ARCHE NOA - DAS ENDE VOM SCHLUSS - Theater Chemnitz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ARCHE NOA – DAS ENDE VOM SCHLUSS
ARCHE NOA – DAS ENDE VOM SCHLUSS Farce von Sören Hornung Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik 2020 | URAUFFÜHRUNG THEODORE MÜLLER SCHULZ – Theodore Müller Schulz Lauretta van de Merwe DIETMAR DER ANWALT – ein Transmann Martin Esser SIMONE DIE AUSHILFE – eine Frau mittleren Alters wie man so sagt Katka Kurze EINE TOTE MUTTER – eine Frau älter als die Frau mittleren Alters GOTT – Gott halt Christine Gabsch BUNDESWEHR-SOLDAT KARL SCHMIDT – ein Soldat Alexander Ganz-Kuhl 2
REGIE Matthias Huber BÜHNE UND KOSTÜM Cleo Niemeyer DRAMATURGIE Stefanie Esser REGIEASSISTENZ Luzie Thomalla INSPIZIENZ Burkhard Reitz SOUFFLAGE Uta Seidel PRODUKTIONSHOSPITANZ Hannah Wörner / Clara Ipsen TECHNISCHE DIREKTION Raj Ullrich | TECHNISCHE LEITUNG SCHAUSPIELHAUS Jörg Lenk | TECHNISCHE EINRICHTUNG Sven Uhlig | BELEUCHTUNGSEINRICHTUNG Ingo Friede | MASKE Anja Nickel | REQUISITE Thomas Seipold | RÜSTMEISTER Klaus-Dieter Beyer Kostüme und Dekorationen wurden hergestellt in den Werkstätten der Städtischen Theater Chemnitz. LEITUNG DER WERKSTÄTTEN Norbert Richter | PRODUKTIONSLEITUNG Norbert Richter | TISCHLEREI/ SCHLOSSEREI Mike Langensiepen | MALSAAL/ PLASTIK Katja Byhan-Weber | DEKORATIONSABTEILUNG Gert Wilhelm | KOSTÜMABTEILUNG Mallika Manuwald PREMIERE digitale Uraufführung 15. Mai 2021 | Aufgezeichnet zur Generalprobe am 20. November 2020, Schauspielhaus, Große Bühne SPIELDAUER 1 Stunde 35 Minuten (ohne Pause) AUFFÜHRUNGSRECHTE henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin JURY DES CHEMNITZER THEATERPREISES 2020 Andrea Czesienski (henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag), Lisanne Hirzel (Schauspielerin DIE THEATER CHEMNITZ), Matthias Huber (Regie), René Schmidt (Dramaturgie DIE THEATER CHEMNITZ), Johannes Schulze (Vor- sitzender des Fördervereins der städtischen Theater Chemnitz e. V.). 3
ZUM STÜCK Willkommen in der Zukunft! Draußen breitet sich ein grausamer Nebel aus, der alles und jeden tötet – doch Dietmar der Anwalt hat Glück, er kann in den Supersupermarkt flüchten. Dank gut gefülltem Portemonnaie lässt ihn Simone die Aushilfe eintreten. Aber nur solange er konsumiert. Schließlich muss Simone den Laden am Laufen halten. Im SuperSupermarkt herrschen eigene Gesetze, das versteht Dietmar schnell. Bizarre Gestalten sind vor dem Nebel hierher geflüchtet. Eine tote Mutter erzählt kryptische Horrorgeschichten, schließlich sind es doch Geschichte, die dem Ganzen Sinn geben. Mit Hilfe der NOA Verkaufstechnik hält Simone die Stimmung hoch. Bundeswehrsoldat Karl Schmidt weiß das zu schätzen. Dankbar lauscht er Simones Weissagungen aus dem Groschenroman Der grausame Nebel des Grauens der alles und jeden tötet, und prophetisch bestätigt sich, was Simone schon lange weiß: Gedanken gestalten die Welt da draußen. Früher verkaufte Karl Schmidt 3-D-Drucker, bis ein terroristischer Angriff seine Karriere beendete. Seither ist er Drohnenpilot, zuständig für entfremdetes Töten. Unverstanden, falsch ausgerüstet für die Welt, bleibt ihm nur die Gewissheit, dass die Wahrheit allein demjenigen gehört, der sie beansprucht – und er legt sich mit Dietmar an, dem die Verrücktheit langsam zu viel wird. Als die Lüftung ClimateChange 2030 ausfällt, passiert es schließlich: das Eis schmilz, der Wasserpegel steigt, die Apokalypse ist da und jede*r kämpft ums Überleben. Dietmar angelt mutierte Fischen, Simone baut an einer Arche und Gott betritt die Bühne, aber nur kurz – denn eigentlich handelt es sich hier um eine andere Geschichte. Es geht um die Geschichte von Theodore Müller Schulz – und sie ist es auch die entscheidet, wer im Nebel des kapitalistischen Daseins umherirrend, erzählen darf und wer zuhören muss. ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss von Sören Hornung ist das Gewinnerstück des Chemnitzer Theaterpreises 2020. Stefanie Esser 4
