PRESS REVIEW Tuesday, June 22, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
PRESS REVIEW Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal Tuesday, June 22, 2021
PRESS REVIEW Tuesday, June 22, 2021 Der Tagesspiegel Jurowski und das RSB in der Philharmonie Rbb Inforadio Event-Zapping auf der Fête de la Musique Berlin Der Tagesspiegel Das Konzert des Jazztrompeters Till Brönner am Flughafen Schönefeld Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Doppelpremiere: Bernhards „Theatermacher“ und „Ode“ von Thomas Melle Frankfurter Allgemeine Zeitung Nach zwölfjähriger Vorbereitungszeit öffnet die Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin ihre Türen Der Tagesspiegel Die Karajan-Akademie der Philharmoniker vergibt das Siemens Conductors Scholarship Berliner Zeitung Kultur für postpandemische Zeiten Frankfurter Allgemeine Zeitung Koloniale Erfahrung. Friedenspreis für Tsitsi Dangarembga Berliner Morgenpost Museen starten eintrittsfreien Sonntag The New York Times An Orchestra Veteran on Music’s Post-Pandemic Future
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 Dienstag, 22.06.2021, Tagesspiegel / Kultur Wir–Gefühl Jurowski und das RSB in der Philharmonie Von Frederik Hanssen Wie raffiniert dieses Programm aufgebaut ist, erschließt sich erst vom Schluss- akkord her. Vladimir Jurowski spannt bei diesem pausenlosen Live-vor-Publi- kum- Konzert in der Philharmonie einen großen Spannungsbogen über alle vier Werke, inszeniert den Abend mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin als kontinuierliches Crescendo. Was natürlich nur gelingen kann, wenn der Mann mit dem Taktstock über Weit- blick verfügt – und über die Fähigkeit, mehrere Werke zusammen zu denken, ohne jedem einzelnen dabei seine Individualität zu nehmen. Jurowski, einer der klügsten Köpfe der internationalen Dirigentenszene kann das, ja, aus der Rück- schau wirkt seine Taktik sogar absolut organisch. Mit Sofia Gubaidulinas „Märchenpoem“ von 1971 stellt er ein zartgliedriges Stück an den Anfang, das förmlich in sich hinein zu horchen scheint, immer auf der Suche nach erlesenen Instrumentalmischungen. Dann betritt die Sopranis- tin Sabine Devieilhe die Bühne, zunächst im musikalischen Dialog mit vier Holzbläsern bei Strawinskys textloser „Pastorale“-Miniatur, dann begleitet von der ganzen Streichergruppe des RSB bei der Rimbaud-Vertonung der „Illumina- tions“ durch Benjamin Britten. Sabine Devieilhe vermag die französischen Verse sehr elegant zu deklamieren, am Attraktivsten aber ist ihre Stimme bei gedros- seltem Tempo und verhaltener Lautstärke: dann mischen sich strahlender Glanz und menschliche Wärme auf unwiderstehliche Weise. Jetzt folgt in Jurowskis zwingender Logik Strawinskys „Feuervogel“-Suite, eine Partitur, die zu höchstmöglicher sinfonischer Prachtentfaltung strebt. Und seine Musikerinnen und Musiker nutzen die Gelegenheit, um zu beweisen, dass die Pandemie-Zwangspausen den kollegialen Geist des RSB keinesfalls klein- kriegen konnte. Hochkonzentriert entfalten sie den märchenhaften Klangfar- benzauber, in stetig aufwärts strebender Erregungskurve, bis zum hell gleißen- den Fortissimo des Finales (Deutschlandfunk sendet einen Konzertmitschnitt am 27. Juni um 21.05 Uhr). Frederik Hanssen https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 1/1
22.6.2021 Event-Zapping auf der Fête de la Musique Berlin | Inforadio Startseite > Programm > Kultur Di 22.06.2021 | 06:55 | Kultur Event-Zapping auf der Fête de la Musique Berlin Normalerweise steht die Fête de la Musique für dutzende Bühnen in der gesamten Stadt, ausgelassenes Publikum und jede Menge Bands. 2021 mussten die allermeisten Konzerte per Livestream stattfinden. Hendrik Schröder hat sich durch die Streams gezappt. Stand vom 22.06.2021 Beitrag hören https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/kultur/202106/22/579162.html 1/1
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 Dienstag, 22.06.2021, Tagesspiegel / Kultur Lässiges Listening Kämpfer für die Kultur, jetzt wieder Musiker: das Konzert des Jazztrompeters Till Brönner am Flughafen Schönefeld Von Gunda Bartels © Gregor Hohenberg Es juckt in den Fingern. Till Brönner, 50, kann den Stuhl jetzt wieder gegen die Bühne tauschen. Eine entspannte, bodenständige Location hat der Veranstalter Maximilian Schulze Brockhausen da auf einem ehemaligen Parkplatz am Flughafen Schöne- feld aufgezogen. In fünf Minuten Fußweg vom S-Bahnhof zu erreichen. Aus Ge- tränkekisten sind kleine Boxen für zwei oder vier Leute abgeteilt, wo es sich mit Abstand auf Klappstühlen gut lagern lässt. Zwei Bars, Fritten, Nachos, fertig. Freundlichkeit überall: Ob es die Einlasscrew ist. Oder die Hygienehinweis-Be- grüßung des DJs, den die Corona-Joblosigkeit im vergangenen Sommer auf die Idee brachte, die Konzertreihe „Unter freiem Himmel“ zu starten. Diesmal läuft sie bis 15. August mit Acts von Revolverheld bis Nena. https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 1/3
