Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887

 
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Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
Hans Kraft/Wilhelm Evers/Alfred Junker/Gunnar-Volkmar Schneider-Hartmann/Herbert
Stermann/Christan Wiglow

Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
Ratinger SPD erkämpfte erstmals 1964 die absolute Mehrheit im Ratinger Stadtrat

Die SPD in Ratingen von 1887 bis 1933
In der Frühphase der Industrialisierung bestand in Preußen ein gesetzliches
Koalitionsverbot, sodass die Arbeiter weitgehend rechtlos waren, da es noch keine
Gewerkschaften gab.
In Ratingen-Cromford, damals noch Bürgermeisterei Eckamp, nahm der Elberfelder
Kaufmann Johann Gottfried Brügelmann schon Ende des 18. Jahrhunderts, also rund 70
Jahre vor der eigentlichen Industrialisierung, die erste mechanische Baumwollspinnerei (Bau
1783-1784) auf dem Kontinent in Betrieb. Bereits im Jahre 1795 beschäftigte Brügelmann
hier an der Anger rund 400 Personen, darunter auch Kinder. Erwähnenswert ist, dass
Brügelmanns Enkel Moritz bereits 1856 eine Arbeiter-Unterstützungskasse ins Leben rief,
um die Arbeiter bei Erkrankung, Verletzung und Arbeitsunfähigkeit abzusichern.
Insoweit waren die Ratinger schon frühzeitig über die Probleme einer lohnabhängigen
Beschäftigung informiert. Bis auf die Firma Brügelmann waren die Arbeitsmöglichkeiten
jedoch begrenzt. Außer im Handel und Handwerk gab es lediglich Arbeit und Lohn in
Dachziegeleien, Kalkbrennereien sowie in Stein- und Marmorbrüchen.
Mitte des 19. Jahrhunderts kam es nach Aufhebung des Koalitionsverbotes in Preußen zur
Gründung von Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Die ideologische Grundlage bildete
hierbei das 1848 von Marx und Engels veröffentlichte „Kommunistische Manifest“.
So steht auch in Ratingen die Gründung der SPD in einem direkten Zusammenhang mit der
Industrialisierung und der Aufhebung des Koalitionsverbotes.
Leider wurden in Ratingen nach 1933 schriftliche Unterlagen der SPD von den
Nationalsozialisten vernichtet. Man kann aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass bereits
Anfang 1887 eine Parteiorganisation der SPD in Ratingen bestand, denn es konnte
nachgewiesen werden, dass am 3. Januar 1887 eine erste öffentliche Parteiversammlung
stattfand, an der rund 400 Personen teilnahmen.
Im katholisch geprägten Ratingen war die Zentrumspartei um 1850 und auch in den
folgenden Jahrzehnten bis zum Beginn des 1. Weltkrieges die stärkste politische Kraft.
Die SPD als reine Arbeiterpartei und konfessionell ungebunden hatte es dagegen schwer, zu
den Stimmen der Arbeiterschaft weitere Wähler aus Teilen des Bildungsbürgertums für sich
zu gewinnen.
Nach der Gründung der SAPD im Jahre 1869 nahm der politische Einfluss der
Sozialdemokraten ständig zu.
Die SPD war übrigens die erste Partei in Preußen, die über relativ feste Strukturen verfügte,
in der man formell Mitglied wurde und regelmäßig Beiträge zahlte.
Die erfolgreiche politische Arbeit der SPD in Ratingen zwischen den Jahren 1870 und 1890
geht unter anderem aus den Ergebnissen der Reichstagswahlen hervor:

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Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
1874:          4 SPD-Stimmen
1877:         16 SPD-Stimmen
1878:         26 SPD-Stimmen
1890:         348 SPD-Stimmen