Es ist Mitternacht Die Geisterstunde Für eine letzte Geschichte haben wir aber noch Zeit Eine letzte Geschichte Macht es euch bequem meine Kinder Öffnet eure Ohren und schenkt mir eure Herzen Und wenn ihr Angst habt dann behaltet sie für euch Denn Angst ist das Einzige was sich verdoppelt wenn man es teilt EINE TOTE MUTTER aus Sören Hornung ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss 7
ARCHE NOAH Und der HERR sprach zu Noah: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus; denn dich habe ich für gerecht befunden vor mir zu dieser Zeit. Und er ging in die Arche mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Sintflut. Und sie gingen zu ihm in die Arche paarweise, je ein Männchen und Weibchen, wie ihm Gott geboten hatte. Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde. Und die Wasser nahmen über- hand und wuchsen sehr und die Arche fuhr auf den Wassern. So vertilgte er alles, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel. Sie wurden von der Erde vertilgt. Allein Noah blieb übrig und was mit ihm in der Arche war. Da gedachte Gott an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war; und Gott ließ Wind auf Erden kommen, und die Wasser fielen. Am siebzehnten Tag des siebenten Monats setzte die Arche auf dem Gebirge Ararat auf. Nach vierzig Tagen tat Noah an der Arche das Fenster auf, das er gemacht hatte. Da aber die Taube nichts fand, wo ihr Fuß ruhen konnte, kam sie wieder zu ihm in die Arche; denn noch war Wasser auf dem ganzen Erdboden. Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in die Arche. Da harrte er noch weitere sieben Tage und ließ abermals die Taube fliegen aus der Arche. Im sechshundertundersten Jahr Noahs am ersten Tage des ersten Monats waren die Wasser vertrocknet auf Erden. Da tat Noah das Dach von der Arche und sah, dass der Erdboden trocken war. Durch den Glauben hat Noah Gott geehrt und die Arche gebaut zur Rettung seines Hauses, als er ein gött liches Wort empfing über das, was man noch nicht sah; durch den Glauben sprach er der Welt das Urteil und hat ererbt die Gerechtigkeit, die durch den Glauben kommt. Die Bibel 8
DIE NOA VERKAUFSTECHNIK Willst du NUR dieses Düngemittel damit deine Pflanze ein langes Leben haben wird ODER willst du AUCH dieses Anti BorkenkäferSpray Niemand will sich etwas andrehen lassen Wir wollen ja alle die freie Entscheidung haben Damals hat man noch verkauft aber heute Heute kauft man Mit der NOA Technik frage ich dich nach dem ersten Ding welches ich dir verkaufen will und frage dich dann ob du auch noch irgendeinen vollkommen unbrauchbaren Mist dazu haben willst Dann sagst du natürlich So ein Scheiss Das brauche ich nun wirklich nicht und denkst dass du dir nichts hast andrehen lassen Dabei wollte ich dir nie den Mist verkaufen den ich dir als Zusatz gesagt habe Was ich dir verkaufen wollte war das erste das teurere Produkt Und das schöne bei der NOA Technik ist dass wir uns beide gut fühlen Du freust dich weil du denkst dass du dich nicht hast übern Tisch ziehen lassen Ja und ich freue mich weil ich dich übern Tisch gezogen habe. SIMONE DIE AUSHILFE aus Sören Hornung ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss 9