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 „Bleiben Sie dieser Konzertreihe treu“, bittet Till Brönner denn auch am Ende seines Konzerts am Sonntagabend die stehend applaudierenden Leute. Da drü- ben, sagt der Musiker und weist ins Vage, klagten Leute gegen die Konzerte. Selt- samerweise ist im Flughafen-Ödland außer einem Funktionsbau nur Wüstenei zu sehen. Sowas sei ihm schleierhaft, schüttelt Brönner den Kopf: „Manchmal weiß ich nicht mehr, was Berlin eigentlich will.“ Dabei lebe er schon 30 Jahre hier. Ein berechtigter Stoßseufzer des Popstars unter den Jazztrompetern. Kaum geschmälert vom Erbsenzählerdetail, dass Schönefeld von Brandenbur- gern bevölkert wird. Schlag acht betritt zuvor die bis hinunter zu den Füßen weiß bekleidete Lichtge- stalt Brönner die Bühne. Die Leinwand im Hintergrund verzichtet auf jedes Art- work-Gedöns. Da steht nur „Till Brönner On Vacation“, also der Titel des jüngs- ten Albums. Er lächelt freudig und wirkt lässig wie selten. Brönner mit Knitter- hemd über der Hose. War das vor Corona je zu sehen? Im November 2019, beim Weihnachtskonzert in der Verti Music Hall, stand er wie immer im schicken schwarzen Einreiher da und blies ein technisch virtuoses, aber viel zu routinier- tes, uninspiriertes Blech. Nichts davon diesmal. Zum Auftakt erklingt ein puristisches Cover der Leonard-Cohen-Ballade „A Thousand Kisses Deep“, von Till Brönner und Christian von Kaphengst als poeti- scher Dialog zwischen Flügelhorn und Kontrabass improvisiert. Kein Partyein- stieg nach der Pandemiepause, sondern ein konzentrierter Akzent: Hier stehen zwei und kommunizieren durch Musik! Angesichts des glasklaren, druckvollen, präzisen Sounds verfliegen sofort die Bedenken, ob jazzige Arrangements und der in Freiluftbühnen gern gen Himmel wabernde Soundbrei wirklich zusam- men passen. Auf dieser Brache stimmt die Mischung bis zum letzten Ton. Kaum hat sich die Abendsonne durch die passiv aggressiven Wolken gekämpft, kommt der Rest der fünfköpfigen Band auf die Bühne. Der Keyboarder stimmt ein pluckerndes Intro an, das stark nach Siebziger-Fusion klingt, Gitarre, E-Bass und Tenorsaxofon stimmen ein. Mit groovendem, relaxten Beat rollt die Funk- maschine an. Das Thema habe Dave Grusin für den Film „Drei Tages des Con- dor“ geschrieben, moderiert Till Brönner die coole Retronummer ab. Der kam 1975 raus. Treffer! Fusion, also Jazzpop, deutlicher elektronischer als der akus- tische Einstieg – das ist die andere Musikfarbe, die sich durchzieht. Und dann wird’s Zeit, dass Till Brönner eine Begrüßung spricht. Zuletzt hat er, wohltemperiert wie immer, aber trotzdem deutlich, verstärkt durch Wortbei- träge von sich reden gemacht. Einmal, als der Jazzprofessor die Politik wegen der Missachtung der freien Kulturszene in der Pandemie die Leviten las und dies auch in Talkshows und als Sachverständiger im Kulturausschuss des Bun- https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 2/3
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 destags vertrat. Ein anderes Mal, als er die Schauspielerinitiative #allesdichtmachen in Schutz nahm. In Schönefeld jedoch gilt’s der Musik. Für ihn sei das ein sehr besonderer Abend, sagt Brönner und bittet die Leute, die seit einem Jahr kein Konzert mehr gehört haben, die Hand zu heben. Alle gehen hoch. Ihm und der Band ginge es genauso, lächelt Brönner, der dieses Jahr 50 geworden ist und den Auftakt seiner Sommertour zu Hause begeht. „Deswegen sind auch wir viel aufgeregter als sonst.“ Das hält die Truppe, aus der solistisch Olaf Polziehn am Klavier, Bruno Müller an der Gitarre und Mark Wyand am Te- norsax herausstechen, nicht davon ab, einen guten Drive zu entwickeln. Den Spannungsbogen hält das durchgehend aus Midtempo-Nummern gebaute Konzert, in dem nur ein federleicht davon stiebender Samba die entspannte Grundhaltung durchbricht. Gelungen ist der Mix aus Musikfarben, in der Till Brönner nicht nur seine Version des Nancy-Wilson-Standards „Save Your Love For Me“ von „On Vacation“ vorstellt, sondern auch einen Swingklassiker wie „The Good Life“ aus seinem 2016er-Album unterbringt. Für den Titel des Ferien- Albums, das 2020 herauskam, habe er sich trotz der Pandemie entschieden, sagt der oft unter Gefälligkeitsverdacht stehende Meister trotzig. Und tatsächlich klingt diese perfekt produzierte, eskapistische Melange aus Smooth Jazz, Easy Listening und Swing wie eine erinnerungsselige Klangtapete aus der Zeit, als sie in Kalifornien noch Pools füllen konnten, ohne ein schlech- tes Gewissen wegen der Wasserknappheit zu haben. Das Unbehagen darüber, die Lizenz zur Unschuld eingebüßt zu haben, ist Brönners markanter Ballade „Lavender Fields“, die auch in Schönefeld erklingt, trotzdem eingewoben. Sein kongenialer Album-Sparringspartner, der 80-jährige Smooth-Jazz-Held Bob James, fehlt in Schönefeld an Piano und Keyboard, klar. Doch die hinge- tupfte Akkuratesse und der samtweiche Ansatz, mit der der Trompeter sich ein- mal mehr als Chet-Baker-Epigone erweist, machen das wett. Als der Mond auf- geht, zieht eine frische Brise übers Feld. Till Brönner steht vorne auf dem Steg und setzt dem Abend mit seiner Improvisation über „Just The Way You Are“ eine gleißende Spitze auf. https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 3/3
22.6.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/13 F.A.Z. - Feuilleton Dienstag, 22.06.2021 Nabelschau am Blutwursttag Frankfurter Doppelpremiere: Das Schauspiel befragt mit Bernhards „Theatermacher“ und „Ode“ von Thomas Melle die eigene Zunft nach ihren Grenzen und Gesetzen. Kann es Zufall sein, dass am Frankfurter Premierenwochenende gleich zwei Stücke zur Aufführung kommen, die sich im Theater mit dem Theater, der Kunst an sich beschäftigen? Wohl kaum. Durch die Pandemie waren die Häuser für Monate verriegelt und also gezwun- gen, sich vor allem sich selbst zuzuwenden. Neben Hygienekonzepten, die es auszutüfteln galt, hatte die unfreiwillige Nabelschau, die dramatische Selbstbefragung durchaus etwas Existentielles: Wo sich verorten in der Gesellschaft, wie weitermachen, wenn es keine Aufführungen, kein Publikum gibt, und was überhaupt ist und will Theater heute sein? Zumal die robuste