­ter, das von sich so gern als Thea­ter­fa­mi­lie
        spricht, was hier in Gestalt des Bruscon-Clans auch zutrifft, dabei natür­lich verlo­gen ist bis
        ins Mark, wenn nur einer der Bestim­mer ist, und alle ande­ren sind bloß die niemals zufrie­-
        den­stel­len­den Erfül­ler. Das Krän­ken­de des Patri­ar­chen entstammt frei­lich der eige­nen
        Krän­kung, sich in einem 280-Seelen-Dorf wieder­zu­fin­den, in dem der Blut­wurst­tag mehr
        gilt als sein Welt­thea­ter. Die meist stumm agie­ren­den Wirts­fa­mi­li­en-Darstel­ler machen
        dabei nonver­bal umso mehr Aufhe­bens von der klein­bür­ger­lich-bornier­ten Haltung ihres
        Perso­nals. Die Provinz, die Frit­t­a­ten­sup­pe schlürft und Römer­quel­le trinkt, stellt das Stück
        in ein nazi­ver­seuch­tes Öster­reich, das wieder­um sich in einer Welt befin­det, die wahre
        Größe nicht erkennt. Beson­de­re Deutungs­vor­schlä­ge lässt Frit­sch in seinem „Thea­ter­ma­-
        cher“ nicht erken­nen. Was er hinge­gen aufbie­tet, ist ein Ensem­ble voller Spiel­lust, was – ob
        mit Text (wie Wolf­ram Koch im Dauer­mo­no­log) oder fast ohne (wie alle ande­ren) – nach
        Mona­ten des Thea­ter­ent­zugs durch­aus eine Botschaft ist. Von solcher Spiel­lust war am
        Vorabend in den Kammer­spie­len leider allzu wenig zu sehen.

        Die Schau­spiel­schü­ler hatten sich mit „Ode“ aller­dings ein heraus­for­dern­des Stück gewählt,
        dessen Reden und Gegen­re­den, die zuvör­derst Posi­tio­nen markie­ren, drama­tisch erst
        einmal sper­rig sind. Die Regis­seu­rin Anne Bader ließ ihr Ensem­ble in den sagen­haft durch­-
        schei­nen­den Kostü­men, das mal in Einzel­fi­gu­ren, mal chorisch auftrat, dann zu oft dekla­-
        mie­ren. Dabei hatte der multi­me­di­al aufbe­rei­te­te Abend durch­aus seine star­ken Momen­te.
        Bei aller Publi­kums­be­schimp­fung wider die „laber­ver­blö­de­ten Kultur­voll­zeit­städ­ter“ und
        das Iden­ti­täts- und Geschlech­ter­de­bat­ten­ge­wit­ter hätte dem „Ode“-Abend mehr thea­tra­le
        Sinn­lich­keit gutge­tan. Nicht zuletzt, um Sätze stark zu machen wie „Nicht zu wissen, wer ich
        bin, ist viel­leicht meine letzte Frei­heit“. Sinn­lich anre­gen­der war da „Der Thea­ter­ma­cher“-
        Abend, aller­dings mit einem Stück, von dem nicht sicher ist, ob das Rad der Geschich­te
        nicht doch darüber hinweg­ge­hen wird. Sandra Kegel

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        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                         Dienstag, 22.06.2021

                                      Die Heimat ist ein Stück Holz
        Nach zwölfjähriger Vorbereitungszeit öffnet die Dauerausstellung der Stiftung
        Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin ihre Türen. Das Schicksal der
        deutschen Vertriebenen ist nur eines ihrer Themen.

        Flüch­ten zu müssen, geflüch­tet zu sein, gehört zu den Erfah­run­gen, die sich nicht teilen
        lassen. Man kann von ihnen erzäh­len, Fotos machen, einzel­ne Szenen in Filmen nach­stel­len,
        aber was es wirk­lich heißt, seine Heimat zu verlas­sen, um ins Unge­wis­se zu ziehen, kann nur
        jemand begrei­fen, der es erlebt hat. In Andre­as Kosserts Buch „Flucht. Eine Mensch­heits­ge­-
        schich­te“ wird der in Alex­an­dria gebo­re­ne ameri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler André Aciman mit
        dem Satz zitiert, Exil sei „die Unmög­lich­keit, jemals nicht weg zu sein“ – ein Gefühl der
        Abwe­sen­heit und des Verlusts, das nicht mehr verschwin­det. Schon immer hat dieses
        Verlust­ge­fühl Millio­nen Menschen geprägt. Aber noch nie waren es so viele wie im zwan­-
        zigs­ten und im einund­zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert.