WER WIR WAREN Wir kamen aus einer Zeit mit einer hohen Meinung von etwas, das wir „Privatsphäre“ nannten, scheu vor der Beobachtung, schüchtern vor dem Ausbreiten unserer intimen, familiären, persönlichen Momente. Wir gaben sie auf. Das Ich war nicht länger schützbar. Es war die Zeit, in der der Außenraum feindlich wurde. Horror vacui. Wir atmeten durch, wenn wir unsere Häuser verließen, von Kameras beobachtet, von unseren Geräten belauscht. Der Außenraum wurde zu einer Zone, die überwunden werden musste, ehe Zerstreuung und Einkehr in den Shopping Malls übernahmen, die Kontemplation über dem Schuh. Und der Schuh übernahm. Kein Grund, ihn nicht persönlich zu nehmen und ihn als Teil unseres Ichs der Welt zu zeigen. Wir gaben uns preis, entdeckten den Fort- setzungsroman unseres Lebens und spiegelten ihn nach außen: Ich habe gegessen, ich war krank, ich reiste, der Blick aus dem Hotelzimmer war dieser: ein Haus, ein Hund, ein Schuh, ein Wetter. Damit etwas in die Öffentlichkeit trete, brauchten wir kein Epos mehr und keine Idee, keine Legitimität und keine Relevanz, keine Vermittler mehr, keine Journalisten oder Bio- graphen. Wir waren uns selbst genug. Eine riesige autobiographische Welt entstand, ein Konfettiregen der Bilder, Daten, Affekte. Wir wurden ja nicht allein von außen durch- sichtig, wir machten uns auch selbst transparent. Keine Zeit hat je eine Öffentlichkeit so mikroskopisch genau zerlegt und detailvergrößern können wie diese. Damit wandelt sich auch die Idee des Adressaten literarischer Botschaften, des Empfängers pathetischer Auf- klärungsideen. Unsere Geschichten vervielfältigen sich ins Maßlose, unsere Empathie aber war nicht gleich stark entwickelt. Wer sollte, wer wollte noch teilhaben? Am Ende waren Sprecher, Aussendende, Bedeutung Beanspruchende überall. Roger Willemsen 10
HALT DIE KLAPPE Es ist nicht immer leicht das Leben Manchmal da ist es einfach schwer Da denkt man Wie soll ich das denn schaffen Wie komme ich aus dieser Scheiße nur raus Aber man kommt da raus Die Lösung ist meist viel näher als man denkt JA SCHAU MICH AN Bevor der Nebel kam da hatte ich auch eine richtig schwere Zeit JA MIR GING ES BESCHISSEN OK Aber habe ich aufgegeben NEIN Ich habe mir gesagt DAS WIRD SCHON WIEDER SIMONE DU MUSST JETZT GUT ZU DIR SEIN DIR ETWAS GUTES TUN Also bin ich in diese Shopping Mall Ich bin also zu meinem Lieblingsladen und ich war total gut drauf ja und weißt du was Der Laden hatte zu GESCHLOSSEN Der hatte einfach zu gemacht ohne dass ich das Na Ich hab das nicht bemerkt Da war nichts Nicht mal nen Schild Einfach nichts Ja Ich drückte da mein Gesicht gegen das Schaufenster und in mir und vor mir war NICHTS ALLES LEER KEINE SNEAKERS KEINE SHIRTS NUR ICH UND DIE LEERE Und dann dann wurde ich so richtig also ich wurde richtig sauer ja Das kann doch nicht sein dass die den Laden dicht machen und ich bekomme nichts davon mit In meiner linken Hand die Visakarte und ich kann nichts mit der machen weil dieser verkackte Laden zugemacht hat Ich stand da rum und hab gebrüllt SCHEISSE SCHEISSE WAS SOLL DENN DER SCHEISS IMMER WIEDER GANZ LAUT RUFE ICH SCHEISSE ICH HAB MICH AUS MEINER VERSCHISSENEN WOHNUNG RAUSGEQUÄLT BIN IN DIE KRASS ÜBERFÜLLTE BAHN GESTIEGEN UM MIR NUR EIN BISSCHEN EIN KLEINES BISSCHEN GLÜCK UND