Selbstverständlichkeit der Bühnenlandschaft ja nicht erst im vorigem Jahr einen Knacks bekommen hat. „Wenn wir ehrlich sind, ist das Theater an sich eine Absurdität“, heißt es bei Thomas Bernhard. Mit Thomas Melles Diskursstück „Ode“, einer 2019 uraufgeführten Auftragsarbeit für das Deutsche Theater, kam am Samstag mit Studenten der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in den Kammerspielen die erste künstlerische Introspektion zur Aufführung. Tags drauf wurde im großen Haus Thomas Bernhards moderner Klassiker „Der Theatermacher“ von Herbert Fritsch inszeniert. Melle, der sich spätestens mit dem Roman „Die Welt im Rücken“ in die erste Reihe der deutschsprachigen Literatur geschrieben hat, geht in seinem Lehrstück die Frage nach der Freiheit der Kunst am Beispiel einer provokan- ten Skulptur namens „Ode an die alten Täter“ an und stellt sich mitten hinein in die derzeit heißumkämpfte Debattenzone. Galt Yasmina Rezas Augenmerk in den neunziger Jahren in ihrem ähnlich ausgerichteten Stück „Kunst“ ästhetischen Fragen, ist es Melle um die politi- sche Ausdeutung, ja die Politisierung von Theater zu tun. Zwei Gruppen treten bei ihm in den Ring, die sich über mehrere Jahre an der künstlerischen und biographischen Hinterlas- senschaft der Konzeptkünstlerin Anne Fratzer (Anna Bardavelidze) abarbeiten. Der offenkundig rechten Vereinigung „Wehr“, die „Originalkonflikte“ und „Originalkostü- me“ einfordert und in jedem Kunstwerk „marxistischen Gehalt“ wittert, steht eine Gruppe gegenüber, die zwar Teil der Künstlerboheme oder jedenfalls mit diesem Anspruch ausge- stattet ist, zugleich aber nicht minder dezidierte Forderungen an die Kunst stellt: Geht es den einen um Brauchtum und Nationales, befragen die anderen Repräsentanz, wer wen auf der Bühne verkörpern, was wie gezeigt werden darf. „Wir sind wir und stellen nichts mehr dar“, sagt eine Schauspielerin während einer Probe zum Regisseur, der vergeblich auf Ambi- valenz pocht. Die Kunst steht von nationalen Rechten hier ebenso unter Beschuss wie von linken Moralis- ten. „Das ist also das Ende des Theaters, wie wir es kennen“, wird schon im Prolog das Thea- ter abmoderiert. Und auch am Frankfurter Folgeabend wird in Thomas Bernhards Theater- schmäh um einen abgehalfterten Staatsschauspieler, der in der Provinz – „Utzbach wie Butzbach“ – seinen Größenwahn austobt, die Hybris seiner ganzen Zunft bloßgestellt. Als Provokation funktionierte das zweifellos zu einer Zeit, als die Stellung des Theaters unange- https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/13 1/2
22.6.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/13 fochten war. Das Stück, 1985 von Claus Peymann während der Salzburger Festspiele urauf- geführt, sorgte damals für Aufsehen. Aber heute? Womöglich verzichtet Wolfram Koch in der Rolle des Bruscon auch deshalb darauf, die ganze Härte dieses Charakters auszuspielen, sondern zieht es vor, sich mit durchaus sehens- wertem Slapstick dem Irrsinn und der Todessehnsucht der Figur zu entziehen. Es ist ja auch unerträglich, wie da einer hemmungslos alles kaputtschlägt und zerstört, was ihn umgibt. Zweieinhalb Stunden lang tobt und flüstert und kreischt Koch sich die ganze Frauenfeind- lichkeit und Menschenverachtung, Homophobie und Egomanie aus dem Leib. Ginge es nach Melles Theaterwächtern aus „Ode“, so viel steht fest, dürfte „Der Theatermacher“ gar nicht erst gespielt werden. Das vom Regisseur Herbert Fritsch in viel Holz gefasste Gasthaus-Hinterzimmer, in dem Bruscon mit seiner Familientruppe sein eigenes Stück namens „Das Rad der Geschichte“ aufführen will, ist von Anbeginn dieser gar nicht so lustigen Komödie ein Ort des Scheiterns, da dem Größenwahn nichts gegenübersteht als eben Größenwahn, Selbstmitleid und Tyran- nei, wenn Bruscon die kranke Gattin (Irina Wrona), den verkrüppelten Sohn (Fridolin Sand- meyer) und die zurückgebliebene Tochter ein ums andere Mal demütigt, erniedrigt und quält. Das Theater als letzter Hort absolutistischer Herrschaftsausübung – so könnte man das zeit- genössisch lesen, als bitterböse Parodie aufs Theater, das von sich so gern als Theaterfamilie spricht, was hier in Gestalt des Bruscon-Clans auch zutrifft, dabei natürlich verlogen ist bis ins Mark, wenn nur einer der Bestimmer ist, und alle anderen sind bloß die niemals zufrie- denstellenden Erfüller. Das Kränkende des Patriarchen entstammt freilich der eigenen Kränkung, sich in einem 280-Seelen-Dorf wiederzufinden, in dem der Blutwursttag mehr gilt als sein Welttheater. Die meist stumm agierenden Wirtsfamilien-Darsteller machen dabei nonverbal umso mehr Aufhebens von der kleinbürgerlich-bornierten Haltung ihres Personals. Die Provinz, die Frittatensuppe schlürft und Römerquelle trinkt, stellt das Stück in ein naziverseuchtes Österreich, das wiederum sich in einer Welt befindet, die wahre Größe nicht erkennt. Besondere Deutungsvorschläge lässt Fritsch in seinem „Theaterma- cher“ nicht erkennen. Was er hingegen aufbietet, ist ein Ensemble voller Spiellust, was – ob mit Text (wie Wolfram Koch im Dauermonolog) oder fast ohne (wie alle anderen) – nach Monaten des Theaterentzugs durchaus eine Botschaft ist. Von solcher Spiellust war am Vorabend in den Kammerspielen leider allzu wenig zu sehen. Die Schauspielschüler hatten sich mit „Ode“ allerdings ein herausforderndes Stück gewählt, dessen Reden und Gegenreden, die zuvörderst Positionen markieren, dramatisch erst einmal sperrig sind. Die Regisseurin Anne Bader ließ ihr Ensemble in den sagenhaft durch- scheinenden Kostümen, das mal in Einzelfiguren, mal chorisch auftrat, dann zu oft dekla- mieren. Dabei hatte der multimedial aufbereitete Abend durchaus seine starken Momente. Bei aller Publikumsbeschimpfung wider die „laberverblödeten Kulturvollzeitstädter“ und das Identitäts- und Geschlechterdebattengewitter hätte dem „Ode“-Abend mehr theatrale Sinnlichkeit gutgetan. Nicht zuletzt, um Sätze stark zu machen wie „Nicht zu wissen, wer ich bin, ist vielleicht meine letzte Freiheit“. Sinnlich anregender war da „Der Theatermacher“- Abend, allerdings mit einem Stück, von dem nicht sicher ist, ob das Rad der Geschichte nicht doch darüber hinweggehen wird. Sandra Kegel https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/13 2/2