        Die neue Dauer­aus­stel­lung des Doku­men­ta­ti­ons­zen­trums Flucht, Vertrei­bung, Versöh­nung,
        die am morgi­gen Mitt­woch eröff­net wird, versucht diesem Gefühl und der Erfah­rung, durch
        die es ausge­löst wird, eine Form zu geben. Dabei stößt sie immer wieder an die Gren­zen
        dessen, was in Ausstel­lun­gen gezeigt werden kann. Die Abwe­sen­heit, der Verlust der Orte,
        an denen die Kind­heit statt­fand, ist in Objek­ten nicht darstell­bar. Nur ausnahms­wei­se
        bekommt man eine Vorstel­lung von dem Schmerz, der die Geflüch­te­ten bis an ihr Lebens­en­-
        de beglei­tet. Fast am Ende der Ausstel­lung, im zwei­ten Ober­ge­schoss, stehen in einer Vitri­-
        ne Dutzen­de von Holz­mo­del­len, die ein Heimat­ver­trie­be­ner aus Ostpreu­ßen in der Nach­-
        kriegs­zeit von den Häusern und Kirchen seiner Geburts­stadt ange­fer­tigt hat. Es ist nur eine
        Auswahl aus einer größe­ren Samm­lung. Die Arbeit dauer­te Jahr­zehn­te. In all der Zeit, sollte
        man meinen, hätte der Mann sich mit seiner neuen Umge­bung in West­deutsch­land arran­-
        gie­ren können. Aber er zog es vor, das „Riesen­werk der Erin­ne­rung“, wie Proust es nennt,
        im eige­nen Keller aus Holz, Leim und Farbe zu erschaf­fen.

        Der Ausstel­lung im Deutsch­land­haus, in der das Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum resi­diert, sind die
        Umstän­de ihrer Entste­hung einge­schrie­ben. Ein „Zentrum gegen Vertrei­bun­gen“ woll­ten
        Erika Stein­bach und Peter Glotz, zwei Heimat­ver­trie­be­ne und poli­ti­sche Anti­po­den, im Jahr
        1999 grün­den, um an die Flucht und Vertrei­bung der Deut­schen aus Osteu­ro­pa und ihre
        histo­ri­schen Ursa­chen zu erin­nern. Aber der Plan fand keine poli­ti­sche Mehr­heit, auch
        deshalb, weil Stein­bach, bis vor sechs Jahren Präsi­den­tin des Vertrie­be­nen­bun­des, ihn
        durch ihr öffent­li­ches Auftre­ten immer wieder desavou­ier­te. 2005, im Todes­jahr von Glotz,
        beschloss die Große Koali­ti­on den Gegen­ent­wurf für ein „sicht­ba­res Zeichen“, der schlie­ß­-
        lich in die Grün­dung der Stif­tung Flucht, Vertrei­bung, Versöh­nung münde­te. Das Deutsch­-
        land­haus am Anhal­ter Bahn­hof, in dem nach dem Krieg die Lands­mann­schaf­ten des
        Vertrie­be­nen­bun­des resi­diert hatten, wurde seit 2009 zum Stif­tungs­stand­ort umge­stal­tet.
        In dieser Zeit wandel­te sich Stein­bach von der CDU-Rech­ten zur Unter­stüt­ze­rin der AfD.
        Zum offi­zi­el­len Fest­akt am Montag war sie nicht gela­den. Dass Gundu­la Baven­damm, die
        Stif­tungs­di­rek­to­rin, bei der Pres­se­kon­fe­renz vergan­ge­ne Woche dennoch erklär­te, die
        Dauer­aus­stel­lung sei „ziem­lich nah“ an Stein­bachs Plänen, zeigt, wie sehr der Blick auf die
        eins­ti­ge Initia­to­rin auch die Neukon­zep­ti­on prägt.
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        Die Stif­tung selbst hat ihren Doppel­cha­rak­ter als histo­ri­sche und poli­ti­sche Insti­tu­ti­on mit
        inter­nen Spal­tun­gen bezahlt. Einer von Baven­damms Vorgän­gern wurde entlas­sen, ein
        zwei­ter warf das Hand­tuch. Mehr­fach erklär­ten polni­sche, tsche­chi­sche und deut­sche Histo­-
        ri­ker ihren Austritt aus dem wissen­schaft­li­chen Bera­ter­kreis. Im Kern ging es dabei stets um
        die Frage, wie die Vorge­schich­te der Vertrei­bun­gen darge­stellt werden sollte. Der schärfs­te
        Vorwurf, der den Kura­to­ren der Stif­tung gemacht wurde, war der einer „unter­schieds­lo­sen
        Empa­thie“ für alle Vertrie­be­nen. „Unter­schieds­los“ hieß in diesem Fall: ohne ausrei­chen­de
        Beto­nung des Zusam­men­hangs zwischen der Vernich­tungs­po­li­tik des Natio­nal­so­zia­lis­mus
        und dem Verlust der Heimat im Osten.

        Die Dauer­aus­stel­lung im Deutsch­land­haus beant­wor­tet diesen Einwand auf salo­mo­ni­sche
        Art. Sie macht einen Unter­schied, und sie macht ihn auch nicht. Sie stellt das deut­sche
        Vertrie­be­nen­schick­sal in den Kontext der Zwangs­mi­gra­tio­nen des vori­gen Jahr­hun­derts
        und hebt es zugleich heraus. Dieses Kunst­stück gelingt ihr dadurch, dass sie sich verdop­pelt.
        In Wahr­heit sind es zwei Ausstel­lun­gen, die von morgen an für das Publi­kum öffnen: eine,
        die ein Thema, und eine andere, die ein Narra­tiv, eine Erzäh­lung hat.