Der Anstieg der Wählerstimmen zwischen 1878 und 1890 ist desto beachtlicher, da in dieser
Zeit aufgrund des „Sozialistenausnahmegesetzes“ die SPD verboten war.
Die politischen und sozialen Missstände als Folge der Industrialisierung führten ab dem
Jahre 1890 verstärkt zur Gründung von Gewerkschaften. So auch in Ratingen, wo im Jahre
1891 der Deutsche Metallarbeiterverband, 1896 der Deutsche Holzarbeiterverband, 1897
der Gewerkschaftsverein der deutschen Metallarbeiter Hirsch-Dunker und 1901 der
Christlichsoziale Metallarbeiterverband gegründet wurden.
Diese Gewerkschaftsgründungen beweisen, dass bereits um die Jahrhundertwende die
Ratinger Arbeiterschaft sich auf eine gut organisierte Interessenvertretung verlassen
konnte. Zwischen der SPD und den freien Gewerkschaften, hierzu gehörte in Ratingen der
Deutsche Metallarbeiterverband, bestand eine enge politische Bindung und
Zusammenarbeit.
Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ist
durch Nachkriegselend, Inflation und Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet. In dieser Zeit
waren es vor allem Kommunalpolitiker der SPD, die sich engagiert und uneigennützig dafür
eingesetzt haben, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Hier seien
stellvertretend vor allem CarlZöllig und „Harry“ Kraft genannt, denen u. a. in dieser
Recherche eine eigene Biografie gewidmet wird. Aber ebenso dürfen die sozialen
Aktivitäten folgender Sozialdemokraten nicht unerwähnt bleiben. Es sind Gustav Marggraf,
Hubert Pütz, Ernst und Karl Beier, August Wendel und Willi und Gustav Selbeck.
In der gesamten Zeit von 1919 bis 1933 schalteten die „bürgerlichen“ Parteien in der
Vorwahlphase zahlreiche aggressive Anzeigen in der Ratinger Zeitung. Dies, aber vor allem
die traditionelle Wahlgewohnheit der vorwiegend katholischen Bevölkerung in Ratingen
führte zu den guten Wahlergebnissen der Zentrumspartei.
Bei den „linken“ Parteien waren solche Anzeigenkampagnen in der damaligen Zeit nicht
üblich und wurden in den untersuchten Zeitungen auch nicht gefunden. Trotz der fehlenden
optischen Werbung bei den Wählern kamen die Sozialdemokraten doch zu guten
Ergebnissen. Dies ist vor allem dem sozialen Engagement der oben erwähnten
Sozialdemokraten zu verdanken.
1933 kam mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten das Ende der Demokratie. Die
SPD und andere demokratische Parteien wurden verboten.
Da außerdem in der Zeit zwischen 1933 und 1945 auch in Ratingen politisch
Andersdenkende von der Gestapo brutal verfolgt wurden, beschränkte sich die politische
Arbeit ehemaliger SPD-Mitglieder und Sympathisanten, wenn überhaupt, nur im Geheimen
auf private Treffen mit Gleichgesinnten.

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Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
Die folgende tabellarische Übersicht basiert auf Artikeln der Ratinger Zeitung, die für diese
Recherche im Ratinger Stadtarchiv zur Verfügung standen. An dieser Chronologie lassen sich
die verschiedenen Wahlergebnisse übersichtlich ablesen und vergleichen.

Ratinger Zeitung vom 22. Januar 1919
Ergebnisse der Nationalversammlung vom 19.1.1919
Sozialdemokratische Partei Deutschl. (SPD):                        163 Sitze
Zentrum:                                                     91 Sitze
Deutsche Demokratische Partei (DDP):                         75 Sitze
Deutschnationale Volkspartei (DNVP):                         44 Sitze
Unabhängige Sozialdemokratische P. D. (USPD):                22 Sitze
Deutsche Volkspartei (DVP):                                  19 Sitze
„Andere“:                                                    7 Sitze
                                                              421 Sitze

Ergebnisse Düsseldorf-Stadt und Land vom 19.1.1919

Obermeyer (SPD):             33.931 Stimmen
Giesberts (Zentrum):         91.405 Stimmen
Erkelenz (DDP):              28.401 Stimmen
Koch (DNVP):                 22.490 Stimmen
Agnes (USPD):                58.634 Stimmen

Ratinger Zeitung vom 29. Januar 1919

Ergebnisse der Preußischen Wahlen vom 26.1.1919 in Ratingen

Zentrum:                                                          2.900
USPD:                                                             2.240
DNVP:                                                               572
DDP:                                                                242
MSPD (Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschland):             379

Ratinger Zeitung vom 5. März 1919

Ergebnisse der Stadtverordnetenwahl v. 4.3.1919 in Ratingen

Liste Semmler (Zentrum):                    2565 Stimmen (15 Sitze)
Liste Zöllig (USPD):                        1947 Stimmen (10 Sitze)
Liste Berckhoff (DNVP):                      663 Stimmen (3 Sitze)

In den Stadtrat wurden u. a. gewählt:
Carl Zöllig, Karl Kleindick, August Rosendahl, Hubert Pütz

Ratinger Zeitung vom 5. März 1919
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Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
Am 3. März 1919 wurden alle örtlichen Soldatenräte und Bezirksräte aufgelöst. Keine
weiteren Berichte über Ratingen und Umgebung wurden erwähnt.

Ratinger Zeitung vom 6. Mai 1924

Ergebnisse der Stadtratswahl vom 4.5.1924 in Ratingen
Ordnungsblock:                                   7 Sitze
USPD:                                            3 Sitze
CSV (ChristlichSoziale Volksgemeinschaft):       2 Sitze
KPD (Kommunistische Partei Deutschland):         5 Sitze
Zentrum:                                         7 Sitze
DSP (Deutschsoziale Partei):                     2 Sitze

In den Stadtrat wurden u. a. gewählt:

DSP:          Zöllig,Kleindick
USPD:         Montini, Issel, Ritter
CSV:          Maaßen, Terhart
KPD:          Hayn, Lauer, Frau Walther, Leibold, Biergans

Ratinger Zeitung vom 18. November 1929

Ergebnisse der Stadtratswahl vom 17.11.1929 in Ratingen

Zentrum:                     9 Mandate
Ordnungsblock:               7 Mandate
SPD:                         6 Mandate
KPD:                         4 Mandate

In den Stadtrat wurden u. a. gewählt:

SPD:          Zöllig, Ritter, Issel, Selbeck, Hayn, Elisabeth Neuhaus
KPD:          Weiß, Montini, Fußbahn, Wefel