22.6.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 F.A.Z. - Feuilleton Dienstag, 22.06.2021 Die Heimat ist ein Stück Holz Nach zwölfjähriger Vorbereitungszeit öffnet die Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin ihre Türen. Das Schicksal der deutschen Vertriebenen ist nur eines ihrer Themen. Flüchten zu müssen, geflüchtet zu sein, gehört zu den Erfahrungen, die sich nicht teilen lassen. Man kann von ihnen erzählen, Fotos machen, einzelne Szenen in Filmen nachstellen, aber was es wirklich heißt, seine Heimat zu verlassen, um ins Ungewisse zu ziehen, kann nur jemand begreifen, der es erlebt hat. In Andreas Kosserts Buch „Flucht. Eine Menschheitsge- schichte“ wird der in Alexandria geborene amerikanische Schriftsteller André Aciman mit dem Satz zitiert, Exil sei „die Unmöglichkeit, jemals nicht weg zu sein“ – ein Gefühl der Abwesenheit und des Verlusts, das nicht mehr verschwindet. Schon immer hat dieses Verlustgefühl Millionen Menschen geprägt. Aber noch nie waren es so viele wie im zwan- zigsten und im einundzwanzigsten Jahrhundert. Die neue Dauerausstellung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung, die am morgigen Mittwoch eröffnet wird, versucht diesem Gefühl und der Erfahrung, durch die es ausgelöst wird, eine Form zu geben. Dabei stößt sie immer wieder an die Grenzen dessen, was in Ausstellungen gezeigt werden kann. Die Abwesenheit, der Verlust der Orte, an denen die Kindheit stattfand, ist in Objekten nicht darstellbar. Nur ausnahmsweise bekommt man eine Vorstellung von dem Schmerz, der die Geflüchteten bis an ihr Lebensen- de begleitet. Fast am Ende der Ausstellung, im zweiten Obergeschoss, stehen in einer Vitri- ne Dutzende von Holzmodellen, die ein Heimatvertriebener aus Ostpreußen in der Nach- kriegszeit von den Häusern und Kirchen seiner Geburtsstadt angefertigt hat. Es ist nur eine Auswahl aus einer größeren Sammlung. Die Arbeit dauerte Jahrzehnte. In all der Zeit, sollte man meinen, hätte der Mann sich mit seiner neuen Umgebung in Westdeutschland arran- gieren können. Aber er zog es vor, das „Riesenwerk der Erinnerung“, wie Proust es nennt, im eigenen Keller aus Holz, Leim und Farbe zu erschaffen. Der Ausstellung im Deutschlandhaus, in der das Dokumentationszentrum residiert, sind die Umstände ihrer Entstehung eingeschrieben. Ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ wollten Erika Steinbach und Peter Glotz, zwei Heimatvertriebene und politische Antipoden, im Jahr 1999 gründen, um an die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa und ihre historischen Ursachen zu erinnern. Aber der Plan fand keine politische Mehrheit, auch deshalb, weil Steinbach, bis vor sechs Jahren Präsidentin des Vertriebenenbundes, ihn durch ihr öffentliches Auftreten immer wieder desavouierte. 2005, im Todesjahr von Glotz, beschloss die Große Koalition den Gegenentwurf für ein „sichtbares Zeichen“, der schließ- lich in die Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung mündete. Das Deutsch- landhaus am Anhalter Bahnhof, in dem nach dem Krieg die Landsmannschaften des Vertriebenenbundes residiert hatten, wurde seit 2009 zum Stiftungsstandort umgestaltet. In dieser Zeit wandelte sich Steinbach von der CDU-Rechten zur Unterstützerin der AfD. Zum offiziellen Festakt am Montag war sie nicht geladen. Dass Gundula Bavendamm, die Stiftungsdirektorin, bei der Pressekonferenz vergangene Woche dennoch erklärte, die Dauerausstellung sei „ziemlich nah“ an Steinbachs Plänen, zeigt, wie sehr der Blick auf die einstige Initiatorin auch die Neukonzeption prägt. https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 1/3
22.6.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 Die Stiftung selbst hat ihren Doppelcharakter als historische und politische Institution mit internen Spaltungen bezahlt. Einer von Bavendamms Vorgängern wurde entlassen, ein zweiter warf das Handtuch. Mehrfach erklärten polnische, tschechische und deutsche Histo- riker ihren Austritt aus dem wissenschaftlichen Beraterkreis. Im Kern ging es dabei stets um die Frage, wie die Vorgeschichte der Vertreibungen dargestellt werden sollte. Der schärfste Vorwurf, der den Kuratoren der Stiftung gemacht wurde, war der einer „unterschiedslosen Empathie“ für alle Vertriebenen. „Unterschiedslos“ hieß in diesem Fall: ohne ausreichende Betonung des Zusammenhangs zwischen der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus und dem Verlust der Heimat im Osten. Die Dauerausstellung im Deutschlandhaus beantwortet diesen Einwand auf salomonische Art. Sie macht einen Unterschied, und sie macht ihn auch nicht. Sie stellt das deutsche Vertriebenenschicksal in den Kontext der Zwangsmigrationen des vorigen Jahrhunderts und hebt es zugleich heraus. Dieses Kunststück gelingt ihr dadurch, dass sie sich verdoppelt. In Wahrheit sind es zwei Ausstellungen, die von morgen an für das Publikum öffnen: eine, die ein Thema, und eine andere, die