        Die Themen­aus­stel­lung steht im ersten Ober­ge­schoss. In ihr wird die Geschich­te der
        Vertrei­bun­gen durch Kriege, Bürger­krie­ge und ethni­sche Säube­run­gen seit dem neun­zehn­-
        ten Jahr­hun­dert in Schlag­wor­ten ausge­brei­tet: hier „Nation und Natio­na­lis­mus“, da „Wege
        und Lager“, dort „Erin­ne­rung und Kontro­ver­sen“. Entspre­chend diffus ist die Auswahl der
        Expo­na­te: Schuhe von syri­schen, Haus­schlüs­sel von zypri­schen Flücht­lin­gen; die Kamera
        eines deut­schen Sani­tä­ters, der den Geno­zid an den Arme­ni­ern foto­gra­fier­te, der Leiter­wa­-
        gen eines Kroa­ten, der 1941 ins „Reich“ umsie­deln musste; der inter­ak­ti­ve Plan eines Flücht­-
        lings­la­gers in Jorda­ni­en; die Nach­bil­dung einer Mörser­gra­na­te, die 1994 auf dem Markt von
        Sara­je­wo einschlug. Was diese Über­blicks­schau an wissen­schaft­li­cher Tiefe gewinnt, verliert
        sie an Anschau­lich­keit. Denn das Drama der Flucht über­trägt sich nicht in die Dyna­mik der
        Vitri­nen. Jede Tragö­die bekommt ihre Schub­la­de, jedes Ding seine Kate­go­rie. Blut, Schweiß
        und Tränen sieht man hier nicht, statt­des­sen wird der Besu­cher aufge­for­dert, seine eige­nen
        Listen dessen aufzu­stel­len, „was ich nicht zurück­las­sen würde“. Erst am Ausgang steht man
        vor einem großen, gespens­ti­schen Objekt. Es ist das Bull­au­ge der „Wilhelm Gust­loff“, die im
        Januar 1945 mit neun­tau­send Flücht­lin­gen in der Ostsee unter­ging.

        Eine steile Wendel­trep­pe, die die Archi­tek­ten des Büros Marte.​Marte aus Feld­kirch ins
        entkern­te Innere des Deutsch­land­hau­ses gesetzt haben, führt ins zweite Ober­ge­schoss mit
        der Vertrie­be­nen­aus­stel­lung. Der Kontrast zum ersten Stock könnte nicht größer sein: Wo
        das Auge dort verlo­ren zwischen den einzel­nen „Themen­in­seln“ schwimmt, wird es hier von
        Stati­on zu Stati­on geführt. Der Parcours beginnt mit dem deut­schen Über­fall auf Polen und
        führt über die Umsied­lun­gen und Massa­ker der Besat­zer bis zu den Vertrei­bun­gen und der
        Aufnah­me der Flücht­lin­ge in der DDR und der Bundes­re­pu­blik. Hier hat jeder Gegen­stand
        seinen genau­en Ort: die Klin­gel­schil­der an einem Haus­ein­gang in Posen wie das „N“ (für
        „niemiecki“), das Deut­sche in Schle­si­en und Pommern nach 1945 tragen muss­ten, der Pelz­-
        man­tel, in den sich eine Gebä­ren­de auf der Flucht hüllte, ebenso wie die Wahl­pla­ka­te, mit
        denen west­deut­sche Partei­en in den fünf­zi­ger Jahren um Vertrie­be­ne warben.

        Es ist, anders gesagt, die Ausstel­lung, für welche die Stif­tung im Deutsch­land­haus gegrün­det
        wurde, ein Reper­toire von Stim­men, Bildern, Objek­ten, das die Erfah­rung der Flucht in die
        heuti­ge Vorstel­lungs­welt über­setzt. Aber in diesem Reich­tum liegt auch ihre Grenze. Denn
        während die Vertrie­be­nen­ge­schich­te im zwei­ten Ober­ge­schoss abge­schlos­sen ist, wird die
        der Vertrei­bun­gen im ersten Stock immer weiter­ge­hen. Die Streit­fra­ge, ob das Schick­sal der
        Deut­schen „der“ oder nur ein Schwer­punkt des Hauses ist, wird sich histo­risch erle­di­gen,
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        denn je länger das Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum exis­tiert, desto globa­ler und umfas­sen­der muss
        sein Blick auf die Themen sein, die es behan­delt.

        Die Stif­tung Flucht, Vertrei­bung, Versöh­nung hat eine histo­ri­sche und eine poli­ti­sche
        Aufga­be. Erste­re hat sie mit der Ausstel­lung im Deutsch­land­haus gelöst. Ob sie auch der
        zwei­ten gerecht wird, hängt davon ab, wie sie mit ihrer Rolle im Gedenk­stät­ten-Mosaik der
        deut­schen Haupt­stadt umgeht. Zieht sie sich auf ihre musea­len Kompe­ten­zen zurück, wird
        das Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum in seiner Bedeu­tung erstar­ren. Nutzt sie dage­gen die Frei­räu­-
        me, die ihr Domi­zil in Sicht­wei­te des künf­ti­gen Exil­mu­se­ums bietet, könnte sie zu einer
        inter­na­tio­na­len Begeg­nungs­stät­te werden. Einem Ort, der den Erfah­run­gen der Flücht­lin­ge
        und Vertrie­be­nen eine Form und eine Spra­che gibt.​Andreas Kilb

        Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum Flucht,

        Vertrei­bung, Versöh­nung,

        Stre­se­mann­stra­ße 90, Berlin. Ein Kata­log zur

        Dauer­aus­stel­lung ist für Ende 2021 ange­kün­digt.