Ratinger Zeitung vom 14. Juli 1930

Ergebnisse der Stadtratswahl vom 13.7.1930 in Ratingen
(in Klammern: Ergebnisse der vorherigen Wahl)

Zentrum:                     8 Mandate (9)
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Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
Ordnungsblock:               6 Mandate (7)
SPD:                         6 Mandate (6)
KPD:                         5 Mandate (4)
NSDAP:                       2 Mandate (0)
CSV:                         1 Mandate (0)

Ratinger Zeitung vom 13. März 1933

Ergebnisse der Kommunalwahl vom 12.3.1933 in Ratingen
(in Klammern: Ergebnisse der vorherigen Wahl)

Zentrum:                      8 Mandate (8)
Ordnungsblock:                3 Mandate (6)
SPD:                          2 Mandate (6)
KPD:                          4 Mandate (5)
NSDAP:                       11 Mandate (2)

In den Stadtrat wurden u. a. gewählt:

SPD: Peter („Harry“) Kraft, August Wendel
Der Spitzenkandidat der SPD, CarlZöllig, der seit 1919 im Stadtrat aktiv tätig war, konnte mit
140 Stimmen kein Mandat erlangen.
KPD: Fußbahn, Klug, Speckamp, Kräm

Die SPD in Ratingen nach dem 2. Weltkrieg

Die Stadt Ratingen wurde im Krieg hart getroffen und war zu vierzig Prozent ausgebombt.
Überall gab es nur Trümmer und Schutthalden. Es herrschten Not und Elend. Die Menschen
brauchten vor allem Nahrungsmittel und ein Dach über dem Kopf.

Sofort nach Kriegsende waren auch wieder Personen zur Stelle, die bereit dazu waren, sich
politisch für das Allgemeinwohl einzusetzen. Aus sozialdemokratischer Sicht spielten beim
Wiederaufbau herausragende Rollen der vor der Gestapo gegen Ende des Krieges
untergetauchte Carl Zöllig, der Buchenwald-Überlebende Josef Schappe und der von den
Nazis aus einer Ratssitzung verhaftete, charismatische spätere Bürgermeister Peter (gen.
„Harry“) Kraft.

Gemeinsam war diesen drei Persönlichkeiten, dass sie schon vor der Nazizeit politisch aktiv
gewesen waren und ab 1933 immer wieder Repressalien ausgesetzt wurden. Ihre
Lebensentwürfe galten nach der Machtübernahme nichts mehr. Es kam immer wieder zu
Schutzhaftmaßnahmen, Einsperrungen und Misshandlungen. Josef Schappe erging es dabei
am schlimmsten, denn zunächst wurde er ins Zuchthaus gesperrt, von da an bis zur
Befreiung durch die Alliierten in das Konzentrationslager Buchenwald.

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Erste öffentliche Parteiversammlung der SPD in Ratingen im Januar 1887
Als diese drei mutigen Männer nach dem Krieg für den Aufbau eines neuen, demokratischen
Gemeinwesens gebraucht wurden, waren sie mit voller Tatkraft zum Wohle der Stadt dazu
bereit.

Heute ist Ratingen eine florierende Stadt mit über 90.000 Einwohnern und einem sehr
hohen Gewerbesteueraufkommen. Nicht nur im Kreisgebiet Mettmann, sondern im
gesamten NRW gehört die Stadt zu den finanziell am besten dastehenden Kommunen.

Wie ist dieser Wandel von den Ruinen des Krieges zum Wohlstand der Gegenwart zu
erklären?

Eine erste Erklärung liegt sichtbar auf der Hand. Der Begriff „hervorragende Infrastruktur“
wird immer wieder im Zusammenhang mit der erstaunlich guten Gewerbeansiedlung
genannt. Ratingen ist über einen Kranz von Autobahnen exzellent zu erreichen. Der ÖPNV
ist sehr gut ausgebaut.

Der eigentliche Trumpf der Stadt aber liegt in der unmittelbaren Nähe zum Flughafen
Düsseldorf. Aus wirtschaftlicher Sicht gehört Ratingen zu den größten Profiteuren des
Flughafens und hat gegenüber anderen Städten dadurch einen riesigen Standort- und
Wettbewerbsvorteil. Dieser Vorteil hat sich nicht durch historische Zufälle irgendwie
ergeben. Er ist das Ergebnis weitsichtigen und entschlossenen politischen Handelns.

Mit dem legendären Bürgermeister „Harry“ Kraft an der Spitze verfügte die SPD im Rate der
Stadt ab 1964 über die absolute Mehrheit. Die jahrelange Stagnation und Prozessiererei im
Verhältnis zu Düsseldorf und dem Flughafen wurde durch den „Angerland-Vergleich“ von
1965 beendet. Die Stadt Ratingen stellte ihre Prozesse ein und der Flughafen erhielt klar
definierte Planungssicherheit für den Ausbau. Damals bestand ein fast familiäres Verhältnis
zwischen den sozialdemokratischen Führungsspitzen der Städte Ratingen und Düsseldorf.

