Arabesk-Gräben in der Türkei - Norient

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Arabesk-Gräben in der Türkei | norient.com                             2 Mar 2022 18:31:04

    Arabesk-Gräben in der Türkei
    by Susanne Schanda

    Musik ist nicht einfach Musik. Sie steht und entsteht in enger
    Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und politischen
    Entwicklungen. Dies gilt besonders für die moderne Türkei,
    die sich seit hundert Jahren an den Gegensätzen von Ost und
    West reibt. Selbst der aktuelle Machtkampf zwischen der
    moderat islamischen Machtelite und den säkularen
    Kemalisten spiegelt sich in der globalisierten Musikszene des
    Landes.

    «Woher kommst du?» fragen Einheimische in aller Welt Besucher aus der
    Fremde. In den Gecekondus, den über Nacht illegal erstellten Siedlungen an
    den Rändern von Istanbul, Ankara und Izmir fragen Türken andere Türken:
    «Woher kommst du?» Denn kaum einer stammt aus der Stadt selbst, alle sind
    sie zugewandert aus Anatolien oder der Schwarzmeerregion, auf der Flucht
    vor Armut und Krieg. Ein Fremder ist, wer nicht aus demselben Dorf kommt.
    Zugehörigkeit und Solidarität besteht nur zwischen Menschen mit gleicher
    Herkunft. Bei diesen Landflüchtlingen in den Slums an den Rändern der
    türkischen Megastädte ist seit den 1960er-Jahren Arabesk entstanden, eine
    Mischung aus arabischem Schlager und türkischer Volksmusik, gesungen
    voller Herzschmerz und unterlegt von Streicherarrangements. «Die Texte
    handeln von Schicksalsergebenheit, Einsamkeit, Schmerz und Verzweifelung,
    ohne aber klare Aussagen zu haben. Daher konnte jeder seine persönlichen

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Arabesk-Gräben in der Türkei | norient.com                                2 Mar 2022 18:31:04

    Leiden hineinlesen», sagt Martin Greve, deutscher Musikethnologe und
    Spezialist für Musik in der Türkei. Arabesk war die Musik der einfachen Leute
    und der aufstrebenden Mittelschicht der Migranten. Sie wurde auf Cassetten
    verbreitet und oft in den Minibussen gespielt, was ihr auch die Bezeichnung
    Minibus-Musik einbrachte. Die intellektuellen Eliten und die Kemalisten
    lehnten Arabesk ab, und in den staatlichen Medien war diese Musik jahrelang
    verboten, weil sie «die Moral der Bevölkerung zersetze». Erst nach 1980 habe
    der damalige Ministerpräsident Turgut Özal Arabesk rehabilitiert und für
    seine politischen Kampagnen genutzt, sagt Greve. «Arabesk wurde die
    eigentliche Popmusik, kommerziell und damit auch politisch relevant. Selbst
    politische Liedermacher liessen sich von dieser Musik beeinflussen.»

    Die Polemik des Konzertpianisten

    Heute haftet dieser Musik, die unter der Welle der westlichen Popmusik nicht
    etwa ertrank, sondern diese integrierte, das Image des Rührseligen,
    Kitschigen und Rückständigen an. Die Türkei versteht sich seit hundert
    Jahren als westliches Land. Ihre Musikerinnen und Musiker tauschen sich mit
    Kollegen aus aller Welt aus, viele von ihnen studieren in Europa. Seit Beginn
    des 20. Jahrhunderts wird an türkischen Konservatorien nach europäischen
    Lehrmethoden unterrichtet und musiziert. Aus diesen Kreisen der
    Kunstmusik schlägt der Arabesk-Musik nur Verachtung entgegen. Erst vor
    wenigen Monaten hat Fazil Say, international renommierter Komponist und
    Konzertpianist mit einer Polemik gegen die Arabesk-Musik eine Debatte
    losgetreten, die gesellschaftliche und politische Gräben in der Türkei bloss
    legt. Auf seiner Facebook-Seite nannte Say Arabesk eine «Last für
    Intellektualität, Modernität, Führungskraft und Kunst» und schrieb: «Ich
    schäme, schäme, schäme mich für das Arabesk-Proletentum beim türkischen
    Volk.» In einem Zeitungsinterview sagte er später, Arabesk stehe für einen
    «Geist des Niedergangs». Diese Provokation liessen die Arabesk-Anhänger
    nicht auf sich sitzen. Sie nannten den Musiker krank und einen Faschisten.