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       Dienstag, 22.06.2021, Tagesspiegel / Kultur

       Messe der Maestri von Morgen
       Ein Dirigierwettbewerb für Berlin: Die Karajan-Akademie der Phil-
       harmoniker vergibt das Siemens Conductors Scholarship
       Von Frederik Hanssen

                                                                                                © Martin Walz

              Auf dem Sprung. Die 1987 geborene Nodoka Okisawa ist die aktuelle Assistentin von Philharmo‐
                    niker-Chef Kirill Petrenko. Sie wurde noch ohne Wettbewerb in die Karajan-Akademie
                                                        aufgenommen.

       Eine Villa hatte er schon und auch ein Privatflugzeug. Darum schenkte sich Her-
       bert von Karajan 1969 zu seinem 60. Geburtstag: eine Stiftung. Deren Ziel sollte
       sein, „junge Künstler zu fördern“ und „die wissenschaftliche Forschung zu un-
       terstützen“. Der Maestro selbst ließ sich dann beispielsweise für neurologische
       Untersuchungen bei der Probenarbeit in einer Testkapsel wie ein Astronaut
       „verdrahten“, um die Gehirnströme messen zu können. Es gab akademische
       Symposien bei den Salzburger Osterfestspielen – und an seiner deutschen Wir-

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       kungsstätte bei den Berliner Philharmonikern gründete Karajan sowohl ein in-
       ternationales Jugendorchestertreffen als auch einen Dirigentenwettbewerb.

       Als „meine Rache an dem Beruf“ bezeichnete Karajan den Wettbewerb später
       einmal. „Weil man mir nicht geholfen hat, als ich jung war“, wollte er nun den
       Nachwuchs fördern. Mit weisen Ratschlägen, aber auch monetär: Die Gold-, Sil-
       ber- und Bronzemedaillen, die es zu gewinnen hab, waren gut dotiert, das Re-
       nommee des Namens Karajan öffneten den Siegern viele Türen.

       400 Bewerbungen gingen 1969 ein, und das, obwohl die Teilnehmer eine saftige
       „Bearbeitungsgebühr“ zu zahlen hatten und auch die Kosten für Reise und Un-
       terbringung selbst tragen mussten (die Philharmoniker halfen dafür bei der Su-
       che nach Gastfamilien). 60 Kandidaten durften schließlich in Berlin vordirigie-
       ren – wobei nicht die hochnoblen Philharmoniker musizierten, sondern extra
       bestallte Ensembles wie die Berliner Symphoniker oder auch mal das Radioor-
       chester aus Köln.

       Ein „explosives Talent“ zu finden, das war in Karajans Worten der Sinn des auf-
       wändigen Unterfangens, und in der Tat ist die Liste der Teilnehmer lang, die an-
       schließend Karriere gemacht haben: Okko Kamu und Dmitri Kitajenko aus dem
       ersten Jahrgang, 1971 Mariss Jansons, später noch Valery Gergiev, Christian Eh-
       wald, Vasily Sinaisky, Bruno Weil, Gabriel Chmura, Oleg Caetani oder auch An-
       toni Wit. Fast jedes Mal nahmen auch einige wenige Frauen teil, einen Preis er-
       ringen aber konnte keine von ihnen.

       Je mehr Karajan seine Krankheiten im Alter plagten, desto weniger Kraft hatte
       er für den Wettbewerb übrig, Mitte der 1980er Jahre schlief er dann ganz ein. In
       diesem Herbst aber soll die Idee eine Renaissance erleben, in zeitgemäßer
       Form: Nicht mehr Medaillen gibt es beim neuen „Siemens Conductors Scholar-
       ship“ zu gewinnen, sondern die Möglichkeit, zwei Jahre lang als Assistent von
       Kirill Petrenko zu arbeiten, Karajans Nach-Nach- Nachfolger auf dem Posten des
       Philharmoniker-Chefdirigenten.