ein Narrativ, eine Erzählung hat. Die Themenausstellung steht im ersten Obergeschoss. In ihr wird die Geschichte der Vertreibungen durch Kriege, Bürgerkriege und ethnische Säuberungen seit dem neunzehn- ten Jahrhundert in Schlagworten ausgebreitet: hier „Nation und Nationalismus“, da „Wege und Lager“, dort „Erinnerung und Kontroversen“. Entsprechend diffus ist die Auswahl der Exponate: Schuhe von syrischen, Hausschlüssel von zyprischen Flüchtlingen; die Kamera eines deutschen Sanitäters, der den Genozid an den Armeniern fotografierte, der Leiterwa- gen eines Kroaten, der 1941 ins „Reich“ umsiedeln musste; der interaktive Plan eines Flücht- lingslagers in Jordanien; die Nachbildung einer Mörsergranate, die 1994 auf dem Markt von Sarajewo einschlug. Was diese Überblicksschau an wissenschaftlicher Tiefe gewinnt, verliert sie an Anschaulichkeit. Denn das Drama der Flucht überträgt sich nicht in die Dynamik der Vitrinen. Jede Tragödie bekommt ihre Schublade, jedes Ding seine Kategorie. Blut, Schweiß und Tränen sieht man hier nicht, stattdessen wird der Besucher aufgefordert, seine eigenen Listen dessen aufzustellen, „was ich nicht zurücklassen würde“. Erst am Ausgang steht man vor einem großen, gespenstischen Objekt. Es ist das Bullauge der „Wilhelm Gustloff“, die im Januar 1945 mit neuntausend Flüchtlingen in der Ostsee unterging. Eine steile Wendeltreppe, die die Architekten des Büros Marte.Marte aus Feldkirch ins entkernte Innere des Deutschlandhauses gesetzt haben, führt ins zweite Obergeschoss mit der Vertriebenenausstellung. Der Kontrast zum ersten Stock könnte nicht größer sein: Wo das Auge dort verloren zwischen den einzelnen „Themeninseln“ schwimmt, wird es hier von Station zu Station geführt. Der Parcours beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen und führt über die Umsiedlungen und Massaker der Besatzer bis zu den Vertreibungen und der Aufnahme der Flüchtlinge in der DDR und der Bundesrepublik. Hier hat jeder Gegenstand seinen genauen Ort: die Klingelschilder an einem Hauseingang in Posen wie das „N“ (für „niemiecki“), das Deutsche in Schlesien und Pommern nach 1945 tragen mussten, der Pelz- mantel, in den sich eine Gebärende auf der Flucht hüllte, ebenso wie die Wahlplakate, mit denen westdeutsche Parteien in den fünfziger Jahren um Vertriebene warben. Es ist, anders gesagt, die Ausstellung, für welche die Stiftung im Deutschlandhaus gegründet wurde, ein Repertoire von Stimmen, Bildern, Objekten, das die Erfahrung der Flucht in die heutige Vorstellungswelt übersetzt. Aber in diesem Reichtum liegt auch ihre Grenze. Denn während die Vertriebenengeschichte im zweiten Obergeschoss abgeschlossen ist, wird die der Vertreibungen im ersten Stock immer weitergehen. Die Streitfrage, ob das Schicksal der Deutschen „der“ oder nur ein Schwerpunkt des Hauses ist, wird sich historisch erledigen, https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 2/3
22.6.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 denn je länger das Dokumentationszentrum existiert, desto globaler und umfassender muss sein Blick auf die Themen sein, die es behandelt. Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hat eine historische und eine politische Aufgabe. Erstere hat sie mit der Ausstellung im Deutschlandhaus gelöst. Ob sie auch der zweiten gerecht wird, hängt davon ab, wie sie mit ihrer Rolle im Gedenkstätten-Mosaik der deutschen Hauptstadt umgeht. Zieht sie sich auf ihre musealen Kompetenzen zurück, wird das Dokumentationszentrum in seiner Bedeutung erstarren. Nutzt sie dagegen die Freiräu- me, die ihr Domizil in Sichtweite des künftigen Exilmuseums bietet, könnte sie zu einer internationalen Begegnungsstätte werden. Einem Ort, der den Erfahrungen der Flüchtlinge und Vertriebenen eine Form und eine Sprache gibt.Andreas Kilb Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90, Berlin. Ein Katalog zur Dauerausstellung ist für Ende 2021 angekündigt. https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 3/3
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 Dienstag, 22.06.2021, Tagesspiegel / Kultur Messe der Maestri von Morgen Ein Dirigierwettbewerb für Berlin: Die Karajan-Akademie der Phil- harmoniker vergibt das Siemens Conductors Scholarship Von Frederik Hanssen © Martin Walz Auf dem Sprung. Die 1987 geborene Nodoka Okisawa ist die aktuelle Assistentin von Philharmo‐ niker-Chef Kirill Petrenko. Sie wurde noch ohne Wettbewerb in die Karajan-Akademie aufgenommen. Eine Villa hatte er schon und auch ein Privatflugzeug. Darum schenkte sich Her- bert von Karajan 1969 zu seinem 60. Geburtstag: eine Stiftung. Deren Ziel sollte sein, „junge Künstler zu fördern“ und „die wissenschaftliche Forschung zu un- terstützen“. Der Maestro selbst ließ sich dann beispielsweise für neurologische Untersuchungen bei der Probenarbeit in einer Testkapsel wie ein Astronaut „verdrahten“, um die Gehirnströme messen zu können. Es gab akademische Symposien bei den Salzburger Osterfestspielen – und an seiner deutschen Wir- https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 1/4