In diesem Zusammenhang darf ein sozialdemokratisches Stadt- und Kreistagsmitglied nicht
unerwähnt bleiben. Es ist Alfred Junker, der lange Fraktionsvorsitzender der Ratinger SPD
und stellvertretender Bürgermeister war. Er war es, der hinter den Kulissen Einsicht in die
Ratinger politischen Verhältnisse und großen Einfluss auf die von Sozialdemokraten
gelenkten Geschehnisse hatte. Auf der politischen Ebene der Fraktionen der Ratinger und
Düsseldorfer SPD gelang es ihm mithilfe des damaligen sozialdemokratischen Chefs des
Ratinger Bauamtes, Oberbaudirektor Rudolf Dreyer, und den Düsseldorfer Parteifreunden
mit dem SPD-Oberbürgermeister Willi Becker das von der Stadt Düsseldorf heimlich

                                                    Von links: Die Ratinger SPD-Ratsmitglieder
                                                    Oberstudienrat Peter Schneider (1907-1973),
                                                     Walter Höpfner (1913-1975), der Stadtdirektor
                                                    der Ratinger Partnerstadt Maubeuge Yves
                                                    Decaudin und Alfred Junker (1923) am
                                                    13.11.1961 bei der Besichtigung des Stahlwerks
                                                    „Usinor“ in Frankreich © privat

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erworbene Gebiet von Ratingen-West zu äußerst fairen Bedingungen zurückzukaufen.

Junkers Handeln blieb der Öffentlichkeit meistens verborgen, da er stets bescheiden im
Schatten agierte. Nicht ohne Grund wurde er mehrfach von der Rheinischen Post als der
„Dritte Mann“ bezeichnet.

In der entscheidenden Ratssitzung im Herbst 1965 ging es, zugespitzt, um die Frage „Wird es
Ratingen-West geben oder nicht?“ Angesichts der großen und beklemmenden Wohnungsnot
einerseits und des für die Stadt riesigen Projektes andererseits standen „Harry“ Kraft und seine
politischen Freunde unter enormen, auch psychisch starken Belastungen. Sie wollten unbedingt
neuen Wohnraum zu bezahlbaren Preisen für Viele. Die CDU kämpfte dagegen. Bei der
entscheidenden Abstimmung verließen sowohl CDU als auch der FDP-Ratsherr den Sitzungssaal.
Diese Vorgehensweise oder die Möglichkeit der Stimmenthaltung praktizierte die CDU bei für die
Entwicklung der Stadt Ratingen richtungsweisenden Entscheidungen öfters. Die SPD stand alleine
und entschied alleine. Hochbetagte Zeitzeugen des Geschehens berichten noch heute mit größter
Lebendigkeit von der dramatischen Atmosphäre jener Tage und Stunden.
Damit konnte die Stadt mit der Nutzung der Flächen in Ratingen-West beginnen. Tausende
von Menschen fanden dringend gesuchten Wohnraum. Mit dem Partner „Neue Heimat“
wurde ein für die damalige Zeit schier unvorstellbar großes Wohnungsbauprogramm von
etwa zwei Milliarden D-Mark in Angriff genommen.

„Harry“ Kraft und seine Mannschaft sahen stets den engen Zusammenhang zwischen
wirtschaftlicher Stärke und Allgemeinwohl. Im Stadtteil Tiefenbroich lag ein Gelände, das
sich für Gewerbeansiedlung eignete. Zusammen mit der FDP im Stadtrat setzte die SPD
gegen schärfste Kritik der politischen Gegenseite den Verkauf städtischer Immobilien durch
und konnte mit dem Erlös den Kauf des Geländes „Heiderhof“ realisieren.
Bald danach siedelte sich die Ratio an, und Steuereinnahmen flossen in die Stadtkasse. Ein
weiteres wichtiges Unternehmen, das sich dort niederließ, war Readymix – heute „Cemex“.

Zu den großen Infrastrukturprojekten im Ratinger Stadtgebiet gehörten in jenen Jahren
auch besondere Aktivitäten im sozialen, sportlichen und kulturellen Feld. Auch in diesen
Bereichen der Kommunalpolitik verfügte die Ratinger SPD im Stadtrat über eine Anzahl
hochkarätiger und unermüdlich engagierter Persönlichkeiten. Das kann beispielhaft am
Engagement der Familie Schneider dargestellt werden, die sich dadurch auszeichnete, dass
sowohl die Eltern als auch die Kinder gleichzeitig und über lange Jahre ihr Wissen und
Können ehrenamtlich für das allgemeine Wohl einsetzten.

Familie Schneider aus Ratingen, zuerst wohnhaft Friedhofstr. 20, dann 1951 nach Umzug ins
Eigenheim am Nachtigallenweg 2, betätigte sich intensiv politisch und sozial.