       Als Mitglied der orchestereigenen Akademie wird die Glückliche oder der
       Glückliche zudem ein Stipendium erhalten – sowie die Möglichkeit, mit den In-
       strumentalisten des Traineeprogramms ein Konzert im Kammermusiksaal zu
       gestalten. „Ich bin mir sicher, dass die Kandidat:innen uns förmlich überrennen
       werden“, sagt Stephan Frucht, der Leiter des Siemens Arts Program. „Denn das
       Attraktivste, was einem jungen Dirigenten oder einer jungen Dirigentin passie-
       ren kann, ist doch, in eine Institution wie die Berliner Philharmonie integriert
       zu sein, Anregungen vom Kirill Petrenko zu bekommen, den anderen großen Di-

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       rigenten, die hier auftreten, bei den Proben zuschauen zu können und auch
       noch aktiv mit der Akademie zu arbeiten.“

       Der Auswahlprozess für den international ausgeschriebenen Wettbewerb ist
       entsprechend komplex, wie Peter Riegelbauer erklärt, Kontrabassist im Orches-
       ter und seit 2015 Geschäftsführer der Orchesterakademie: „Wir verlangen von
       allen Bewerber:innen Videos, die ihre Arbeit zeigen. Diese müssen zunächst ge-
       sichtet werden, was zeitlich ein enormer Aufwand ist, und schließlich werden
       zehn bis 15 Kandidat:innen zugelassen.“

       Der Wettbewerb erstreckt sich über mehrere Tage: In der ersten Runde stehen
       die angehenden Orchesterleiter:innen beim Dirigieren nur vor zwei Pianisten,
       die die Partituren in vierhändigen Versionen spielen, so wie es oft auch in den
       Hochschulen üblich ist. Die Hälfte kommt danach in die zweite Runde, in der
       die Karajan-Akademisten dann auf dem Podium sitzen. Beim öffentlichen Ab-
       schlusskonzert am 24. Oktober entscheidet sich schließlich zwischen zwei oder
       drei Finalisten, wer das Siemens Conductors Scholarship erhält.

       „Assistenten der Chefdirigenten gab es bei uns immer“, sagt Riegelbauer, „doch
       erst Sir Simon Rattle hatte die Idee, sie in die Akademie einzubinden. Duncan
       Ward war der erste, der diesen Platz erhalten hat, danach kam im Übergang von
       Sir Simon zu Kirill Petrenko Gregor Meierhofer und aktuell ist es Nodoka Oki-
       sawa.“ Der Musiker findet es sinnvoll, dass nun auch die Assistent:innen des
       Chefdirigenten durch dasselbe Auswahlverfahren bestimmt werden wie die In-
       strumentalisten – auch wenn so ein Probespiel vor einer Jury deutlich aufwän-
       diger zu organisieren ist. Doch das finanzielle Engagement von Siemens macht
       es jetzt möglich. Das Prozedere hat Riegelbauer zusammen mit dem Arts-Pro-
       gram-Leiter Stephan Frucht entwickelt, der selbst ausgebildeter Dirigent ist.

       Dass sie das Höchstalster der Teilnehmer:innen auf 35 Jahre festgelegt haben,
       während es bei Karajans Wettbewerb noch bei 30 Jahren lag, erklärt Riegelbauer
       so: „Insgesamt ist zu beobachten, dass die Ausbildungszeiten in den Musikberu-
       fen länger geworden sind. Und Dirigent:innen müssen ein besonders umfangrei-
       ches Studium absolvieren. Unsere aktuelle Stipendiatin Nodoka Okisawa ist
       Jahrgang 1987 – und ist sehr dankbar, bei uns sein zu können.“ Und Frucht fügt
       hinzu: „Von Karajan stammt die Formulierung, Dirigent ist ein Beruf, bei dem
       die Ausbildung 20 Jahre dauert.“ Kirill Petrenko allerdings konnte sein erstes
       Kapellmeisterengagement bereits mit 25 Jahren antreten, zwei Spielzeiten spä-
       ter war er schon Generalmusikdirektor am Theater Meiningen.

       Das Horrorszenario, dass sich die Jury mehrheitlich für eine Person entschei-
       den könnte, die Kirill Petrenko für absolut unbegabt hält, mögen sich die beiden

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       Organisatoren gar nicht erst ausmalen. „Es wird zu einem einvernehmlichen Vo-
       tum kommen“, sind sie sich sicher. Der Philharmoniker-Chef sei ja von Anfang
       an begeistert gewesen von der Idee der Scholarship-Vergabe durch einen Wett-
       bewerb. „Weil er dadurch viele Talente in kürzester Zeit kennenlernen kann“,
       betont Riegelbauer.

       Auch die Karajan-Akademie ist übrigens eine Gründung von Petrenkos berühm-
       tem Vorgänger. 1972 war er als Erster auf die Idee gekommen, ein Exzellenzför-
       derprogramm für die besten Hochschulabsolventen bei seinem Orchester zu
       etablieren. Zunächst waren die Herren Musiker damals von den neuen Mento-
       renpflichten gar nicht begeistert, aber bald wurde ihnen klar, wie sinnvoll es ist,
       wenn sie als Praktiker die jungen Musiker:innen mit den ungeschriebenen Re-
       geln und Gesetzen des Klassikbetriebs vertraut machen. Peter Riegelbauer war
       1981 der erste, der den Sprung von der Akademie zur Festanstellung im Orches-
       ter schaffte. Mittlerweile sind über 32 Prozent der Philharmoniker Absolventen
       des Exzellenzförderprogramms.

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               Dienstag, 22. Juni 2021, Ber­li­ner Zei­tung /

               Kul­tur für post­pan­de­mi­sche Zei­-
               ten
               Was folgt aus Thomas Ober­en­ders über­raschen­dem Rück­zug
               bei den Ber­liner Festspielen?