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 kungsstätte bei den Berliner Philharmonikern gründete Karajan sowohl ein in- ternationales Jugendorchestertreffen als auch einen Dirigentenwettbewerb. Als „meine Rache an dem Beruf“ bezeichnete Karajan den Wettbewerb später einmal. „Weil man mir nicht geholfen hat, als ich jung war“, wollte er nun den Nachwuchs fördern. Mit weisen Ratschlägen, aber auch monetär: Die Gold-, Sil- ber- und Bronzemedaillen, die es zu gewinnen hab, waren gut dotiert, das Re- nommee des Namens Karajan öffneten den Siegern viele Türen. 400 Bewerbungen gingen 1969 ein, und das, obwohl die Teilnehmer eine saftige „Bearbeitungsgebühr“ zu zahlen hatten und auch die Kosten für Reise und Un- terbringung selbst tragen mussten (die Philharmoniker halfen dafür bei der Su- che nach Gastfamilien). 60 Kandidaten durften schließlich in Berlin vordirigie- ren – wobei nicht die hochnoblen Philharmoniker musizierten, sondern extra bestallte Ensembles wie die Berliner Symphoniker oder auch mal das Radioor- chester aus Köln. Ein „explosives Talent“ zu finden, das war in Karajans Worten der Sinn des auf- wändigen Unterfangens, und in der Tat ist die Liste der Teilnehmer lang, die an- schließend Karriere gemacht haben: Okko Kamu und Dmitri Kitajenko aus dem ersten Jahrgang, 1971 Mariss Jansons, später noch Valery Gergiev, Christian Eh- wald, Vasily Sinaisky, Bruno Weil, Gabriel Chmura, Oleg Caetani oder auch An- toni Wit. Fast jedes Mal nahmen auch einige wenige Frauen teil, einen Preis er- ringen aber konnte keine von ihnen. Je mehr Karajan seine Krankheiten im Alter plagten, desto weniger Kraft hatte er für den Wettbewerb übrig, Mitte der 1980er Jahre schlief er dann ganz ein. In diesem Herbst aber soll die Idee eine Renaissance erleben, in zeitgemäßer Form: Nicht mehr Medaillen gibt es beim neuen „Siemens Conductors Scholar- ship“ zu gewinnen, sondern die Möglichkeit, zwei Jahre lang als Assistent von Kirill Petrenko zu arbeiten, Karajans Nach-Nach- Nachfolger auf dem Posten des Philharmoniker-Chefdirigenten. Als Mitglied der orchestereigenen Akademie wird die Glückliche oder der Glückliche zudem ein Stipendium erhalten – sowie die Möglichkeit, mit den In- strumentalisten des Traineeprogramms ein Konzert im Kammermusiksaal zu gestalten. „Ich bin mir sicher, dass die Kandidat:innen uns förmlich überrennen werden“, sagt Stephan Frucht, der Leiter des Siemens Arts Program. „Denn das Attraktivste, was einem jungen Dirigenten oder einer jungen Dirigentin passie- ren kann, ist doch, in eine Institution wie die Berliner Philharmonie integriert zu sein, Anregungen vom Kirill Petrenko zu bekommen, den anderen großen Di- https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 2/4
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 rigenten, die hier auftreten, bei den Proben zuschauen zu können und auch noch aktiv mit der Akademie zu arbeiten.“ Der Auswahlprozess für den international ausgeschriebenen Wettbewerb ist entsprechend komplex, wie Peter Riegelbauer erklärt, Kontrabassist im Orches- ter und seit 2015 Geschäftsführer der Orchesterakademie: „Wir verlangen von allen Bewerber:innen Videos, die ihre Arbeit zeigen. Diese müssen zunächst ge- sichtet werden, was zeitlich ein enormer Aufwand ist, und schließlich werden zehn bis 15 Kandidat:innen zugelassen.“ Der Wettbewerb erstreckt sich über mehrere Tage: In der ersten Runde stehen die angehenden Orchesterleiter:innen beim Dirigieren nur vor zwei Pianisten, die die Partituren in vierhändigen Versionen spielen, so wie es oft auch in den Hochschulen üblich ist. Die Hälfte kommt danach in die zweite Runde, in der die Karajan-Akademisten dann auf dem Podium sitzen. Beim öffentlichen Ab- schlusskonzert am 24. Oktober entscheidet sich schließlich zwischen zwei oder drei Finalisten, wer das Siemens Conductors Scholarship erhält. „Assistenten der Chefdirigenten gab es bei uns immer“, sagt Riegelbauer, „doch erst Sir Simon Rattle hatte die Idee, sie in die Akademie einzubinden. Duncan Ward war der erste, der diesen Platz erhalten hat, danach kam im Übergang von Sir Simon zu Kirill Petrenko Gregor Meierhofer und aktuell ist es Nodoka Oki- sawa.“ Der Musiker findet es sinnvoll, dass nun auch die Assistent:innen des Chefdirigenten durch dasselbe Auswahlverfahren bestimmt werden wie die In- strumentalisten – auch wenn so ein Probespiel vor einer Jury deutlich aufwän- diger zu organisieren ist. Doch das finanzielle Engagement von Siemens macht es jetzt möglich. Das Prozedere hat Riegelbauer zusammen mit dem Arts-Pro- gram-Leiter Stephan Frucht entwickelt, der selbst ausgebildeter Dirigent ist. Dass sie das Höchstalster der Teilnehmer:innen auf 35 Jahre festgelegt haben, während es bei Karajans Wettbewerb noch bei 30 Jahren lag, erklärt Riegelbauer so: „Insgesamt ist zu beobachten, dass die Ausbildungszeiten in den Musikberu- fen länger geworden sind. Und Dirigent:innen müssen ein besonders umfangrei- ches Studium absolvieren. Unsere aktuelle Stipendiatin Nodoka Okisawa ist Jahrgang 1987 – und ist sehr dankbar, bei uns sein zu können.“ Und Frucht fügt hinzu: „Von Karajan stammt die Formulierung, Dirigent ist ein Beruf, bei dem die Ausbildung 20 Jahre dauert.“ Kirill Petrenko allerdings konnte sein erstes Kapellmeisterengagement bereits mit 25 Jahren antreten, zwei Spielzeiten spä- ter war er schon Generalmusikdirektor am Theater Meiningen. Das Horrorszenario, dass sich die Jury mehrheitlich für eine Person entschei- den könnte, die Kirill Petrenko für absolut unbegabt hält, mögen sich die beiden https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 3/4