DANN HAT DIESER VERKACKTE LADEN ZU ICH WILL SOFORT MEINEN LADEN ZURÜCK WENN NICHT SOFORT DIESER LADEN WIEDER AUFMACHT DANN BRINGE ICH MICH UM und ich schaue mich um und auf der ande- ren Seite des Centers und da war der Laden Viel größer als vorher Umgezogen Und plötzlich überkommt mich so ein Gefühl Das hatte ich vorher noch nie Ich fühlte mich gut Im Leben gibt es manchmal Situationen da steht man so dicht vorm Fenster und drückt sich daran die Nase platt und denkt Scheiße dabei müsste man sich nur einmal umdrehen SIMONE DIE AUSHILFE aus Sören Hornung ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss 11
Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermesslichen Undurchsichtig- keit erfüllt. Da ist die Rede von so vielen Dingen, dass es das Denk vermögen eines Leibniz über- schritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegen- über, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer all gemeinen Nährflüssigkeit. ROBERT MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften 13
EINE WEITERE GESCHICHTE … PLASTIK In Europa werden Jahr für Jahr Millionen Tonnen Plastik nach einmaligem Gebrauch weggeworfen. Der meiste Abfall wird vom Land über Flüsse und den Wind ins Meer getragen. Geschätzte 380 Tonnen Kunststoff schwemmt der Rhein jedes Jahr in die Nordsee. Allein am Grund der Nord see liegen vermutlich mehr als 600 000 Kubikmeter Müll, das entspricht 1,5 Mal dem Kölner Dom. Dieses Plastik gelangt nicht nur über die Nahrungskette auf unsere Teller, die Giftstoffe darin können gravie- rende Folgen haben, von Entwicklungs störungen bis zu Unfruchtbarkeit und Brust- oder Prostatakrebs. KREUZFAHRT Ein Kreuzfahrtschiff stößt pro Tag so viel CO2 aus wie ca. 84 000 Autos, so viel Feinstaub wie ca. 1 Million Autos und so viel Schwefeldioxid wie gut 376 Autos. Kreuzfahrtschiffe liegen zu 40 Prozent in Häfen. In dieser Zeit verbrauchen sie die Energie einer Kleinstadt. 14
STROHHALMVERBOT Die Europäische Union hat das Verbot von Einweg-Plastikprodukten endgültig beschlossen, da diese mehr als 70 Prozent des im Meer schwimmenden Kunst- stoffmülls ausmachen. Mit dem Plastikstrohhalm im Cocktail ist also bald ebenso Schluss wie mit dem Plastikbesteck beim Picknick. Die vereinbarte Richtlinie soll ab 2021 in der gesamten EU umgesetzt werden und sieht dabei auch neue Auflagen für Verpackungen und Getränkeflaschen vor. 3D-DRUCK Es ist längst nicht mehr nur die NASA, die Essen drucken möchte. Volker Lammers vom Deutschen Institut für Lebensmitteltechnik (DIL) erforscht seit 2018 den 3D-Druck von protein- und stärkebasierten Lebensmitteln. Lammers kooperiert dafür mit der Technischen Universität München. Das Team möchte herausfinden, wie man Rohstoffe mechanisch oder thermisch verarbeiten muss, um sie druckbar zu machen. So könnte in Zukunft auch veganes Fleisch aus dem 3D-Drucker kommen. KOBALT Das Metall Kobalt wird größtenteils für die Herstellung von Lithium-Ionen-Akkus in beispielsweise Handys oder Elektroautos benötigt. Der weltweite Bedarf ist hoch und steigt stetig, bis 2026 werden es bis zu 225 000 Tonnen jährlich sein, welche zu mehr als 60 Prozent in der Demokratischen Republik Kongo gefördert werden. Hier schürfen Menschen – Erwachsene wie Kinder – mit einfachsten Werkzeug das Erz. Die Folge sind Belastungen für die Umwelt und die Gesundheit. Auch Hinweise auf Schäden am Erbgut bei Kindern liegen vor, so Forscher der belgischen Universität Löwen. KINDERARBEIT FÜR SMARTPHONES In kleinen Kobaltminen im Süden des Kongos schürfen Minderjährige unter prekären Bedingungen und ohne Sicherheitsausrüstung. Die Kinder, die das Kobalt abbauen, werden nicht nur gezwungen für einen Lohn von ein bis zwei Dollar pro Tag Vollarbeit zu leisten, die extrem gefährlichen Bergbaujobs kosten sie ihre Ausbildung und Zukunft. Sie werden regelmäßig durch Tunneleinbrüche und andere Gefahren im Kobaltbergbau verstümmelt und getötet. 15