                                                                                                        GA­LE­RIE  2

                       Das Haus der Ber­li­ner Festspie­le in der Scha­perstraßeImago

               HARRY NUTT

               A
                           ls in der vergangenen Woche die Nachricht öffentlich wurde, dass Tho‐
                           mas Ober­en­der, der In­ten­dant der Ber­li­ner Fest­spie­le, sei­nen be­reits
                           ver­län­ger­ten Ver­trag nicht an­tre­ten wer­de, war das zwar kein Be­ben,
                           aber doch ei­ne kul­tur­po­li­ti­sche Über­raschung. Im Ber­li­ner Kul­tur­le­ben
               macht man sich auf allen Ebe­nen be­reit, wieder los­zu­le­gen, da läuft ein Amts­ver­‐
               zicht Ge­fahr, als Erschöp­fungs­syndrom wahr­ge­nom­men zu wer­den.

               Im Fall von Tho­mas Oberender scheint die Kon­zen­tration auf neue Auf­gaben, über
               die er sich noch be­deckt hält, durch­aus plau­sibel. Der 55-Jähri­ge hat den sper­ri­gen
               Kul­tur­tan­ker Ber­li­ner Festspie­le, der eher ei­ne Dachor­ga­ni­sa­ti­on für ver­schie­de­ne
               Fes­ti­vals und Ein­zelver­an­stal­tun­gen ist, bald zehn Jah­re ge­lei­tet. Da ist es nachvoll‐
               ziehbar, dass einem krea­ti­ven Geist, der vor allem an admi­nistra­ti­ve Auf­gaben ge­‐
               bun­den ist, nach neu­en Her­aus­for­de­run­gen dürstet. Zumal Tho­mas Ober­en­der mit
               seinem kuratori­schen Selbst­an­spruch, Ver­an­stal­tungs­for­men der so­ge­nann­ten Im­‐
               mersion zu ent­wi­ckeln und zu för­dern, nicht son­derlich auf Ge­gen­lie­be ge­sto­ßen
               ist.

               Neue Unüber­sicht­lich­keit
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               Unter Kul­tur­ver­mittlern und -jour­nalis­ten rümpf­te man nicht sel­ten die Nase und
               gab vor, gar nicht so ge­nau zu wis­sen, was un­ter dem Be­griff der Immer­si­on ei­gent‐
               lich zu ver­stehen sei. Ging es dar­um, sich vor­sorg­lich dumm zu machen, um den
               neues­ten perfor­mati­ven Trend zunächst ein­mal vor­über­zie­hen zu las­sen?

               Ohne den An­spruch auf de­fi­ni­tori­sche Vollständigkeit könnte Immersion als das
               Ein­tauchen in Wahrneh­mungs­formen be­schrie­ben wer­den, in de­nen vir­tuel­le und
               ana­lo­ge Rea­li­tät in­teragie­ren. Tho­mas Ober­en­ders Be­geis­te­rung für im­mer­si­ve
               Kunstformen, so mei­ne Ver­mutung, hat viel­fach auch die Angst vor ei­nem um sich
               grei­fen­den Ori­entie­rungs­ver­lust aus­ge­löst. Als in den 1980er-Jah­ren insbe­sonde­re
               aus Frankreich die hierzulan­de do­mi­nanten kri­tischen Ge­sell­schafts­theo­ri­en mit
               dem so­ge­nannten Poststruk­tu­ralis­mus kon­frontiert wur­den, feier­te Jür­gen Haber­‐
               mas über die bis dahin von ihm erschlosse­ne Le­ser­schaft hin­aus große Erfol­ge mit
               der Aus­deutung ei­ner „neuen Unüber­sicht­lichkeit“. Einer muss ja selbst dann noch
               sagen, wo es langgeht.

               Tho­mas Oberenders spektakulärstes Vor­ha­ben, das wo­mög­lich nur be­dingt ei­ner
               im­mersiven Idee zuzurechnen war, schei­ter­te in­des an kul­tur­po­li­ti­scher Reser­viert­‐
               heit und lo­kalpo­li­tischer Ver­wal­tungs­stren­ge. Der rus­si­sche Filmregis­seur Ilya
               Khrzhanovs­ky woll­te in Berlin sein opu­len­tes Ge­samtkunstwerk über den Phy­si­ker
               und Nobelpreis­träger Lew Dawi­do­witsch Landau in­ner­halb ei­ner ei­gens in Ber­lin-
               Mit­te errichteten Papp­mache-Ar­chitek­tur zur Dar­stel­lung brin­gen.

               Film­kunst und das Nachemp­fin­den dik­ta­to­ri­scher La­gerer­fah­rung schos­sen hier
               zusam­men in der Bio­grafie eines Wis­sen­schaft­lers zwi­schen den Wel­ten. Radi­kale
               Kunst, Frei­heit und der Ent­zug der­sel­ben – al­les soll­te im DAU-Pro­jekt er­fahr­bar
               ge­macht werden. Der Be­zirk Mit­te setz­te der Umset­zung schlie­ß­lich ein Ende. Zu
               ge­fähr­lich, zu spät be­an­tragt. Aus der Sicht Tho­mas Ober­en­ders aber wäre es der
               Schritt in ei­ne an­de­re künstle­ri­sche Di­mension ge­we­sen, die Kri­tiker all­zu schnöde
               auf die For­mel Spek­ta­kelkunst ge­bracht haben.