Die Mutter, Liesel Schneider, geb. am 16.03.1907, wurde in Duisburg in einer
sozialdemokratischen Familie groß. Ihr Vater Bernhard Fisch, geb. am 05.11.1876, war in
Duisburg Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Volksstimme“, kurz „Vosti“,
genannt. U. a. veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Dr. Stichling“ (abgeleitet vom
Familiennamen Fisch) nach der Machtergreifung Hitlers zeitkritische Satiren gegen das Nazi-
Regime. Das hatte die Verhaftung durch die Gestapo zur Folge. Er verlor seine Arbeit und
damit sein Einkommen. Der Tochter Liesel, die zu dieser Zeit einen Kindergarten der
Arbeiterwohlfahrt in der Einschornsteinsiedlung in Duisburg-Hamborn leitete, wurde kurze

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Zeit später, nach Kritik am Nazi-Regime, ebenso von der Gestapo die Leitung des
Kindergartens entzogen und sie dadurch arbeitslos.

Nach dem Krieg gründeten 1951 Max Heuser und das Ehepaar Liesel und Peter Schneider
die Ratinger Europaunion, wo sie Gleichgesinnte in Politik und Wirtschaft suchten. Sie
setzten sich engagiert und unermüdlich für die deutsch-französische Verständigung und die
Jumelage mit Maubeuge ein. Durch den sehr frühen Kontakt nach dem Krieg von Max
Heuser und Peter Schneider mit dem Bürgermeister der Stadt Maubeuge, Dr. Pierre Forest,
wurde Ratingen eine der ersten deutschen Städte, die bereits 1955 Kontakt zu einer
französischen Partnerstadt vorweisen konnten.

Peter Schneider war seit 1938 am Ratinger Gymnasium tätig und wurde später zum
Oberstudiendirektor ernannt. Er gründete als Schulleiter des Ratinger Gymnasiums im Jahre
1957 mit seiner Schulpflegschaftsvorsitzenden Ursula Schruff und seinem
sozialdemokratischen Stadtratskollegen und späteren stellvertretenden Bürgermeister
Walter Höpfner den Ratinger Schullandheimverein. So war es möglich, dass bis heute etwa
300.000 Schülerinnen und Schüler eine schöne Zeit in der reizvollen Eifel im Schullandheim
Müllenborn verbringen konnten. Selbstverständlich war die ganze Familie Schneider
Mitglied im Verein und auch im Vorstand tätig. Sie engagierte sich aber auch in anderen
Bereichen sozial und setzte sich für benachteiligte Randgruppen ein. Peter Schneider war
lange Zeit ehrenamtlich Schiedsmann in Ratingen. Liesel Schneider war langjährige Schöffin
sowohl beim Ratinger Amtsgericht als auch beim Düsseldorfer Landgericht.

Schon in der Jugend war sie mit Alfred Nau und bereits in den 50er-Jahren mit Annemarie
Renger, lange bevor diese Präsidentin des Deutschen Bundestages wurde, eng befreundet.
Diese Freundschaften hielten bis ans Lebensende. Die Familie Schneider hielt engen Kontakt
mit den Genossen in Berlin, die sie im Wahlkampf unterstützte. Für Liesel Schneider war es
eine Selbstverständlichkeit, an jedem SPD-Bundesparteitag teilzunehmen.

Außerdem war Liesel Schneider Mitbegründerin der Arbeiterwohlfahrt Ratingen und dort
sehr aktiv tätig. Sie erhielt die höchste Auszeichnung der Arbeiterwohlfahrt, die Marie-
Juchacz-Plakette.

1978 wurde ihr für besondere Verdienste das Verdienstkreuz am Bande des
Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

                                        In der Mitte: Liesel Schneider (1907-1982) am 1.9.1978 anlässlich
                                        der Verleihung des Verdienstkreuzes am Bande des
                                        Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, umrahmt von
                                        ihren Kindern Solvejg Schneider (1937-1998) und
                                        Gunnar-Volkmar Schneider-Hartmann (1940) © privat

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Die beiden Kinder Solvejg Schneider und Gunnar-Volkmar Schneider-Hartmann traten
bereits mit 18 Jahren in die SPD und die Gewerkschaft ein und waren wie ihr Vater Mitglied
des Ratinger Stadtrats. Sie als Schulleiterin, er als Schulleiter unterstützten intensiv die
deutsch-französischen Begegnungen, die ihr Vater ins Leben gerufen hatte. Sie setzten sich
intensiv für den Schüleraustausch Ratinger Schulen mit der Écoleprimaire de Joyeuse in
Maubeuge ein.

Gunnar-Volkmar Schneider-Hartmann war Mitglied des Landespolizeibeirates bei der
Landesbehörde Düsseldorf und außerdem Kreistagsabgeordneter. Hier übernahm er u. a.
Aufgaben als Vorsitzender des Mitarbeiterausschusses und des Polizeibeirates der
Kreispolizeibehörde Mettmann.

In der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft war er mehrere Jahre Vorsitzender des
Ortsvereins in Ratingen, des Bezirksausschusses in Mülheim und langjähriges Mitglied im
Landesfachgruppenausschuss in Dortmund.

Ihren heutigen Wohlstand verdankt die vormals eher ärmliche Stadt den Weichenstellungen
der im Stadtrat handelnden Politiker der SPD.