DER NEBEL DES GRAUENS ist ein US-amerikanischer Horrorfilm (The Fog – Nebel des Grauens) von Regisseur John Carpenter. Der Film stammt aus dem Jahre 1980 und zählt zu den Klassikern des Genres. „In fünf Minuten ist es zwölf Uhr. Für eine Geschichte bleibt uns gerade noch Zeit“, damit beginnt der Film, der davon erzählt, wie sich zum 100-jährigen Gründungsfest eines kleinen Fischerdorfs die ahnungslosen Bewohner versammeln, um das Jubiläum zu begehen. Niemand der Anwesenden weiß, dass mit der Gründung des Dorfes eine schreckliche Grausamkeit einherging. Die ersten Siedler sendeten damals falsche Signale vom Leuchtturm, es galt die Ankunft von Leprakranken zu verhindern. Das Schiff der Kranken zerschellte an den Klippen. 100 Jahre später steigt ein dichter Nebel vom Meer auf. Die Geister der ertrunkenen Männer kehren zurück, um sich zu rächen. KARL MARX UND DIE ENTFREMDUNG „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert“, schreibt Marx, „tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“ Doch das sei nur eine von vier Formen der Entfremdung im arbeits- teiligen Kapitalismus: Bereits „im Akt der Produktion“ fühlten sich Fabrikarbeiter ent- fremdet, etwa durch eintönige Tätigkeiten, wie Charlie Chaplin sie später in seinem Film Moderne Zeiten so unnachahmlich vorführt. Je mehr Körper und Geist zu Werkzeugen der Daseinssicherung würden, desto mehr entfremde sich der Mensch auch seinem „eignen Leib“. Zuletzt nennt Marx „die Entfremdung des Menschen von dem Menschen“ infolge von Vereinzelung und Konkurrenz. Kontrollverlust im Teufelskreis: Seele wandert in Sachen, Sachen erzeugen Zwänge, Zwänge verformen Seele, bis wir uns und einander fremd geworden sind. Den Kapitalismus schert das alles nicht. Kapitalistische Produktion geschieht nach Marx allein um ihrer selbst willen: um Märkte mit fabrikmäßig hergestellten Massenwaren zu versorgen. Äußerst modern stellt er fest, dass auch die Nachfrage erzeugt werde: „Jeder Mensch spekuliert darauf, dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen.“ Jürgen Neffe 17
Menschen machen sich immer wieder ihre eigenen Erzählungen, um komplizierte, schmerzvolle Erlebnisse und Zusammenhänge ertragbar zu machen. Wenn sich viele damit identifizieren, gewinnt so eine Erzählung an Macht und verdrängt andere Erzählungen. Diese Erzählungen schwelen so lange, bis sie auserzählt worden sind, bis kein Auftrag, keine Hoffnung mehr in ihnen steckt. SÖREN HORNUNG 18
AUTOR SÖREN HORNUNG Sören Hornung (*1989 in Berlin) ist Regisseur, Autor und Performer. 2012 gründet er mit Paula Thielecke das KOLLEKTIV EINS, welches gängige Narrative aufbrechen und ihnen neue oder bisher unerhörte Erzählungen entgegenstellen will. 2014 ist Hornung an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg Mitbegründer und Festivalkoordi- nator des ManieFest. Seine Inszenierung von Ibsens Ein Volksfeind wird 2015 zum Körber Studio junge Regie eingeladen. 