               Der Kul­tur­po­li­ti­ker Oberender hat sich das Schei­tern des von ihm ver­antwor­teten
               DAU-Pro­jektes nicht lan­ge anmerken las­sen, das künstle­ri­sche Tem­pe­rament aber
               dürf­te ge­lit­ten haben. Sein nun erfolgter Rückzug be­darf in­so­fern ei­nes zwei­ten Ge­‐
               dan­kens, weil es vielleicht ge­rade jetzt loh­nend sein könnte, die Über­le­gun­gen zur
               im­mersiven Kunst mit den durch die Corona-Pan­de­mie spür­bar ver­än­der­ten Dar­‐
               stel­lungs­formen zu ver­bin­den.

               Ge­ra­de die Berli­ner Festspie­le mit ih­ren so un­ter­schied­lichen Ak­ti­vi­täten – dar­un‐
               ter das Theater­tref­fen, die Maerz­Mu­sik, das Jazzfest, das Musik­fest Ber­lin so­wie die
               mul­tifunktio­na­len Häu­ser Mar­tin-Gropi­us-Bau und das Haus der Ber­li­ner Festspie­‐
               le in der ehe­ma­li­gen Frei­en Volksbüh­ne – ver­langen ge­ra­de­zu nach ei­ner kul­turel­‐
               len Neu­po­sitio­nie­rung, insbe­son­de­re mit Blick auf di­gi­ta­le Prä­sen­ta­ti­ons- und Par­‐
               tizipati­ons­for­men. Um in der Pan­de­mie sicht­bar zu blei­ben, wur­den Theater­auf‐
               füh­run­gen und Kon­zer­te kur­zer­hand als Strea­ming-Events an­ge­bo­ten. Wel­che
               Rückkopp­lun­gen aber erge­ben sich für di­gi­tal ver­trie­be­ne For­men dar­stel­len­der
               Kunst und Musik, wenn man die Ein­heit von Auf­füh­rung und Ort erst ein­mal ver­‐
               las­sen hat? Die Ergebnis­se der zurücklie­gen­den ein­ein­halb Jah­re sind aller­dings
               sehr er­nüchternd. Die exis­tenzielle Not vie­ler Ein­richtun­gen ist gravie­rend, und der
               ästhe­ti­sche Ertrag des Digi­tali­sie­rungs­schubs ist dürf­tig. Es wird nicht gleich alles
               zu Kunst, was das Mo­bil­te­le­fon über ei­nen QR-Code er­späht. Ein­fach aus­blen­den
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               und an ei­nen Zustand vor der Pan­de­mie anknüp­fen geht al­ler­dings auch nicht
               mehr.

               Hat­te man die Berli­ner Festspie­le zuletzt als Sam­mel­su­ri­um heteroge­ner Küns­te,
               Bran­chen­treffs und dis­kur­si­ver For­mate wahr­ge­nom­men, die ein­an­der eher zufäl‐
               lig be­rührten, so könnten sie nun nach ei­ner postpan­de­mi­schen Wie­der­ge­burt
               auch als expe­ri­men­telles Netz­werk ver­stan­den wer­den, in dem sich die Ein­zel­be­‐
               stand­tei­le neu auf­ein­an­der be­zie­hen.

               Kann es sein, dass man Tho­mas Ober­en­ders Vor­stel­lun­gen dazu nicht recht­zei­tig
               und ange­mes­sen abge­ru­fen hat? Per­so­nal­wechsel hin­terlas­sen, erst recht nach ei­‐
               ner statt­li­chen Amts­zeit, nicht zwangs­läufig ein kul­tur­po­litisches Loch. Eben­so bie­‐
               ten Füh­rungs­wechsel die Garan­tie auf ei­nen Neu­an­fang. Mehr als der Zauber­lehr­‐
               ling mit den im­mersiven Kunst­stücken ist Tho­mas Ober­en­der ja ein schar­fer Be­ob‐
               ach­ter mit der Be­gabung, The­men der Zeit auf den Punkt zu brin­gen.

               Tek­to­nische Ver­schie­bun­gen

               Am Beispiel der Berli­ner Festspie­le je­doch wird nun sicht­bar, dass die Ber­li­ner Kul­‐
               tur­land­schaft im Zusam­men­spiel aus Landes- und Bun­des­ein­richtun­gen ei­nes
               post­pande­mi­schen Resets be­darf, der sich nicht ein­fach dar­in er­schöp­fen darf,
               nach Monaten der Schlie­ßung und Stil­le wieder Luft durch die ins Schloss ge­fal­le‐
               nen Tore zie­hen zu las­sen. Im Schatten der Corona-Epi­de­mie sind das Hum­boldt-
               Forum, die Neue Natio­nalgale­rie und die Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung
               in di­gi­ta­len und hybri­den Ze­re­mo­ni­en er­öffnet worden. Das waren aus der Not ge­‐
               bo­rene Eröff­nun­gen oder Wie­der­eröffnun­gen, die spür­bar Aus­schau hiel­ten nach
               neuen For­men ge­sell­schaft­li­cher Repräsen­ta­ti­on. Es käme aber dar­auf an, die tek­‐
               toni­schen Ver­schie­bun­gen in­nerhalb der Kul­tur­landschaft in ih­rem vol­len Umfang
               zu er­fas­sen und dar­auf sta­bi­le For­men der Dar­stel­lung und Ex­pe­ri­men­tier­freu­de zu
               er­richten.