Geschichte der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten Ratingen von 1980-2004

„Was war das doch damals ne superjeileZick, mit Tränen in den Augen denk ich daran
zurück.“ So nach dem Karnevalslied der Brings kann man nur diese Zeit darstellen. Helmut
Kohl regierte scheinbar ewig, die Jusos erlebten einen Zulauf wie noch nie. Die Ratinger
Jusos waren beim politischen Gegner (und bei großen Teilen des bürgerlichen Lagers) als
rote Chaoten gefürchtet. Die SPD war nicht gerade glücklich über diese Art von Nachwuchs
und ließ es die Jusos auch spüren. Heute gäbe man so einiges, um wieder einen solchen
Nachwuchs zu haben, meint der heute 50-jährige Fraktionsvorsitzende im Rat und lange Zeit
als „Alt-Juso“ von den Bürgerlichen geschmähte Christian Wiglow, Vorsitzender der Jusos
Ratingen von 1984 bis 1997.

                                                 Andrea Becker und Christian Wiglow ca. 1984
                                                 © privat

Wie alles anfing:
In den Jahren der Friedensbewegung nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 führte das

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Aufkommen der Grünen zu einem Verlust von Aktiven bei den Jusos, die sich zunehmend
auch in Ratingen Konkurrenz ausgesetzt sahen. Zudem war es so, dass viele der Aktiven
knapp unter der Altersgrenze von 25 Jahren lagen, Nachwuchs blieb aber leider aus. Die
Jusos hatten in allen Gremien, wie es sich für ordentliche Parteilinke gehört, gegen den
NATO-Doppelbeschluss gekämpft, konnten sich aber gegen Kanzler Helmut Schmidt nicht
durchsetzen. Gleichwohl waren die Jusos mit eine tragende Kraft, als es darum ging, auch im
beschaulichen Ratingen eine Friedensbewegung aufzubauen und an Ostermärschen
teilzunehmen.
Im Zuge des Misstrauensvotums gegen Kanzler Schmidt und der „geistig-moralischen
Wende“ des Nachfolgers Helmut Kohl erlebten die Jusos einen erheblichen Personalzulauf.
So stieß zu ihnen der spätere langjährige Juso-Vorsitzende Christian Wiglow, die bis heute in
der SPD Aktiven Rainer Gräf, Andrea Becker, Sybille Weyrich (später Weyrich-Wiglow, die ab
1997 bis 2005 Juso-Vorsitzende war), Holger Prüßmeier (geb. Blieske) und andere
Genossinnen, die zum Teil nicht mehr in Ratingen leben oder nicht mehr aktiv sind bzw. wie
der spätere stellvertretende Juso-Vorsitzende Florian Helbig bereits verstorben sind.

                                                   Erster Bundestagswahlkampf für Regina Schmidt-
                                                   Zadel © privat

Es wurde ein neuer Vorstand gebildet und Christian Wiglow wurde Vorsitzender, Rainer Gräf
und Andrea Becker Stellvertreter. Carsten Pötters, Markus Belzer, Jochen Draheim waren
weitere Aktive von damals. Mehr und mehr junge Leute machten mit, nur Geld war in der
Kasse keines mehr. Zeitweilig gab es viele aktive Jusos, sodass es zwei
Arbeitsgemeinschaften in Ratingen und Lintorf und eine Zentrale Arbeitsgemeinschaft gab.
Themen ließen nicht lange auf sich warten: Neben dem Dauerthema der Abrüstungsdebatte
ging es den Jusos immer um Themen wie Rechtsextremismus, die Situation der Flüchtlinge
in Ratingen am Sondert (die Sybille Weyrich schon als Schülerin betreut hatte), die soziale
Frage und den Ausstieg aus der Atomkraft. Gerade beim Thema Atomausstieg boten sich
erste Konfliktlinien mit der Mutterpartei, besonders vor Tschernobyl. Da die Jusos mit den
Grünen zusammen in der Bürgerinitiative „Strom ohne Atom“ in Ratingen Unterschriften
sammelten, ließ das erste Parteiordnungsverfahren gegen den neuen Vorsitzenden nicht
lange auf sich warten.
Was waren die Hauptthemen der Jusos:
Die Jusos waren zumindest damals bundesweit nicht nur eine Nachwuchsorganisation,
sondern sie verstanden sich auch als eine Richtungsorganisation, die versuchen wollte,
durch Bündelung von inner- und außerparteilichen Kräften die SPD auf Linie, also auf einen
linkeren Kurs zu bringen. Dem standen die Jusos in Ratingen in nichts nach.