22.6.2021 https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 Organisatoren gar nicht erst ausmalen. „Es wird zu einem einvernehmlichen Vo- tum kommen“, sind sie sich sicher. Der Philharmoniker-Chef sei ja von Anfang an begeistert gewesen von der Idee der Scholarship-Vergabe durch einen Wett- bewerb. „Weil er dadurch viele Talente in kürzester Zeit kennenlernen kann“, betont Riegelbauer. Auch die Karajan-Akademie ist übrigens eine Gründung von Petrenkos berühm- tem Vorgänger. 1972 war er als Erster auf die Idee gekommen, ein Exzellenzför- derprogramm für die besten Hochschulabsolventen bei seinem Orchester zu etablieren. Zunächst waren die Herren Musiker damals von den neuen Mento- renpflichten gar nicht begeistert, aber bald wurde ihnen klar, wie sinnvoll es ist, wenn sie als Praktiker die jungen Musiker:innen mit den ungeschriebenen Re- geln und Gesetzen des Klassikbetriebs vertraut machen. Peter Riegelbauer war 1981 der erste, der den Sprung von der Akademie zur Festanstellung im Orches- ter schaffte. Mittlerweile sind über 32 Prozent der Philharmoniker Absolventen des Exzellenzförderprogramms. https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476615/24-25 4/4
22.6.2021 https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937940/12-13 Dienstag, 22. Juni 2021, Berliner Zeitung / Kultur für postpandemische Zei- ten Was folgt aus Thomas Oberenders überraschendem Rückzug bei den Berliner Festspielen? GALERIE 2 Das Haus der Berliner Festspiele in der SchaperstraßeImago HARRY NUTT A ls in der vergangenen Woche die Nachricht öffentlich wurde, dass Tho‐ mas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele, seinen bereits verlängerten Vertrag nicht antreten werde, war das zwar kein Beben, aber doch eine kulturpolitische Überraschung. Im Berliner Kulturleben macht man sich auf allen Ebenen bereit, wieder loszulegen, da läuft ein Amtsver‐ zicht Gefahr, als Erschöpfungssyndrom wahrgenommen zu werden. Im Fall von Thomas Oberender scheint die Konzentration auf neue Aufgaben, über die er sich noch bedeckt hält, durchaus plausibel. Der 55-Jährige hat den sperrigen Kulturtanker Berliner Festspiele, der eher eine Dachorganisation für verschiedene Festivals und Einzelveranstaltungen ist, bald zehn Jahre geleitet. Da ist es nachvoll‐ ziehbar, dass einem kreativen Geist, der vor allem an administrative Aufgaben ge‐ bunden ist, nach neuen Herausforderungen dürstet. Zumal Thomas Oberender mit seinem kuratorischen Selbstanspruch, Veranstaltungsformen der sogenannten Im‐ mersion zu entwickeln und zu fördern, nicht sonderlich auf Gegenliebe gestoßen ist. Neue Unübersichtlichkeit https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937940/12-13 1/3
22.6.2021 https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937940/12-13 Unter Kulturvermittlern und -journalisten rümpfte man nicht selten die Nase und gab vor, gar nicht so genau zu wissen, was unter dem Begriff der Immersion eigent‐ lich zu verstehen sei. Ging es darum, sich vorsorglich dumm zu machen, um den neuesten performativen Trend zunächst einmal vorüberziehen zu lassen? Ohne den Anspruch auf definitorische Vollständigkeit könnte Immersion als das Eintauchen in Wahrnehmungsformen beschrieben werden, in denen virtuelle und analoge Realität interagieren. Thomas Oberenders Begeisterung für immersive Kunstformen, so meine Vermutung, hat vielfach auch die Angst vor einem um sich greifenden Orientierungsverlust ausgelöst. Als in den 1980er-Jahren insbesondere aus Frankreich die hierzulande dominanten kritischen Gesellschaftstheorien mit dem sogenannten Poststrukturalismus konfrontiert wurden, feierte Jürgen Haber‐ mas über die bis dahin von ihm erschlossene Leserschaft hinaus große Erfolge mit der Ausdeutung einer „neuen Unübersichtlichkeit“. Einer muss ja selbst dann noch sagen, wo es langgeht. Thomas Oberenders spektakulärstes Vorhaben, das womöglich nur bedingt einer immersiven Idee zuzurechnen war, scheiterte indes an kulturpolitischer Reserviert‐ heit und lokalpolitischer Verwaltungsstrenge. Der russische Filmregisseur Ilya Khrzhanovsky wollte in Berlin sein opulentes Gesamtkunstwerk über den Physiker und Nobelpreisträger Lew Dawidowitsch Landau innerhalb einer eigens in Berlin- Mitte errichteten Pappmache-Architektur zur Darstellung bringen. Filmkunst und das Nachempfinden diktatorischer Lagererfahrung schossen hier zusammen in der Biografie eines Wissenschaftlers zwischen den Welten. Radikale Kunst, Freiheit und der Entzug derselben – alles sollte im DAU-Projekt erfahrbar gemacht werden. Der Bezirk Mitte setzte der Umsetzung schließlich ein Ende. Zu gefährlich, zu spät beantragt. Aus der Sicht Thomas Oberenders aber wäre es der Schritt in eine andere künstlerische Dimension gewesen, die Kritiker allzu schnöde auf die Formel Spektakelkunst gebracht haben. Der Kulturpolitiker Oberender hat sich das Scheitern des von ihm verantworteten DAU-Projektes nicht lange anmerken lassen, das künstlerische Temperament aber dürfte gelitten haben. Sein nun erfolgter Rückzug bedarf insofern eines zweiten Ge‐ dankens, weil es vielleicht gerade jetzt lohnend sein könnte, die Überlegungen zur immersiven Kunst mit den durch die Corona-Pandemie spürbar veränderten Dar‐ stellungsformen zu verbinden. Gerade die Berliner Festspiele mit ihren so unterschiedlichen Aktivitäten – darun‐ ter das Theatertreffen, die MaerzMusik, das Jazzfest, das Musikfest Berlin sowie die multifunktionalen Häuser Martin-Gropius-Bau und das Haus der Berliner Festspie‐ le in der ehemaligen Freien Volksbühne – verlangen geradezu nach einer kulturel‐ len Neupositionierung, insbesondere mit Blick auf digitale Präsentations- und Par‐ tizipationsformen. Um in der Pandemie sichtbar zu bleiben, wurden Theaterauf‐ führungen und Konzerte kurzerhand als Streaming-Events angeboten. Welche Rückkopplungen aber ergeben sich für digital vertriebene Formen darstellender Kunst und Musik, wenn man die Einheit von Aufführung und Ort erst einmal ver‐ lassen hat? Die Ergebnisse der zurückliegenden eineinhalb Jahre sind allerdings sehr ernüchternd. Die existenzielle Not vieler Einrichtungen ist gravierend, und der ästhetische Ertrag des Digitalisierungsschubs ist dürftig. Es wird nicht gleich alles zu Kunst, was das Mobiltelefon über einen QR-Code erspäht. Einfach ausblenden https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937940/12-13 2/3