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        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                         Dienstag, 22.06.2021

                                                 Koloniale Erfahrung
                                               Friedenspreis für Tsitsi Dangarembga

        Tsitsi Dangarembga war bislang kein bekann­ter lite­ra­ri­scher Name in Deutsch­land. Das hat
        sich jetzt mit einem Schlag geän­dert: Die 1959 im dama­li­gen Rhode­si­en gebo­re­ne simbab­wi­-
        sche Schrift­stel­le­rin erhält in diesem Jahr den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels,
        die inter­na­tio­nal meist­be­ach­te­te lite­ra­ri­sche Auszeich­nung unse­res Landes. Der Stif­tungs­rat
        lobt Dangarembgas „einzig­ar­ti­ges Erzäh­len mit einem univer­sel­len Blick“, das sie „nicht nur
        zu einer der wich­tigs­ten Künst­le­rin­nen ihres Landes, sondern auch einer weit­hin hörba­ren
        Stimme Afri­kas in der Gegen­warts­li­te­ra­tur“ mache.

        Nur hatte man sich hier­zu­lan­de kaum für diese Bücher inter­es­siert, obwohl die Auto­rin eine
        deut­sche Vergan­gen­heit hat: Von 1989 an studier­te sie an der Deut­schen Film- und Fern­-
        seh­aka­de­mie in Berlin und drehte hier auch mehre­re Filme, später kehrte sie für ein Afri­ka­-
        nis­tik-Studi­um noch einmal aus Simbab­we nach Berlin zurück. Dazwi­schen aber schien die
        Schrift­stel­le­rin Tsitsi Dangarembga zum Opfer ihrer Begeis­te­rung fürs Filme­ma­chen gewor­-
        den zu sein.

        Dabei hatte sie als Roman­au­to­rin mit Aplomb begon­nen. Nach­dem ihr auf Englisch verfass­-
        ter Debüt­ro­man „Nervous Condi­ti­ons“ in Simbab­we keinen Verlag gefun­den hatte, wurde er
        1988 von der Londo­ner Women’s Press veröf­fent­licht. Er erzählt die Geschich­te des
        Mädchens Tambud­zi, dessen Biogra­phie mit jener der Auto­rin weit­ge­hend deckungs­gleich
        ist, und damit vom Aufwach­sen in einem Land, in dem während der sech­zi­ger Jahre nicht
        nur die engli­sche Kolo­ni­al­herr­schaft zu bröckeln beginnt, sondern sich auch in den Dörfern
        die verkrus­te­ten Struk­tu­ren verän­dern. Wie poli­tisch dieser Roman gemeint war, zeigt sein
        Titel, der eine Formu­lie­rung von Jean-Paul Sartre aus dessen Vorwort zu Frantz Fanons
        anti­ko­lo­nia­lis­ti­schem Pauken­schlag „Verdamm­te dieser Erde“ zitiert. Es dauer­te denn auch
        nur drei Jahre, bis der Roman auf Deutsch erschien: als „Der Preis der Frei­heit“ bei
        Rowohlt, über­setzt vom jungen Ilija Troja­now, seit damals einem der wich­tigs­ten Vermitt­ler
        afri­ka­ni­scher Lite­ra­tur. Doch das Buch ging weit­ge­hend unter; erst 2018 erschien es neu
        und unter ande­rem Titel („Aufbre­chen“) im klei­nen Orlan­da Verlag, der ausschlie­ß­lich
        Bücher von Frauen veröf­fent­licht.

        Nach dem Debüt kam eine lange lite­ra­ri­sche Pause, während derer Tsitsi Dangarembga sich
        als Filme­ma­che­rin betä­tig­te. Erst 2006 setzte sie den Stoff aus „Nervous Condi­ti­ons“ fort:
        mit dem Roman „The Book of Not“, der Tambud­zi nun in die Schule beglei­te­te. Und noch
        einmal zwölf Jahre dauer­te es, ehe Dangarembga in „The Mourn­ful Body“ die Eman­zi­pa­ti­-
        ons­ge­schich­te ihrer Prot­ago­nis­tin mit deren Berufs­ein­stieg zur Trilo­gie runde­te. Dieser
        Roman kam 2020 auf die Short­list des briti­schen Booker Prize, der wich­tigs­ten lite­ra­ri­schen
        Auszeich­nung in Großbri­tan­ni­en. Als „Über­le­ben“ wird das Buch im Septem­ber auf Deutsch
        erschei­nen, wieder bei Orlan­da – eine Punkt­la­dung vor der Verlei­hung des Frie­dens­prei­ses,
        die am 24.​Oktober in der Frank­fur­ter Pauls­kir­che statt­fin­den wird.

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