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Neben ordentlicher kommunalpolitischer Kleinarbeit wie der akkuraten Beschäftigung mit
der Lebenssituation armer Menschen in der reichen Stadt Ratingen (zu der es sogar eine
Ausstellung auf dem Marktplatz gab), dem Verlust der Arbeitsplätze bei Hertie, als sich die
Jusos mit dem Betriebsrat solidarisierten, der Sondermülldeponie in Breitscheid mit ihrer
befremdlichen Genehmigungspraxis durch Stadt und Staat, dem Dauerthema, wie geht die
Stadt mit den Flüchtlingen um (diese Frage ist bis heute eine Schande für die Stadt), ging es
den Jusos immer darum, möglichst viele junge Menschen zu erreichen. Dazu erweckten sie
das Thema Juso-Zeitungihrer Vorgängergeneration zum Leben und zu neuer Blüte. Der
„Aufbruch“ erschien erstmalig 1987 und endete mit der 54. Ausgabe im Jahre 2004. Der
„Aufbruch“ wurde zunächst auch nicht nur an Schulen, sondern auch an Werkstoren wie bei
Calor und Balcke verteilt. Mit dem „Aufbruch“ erreichten die Jusos nicht nur bei jungen
Leuten die gewollte Aufmerksamkeit und Akzeptanz. Unvergessen sind die Zensurversuche
der Parteioberen. Bei einem der Parteioberen musste man unter dem Balkon antreten und
die Artikel verlesen. Durch Halsstarrigkeit schaffte man es danach auf das Sofa im
Wohnzimmer. Diese Angst der Parteioberen lag an der spitzen Zunge der Jusos, an ihrem
Mut, auch höchst Unbequemes anzusprechen, wie an der besonders in Ratingen
ausgeprägten Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit der bürgerlichen Kräfte, Satiren oder
Satireartiges zu verstehen. Unvergessen ist die Reaktion auf einen Artikel im „Aufbruch“, der
aus einem Handbuch der katholischen Jugendarbeit abgekupfert war, nämlich der
provokante Artikel „Kein Wahlrecht für Katholiken“, unter dem schon der Hinweis „Satire“
plus der gemeinte Inhalt dargestellt waren. Eine Woge von Empörung, Strafanzeigen wegen
Gotteslästerung, Distanzierungen der Partei wogte über die armen Jusos, die erst vor dem
Landgericht Düsseldorf ihr Ende fand, Jahre später aber noch den Jusos vorgehalten wurde.
Prägende Ereignisse:
Wie einleitend bereits gesagt, herrschte damals Helmut Kohl aus Sicht junger Menschen
unendlich, faktisch aber nur bis 1998. Die Auseinandersetzung mit „Birne“ und seiner
„geistig-moralischen Wende“ und dem sie verkörpernden Personal wie Innenminister
Zimmermann war stets eine Freude für die Jusos, gerade wenn es um das Thema „Innere
Sicherheit“ ging.
1986 kam es in Tschernobyl zum Super-GAU und in der SPD endlich zum Meinungswandel.

                                                          Wackersdorf im Winter, ca. 1989, von
                                                          links nach rechts:
                                                          Patrick (verst.), Mirko Kurtz, Christian
                                                          Wiglow, Andreas Reetz © privat

Gleichwohl waren für viele Jahre Anti-AKW-Demos für die Jusos ein Muss, wohin sie stets in
voller oder nahezu voller Mannschaftsstärke ausrückten: Brokdorf, Kalkar, Wackersdorf im
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Winter und Sommer, Hanau, Hamm-Uentropp, Mülheim-Klärlich und wie die Standorte
auch noch alle hießen, die Jusos waren da.

                                                    Mit Josef Schappe in Buchenwald, ca. 1992.
                                                    Freund und Vorbild für die Jusos.
                                                    © privat

1989 wurde die Deutsche Einheit bei den Jusos als Gelegenheit genutzt, mit ostdeutschen
Genossinnen und Genossen Kontakt aufzunehmen und später bei den ersten freien Wahlen
zu helfen. Sybille Weyrich-Wiglow fuhr mehrfach mit dem Unterbezirksvorstand zum Helfen
nach Plauen.
1990 mit dem Ersten Irakkrieg unter Bush senior war es an der Zeit, wieder für den Frieden
unter dem Motto „kein Blut für billiges Öl“ auf die Straße zu gehen. In Ratingen wurde dazu
eine gut besuchte Demonstration organisiert.
Die Verschärfung des Asylrechts in 1991 unter Mitwirkung der SPD durch Änderung des
Grundgesetzes war für die Jusos ein herber Schlag, hatten sie doch alles dafür vor Ort getan,
dass die Basis und der Kreisparteitag diese Pläne sogar ablehnten. Auf dem Bundesparteitag
wurden die Jusos aus Ratingen nicht hereingelassen, weil sie gegen diese Pläne
demonstrieren wollten.
In den 90er-Jahren war das Aufkommen von Rechtsextremen auch in Ratingen ein wichtiges
Thema, zumal 1989 zwar Hugo Schlimm für die SPD Bürgermeister wurde, aber drei
„Republikaner“, die pikanterweise alle zuvor in der „Jungen Union“ waren, in den
Stadtrateinzogen. Die Jusos machten es sich zur Aufgabe dafür zu sorgen, dass diese
Personen entlarvt wurden und dass Unterstützern und Kandidaten das Leben schwer
gemacht wurde. Dieses gelang in Ratingen, sodass z. B. ein paar Jahre später der designierte
Karnevalsprinz verzichtete, weil der – aus welchen Gründen auch immer – die
„Republikaner“ unterstützt hatte. Diese Episode ging zwar vorbei, aber noch viele Jahre lang
versuchten die „Reps“, Treffpunkte in Ratingen zu finden, und zogen noch einmal mit einer
Person in den Stadtrat ein. Dieser Mensch traute sich aber wegen der bösen Jusos nicht,
sein Mandat auch wirklich auszuüben, und sobald sein Arbeitgeber von diesem Treiben
erfuhr, versank er auch ganz schnell in der Versenkung.
Der Wahlsieg 1998 von Gerhard Schröder wurde von den Jusos noch enthusiastisch gefeiert.
Die „Rheinische Post“ berichtete über schallend laute Arbeiterlieder aus dem Bürgerhaus
Frankenheim. Doch dieser Enthusiasmus verging schnell. Unter Rot-Grün fielen auch
deutsche Bomben auf Belgrad, wurde die bisher geübte Zurückhaltung der Bundeswehr
schnell aufgegeben – mittlerweile scheint es ja normal zu sein, dass deutsche Soldaten
weltweit agieren. Und dann kam die Agenda 2010 beziehungsweise zuerst das ominöse
„Schröder-Blair-Papier“ mit einem unerträglichen neoliberalen Touch (das Wort neoliberal
kannten wir vorher ja gar nicht) und dem Versuch einer programmatischen Kehrtwende der
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SPD. Viele Jusos hatten dann die „Schnauze so richtig voll“, traten aus oder zogen sich
zurück, zumal auch vor Ort die Schröder-Positionen damals von vielen als richtig, die Agenda
2010 als unabweisbar angesehen wurde. Die Kerntruppe der Jusos ließ sich davon aber nicht
beirren und machte weiter bis 2004. Zu den aktiven Jusos bis 2004 zählten neben Sybille
Weyrich-Wiglow besonders Jens Castorff und Holger Prüßmeier.