2016 absolviert er sein Regiestudium an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Hornungs Stück Sieben Geister wird für den Osnabrücker Dramatikerpreis (2017) nominiert und erhält den Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik (2018). Das KOLLEKTIV EINS ist bei dem SPIELTRIEBE 7 Festival am Theater Osnabrück vertreten. Sieben Geister wird zum Heidelberger Stückemarkt einge- laden und am Schauspiel Chemnitz (R.: Laura Linnenbaum) erfolgreich uraufgeführt. Torben Ibs nominiert Sieben Geister in der Kritiker*innen Umfrage von Theater heute zum Stück des Jahres. Hornungs Stücke Enter Germania (Volkstheater Rostock) und Die Legende von Sorge und Elend (Theaternatur Festival) werden uraufgeführt. Die Legende von Sorge und Elend ist in Form einer szenischen Lesung als Beitrag zum 30 JAHRE FRIEDLICHE REVOLUTION – MAUERFALL Festival zu erleben. Die Kulturstiftung des Bundes fördert das KOLLEKTIV EINS im Fonds Doppelpass und im Zuge dessen bespielt das KOLLEKTIV EINS den öffentlichen Raum in Chemnitz und Wien mit der Dauerperformance Ein Zimmer für sich allein (nach dem Essay von V. Woolf). 2019 wird ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss für den Osnabrücker Theaterpreis nominiert. Ein Jahr später folgt die Nominie- rung für den Heidelberger Stückemarkt und der Chemnitzer Theaterpreis für junge Dra- matik sowie die Platzierung auf der Stückemarkt Shortlist des Berliner Theatertreffens. 19
Ich auch Ja Ich denke ich lebe Ich bin in letzter Zeit ein wenig Der Nebel Da Na der Nebel der Irgendwie bin ich Ich bin irgend- wie Ich weiß nicht Ich weiß nichts mehr Ich wusste mal was Aber jetzt Ich Wer Was Wo bin ich denn DIETMAR DER ANWALT aus Sören Hornung ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss 20
WER WIR WAREN Wir waren die, die verschwanden. Wir lebten als der Mensch, der sich in der Tür umdreht, noch etwas sagen will, aber nichts mehr zu sagen hat. Wir agierten auf der Schwelle – von der Macht des Einzelmenschen zur Macht der Verhältnisse. Von der Macht der Verhältnisse in die Entmündigung durch Dinge, denen wir Namen gaben wie „System“, „Ordnung“, „Marktsituation“, „Wettbewerbsfähigkeit“. Ihnen zu genügen, nannten wir „Realismus“ oder „politische Vernunft“. Auf unserem Überleben bestanden wir nicht. Denn unser Kapitulieren war auch ein „Mit-der-Zeit-Gehen“. So bewegten wir uns in die Zukunft des Futurums II: Ich werde gewesen sein. Da aber die meisten Menschen kein moralisches Verhältnis zur Zukunft haben, sondern ein pragmatisches, und da die großen Zukunfts- träume ausgeräumt oder wahr geworden sind, stellen sich die Menschen die Zukunft oft nur noch unscharf vor. Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übriglassen, sind auch stark im Visionären. Diese unsrige Zeit ist es nicht, deshalb befindet sich die Zukunft auch eher im Stillstand und wird einstweilen weniger imaginiert als vielmehr organisiert und kontrolliert. Die letzte Epoche der Utopie hat begonnen, und wie alle Ressourcen wird auch die Zukunft knapp. Am Ende aller Berechnungen ist sie eben keine gänzlich Unbekannte mehr. Was kommt, kommt dann nicht als Utopie, sondern als Spekulationsobjekt der Realpolitik, und da die wahren Paradiese ohnehin jene sind, die wir verloren haben, stellen sich viele die ideale Zukunft schon vor als die Wiederkehr des Vergangenen oder schlicht als Erlösung. So gesehen hat die alte Zukunft keine Zukunft. Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, die begriffen, aber sich nicht ver gegenwärtigen konnten, voller Information, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst. Roger Willemsen 21