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Arabesk-Gräben in der Türkei | norient.com                               2 Mar 2022 18:31:04

    Fazil Say ist ein überzeugter Anhänger von Kemal Atatürk, dem Gründer der
    modernen Türkei und repräsentiert die säkular-kemalistischen Eliten. Seit
    dem Wahlsieg der religiös-konservativen Regierungspartei AKP von
    Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2003 verlieren die
    Kemalisten immer mehr an Boden. Sie fürchten, dass die anatolische, fromm-
    konservative Mittelschicht die türkische Republik islamisieren wolle. Der
    Musikethnologe Martin Greve relativiert die Bedeutung dieser Debatte. Fazil
    Say stehe zwar politisch eher links und könne sich auch differenzierter
    ausdrücken, aber hier komme ein elitäres Überlegenheitsgefühl zum
    Ausdruck: «Ein Konzertpianist wettert gegen eine einfache
    Unterhaltungsmusik.»

    Fundamentalisten auf allen Seiten

    Dem türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk ist die Verschmelzung von
    östlicher Tradition und westlicher Moderne auf faszinierende Weise gelungen.
    Aufgewachsen in einer säkularen Familie der Istanbuler Oberschicht, die die
    Türkei als einen Teil Europas sah, war ihm die westliche Kultur von Kindheit
    an vertraut. «Religion schien mir damals eine Beschäftigung für arme Leute»,
    sagt er im Interview. Erst im Alter von 35 Jahren begann er, die östliche und
    islamische Tradition und Kultur zu erforschen. «Eine traditionelle und
    daneben eine erworbene Kultur zu haben ist notwendig für die künstlerische
    Tätigkeit», sagt Pamuk. Doch gebe es überall Fundamentalisten, die nur eine
    einzige und einheitliche Kultur gelten lassen wollen, kritisiert er: «Es gibt
    auch säkulare Fundamentalisten, die nichts ertragen können, was mit
    Religion, islamischem Mystizismus oder Tradition zu tun hat.» Tatsächlich
    haben sich die Kulturen längst vermischt, und zwar in allen Bereichen des
    türkischen Musiklebens, wie Martin Greve ausführt: «Es gibt keine Musik
    ohne solche Mischung. Was anscheinend ‹traditionell› ist, ist fast immer
    ebenso westlich beeinflusst wie alles andere, nur merkt man es erst auf den
    zweiten Blick.» Sei es der türkische Rockmusiker Erkem Koray, der junge
    Rapper Ceza, die kurdische Sängerin Aynur oder Sezen Aksu, die seit
    Jahrzehnten erfolgreich Pop mit klassischer türkischer Musik verbindet, die
    Klangwelten entwickeln sich nicht im Glashaus, sondern im aktiven
    Austausch mit anderen Strömungen. In der Türkei gibt es sogar Muezzine, die
    ihren Ruf zum Gebet als Gesang verstehen. Für Fundamentalisten ist dies
    Gotteslästerung. Aber Fundamentalisten gibt es überall.

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    Dieser Text ist auch erschienen in der Wochenzeitung WOZ, am 13.1.2011

    → Published on January 31, 2011

    → Last updated on October 08, 2020

    Susanne Schanda ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten
    und Schnittstellen zwischen den Kulturen. 1960 in Geldrop (Niederlande) geboren,
    aufgewachsen in der Schweiz, lebt sie heute in Bern. Nach dem Studium der
    Literaturwissenschaft und Philosophie vorerst Literatur- und Theaterkritikerin für
    verschiedene Schweizer Zeitungen, dann Kultur- und später Auslandredaktorin. Seit
    den 1990er Jahren Beschäftigung mit der arabischen Sprache, Kultur und
    Gesellschaft und ausgedehnte Reisen im Nahen und Mittleren Osten. Seit 2004
    freie Journalistin für Schweizer und internationale Zeitungen, Radio und Web-
    Publikationen.

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