                                          Die Jusos machten zweimal beim Rosenmontagsumzug mit.
                                          Hier Anfang der 90er Jahre mit dem Wagen „Willkommen im
                                          Freizeitpark Deutschland“. Von links nach rechts: Rainer Gräf,
                                          Christian Wiglow, Jens Castorff © privat

Was ist geblieben?
Schon 1994 interessierten sich die Jusos für den Blick über den Tellerrand. Der Aufstand der
Zapatistas in mexikanischen Bundesstaat Chiapas war weltweit als Fanal aufgegriffen, es
gäbe noch andere Wege als den des Neoliberalismus. Die Jusos nahmen Kontakte nach
Mexiko auf und gründeten aus ihren Reihen den Verein „Solidarität mit Chiapas“, der zuerst
Werkstätten im Hauptquartier der Zapatistas La Realidad unterstützte und seit 2000 ein
Krankenhaus in Altamirano. Selbstverständlich waren Teile der Jusos auch vor Ort, zwei
Jusos wurden wegen unerlaubter politischer Tätigkeit aus Mexiko ausgewiesen. Der Verein
besteht bis heute.
Im parteiinternen Streit um Sinn und Unsinn der Bundesautobahn A44 gelang es Jusos und
umweltschutzbegeisterten SPD-Mitgliedern zumindest in Ratingen, eine ablehnende
Haltung gegen diese Autobahn zu verankern, die bis heute anhält. Gebaut wurde die A44 bis
heute nicht, auch wenn jeweils zu Wahlen Spatenstiche gemacht werden. Allerdings stehen
die Zeichen schlecht, dass dieses auf Dauer so bleibt, es sei denn, die Staatsfinanzen gehen
weiter den Bach runter.

Auf Initiative der Jusos stellte die SPD den Antrag im Rat, die Partizipation von Jugendlichen
am kommunalen Geschehen zu verbessern. Der darauf geschaffene Jugendrat existiert bis
heute, hat sich aber leider zur „Kaderschmiede“ der Jungen Union entwickelt.

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Jusos auf dem SPD Sommerfest,
                                                                Mitte 1990er Jahre von links
                                                                oben nach rechts unten: Shamim
                                                                Talukder, Anja Le Riche, Christian
                                                                Wiglow, Karsten Kühn, Thomas
                                                                Bongartz; erste Reihe: Jens
                                                                Castorff, Rainer Gräf, Sybille
                                                                Weyrich-Wiglow, unbekannt
                                                                © privat

Geblieben ist auch immer noch genug kämpferischer Schwung, Durchhaltevermögen – denn
eines lernte man bei den Jusos in Ratingen damals, dass nichts einfach ist und man einen
langen Atem braucht, Kreativität, denn manchmal waren mit der Warte eines nun 50-
Jährigen die Jusos Ratingen vielleicht doch etwas zu kreativ. Und geblieben sind wundervolle
Freundschaften, fest geschmiedet in heißen Zeiten.

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Quellen:
Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes NRW
Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt Mettmann
Archiv des Landtags NRW
Archiv der Stadt Ratingen
Rheinische Post
Fleermann, Bastian: Josef Schappe (1907-1994); in: Ratinger Forum, Heft 11, S. 165-176,
Stadt Ratingen 2009; ISBN 978-3-926538-71-0
Berichte von Zeitzeugen u. a.: Marlies Kraft, Alfred Junker, Werner Salzmann

Autoren dieses Beitrags:
Wilhelm Evers
Alfred Junker
Dr. Hans Kraft
Gunnar-Volkmar Schneider-Hartmann
Herbert Stermann
Christian Wiglow

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