INSZENIE- RUNGSTEAM MATTHIAS HUBER (REGIE) Nach dem Stu- dium der Dramaturgie war Matthias Huber zunächst Regieassistent am Schauspiel Leipzig, assistierte u. a. Karin Henkel und Michael Thalheimer. Mit seiner Inszenierung Kochen mit Elvis am Schauspiel Leipzig wurde er 2005 in Theater heute als bester Nachwuchsregisseur nominiert. Von 2008 bis 2013 arbeitete er als Regisseur und Dramaturg am Schauspiel Chemnitz. Hier inszenierte er u. a. Die Grönholm- Methode, goldfischen, 8 Väter und Tinten- herz, leitete die Sparte Junges Schauspiel und das Late-Night-Format NACHTSCHICHT. Von 2013 bis 2018 war Matthias Huber Dramaturg am Schauspiel Leipzig, Leiter des Schauspielstudios der HMT Leipzig (mit dessen Studierenden er 2014 Der Zwerg Nase inszenierte) und der inklusiven Projekte Simultanübersetzung und Audio- deskription. Er arbeitete mit Regisseur* innen wie Eva Lange, Stephan Beer oder Georg Schmiedleitner zusammen – und 22
immer wieder mit Claudia Bauer (Einladungen zu mehreren Festivals, u. a. mit der Romanadaption von 89/90 zum Berliner Theatertreffen 2017). Seit Herbst 2018 arbeitet Matthias Huber als freischaffender Regisseur, Dramaturg sowie als Autor für Audio deskriptionen in Kino, Fernsehen und Theater. Zuletzt inszenierte er die Uraufführung von Ich bin dann mal weg nach Hape Kerkeling am Hessischen Landestheater Marburg, wofür Cleo Niemeyer die Ausstattung entwarf. Zusammen zeichnen sie verantwortlich für die Uraufführung des Chemnitzer Theaterpreises für junge Dramatik 2020. CLEO NIEMEYER (BÜHNE UND KOSTÜM) studierte an der Hochschule für Bildende Künste Dresden Bühnen- und Kostümbild. Nach ihrem Diplom 2011 machte sie 2013 ihren Abschluss als Meisterschülerin von Barbara Ehnes. Während des Studiums zeichnete Cleo Niemeyer als Bühnen- und Kostümbildnerin für verschiedene Schauspiel-, Opern- und Tanzproduktionen u. a. am Festspielhaus Hellerau, am Kleinen Haus des Staats- schauspiels Dresden und am Schauspiel Chemnitz verantwortlich. 2013 arbeitete sie an der Ausstattung für das Schauspielhaus Wien im Rahmen der Wiener Festwochen mit. Von 2013 bis 2015 war sie am Maxim Gorki Theater Berlin als Bühnenbildassistentin engagiert. In dieser Zeit realisierte sie dort auch eigene Arbeiten. Seit 2015 ist Cleo Niemeyer als freischaffende Bühnen- und Kostümbildnerin tätig. Ihre Arbeit führte sie u. a. ans Staatstheater Cottbus, Schauspiel Leipzig, Theater Bielefeld, Konzerttheater Bern, Maxim Gorki Theater Berlin, E.T.A. Hoffman Theater Bamberg, und ans Ballhaus Naunyn strasse Berlin. Dabei arbeitet sie mit Regisseur*innen wie Mizgin Bilmen, Matthias Huber, Branko Janack und Sasha Marianna Salzmann. 23
IMPRESSUM Städtische Theater Chemnitz gGmbH theater-chemnitz.de | facebook.com/DieTheaterChemnitz | instagram.com/DieTheaterChemnitz Spielzeit 2020/2021 Generalintendant Dr. Christoph Dittrich Schauspieldirektor Carsten Knödler REDAKTION Stefanie Esser | LAYOUT PUNKT 191 Marketing & Design | DRUCK Die Theater Chemnitz | INSZENIERUNGSFOTOS Nasser Hashemi (am 17.11.2020 zur KP2) TEXTNACHWEISE S. 5: Originalbeitrag Stefanie Esser; S. 6: Originalbeitrag aus dem Textbuch Sören Hornung: ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss; S. 8: Die Bibel. https://www.bibleserver.com/search/LUT/Arche (am 18.11.2020); S. 9: Originalbeitrag aus dem Textbuch Sören Hornung: ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss; S. 10: Willemsen, Roger: Wer wir waren. Zukunfts- rede. Fischer (Frankfurt am Main) 