22.6.2021 https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937940/12-13 und an einen Zustand vor der Pandemie anknüpfen geht allerdings auch nicht mehr. Hatte man die Berliner Festspiele zuletzt als Sammelsurium heterogener Künste, Branchentreffs und diskursiver Formate wahrgenommen, die einander eher zufäl‐ lig berührten, so könnten sie nun nach einer postpandemischen Wiedergeburt auch als experimentelles Netzwerk verstanden werden, in dem sich die Einzelbe‐ standteile neu aufeinander beziehen. Kann es sein, dass man Thomas Oberenders Vorstellungen dazu nicht rechtzeitig und angemessen abgerufen hat? Personalwechsel hinterlassen, erst recht nach ei‐ ner stattlichen Amtszeit, nicht zwangsläufig ein kulturpolitisches Loch. Ebenso bie‐ ten Führungswechsel die Garantie auf einen Neuanfang. Mehr als der Zauberlehr‐ ling mit den immersiven Kunststücken ist Thomas Oberender ja ein scharfer Beob‐ achter mit der Begabung, Themen der Zeit auf den Punkt zu bringen. Tektonische Verschiebungen Am Beispiel der Berliner Festspiele jedoch wird nun sichtbar, dass die Berliner Kul‐ turlandschaft im Zusammenspiel aus Landes- und Bundeseinrichtungen eines postpandemischen Resets bedarf, der sich nicht einfach darin erschöpfen darf, nach Monaten der Schließung und Stille wieder Luft durch die ins Schloss gefalle‐ nen Tore ziehen zu lassen. Im Schatten der Corona-Epidemie sind das Humboldt- Forum, die Neue Nationalgalerie und die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in digitalen und hybriden Zeremonien eröffnet worden. Das waren aus der Not ge‐ borene Eröffnungen oder Wiedereröffnungen, die spürbar Ausschau hielten nach neuen Formen gesellschaftlicher Repräsentation. Es käme aber darauf an, die tek‐ tonischen Verschiebungen innerhalb der Kulturlandschaft in ihrem vollen Umfang zu erfassen und darauf stabile Formen der Darstellung und Experimentierfreude zu errichten. https://epaper.berliner-zeitung.de/webreader-v3/index.html#/937940/12-13 3/3
22.6.2021 https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 F.A.Z. - Feuilleton Dienstag, 22.06.2021 Koloniale Erfahrung Friedenspreis für Tsitsi Dangarembga Tsitsi Dangarembga war bislang kein bekannter literarischer Name in Deutschland. Das hat sich jetzt mit einem Schlag geändert: Die 1959 im damaligen Rhodesien geborene simbabwi- sche Schriftstellerin erhält in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die international meistbeachtete literarische Auszeichnung unseres Landes. Der Stiftungsrat lobt Dangarembgas „einzigartiges Erzählen mit einem universellen Blick“, das sie „nicht nur zu einer der wichtigsten Künstlerinnen ihres Landes, sondern auch einer weithin hörbaren Stimme Afrikas in der Gegenwartsliteratur“ mache. Nur hatte man sich hierzulande kaum für diese Bücher interessiert, obwohl die Autorin eine deutsche Vergangenheit hat: Von 1989 an studierte sie an der Deutschen Film- und Fern- sehakademie in Berlin und drehte hier auch mehrere Filme, später kehrte sie für ein Afrika- nistik-Studium noch einmal aus Simbabwe nach Berlin zurück. Dazwischen aber schien die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga zum Opfer ihrer Begeisterung fürs Filmemachen gewor- den zu sein. Dabei hatte sie als Romanautorin mit Aplomb begonnen. Nachdem ihr auf Englisch verfass- ter Debütroman „Nervous Conditions“ in Simbabwe keinen Verlag gefunden hatte, wurde er 1988 von der Londoner Women’s Press veröffentlicht. Er erzählt die Geschichte des Mädchens Tambudzi, dessen Biographie mit jener der Autorin weitgehend deckungsgleich ist, und damit vom Aufwachsen in einem Land, in dem während der sechziger Jahre nicht nur die englische Kolonialherrschaft zu bröckeln beginnt, sondern sich auch in den Dörfern die verkrusteten Strukturen verändern. Wie politisch dieser Roman gemeint war, zeigt sein Titel, der eine Formulierung von Jean-Paul Sartre aus dessen Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialistischem Paukenschlag „Verdammte dieser Erde“ zitiert. Es dauerte denn auch nur drei Jahre, bis der Roman auf Deutsch erschien: als „Der Preis der Freiheit“ bei Rowohlt, übersetzt vom jungen Ilija Trojanow, seit damals einem der wichtigsten Vermittler afrikanischer Literatur. Doch das Buch ging weitgehend unter; erst 2018 erschien es neu und unter anderem Titel („Aufbrechen“) im kleinen Orlanda Verlag, der ausschließlich Bücher von Frauen veröffentlicht. Nach dem Debüt kam eine lange literarische Pause, während derer Tsitsi Dangarembga sich als Filmemacherin betätigte. Erst 2006 setzte sie den Stoff aus „Nervous Conditions“ fort: mit dem Roman „The Book of Not“, der Tambudzi nun in die Schule begleitete. Und noch einmal zwölf Jahre dauerte es, ehe Dangarembga in „The Mournful Body“ die Emanzipati- onsgeschichte ihrer Protagonistin mit deren Berufseinstieg zur Trilogie rundete. Dieser Roman kam 2020 auf die Shortlist des britischen Booker Prize, der wichtigsten literarischen Auszeichnung in Großbritannien. Als „Überleben“ wird das Buch im September auf Deutsch erscheinen, wieder bei Orlanda – eine Punktladung vor der Verleihung des Friedenspreises, die am 24.Oktober in der Frankfurter Paulskirche stattfinden wird. https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467169/11 1/2
Sie können auch lesen