2016; S. 11: Originalbeitrag aus dem Textbuch Sören Hornung: ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss; S. 13: Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt (Reinbek) 1980; S. 14/15/17: Textbeiträge / Materialsammlung: Hannah Wörner. Quellen:*(siehe rechts); S. 18: Das Stückporträt: Sören Hornung – ARCHE NOA von Georg Kasch https://georgkasch.de/2020/04/24/portraet-gott-ist-muede/ (am 18.11.2020); S. 19: Text Stefanie Esser. Quellen: https://www.soerenhornung.com/ & https://henschel-schauspiel.de/de/person/2139 (am 18.11.2020); S. 20: Willemsen, Roger: Wer wir waren. Zukunftsrede. Fischer (Frankfurt am Main) 2016; S. 24: Originalbeitrag aus dem Textbuch Sören Hornung: ARCHE NOA – Das Ende vom Schluss. Texte wurden redaktionell bearbeitet (gekürzt, z. T. umgestellt und an die neue Rechtschreibung angeglichen). Die zitierten Textstellen aus ARCHE NOA – das Ende vom Schluss folgen (in Orthografie und Interpunktion) dem Originaltext. Urheber die nicht erreicht werden konnten, bitten wir um nachträgliche Kontaktaufnahme. BILDUNTERSCHRIFTEN Titel: Martin Esser; S. 5: Lauretta van de Merwe; S. 6: Christine Gabsch; S. 9: Christine Gabsch, Martin Esser; S. 12/13: Katka Kurze; S. 14: Katka Kurze; S. 16: Alexander Ganz-Kuhl; S. 20: Martin Esser, Christine Gabsch; S. 22: Lauretta van de Merwe Diese Einrichtung wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.
* TEXTBEITRÄGE / MATERIALSAMMLUNG S. 14/15/17: Hannah Wörner. Quellen: PLASTIK Detloff, Kim (2016): Müllkippe Meer. Plastik und seine tödlichen Folgen. https://www.nabu.de/imperia/md/content/nabude/meeresschutz/19-05- mu__llkippe_meer-5-2019-final.pdf (am 18.11.2020) & https://www.nabu.de/natur-und-landschaft/meere/muellkippe- meer/muellkippemeer.html (am 23.11.2020) & Heinrich-Böll-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Bund (2019): Plastikatlas. Daten und Fakten über eine Welt voller Kunststoff https://www.boell.de/de/2019/05/14/plastikatlas?dimension1=ds_plastikatlas (am 22.11.2020); KREUZFAHRT Schaff, Victoria (2015): 11 Dinge, die jede*r über Kreuzfahrten wissen sollte. https://utopia. de/ratgeber/kreuzfahrten-kreuzfahrtschiffe/ (am 18.11.2020); STROHHALMVERBOT Kerl, Christian (2018): EU beschließt Plastikverbot – Was bald alles verboten ist. https://www.morgenpost.de/politik/article216047361/Plastikverbot-Strohhalm- und-Co-Ab-2021-sind-diese-Produkte-in-der-EU-verboten.html (am 18.11.2020); 3D-DRUCK Muth, Max u. Lindemann, Christoph (2016): Kommt unser Essen bald aus dem 3D-Drucker? https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/veganes-fleisch- lebensmittel-aus-dem-3d-drucker-was-geht-und-was-noch-nicht-geht/25591118.html (am 18.11.2020); KOBALT Nestler, Ralf (2019): Konfliktsoff Kobalt – Das heikle Metall im Handy-Akku. https://www.tagesspiegel.de/wissen/konfliktstoff-kobalt- das-heikle-metall-im-handy-akku/24517052.html (am 14.11.2020); KINDERARBEIT FÜR SMARTPHONES Spiegel, sop (2019): Vorwürfe gegen Microsoft, Google und Tesla – Familien von Minenarbeitern klagen gegen Tech-Konzerne. https://www.spiegel.de/netzwelt/gadgets/kobaltabbau-in-der-dr-kongo-minenarbeiter-familien-klagen-gegen-tech-konzerne- -a-1301623.html (14.11.2020); DER NEBEL DES GRAUENS (Film) www.moviepilot.de (am 18.11.2020); KARL MARX UND DIE ENTFREMDUNG Jürgen Neffe: Kontrollverlust. Aus: Die Zeit vom 25.04.2018. https://www.zeit.de/2018/18/karl-marx- 200-jahre-analyse-kapitalismus/komplettansicht (am 18.11.2020).
Sie können auch lesen